6 Einleitung. 177 Atmosphären die Macht des Irrationalen 184 Literaturverzeichnis 189 Abbildungsnachweis 190 Danksagung

June 29, 2016 | Author: Lilli Bachmeier | Category: N/A
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1 6 Einleitung 10 Atmosphären der Stadt die Stadt als Gefühlsraum Atmosphären im Allgemeinen // Zum Verh&...

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Einleitung

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Atmosphären der Stadt – die Stadt als Gefühlsraum Atmosphären im Allgemeinen // Zum Verhältnis von Atmosphären und Stimmungen // Zur sinnlichen Erlebbarkeit von Atmosphären // Zusammenfassung

Die spitze Ecke in Stadt und Architektur Eckgebäude – Orte der Aufmerksamkeit // Kurze Phänomenologie der Ecke // Die Ecke als Heterotopie // Ecken im Innen und im Außen

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Atmosphären des Lichts Die Stadt und ihre Licht-Ästhetik // Zur Symbolik des Lichts // Das künstliche Licht in der Dämmerung // Ambivalenzen des schönen Scheins // Licht-Spektakel // Festliches Licht // Das Licht als Medium // Licht-Kunst

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Verkehrsarchitektur als Affektraum Die Stadt als Bewegungsraum // Die Straße als emotionaler Raum // Brücken als ekstatische Orte // Der Tunnel – Raum des Hindurch

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Atmosphären der Natur Phänomenologische Anmerkungen zur Wahrnehmung von Natur // Zivilisationshistorische Hypotheken – die vergessene Natur des eigenen Selbst // Ästhetik des Wetters // Atmosphären der Natur in Fotografien von Alfred Stieglitz // Inszenierung von Atmosphären durch Stadtgestaltung und Architektur // NaturSymbolik und Hochhauspolitik

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Fotografie und Atmosphäre „Es ist so gewesen“ (Roland Barthes) // Vom Abbildungsanspruch zur Geste des Zeigens // Das Bild als Simulacrum? // Multisensorielle Fotografie und das Unsichtbare // Programme, Intentionen, Begehren // Der phänomenologische Blick auf die Fotografie // Zu den Fotografien in diesem Band Quartiere und ihre Atmosphären Zur ästhetischen Wahrnehmbarkeit von Atmosphären in Quartieren // Atmosphäre als implizite Kategorie der Stadtplanung // Holbeck Urban Village – Leeds // Die Berliner Waldsiedlung Krumme Lanke // HafenCity Hamburg Zur Atmosphäre von Plätzen Typologie des Platzes // „Versuch, einen Platz zu erfassen“ (Georges Perec) // Zur Phänomenologie des Platzes // Der Platz als Scharnier // Zur Ästhetik des Platzes in der Stadt // Plätze sind programmatische Räume // Drei Plätze in Leeds // Drei Plätze in Frankfurt am Main

177 Atmosphären – die Macht des Irrationalen 184 Literaturverzeichnis 189 Abbildungsnachweis Danksagung 190

Einleitung

Atmosphären geben uns auf stumme Weise Auskunft über den Zustand von Situationen. Während sie der expliziten Aufmerksamkeit im täglichen Leben auch meist entgehen und in einem unaussprechlichen Hintergrund lebendiger Situationen liegen, werden sie zum Beispiel in eskalierenden Konflikten in ihrer gefühlsmäßigen Präsenz so massiv, dass sie ins Bewusstsein treten und zur Sprache kommen. So wurden die 2005 in den Pariser Banlieues ausgebrochenen Jugendkrawalle in der Tagespresse als bedrohlich beschrieben und unter anderem mit der harten Atmosphäre begründet, in der viele Jugendliche in marginalisierten Stadtquartieren unter prekären sozialen Bedingungen aufgewachsen sind. Auch die Berichterstattung über die in der Vergangenheit im nordirischen Religionskonflikt immer wieder aufgebrochenen Konfrontationen beschränkte sich nie allein auf die Wiedergabe „objektiver“ Sachverhalte. Die Aktualität protokriegerischer Situationen wurde vor allem durch die Beschwörung düsterer und feindseliger Atmosphären nachvollziehbar gemacht. Ebenso stellte die internationale Presse die Turbulenzen der griechischen Finanzkrise im Herbst 2011 nicht nur in Zahlen dar, sondern illustrierte sie insbesondere mit dem Hinweis auf Atmosphären, in denen etwas von der Stimmung der von einschneidenden Sparmaßnahmen betroffenen Bevölkerung spürbar wurde. Die für eine südeuropäische Metropole so charakteristisch lebendige Atmosphäre öffentlicher Räume wurde im ganzen Land von einer politisch angespannten Atmosphäre verdrängt. In zahlreichen

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Einleitung

Medienberichten war von politisch aufgeheizten, giftigen, aggressiven, feindlichen, angespannten, brodelnden und hysterischen Atmosphären die Rede. Solange eine Atmosphäre als unpersönliche Wirklichkeit auf einer Objektseite bleibt, ist sie als eine in „Vitalqualitäten“ ausgedehnte „Herumwirklichkeit“ (von Dürckheim) spürbar. Man muss weder Demonstrant noch Polizist sein, um sie aus emotionaler Distanz, gleichsam ohne Betroffenheit, als gemeinschaftliche Gefühlslage wahrnehmen zu können. Sie gehört zu einem Ort oder einer Gegend, hat aber eine räumliche Qualität, die nichts mit der Welt der Dinge und Körper gemein hat. Wenn sie in ihrer Virulenz aber so zudringlich wird, dass sie einen Herd persönlicher Berührung bildet, kann eine aggressive oder feindliche Atmosphäre Macht über das eigene Tun entfalten und in eine kämpferische und giftige Stimmung umschlagen, die ihren Verdichtungspunkt in der persönlichen und gemeinschaftlichen Betroffenheit von einer Situation hat. Insbesondere existenzielle Situationen drücken sich in ungewöhnlich zudringlicher Weise atmosphärisch aus. Aber auch unterhalb emotionaler Zuspitzungen erleben wir soziale und räumliche Umgebungen in atmosphärischen Eindrücken. So sprechen wir von der bedrückenden Atmosphäre einer baulich heruntergekommenen Siedlung, von der hektischen Atmosphäre eines Bahnhofs oder der entspannten Atmosphäre eines städtischen Grünraums. Atmosphären sind ubiquitär. Sie begegnen uns im sozialen Milieu der Familie, auf der Straße, im Theater, aber auch an Orten, die nicht von und für Menschen gemacht sind (im Hochgebirge oder an einem Nordseestrand) und schließlich in der Aktualität ekstatisch erscheinender Natur (einem Gewitter oder einem tobenden Sturm). Viele Orte werden in ihrem Wesen ganz von Atmosphären getragen, wie der Friedhof, der Garten oder der nach außen versiegelte Raum des Gefängnisses. Dasselbe gilt für das Wetter oder die Urbanität einer Stadt. Atmosphären sprechen uns auf mehr oder weniger spürbare Weise an, werden als Gefühle am eigenen Leib (zwischen den Polen der Enge und der Weite) gegenwärtig und entfalten in ihrem ephemeren Charakter immersive Macht. Sie sind Anmutungsqualitäten, die mit einem Schlage (Schmitz) als ein Gefühl am eigenen Selbst wahrgenommen werden. Atmosphären sind nicht „zwischen“ den Dingen im Raum lokalisiert. Sie umweben kleinräumliche Orte, hüllen sie ein und machen sie zu situativ besonderen Orten „einbettenden Erlebens“ (William Stern). Sie sind keine Gegenstände, sondern Gegebenheiten, die sich nicht stellen und definieren lassen wie körperliche Dinge. In ihrem Erleben wird die Grenze zwischen dem Dort körperlicher Gegenstände, anderer Menschen oder „äußerer“ Ereignisse und dem Hier der persönlichen Situation porös. Wenn Atmosphären auch Erlebnisqualitäten sind, so gehen sie doch von Milieuqualitäten aus, die ihren Grund nur bedingt im persönlichen (stimmungsmäßigen) Erleben haben. Sie vermitteln sich in einem spezifischen Zur-Erscheinung-Kommen „herumwirklicher“ Gegebenheiten. Wenn sie in unser Befinden eingreifen, indem sie persönlich berühren, werden sie zur Stimmung. Im umfriedeten Raum der Wohnung werden Atmosphären zur Erzeugung erwünschter Stimmungen regelrecht gezüchtet.

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Atmosphären der Stadt – die Stadt als Gefühlsraum

Städte sind Räume pluraler Intensitäten. Ihr physischer Raum präsentiert sich in einer Dichte, in der die Bauten in gedrängter Ordnung und Un­ ordnung neben-, in-, mit- und übereinander stehen. Im sozialen Raum berühren und überlagern sich die Lebensformen, stoßen sich ab und tre­ten in einen autopoietischen Austausch. Im ökonomischen Raum ent­faltet die Stadt Rhythmen der Werttransformation und -konsolidie­rung. In einer Banken­ metropole folgen sie einem anderen Takt als in einem Behördenzentrum oder einem ehemaligen Standort der Schwer­indus­trie. Wenn sich bestimmte Großstadttypen auch nach ähnlichen Wachstums­mus­­tern entwickeln, so entstehen und wandeln sich Städte doch, gleich einer Biografie, im Verlauf ihrer besonderen (individuellen) Geschichte. Die jeder Stadt eigene Authentizität kann sich aber nur dann schon in einem ers­ten Eindruck atmosphärisch zei­gen, wenn die Essenz des Authentischen ausdrucksstark genug ist, um sich der Wahrnehmung ohne suchende An­strengung der Aufmerksamkeit mitzuteilen. Da diese atmosphärische Präsenz in der Wahrnehmung aber nie an allen Orten der Stadt zugleich und in gleicher Intensität lebendig ist, bleibt die Atmosphäre der ganzen Stadt diffuser als die räumlich begrenzter Orte. Nur im Sinne eines flimmernden Bildes lässt sich zum Beispiel in Hamburg eine maritime Atmosphäre ausmachen, in manchen Städten des Ruhrgebiets eine beklemmend kleinbürgerliche und in Berlin eine turbulent dynamische. In der Stadtwerbung werden solche luftigen Erlebnisqualitäten gerade dann beschworen, wenn sie sich für die positivierende Klischeebildung anbieten.

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Atmosphären der Stadt – die Stadt als Gefühlsraum

Konkret lokalisierbar ist eine Atmosphäre insbesondere an einem überschaubaren Ort. Der spürbare Ausdruck ihrer Wirklichkeit erwächst aus einer situativen Synthese all dessen, was in einer Gegend zur Erscheinung kommt. Wirksam werden dann die Dinge an ihren Orten, die Temperatur der Luft, das Wehen des Windes, das natürliche oder künstliche Licht, vor allem aber die Formen der Präsenz von Menschen. Gernot Böhme versteht die Atmosphäre einer Stadt als die „subjektive Erfahrung der Stadtwirk­lich­ keit, die die Menschen in der Stadt miteinander teilen.“1 Dazu gehört nicht nur die Gegenwart derselben Dinge im Raum, sondern auch der Rhythmus, den sie dem städtischen Leben einschreiben bzw. die Arten und Weisen, wie Menschen die (mikrologische) Stadt leben. Das Leben zerfällt in einer großen Stadt in eine tendenziell endlose Vielfalt der Formen und Stile. Entsprechend unterschiedlich sind die Orte, an denen sich dieses Leben performativ ereignet. Und so verbinden sich städtische Atmosphären in einem pluralen Sinne mit einem kaleidoskopischen Bild des städtischen Raums. Wenn die großen Magistralen und fragilen Netze von Verkehrsadern auch alle Orte miteinander verbinden, so bleibt das Ganze doch ein gebrochenes Gebilde, ein Raum, der seine Energie aus einer Unwucht generiert und nicht aus der Kraft eines harmonischen Megasystems. Die Differenz zwischen den physischen, sozialen und ökonomischen Räumen der Stadt wird an Grenzverläufen sichtbar und spürbar. Wie man eine klimatologische Atmosphäre an der Art und Zusammensetzung der Atemluft bemerken kann, so die Atmosphäre städtischer Räume an der Milieuqualität der Umgebungen, in die man hineingerät. Was für die Wohnung gilt, ist im erweiterten Wohnraum der Stadt nicht grundsätzlich anders. Räume, die Affekte berühren, nehmen wir nie allein rational wahr. Auf dem Hintergrund persönlicher Bedeutsamkeiten werden sie in Gefühls­ qualitäten als Herumwirklichkeiten2 gegenwärtig. Mitunter sind es gerade Reisen in noch wenig vertraute oder ganz unbekannte Räume, die solche Beziehungen schlagartig bewusst machen. Atmosphären sind aber nicht an positive Erlebnisqualitäten gebunden. Zu Unorten, die wir eher meiden, gehen wir unvermittelt und spontan in affektive Distanz, weil ihr atmosphärischer Ausdruck von abweisender Erlebnisqualität ist. Atmosphären im Allgemeinen Die Reflexion der Bedeutung des Atmosphärischen im Raum der Stadt dient dem vertieften Verstehen ihrer sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Dimensionen. Es wird sich zeigen, dass Atmosphären – oberhalb dessen, was auf einem höchst vagen Niveau mit der Atmosphäre einer Stadt assoziiert wird – insbesondere mikrologischen Orten anhaften. Sie gehören zum Leben der Stadt wie ihre Verkehrsströme, sie kommen und gehen mit dem situativen Wandel des Urbanen. Sie sind an diesem Ort anders als an jenem, konstituieren sich aus der Präsenz der Dinge und Dynamik des Lebens von selbst oder werden zum Gegenstand interessengeleiteter Herstellung. Sie haben ihre je eigene Bedeutung im Leben der Menschen wie in der Eigenart und Geschichte eines Ortes. Wo sie nach

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Zuordnung von Baustilen zu Epochen erlaubt. Das darüber hinausgehende Verstehen der mit Baugestalten verbundenen Erlebnisformen verlangt dagegen eine hinreichend differenzierte Sensibilität der Einfühlung in synästhetische Übertragungswege von Symbolen in Gefühle wie umgekehrt.

Stimmungen disponieren das eigene Selbst und damit auch die Sensibi­ lität der Wahrnehmung von Atmosphären. Von Stimmungen getragen, erleben wir etwas uns Begegnendes heute in dieser und morgen in jener Weise. Die Stimmungen, die den Grund unseres So-seins bilden, stehen in einem engen Wirkungszusammenhang mit dem Erleben von Atmosphären. Wo diese für bestimmte Situationen inszeniert werden, impliziert bereits ihr Entwurf eine Stimmung der Affekte. Schon deshalb sind Atmosphären keine Marginalien. Sie tragen unser affektives Stadterleben zwischen Identifikation und Idiosynkrasie. Ob wir uns im Raum der Stadt beheimaten können und wollen, ist nie allein von den Atmosphären einer Stadt abhängig, sondern auch von den persönlichen Stimmungen, das heißt der affektiven Beziehung zum Leben in der Stadt im Allgemeinen wie zum Leben in dieser Stadt im Besonderen. Es wäre daher naiv, Atmosphären der Stadt nicht auch als politische, zumindest aber politisierbare Medien der Kommunikation anzusehen. Wenn Stadtplanung und -politik zu guten Teilen auch in der Gegenwart noch dem Geist der Charta von Athen44 folgt, so geht sie doch von der Grundannahme aus, dass die Menschen gerne in ihrer Stadt leben wollen. Ein so nüchtern erscheinender Begriff wie „Aufenthaltsqualität“ meint am Ende nichts anderes als eine den Menschen an einen Ort bindende atmosphärische Raumqualität.

Gerüche

Die alte Hamburger Speicherstadt roch vor ihrem Umbau zur HafenCity nach Gewürzen und gemahlenem Kaffee, weil diese „Dinge“ in den kaiserzeitlichen Bauten gelagert wurden. Am Ufer eines Flusses riecht es anders als in der Mitte der vom Verkehr durchströmten Stadt. Das Mikroklima eines Stadtquartiers im Grünen fühlt sich nicht nur anders an als eine steinerne Häuserwüste, es riecht auch anders. Manchen Orten haften unverwechselbare Gerüche an. Sie gehören zu ihnen wie die Kirche in die Mitte des Dorfes. Bei hoher affektiver Bindung an einen Ort schreiben sich Geruchseindrücke biografisch so tief in die Erinnerung ein, dass sie noch nach langer Zeit der Abwesenheit wiedererkannt werden. Wie Findlinge der Erinnerung überdauern sie selbst den Wandel von Orten und werden dann, wenn sich deren Vitalqualität verändert hat, zu unerfüllten Geruchserwartungen. Über Gerüche legen wir uns nicht nachdenkend – und „Sinnesreize“ zusammenzählend – Rechenschaft ab; wir nehmen sie „mit einem Schlage“47 atmosphärisch wahr. Gernot Böhme sieht sie als „ein wesentliches Element der Atmosphäre einer Stadt, vielleicht sogar [als] das Wesentlichste, denn Gerüche sind wie kaum ein anderes Sinnesphänomen atmosphärisch.“48

Zur sinnlichen Erlebbarkeit von Atmosphären Atmosphären kommen zur Erscheinung, indem sie sich zeigen. Sie wer­den – nach einer Metapher von Hermann Schmitz – „mit einem Schla­ ge“ wahrgenommen. Dennoch wirken schon segmentierte Situationen als Katalysatoren des Aufmerkens. Segmentiert ist dabei aber nicht Ein­ zel­­nes, sondern eine in sich zusammenhängende Eindrucksqualität, die aus der Ganzheit einer Atmosphäre hervorsticht. Die folgenden zehn Konkretisierungen sollen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf „Eindrucks-Vermittler“ aufmerksam machen, die uns das Ganze einer Atmosphäre im Raum der Stadt – in Segmenten – näher bringen. Baukultur

Architekturhistorisch in je charakteristischen Stilen entstandene Stadt­­quar­tiere tragen den Stempel ihrer Zeit und lassen die „Kultur“ als Stimmgabel45 des Gebauten vorscheinen (s. Abb. 2). Bauwerke drücken den Zeitgeist aus und damit das Ganze des Denkens, Wünschens und Wollens einer Epoche. Der ästhetische Ausdruck der Physiognomie städtischer Teilräume überträgt sich in ein atmosphärisches Raumgefühl in dieser Gegend. So sah schon Karl Friedrich Schinkel das Wesen der Architektur im Gefühl angesiedelt.46 Das kognitive Verstehen städtischer Räume setzt architekturhistorisches Wissen voraus, das die

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Atmosphären der Stadt – die Stadt als Gefühlsraum

Licht und Schatten

Bauhaus in Dessau (rekonstruiert nach Plänen von Walter Gropius) 2

Wie Geräusche und Gerüche gehören auch die Lichtverhältnisse zu den „Er­zeu­gern“ von Atmosphären.49 Aufgrund seiner besonderen visuellen Zu­dringlichkeit entfaltet das Licht eine große Macht über das emotionale Raumerleben. Schon wegen seiner mythologischen Bedeutungsfülle ist es dicht mit kulturellen Symbolen geladen. Die Baumeister der gotischen Kathedralen haben es verstanden, religiöse Bedeutungen mit Gefühlen zu verbinden; deshalb konnten sie ekstatische Lichtgestalten zur Konstruktion numinoser Atmosphären in einem göttlichen Lichtraum inszenieren.50 Schon im Mittelalter diente einfachste Illuminationstechnik der Über­ wachung des öffentlichen Raums. Zu einem Gegenstand ästhetischer Stadt­­­gestal­tung wird das Licht als immaterieller Baustoff am Ende des 19. bzw. Beginn des 20. Jahrhunderts. Licht schafft nicht nur Helligkeit; es ist selbst sichtbar und emotionalisiert Dinge und Orte. Seit seiner Erfin­dung gilt das elektrische Licht als Symbol pulsierenden städtischen Lebens. In ästhetizistischen Ekstasen postmodernen Bauens ist es in seiner entfesselten Vielfarbigkeit und Fluoreszenz immersives Medium der „Fassadenbespielung“ (s. Abb. 3). Die Stadt konstituiert sich im Medium illuminativer Atmosphäre in einer „zweiten“ Wirklichkeit. Wie die sakrale Lichtwelt der Logik christlicher Ikonografie folgt, ist das ästhetizistisch inszenierte Licht der postmodernen Stadt Mittel einer dissuasiven Strategie der

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Quai Mauriac 1, 2009, 86 x 198 cm

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Gudrun Kemsa     

Fotografie und Atmosphäre

Al Merraija 2, 2010, 86 x 198 cm

Burj Khalifa 2, 2009, 86 x 198 cm

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Gudrun Kemsa

Atmosphären können im engeren Sinne nicht gesehen werden. Und doch gilt (neben der Malerei) insbesondere die Fotografie als prädestiniertes Medium ihrer Darstellung. Dass sie als Methode dabei alle technischen Mittel der Gestaltung impliziert, weist auf ihren bild-enden Charakter hin. In diesem konstruktiven Moment liegt auch der Kern einer mehr als 100 Jahre währenden und stets kontrovers geführten Debatte um ihre erkenntnistheoretischen Möglichkeiten und Grenzen. Schon lange vor dem Anbruch der digitalen Epoche hat sich der Glaube an die Objektivität des fotografischen Bildes als Illusion erwiesen. Die Krise der Repräsentation leitete aber nicht das „Ende“ der Fotografie ein, vielmehr öffnete sie Horizonte für ein neues Verständnis im Umgang mit Technologien der (inszenierenden) Aufzeichnung des Lichts. „Gerade das Ende der Photographie steht mit ihrer Beliebtheit, die sich in einer Vielzahl von Ausstellungen dokumentiert, in einem seltsamen Mißverhältnis.“1 Während das immer wieder mystifizierte Ende der Fotografie medienkritische Professionen wie Journalismus, Kunst, Kunstgeschichte und Medientheorie zur kritischen Bewertung von Möglichkeiten und Grenzen der Visualisierung angetrieben hat, ließ sich das lebensweltliche Vertrauen auf den Abbildcharakter des Bildes nicht erschüttern. Insbesondere in ihrem alltäglichen (zum Beispiel touristischen) Gebrauch gilt die Fotografie nicht als Produkt der Ein–Bild–ung, sondern als Medium wahrer Abbildung: Auf einem Bild zeigt sich als wahr, was war.

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gelten soll (im lebensweltlichen wie im polizeirechtlichen Sinne38), bleibt es beim Alten: Was das Bild zeigt, ist wahr. Zur Programmstruktur der politischen Fotografie

Die bildliche Kommunikation von Atmosphären ist ein zentrales Ziel jeder Fotografie, die Normen folgt, wonach etwas sein soll. Markante Beispiele liefert die sowjetische Fotografiegeschichte. Zur Zeit der Machtausübung des „Zentralkomitees der Kommunistischen Partei“ über das offizielle Kulturgeschehen im Lande wurde in den 1920er und 30er Jahren eine Ästhetik der Fotografie eingeführt, die dem politischen Selbstverständnis des Systems korrespondierte. Die Virulenz der staatspolitischen Macht drückte sich unter anderem darin aus, dass sich bekannte Vereinigungen von Fotografen gegenseitig bürgerlicher Ästhetizismen bezichtigten, obwohl sie sich doch schon zum Programm einer „proletarischen Fotografie“ bekannt hatten.39 Als Folge eines Beschlusses des „ZK der Kommunistischen Partei“ vom 23. April 1932 „Über die Umwandlung der literarisch-künstlerischen Organisationen“ lösten sich nicht nur die bestehenden Gruppierungen auf; die führenden Mitglieder der Gruppen legten öffentliche Schuldbekenntnisse ab und „gelobten, sich an der Weiterentwicklung der von der Partei für verbindlich erklärten Methode einer ‚künstlerischen proletarisch-schöpferischen Fotografie’ zu beteiligen.“40 Implizit lag darin eine Selbstverpflichtung zur Zuspitzung atmosphärisch unmissverständlicher Bildbotschaften, war der „lebendige sozialistische Mensch“ doch nur an jenem auratischen Über­schuss seiner imaginären Allgegenwart spürbar zu machen, der weit über die bloße Abbildung werktätiger Stoßarbeiter hinausging (s. Abb. 1). Die (unterstellte) Iden­tifikation des sozialistischen Menschen mit seiner Arbeit musste in ihrem Wert für die Gesellschaft emotional überzeugend in der Ästhetik des Bildes anschaulich werden. Nicht die Schaffung „schöner“ oder gefälliger Bilder stellte sich als die zu bewältigende Aufgabe einer neuen Fotografie, sondern die bildliche Inszenierung atmosphärischer Insistenz. Diese Programmatik kam in einer Selbstverpflichtung der Fotogruppe OKTJABR’ plakativ zum Ausdruck: „Wir unterwerfen uns mit unserer gesamten Tätigkeit den Aufgaben des Massenkampfes des Proletariats für eine neue kommunistische Kultur, indem wir auf dem Gebiet der Fotografie arbeiten.“41 Schon 1928 erklärte A. Rodčenko von der Gruppe OKTJABR’: „Die Aufnahme einer neu erbauten Fabrik ist für uns nicht einfach die Aufnahme eines Gebäudes, sondern ein Faktum des Stolzes und der Freude der Industrialisierung des Landes der Sowjets, und das ist es, was wir finden müssen, ‚wie zu fotografieren‘.“42 Deut­licher kann das Ringen um eine atmosphärische Sprache in der Ver­ mittlung einer Ideologie nicht zum Ausdruck kommen. Der Diskurs kreiste um eine noch zu (er)findende Ästhetik zur Durchsetzung politisch affirmativer Wahrnehmungs- und Gefühlsregime. Geradezu paradigmatisch für diese sich der Staatsideologie verpflichtende bildgestaltende Arbeit ist die Fotografie „Kindergarten in der Kolchose ‚Neues Leben’“ von A. Šajchet aus den 1920er Jahren (s. Abb. 2), die den Mythos eines staatstragenden Gemein-

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Fotografie und Atmosphäre

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Kindergarten in der Kolchose „Neues Leben“

schaftsgeistes geradezu agitatorisch und plakativ inszeniert.43 Die „politische Fotografie“ der Gegenwart ist ambivalent wie zu allen Zeiten. Sie stellt sich in den Dienst der Manipulation durch (partei-)poli­tische Institutionen, und sie bietet sich der Werbung an, die dann selbst (subversiv) politisch wird, wenn sie – wie zum Beispiel in der Werbepraxis diverser Energiekonzerne – im Sinne von Jean Baudrillard Wege der radikalen Verführung44 beschreitet, um Weltbilder durchzusetzen und die Identität unternehmenspolitischer Ziele mit denen umweltpolitischer Programme zu suggerieren. Diese und viele andere Methoden dissuasiver Fotografie werden in kritischen Theoriediskursen als pan-diskursive Praktiken reflektiert.45 Zur Programmstruktur der Sozialfotografie

The „Crawlers“ 3

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Stoßarbeiter der Fabrik „Hammer und Sichel“

Auch die Sozialfotografie bietet ein Beispiel für das programmatische Bestreben, im Medium des Bildes die Macht von Atmosphären auf Zwecke zu richten. Sozialfotografie wird nach Roland Günter als „Waffe in der sozialen Bewegung“ eingesetzt.46 Sie dokumentiert nicht nur die soziale Situation von Arbeitern und marginalisierten Randgruppen in Großstädten, sie nimmt zugleich (Partei ergreifend) Stellung. Eindrucksvoll sind die Fotografien von John Thomson (1837 bis 1921), die das Leben in den Straßen von London im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts thematisierten. Die Fotoreportage „Street-life in London“ aus dem Jahre 1876 zeigt aber nicht nur eine Vielzahl von Situationen aus dem täglichen Leben der „kleinen“ Leute. Thomsons Arbeit war der Dokumentation sozioökonomisch prekärer Lebensformen gewidmet. Seine parteiliche Sensibilität fungierte als Relevanz-„Fokus“ und unterstützte die Erfüllung einer selbst verordneten dokumentarischen Aufgabe. Thomson war zum einen bemüht, atmosphärisch beeindruckende Bilder für sich sprechen zu lassen. Zum anderen wurde er von dem Bedürfnis angetrieben, seinen Momentaufnahmen durch die Zugabe detailreicher Informationen eine in gewisser Weise hermeneutische Tiefe des Verstehens zu verleihen. So ergänzte er gemeinsam mit dem Journalisten Adolphe Smith seine Bilder durch ausführliche Erläuterungen über die Biografien von Frauen im Elend, Plakatträgern, Binnenschiffern, entlassenen Sträflingen oder Schildermalern, die auf Interviews mit den dargestellten Personen gestützt waren. In den individuellen Geschichten scheinen narrative Konturen einer ungleichen sozialen Welt seiner Zeit auf. Das Bild einer alten Frau im Elend („The

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Raumqualitäten zu verstehen. Wenn Atmosphäre in der (quartiersbezogenen) Stadtplanung auch keine zentrale Rolle spielt, so nimmt sie im ästhetischen Bewusstsein von Akteuren der Stadtentwicklung doch einen zunehmend größer werdenden Raum ein.

hervorbringen, wenn die hergestellten atmosphärischen Qualitäten auch den ästhetischen Präferenzen ihrer (potenziellen) Nutzer entsprechen. Mit dem Abschluss einer jeden modernisierenden Quartierssanierung stellt sich für Bewohner und viele Unternehmen die Frage des Verbleibs daher nicht allein in einem ökonomischen Rahmen. Die folgenden drei Fallskizzen annotieren die planende Inszenierung städtischer Atmosphären. Das erste Beispiel aus Großbritannien illustriert „Atmosphäre“ als Standortfaktor und Medium der imagepolitischen Suche der Stadt Leeds nach einem postindustriellen Profil (s. Kap. Plätze). Das zweite (historische) Beispiel widmet sich der Planung der Gartenstadt „Krumme Lanke“ in Berlin-Zehlendorf, die im engeren Sinne als atmosphärischer Wohn- und Lebensraum entworfen wurde. Drittens wird der Aufbau der Hamburger HafenCity zeigen, welche Rolle städtische Atmosphären in einem Großprojekt der Kernstadterweiterung spielen.

Köln – Mühlheim-Süd

Auch im Entwicklungskonzept der Stadt Köln steht die Gestaltung von Atmosphären in einem städtebaulichen Kontext, wenn sie explizit auch nur marginal angesprochen wird. Planerische Zielformulierungen und Festsetzungen für die Revitalisierung des rechtsrheinischen Stadtteils MühlheimSüd17 definieren strukturelle Maßnahmen zur Stärkung des Stadtviertels, in dem sich das Stamm­werk von Klöckner Humboldt-Deutz befindet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es die „Wiege der Weltmotorisierung“18; heute ist es der größte zusammenhängende Brach­ flächen- und Neuordnungsbereich in der Stadt. „Trotz teilweise ruinöser Bausubstanz hat sich hier der größte Atelierstandort innerhalb Kölns mit verschiedenen Ateliergemeinschaften und Musikclubs herausgebildet.“19 Die Attraktivität des Quartiers für die Kreativwirtschaft wird in zwei Gründen gesehen, in der Lagegunst und den gründerzeitlichen Industriebauten, denen aufgrund ihrer historischen Aura eine besondere atmosphärische Attraktivität zugesprochen wird20 (s. Abb. 4). Sie bilden „eine anregende Atmosphäre für die gegenwärtigen kreativen Köpfe der Wirtschaft.“21 Um ein „lebendiges Quartier zu entwickeln“, sollen die denkmalgeschützten Bauten in die „unverwechselbare Standortidentität“22 integriert werden. Mit der Integration historischer Bauten in einen neuen räumlichen Kontext verändert sich der architektonische und städtebauliche Erlebnisraum des Quartiers im Ganzen. Offen muss daher die Frage bleiben, inwieweit gerade in der transitorischen Situation des Quartiers, seinem (in baubehördlicher Perspektive) „schlechten“ Bauzustand und den noch „warmen“ Spuren der Industriegeschichte die eigentliche Attraktivität für die dort an­säs­sige Kreativwirtschaft liegt. Befunde aus der Erforschung von Gentrifizierungsprozessen machen zumindest die Hypothese eines positiven Zusammenhangs stark. Was folglich aus der Sicht der Planung zu einer Quartiers„Aufwertung“ durch Sanierung führen soll, muss von der Kreativwirtschaft nicht zwangsläufig auch so empfunden werden, durchlaufen die aufgrund ihrer transitorischen Qualität für das kreative Klientel so anziehenden Atmosphären doch weniger eine „Auf-“ als eine „Umwertung“. Die Erlebnisund Bewertungskategorien ästhetischer Raumqualitäten haben kulturelle Herkünfte und liegen aufgrund divergierender Lebenswelten nicht selten in einem Widerspruchsverhältnis zueinander. Kommunale Quartierssanierung wird nur dann einen „attraktiven“ Standort des Wohnens und Arbeitens

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Quartiere und ihre Atmosphären

„Holbeck Urban Village“ – Leeds

Holbeck Urban Village (Leeds, GB) 5

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Historisches Industriegebäude (Köln-Deutz)

Mit der Anlage des Quartiers Holbeck Urban Village strebt die Stadt Leeds die Umwandlung ehemaliger Industrie-, Hafen- oder Logistikflächen in ein gemischt genutztes, neu zu gestaltendes Stadtviertel an. Die in repräsentativen Baustilen errichteten Gebäude sprechen ökonomisch privilegierte Schichten an und sollen der Stadt ein neues zukunftsweisendes Gesicht geben (s. Abb. 5). Holbeck Urban Village ist südlich des Hauptbahnhofs auf den Flächen eines ehemaligen Industriestandorts realisiert worden, der im 18. und 19. Jahrhundert seine Hochzeit erlebte. Zahlreiche denkmalgeschützte Industriebauten (Spinnereien, Stätten der Stahlproduktion und des Maschinenbaus) markieren das neue Quartier als einen industriegeschichtlich geprägten Ort. Im Jahre 1998 wurde der Leeds Action Plan für die Entwicklung eines New Urban Village aufgestellt,23 2011 sind die Planungen weitgehend umgesetzt. Das Areal entwickelte sich zu „one of the coolest corners of the city. From sky lounges and art galleries to gastro pubs and micro breweries there’s plenty to sample.“24 Das neue Quartier wird als luxurierter Ort des Wohnens beworben: „As the new residents of the urban village start to adorn their balconies and roof top gardens with plants, vegetables and shrubbery, the insects that sustain the birds will find new homes of their own.“25 Besonders der 2009 abgeschlossene Teilbereich Granary Wharf gilt als attraktives innenstadtnahes Wohnquartier: Granary Wharf ist „situated in the heart of Leeds in a historic, tranquil waterside setting, Granary Wharf is a beautiful location and is set to become one of the most dynamic communities in the city.“26 Das Quartier steht für den Aufbruch in eine neue Zeit: „a new golden age“. So wird der Ort mystifiziert als „the jewel in the crown of Leeds’ celebrated city centre.“27 Zukünftig sollen auch Events und Kunstausstellungen

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2009 wird mit dem städtebaulichen Ensemble Am Sandtorkai/Dalmannkai das erste komplette Quartier der HafenCity mit „einem zehn Kilometer langen Netzwerk aus Fußwegen, das sich unabhängig vom Straßenverlauf durch das gesamte Gebiet erstreckt“56, fertiggestellt. „Das Nebeneinander von Nachbarschaft und einer neuen Form von Urbanität am Wasser prägt sein Flair entscheidend mit; Wohn-, Arbeits- und Freizeitnutzungen sind eng miteinander verzahnt.“57 Um überflutungsgefährdete Bereiche visuell nicht durch eine Eindeichung von der wasserseitigen Szenerie des Hafens abzuschirmen, wurde die Sicherheit vor Überflutung durch ein sogenanntes Warftensystem58 erreicht. Das neue Areal wird folglich auf drei Höhenniveaus entwickelt: (a) dem Horizont einer bis auf 7,5 Meter über NN aufgeschütteten Warft mit den neu errichteten Bauten, (b) dem Niveau der ehemaligen Hafenwirtschaft, auf dem sich die Promenaden befinden, und (c) dem tideabhängigen Niveau der Elbe mit den wassergebundenen Aktivitäten auf den schwimmenden Arbeitsplätzen der Hafenwirtschaft und den Liegeplätzen der Schiffe. Ein vierter Raumtyp ließe sich ergänzen, denn (d) die in ihrer Größe und platzartigen Gestaltung raumprägenden Treppen und Terrassen verbinden nicht nur die Ebene der Warft mit der der Promenade (s. Abb. 9); sie sind zugleich als öffentliche Räume konzipiert.59 Die Faszination und „Verführungsqualität“60 des Wassers wird besonders an diesen Raumtransversalen spürbar, die in ihrem Platzcharakter nicht nur Durchgänge sind, sondern auch Durch-, Einund Ausblicke anbieten und hohen Aufenthaltswert haben. Aufgrund ihrer atmosphärischen Qualität konstituieren sich diese Zwischenzonen als öffentliche Räume gleichsam von selbst. Außer der unter Denkmalschutz stehenden Speicherstadt konnten nur wenige Gebäude aus dem Altbaubestand des ehemals hafenwirtschaftlich genutzten Areals in die Konzeption der HafenCity integriert werden. Dadurch entsteht die Bebauung überwiegend neu. Dennoch „fügt sich die neue HafenCity in die Kubatur und Höhenentwicklung der bestehenden Innenstadt Hamburgs ein und respektiert die benachbarte historische Speicherstadt aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als auch die von den großen Kirchtürmen geprägte Innenstadtsilhouette.“61 Die Architektur der Neubauten am Wasser stellt sich mehrheitlich in einer schlichten Formensprache dar (von „exzentrischen“ Solitären wie dem Marco-Polo-Tower abgesehen, s. Abb. 10) und bäumt sich nicht in postmodern-experimentellen Gesten gegen den historischen und modernen Baubestand der „alten“ Stadt auf. Die entstehenden Kontraste

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Quartiere und ihre Atmosphären

spitzen sich nicht ins Schrille zu. Das Nebeneinander von „alter“ Kernstadt und neuer HafenCity zielt auf die Neubestimmung der Innenstadt ab und strebt ein „neu geplantes Bild von Urbanität“62 an. Der Masterplan verfolgt neben funktionalen Zielen die Herstellung einer hohen Qualität öffentlicher Räume, durch deren „expressive Kraft“ die HafenCity einen authentischen und urbanen Charakter ausstrahlen soll. Urbanität wird dabei nicht nur als Ausdruck von „Vitalität, Lebendigkeit, Abwechslungsreichtum und Kopräsenz vieler Menschen“63 verstanden. Wenn Urbanität auch in Anmutungsqualitäten des Städtischen evident wird, so entfaltet sie sich als performativ gelebte Qualität des städtischen Raums doch erst in der Teilhabe der Menschen am Leben der Stadt.64 Teilhabe setzt Öffentlichkeit voraus, von der – so die Erwartungen der HafenCity GmbH – soziale Bindungswirkungen ausgehen.65 Die öffentlichen Räume der HafenCity fungieren als Katalysatoren städtischen Lebens. Sie sollen sich deshalb auch als politische Orte von Demonstrationen, Kundgebungen, spontanen Aktionen, Informationen politischer Parteien, Musikdarbietungen etc. im sozialen Raum der Stadt entfalten.66 Zwar kann Stadtplanung durch die Gestaltung des bebauten Raums nur Rahmenbedingungen für die Konstitution eines urbanen Milieus schaffen. Die Eröffnung von Spielräumen ist jedoch unverzichtbare Voraussetzung für die lebenspraktische Aneignung der neuen Flächen als öffentliche Räume. Die HafenCity GmbH unterstützt diesen Prozess der urbanen Belebung des neuen Quartiers durch die Initiierung und Organisation öffentlicher Veranstaltungen. Auf dem Hintergrund einer großen Bandbreite sozialer Aneignungspraktiken soll das neue Quartier ein Situationsraum der Begegnung werden, ein Raum, der sich durch Prozesse des „Placemaking“ für die soziale Belegung anbietet. 9

Treppenräume als Raumtransversalen (HafenCity Hamburg) Marco-PoloTower (HafenCity Hamburg) 10

Die Stadt und ihre Atmosphären

Fritz Schumacher (Oberbaudirektor in den 1920er Jahren) sah die Stadt Hamburg durch einen „amphibischen Charakter“ gekennzeichnet.67 Implizit sprach er damit eine kleinmaßstäbliche Atmosphäre der Stadt an – eine „gesamtstädtische“ Vital- und Erlebnisqualität. Auch der Masterplan bedient sich der Metapher des Amphibischen: „Der Bezug zum Hafen und zum Wasser wird den ‚amphibischen’ Charakter der unterschiedlichen Quartiere innerhalb der HafenCity prägen.“68 Zwar sind Atmosphären kein definiertes Planungsziel, dennoch spielen sie in der Stadtentwicklung keineswegs nur die Rolle einer Begleitmusik. Schon in den Vorplanungen der 1980er Jahre war man sich in der Baubehörde der Bedeutung der atmosphärischen Attraktivität der kaiserzeitlichen Speicherstadt bewusst, die es im Rahmen der Umnutzung des Hafens im Bereich des nördlichen Elbufers zu fördern galt. Die „Erlebbarkeit des Hafens“69 rückte schon früh in den Fokus des Entwicklungskonzepts. Es seien „Standorte in ‚atmosphärischer Situation’ für Medien und Hafenwirtschaftsbetriebe zu schaffen.“70 Die Wohnqualität des neuen Quartiers sollte sich durch eine vielfältige, mit dem Charakter der Seehafenstadt verbundene

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Stationary and Toy Store, Korea Diary 2007–2008

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Restaurant Crab Palace, Korea Diary 2007–2008

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Juliane Eirich     

Zur Atmosphäre von Plätzen

Im 17. Jahrhundert ließ Papst Alexander VII. (1599 bis 1667) nach Plänen Berninis den Petersplatz neu gestalten. Physiognomisch herausragendes Merkmal der neuen Architektur war eine Umfriedung durch Kolonnaden. Bis heute markieren die Säulen den Platz als einen offenen und zugleich geschlossenen Raum. Sie trennen und verbinden, sie identifizieren ein Drinnen und ein Draußen – die Sphäre des Vatikans und die profane Welt der Stadt. Eine Säulenordnung ist keine Mauer, hat aber doch den Charakter einer perforierten Wand, die gestisch zu verstehen gibt, dass der Petersplatz kein beliebiger Durchgangsraum ist (s. Abb. 1). Als Gelenk zwischen profaner und sakraler Welt spielt er eine die Erfahrung des Numinosen anbahnende Rolle. Aber schon im Allgemeinen sind Plätze besondere Orte, schillernde Räume im Gefüge der Stadt, die über die reine Funktionalität hinausgehen. Typologie des Platzes Pink Ball, Korea Diary 2007–2008

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Juliane Eirich

Bis zum 14. Jahrhundert waren Plätze in erster Linie Marktplätze.1 In ihrem öffentlichen Charakter waren sie Orte der Gemeinsamkeit (für die Durchführung von Veranstaltungen, Festen, Ritualen, Zeremonien, Akten der Repräsentation, Versammlungen etc.), aber auch der Demonstration von Macht (Urteilsverkündungen und öffentliche Hinrichtungen). Mit dem Aufkommen einer städtischen Öffentlichkeit wurden sie ab dem 18. Jahrhundert zu prädestinierten Räumen der Repräsentation (Aufstellung

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beschreibt, als vielmehr ihr immerwährendes Ankommen und Abfahren; so setzt er das rhythmische Leben des Platzes sprachlich ins Bild. Die Methode der notorischen Wiederholung kommt einem Sprachspiel gleich, das als komplementäre Form der Monotonie der Ereignisse ein atmosphärisches Moment des erlebten Raums freilegt. Das Immergleiche in einer abstrahierenden Sprache nur zu vermerken (dass die Busse nach einem beinahe vorhersehbaren Takt kommen, halten und weiterfahren), wäre nicht dasselbe gewesen. Wenn er schließlich, nachdem er über viele Seiten jeden ankommenden und wieder verschwindenden Bus notiert und mitunter kommentiert hat, überraschend aufschreibt, „Autobusse fahren vorbei. Ich verliere vollständig das Interesse an ihnen“13, weist er damit nicht nur auf eine gewisse Übersättigung von regelmäßig wiederkehrenden Ereignissen hin. Eher macht er nachspürbar, dass die Wiederkehr des Ähnlichen die Wahrnehmung abstumpft: „Zwangsvorstellung von apfelgrünen 2CVs.“14 Die scheinbar so profane Bemerkung impliziert die wissenschaftspsychologische und methodenkritische Frage nach den Einflüssen, die uns ein Interesse an etwas verlieren lassen. Die Not der Interpretation, die im Fluss des alltäglichen Lebens durch das automatische Einspringen von Erfahrungswerten (taken for granted world) gleichsam ent-sorgt wird, karikiert er in der Pointierung einer mehrdeutigen Beobachtung: „Ein kleines Mädchen, flankiert von seinen Eltern (oder seinen Kidnappern), weint“15. Interpretation ist ein Wagnis. Rare eigene Deutungen des Platzgeschehens bietet er deshalb auf subtile Weise dem Zweifel an. Wenn er mitunter nicht eine anonyme alte Frau oder irgendeinen hinkenden Mann über den Platz gehen sieht, sondern zum Beispiel Paul Virilio, über den er zu wissen vorgibt, er wolle „Gatsby den Widerlichen am Bonaparte anschauen“16, bleibt im Dunkeln, ob es tatsächlich Virilio gewesen ist. Die Grenzen zwischen Beschreibung und Imagination verlaufen. In der Markierung einer namentlich ansprechbaren Person in den Heerscharen anonymer Menschen verleiht er dem Wunsch Ausdruck, im Hin- und Hergezogensein zwischen Distanz und Nähe einen persönlichen Orientierungspunkt zu setzen. Persönlich dürfte die tatsächliche Identifizierung Virilios schon deshalb gewesen sein, weil er mit ihm (und Jean Duvignaud) die Zeitschrift Cause commune herausgab. An die Stelle der zu Beginn seiner Aufzeichnungen schier endlos notierten Ströme von Linienbussen treten am Ende Citroen-Modelle. Auch sie sind Momente einer Kette ähnlicher Ereignisse, die – wie zuvor die Busse – einer Metamorphose der Aufmerksamkeit unterliegen. Zunächst finden sie eine ihr Auftauchen und Verschwinden würdigende Beachtung. Dann werden sie plötzlich zu Undingen. Wenn immer wieder (apfelgrüne) 2 CVs gesehen werden, verfängt sich die Offenheit des Blicks in einem fixen Raster von Erwartungen. Auch dahinter verbirgt sich eine Fußnote zur Methode der Beobachtung wie zur Wissenschaft als Methode schlechthin: Was sieht man, wenn immer nur Ähnliches in geringen Variationen zur Erscheinung kommt und sich ein Sog aufbaut, der alles in sich hineinzieht, was sich in vorausschießende – jede unvoreingenommene Interpretation vereitelnde – Seherwartung einfügen lässt?

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Zur Atmosphäre von Plätzen

Wenn die Beobachtungen gegen Ende des Büchleins wieder denen seines Anfangs ähnlich werden, wird abermals die Perspektivität des Beobachtens als Akt eines stets nur in Grenzen gelingenden Ausschöpfens von Wirklichkeit fassbar: „Vorbeifahrt eines fast vollen 63ers | Vorbeifahrt eines fast leeren 63ers | Vorbeifahrt eines ziemlich vollen 96ers | Vorbeifahrt eines ziemlich vollen 87ers “17. Die Dinge und Eindrücke wiederholen sich, und die Methode, einen Platz zu erfassen, verfängt sich in sich selbst. Im Verlauf des gesamten Textes wurde sie immer wieder unterströmt von selbstreferenziellen „Störungen“ des reibungslosen Notierens scheinbar objektiv benennbarer Ereignisse in einem „übersichtlichen“ Raum. An seinem Ende stürzt schließlich der gesamte Versuch in die Fragwürdigkeit dessen, was er eigentlich hervorgebracht hat. Hat sich Perec in den Atmosphären des Platzes verirrt? Umso mehr wirft sein Versuch die Frage auf, wie wir – ohne herausgehobene Aufmerksamkeit – tagtäglich Plätze erleben: große und kleine, hektisch belebte wie vergessene und abseitig gelegene, leere, steinerne oder mit artenreicher Vegetation umwachsene. Zur Phänomenologie des Platzes Plätze sind „Augenblicksstätten“18. Was „auf“ ihnen geschieht, macht sie zu lebendigen Orten, deren performative Rhythmen Perec zu erfassen versuchte. Was er erlebte, aufschrieb und kommentierte, war an die Situation „seines“ Platzes gebunden, die sich auf zwei Ebenen konstituierte, der der Ereignisse und der der Architektur bzw. Räumlichkeit des Platzes. Ein im Prinzip ähnliches Geschehen lässt auf einem winzigen Platz in einem Wohnquartier andere Atmosphären entstehen als auf einem großen innerstädtischen Marktplatz, andere auf einer gepflasterten als auf einer wassergebundenen Fläche, andere in einem vegetationslosen Raum als in einem baumreichen usw. Die folgende phänomenologische Durchquerung soll der Frage nachgehen, welche Eindrücke von der räumlichen Gestalt eines Platzes ausgehen. Wenn wir uns auf einem Platz befinden, werden wir seiner gewahr, indem wir uns in einem freien, von Menschen für bestimmte Nutzungen oder unbestimmte Performanzen hergerichteten Raum finden.19 In der Natur gibt es nur freie Räume diesseits jeder Bezweckung, aber keine Plätze. Diese entstehen erst, wenn Menschen Räume einnehmen – durch Freiräumen oder Freilassen Platz machen. „Es ist immer die menschliche Weltgestaltung, die einen Ort zum Platz bestimmt und so diesen geschaffen hat.“20 Mit dem Einräumen setzt aber auch schon das Einrichten ein. Freiräumen schafft „Spielraum“ der Bewegung21 für ein neues Bauen. Wo dieses Forträumen nicht geschieht, wo kein Platz gemacht aber dennoch beansprucht wird, bahnen sich Konflikte an. Das daraus resultierende Dilemma aus kollidierenden Platzansprüchen pointiert Bollnow mit Friedrich Schillers Tell: „Weib mach Platz, oder mein Roß geht über dich hinweg.“22 Doch auch hier müssen wir an die Fülle jener Plätze denken, die nicht im Sinne von Bollnow eingeräumt und eingerichtet worden sind, sondern sich als Plätze in einem Dazwischen der städtischen Bebauung erst in ihrem Gebrauch konstituiert haben.

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Sitte war kein Freund des modernen Städtebaus mit seinen geometrisierten Plätzen.46 Er präferierte die „alte“ Stadt, die nicht am Reißbrett konzipiert wurde, sondern „allmählich in natura entstanden ist, wobei man ganz von selbst alles dasjenige berücksichtigte, was dem Auge in natura auffällt“.47 Kein Wunder also, dass Verfechter des modernen Städtebaus wie Le Corbusier und Sigfried Giedion Sitte Romantizismus und Subjektivismus vorwarfen und ihn als „Verfechter kleinstädtischer und rückwärtsgerichteter Werte“48 diskreditieren wollten. Sittes Vorhaben, der Herstellung sinnlicher Qualitäten des städtischen Raums neben funktionalen Erwägungen ein mindestens gleiches Gewicht zu geben, spiegelte aber nicht nur seine persönlichen ästhetischen Präferenzen wider, sondern mehr noch den Geist seiner Zeit. Die Stadt trug am Beginn des 20. Jahrhunderts eine im Erleben der Menschen mächtig gewordene technische Signatur. Der Vormarsch der Maschine kündigte das paradigmatische Entwicklungsleitbild der industriellen Moderne an, sorgte aber auch für tiefgreifende Entfremdungserfahrungen. Sittes Plädoyer für krumme Straßen und das in gewissem Sinne autopoietische Wachsenlassen von Plätzen kam zu seiner Zeit den ästhetischen Entlastungsbedürfnissen der Menschen entgegen49 (s. auch Kapitel Verkehrsarchitektur). Sein ästhetisches Verständnis der Stadt folgte mehr sozialpsychologischen Impulsen als der konzeptionellen Vision einer neuen Stadt. Aber Sitte stand mit seinem Wunsch nach einer sinnlichen Stadt nicht allein. Ähnliche Akzente setzte der britische Stadtplaner Raymond Unwin. Insbesondere deutschen Plätzen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut wurden, konnte er wenig abgewinnen: „Wenn wir deutsche Pläne prüfen, […] werden wir finden, dass sie alle nur die Haußmannsche Überlieferung zeigen, und werden uns in der Regel vergebens nach einem wirklichen Platz umsehen.“50 So bezogen sich auch seine Vorschläge zur Gestaltung von Plätzen (s. Abb. 4) auf „alte“ Vorstellungen einer romantizistischen Ästhetik. Der Streit um die Ästhetik von Plätzen setzt sich in der Gegenwart fort (s. auch unten das Beispiel einer neuer Platzordnung in Frankfurt am Main). Alle Dispute um den „richtigen“ Platz kreisten und kreisen um die Lösung einer doppelten Gestaltungsaufgabe. Der Platz soll ein zentraler Ort im Raum der Stadt, zugleich aber auch ein „Leuchtturm“ in der städtischen Kultur sein. In allen Debatten über seine Bedeutung für die Stadt schwingt implizit ein atmosphäreologischer Diskurs mit, das heißt die Suche nach affektiven Erlebnisformen, die diesen Bedeutungen entsprechen. Plätze sind Programmräume, in denen Ideen und bedeutungskomplementäre leibliche Raumqualitäten situativ erlebt und erlebbar gemacht werden.

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Zur Atmosphäre von Plätzen

Plätze sind programmatische Räume

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Sich zu einem Platz aufweitende Straße

Platz als Aufweitung der Straße (Groningen, NL)

Zwischen 1905 und 1908 wurde das Weimarer Hoftheater neu errichtet. Im Zuge dessen musste auch der Platz vor dem Theater vergrößert und umgestaltet werden. Zunächst schaffte man durch das Forträumen von Unbrauchbarem Platz.51 Das ehemals am Gehweg platzierte Goethe-SchillerDenkmal konnte wirkungsvoller auf dem neuen Platzmittelpunkt positioniert werden. Die auf diese Weise aufgewertete Bedeutung des Denkmals „wurde noch durch das kreuzförmige Muster der Pflasterung hervorgehoben. […] Das Monument wurde so deutlich in das Programm der inneren und äußeren Ausgestaltung des Theaters einbezogen“.52 Der Platz erwies sich als medialer Raum der Inszenierung der Dichterstadt. Nicht zuletzt lag im wachsenden Tourismus ein Grund für seine repräsentative Gestaltung. Kulturpolitische Interessen drücken sich in der Gestaltung von Plätzen aber auch auf subtile und indirekte Weise aus. Für die Selbstzuschreibung von Identität bieten sich nicht nur Symbole der Hochkultur an, sondern auch profane Bauten. Ein Beispiel aus den Niederlanden soll das illustrieren. Die niederländische Stadt Groningen verwandelt eine innerstädtische Freifläche zwischen Wohnbebauung und Straße auf der einen und Gracht auf der anderen Seite durch die Errichtung eines öffentlichen Pissoirs im Stile avantgardistischer Architektur in einen bemerkenswerten Platz. Die geradezu ekstatische Ästhetik des Baus geht über die reine Zweckerfüllung hinaus (s. Abb. 5). Ein Denkmal erinnert und schreibt das zu Bedenkende ins kollektive Gedächtnis einer nationalen, regionalen oder lokalen Kultur ein. Ein Pissoir eignet sich dagegen nicht als Medium einer in diesem Sinne linearen Symbolisierung. Dennoch überschreitet die Ästhetik das Objekt, und der symbolische „Überschuss“ konstituiert an einem marginalen Ort in der Stadt eine avantgardistische Atmosphäre, die sich mit dem Image der Stadt verbindet und deren dynamisches und jungendliches Selbstbild akzentuiert. Groningen stellt sich selbst als „dynamic center of the northern netherlands“ dar, als „city full of young people“. Die Stadt will als jung, modern und kreativ wahrgenommen werden: „Here is space for talent. Space to work, grow and to develop yourself.“53 Ein Pissoir wird zu einem kulturpolitischen Medium. Da Plätze als öffentliche Räume keine Nutzergruppen ausschließen, können sie auch zu Stätten zivilen Ungehorsams werden. So wird der innerstädtische Hereplein zum Austragungsort und Gegenstand eines Protestes, weil die Kommune einen Bestand alter Kastanien fällen will, der außer einer breiten Allee auch den Platz begrünt. Der Hereplein ist aber kein „leerer“ Platz,

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Exzentrik an diesem Ort tangierte geradezu zwangsläufig die Ästhetik des öffentlichen Raums und steigerte die Vitalqualitäten des Urbanen. In seinem Gemälde Die Großstadt (1916/17) setzte George Grosz die städtische Öffentlichkeit als Zerrspiegel gesellschaftlicher Verhältnisse ins Bild (s. Abb. 4). Dessen Mitte wird von einer spitzen Gebäudeecke dominiert, die in den Raum hineinragt und auf sich aufmerksam macht. Im performativen Schmelztiegel einer auf den ersten Blick nur bunten Szene scheint das Sinnbild einer kenternden gesellschaftlichen Situation auf. Plakativ in das Gemälde hineingeschriebene Chiffren aufreizender Lebensstile (Benz, Hotel Atlantik, Grand Mercier) markieren eine soziale „Ecke“, die in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht die Welt der einfachen Leute war. Im Bild kippender Bauten und skurriler Fratzen prangerte Grosz die Dekadenz eines Lebensstils an, dessen Zeche andere zahlten. Als Maler – allzumal als politischer Künstler – wollte er eine kritische Position zum Zeitgeschehen beziehen. Die mimetische Durchquerung einer widersprüchlichen und ungleichen sozialen Welt sollte provozieren und sensibilisieren. Im Chaos der Szene, die als stadtgesellschaftlicher Kristallisations- und Scheitelpunkt inszeniert ist, brachte Grosz das Gesicht eines „dekadenten“ Bürgertums zum Ausdruck.9 Der durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs politisierte Künstler sah sich auf der Seite des Proletariats. Die Schauseiten der Stadt setzte er mit ihren Prachtbauten in ein Bild kultureller Entgleisungen. Die „schöne“ Stadt wird zum Spiegel der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Im Medium der (sinnlichen und moralischen) Berührung zielt die atmosphärische Suggestion auf eine ästhetische Zuspitzung von Gefühlen der Erregung und Empörung. Grosz dürfte nicht zufällig eine Ecke, an der sich zwei Straßen schneiden, für die bildliche Verdichtung seiner Inszenierung gewählt haben. Die markante Ecke in der Bildmitte symbolisiert einen herausragenden, hervorstechenden und exponierten gesellschaftlichen Ort – einen Ort der Gabelung zweier Wege. Kurze Phänomenologie der „Ecke“ Alle Bedeutungen der Ecke verweisen auf etwas Spitzes, Scharfes oder Kantiges, in einem metaphorischen Sinne aber auch auf markante Eigenschaften einer Gegend. Das im Gemälde von Grosz dargestellte Eckhaus fällt in die Gruppe jener Ecken, die in ihrer (scharf-)kantigen und winkligen Erscheinung durch die Gestalt eines Bauwerks sowie die synästhetische Eindruckswirkung von Dingen zur Geltung kommen. Ein geschliffener Granit erscheint härter, kantiger und eckiger als ein Kalk- oder Sandstein. Es sind aber nicht die (objektiven) physischen Kanten und Ecken, die den einen Stein als scharf und spitz und den anderen als weich und plastisch erscheinen lassen. Vielmehr ist es die sinnliche Wahrnehmung synästhetischer Cha-

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Die spitze Ecke in Stadt und Architektur

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Metropolis (1916/17)

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Victoria-Turm in Mannheim (Perspektive Hauptbahnhof ) Victoria-Turm in Mannheim (Perspektive vor dem Gebäude) 6

raktere, die das poröse und offene Gestein leichter und weicher erscheinen lässt als ein an seiner Oberfläche geschlossenes und glänzendes Material. Ob und wie wir einen Gegenstand als eckig empfinden, vermittelt sich über das ästhetische Erscheinen seiner Gestalt und Materialität, mit anderen Worten: über seine Erlebnisqualität. Architekten, Landschaftsgärtner und andere Gestalter im Metier des Ästhetischen spielten zu allen Zeiten in der Wahl ihrer Ausdrucksmedien mit Suggestionen, die sich über die Brückenqualitäten der leiblichen Kommunikation anboten. Was als eckig und kantig erscheinen sollte, musste so inszeniert werden, dass es sich in atmosphärischen Gefühlsqualitäten des Eckigen und Kantigen präsentierte. Aufgrund der Ganzheitlichkeit der Wahrnehmung treten dominante Gestaltungsmerkmale (über Form und Materialität von Baustoffen) situationsstimmend in den Vordergrund und imprägnieren so das sinnliche Erleben des ganzen Gebäudes. Der geometrisch spitze Winkel einer Hausecke macht das Haus in seinem Gesamteindruck spitz. Die Ecke des Flatiron-Building steht in der Baugeschichte des frühen 20. Jahrhunderts für das spitze (Hoch-) Haus par excellence, wenngleich die Ecke durch ihre Rundung auch „entschärft“ ist. Kompromisslos kantige Ecken der modernen und postmodernen Architektur folgen einer vielstimmigen Symbolik, die sich mit je eigenen atmosphärischen Eindrücken verbindet. Der im Jahre 2001 in Mannheim hinter dem Hauptbahnhof fertiggestellte 97,5 Meter hohe Victoria-Turm (Entwurf: Albert Speer & Partner) soll beispielhaft für die postmoderne Inszenierung von Eckgebäuden stehen. Sein rautenförmiger Grundriss lässt ein entwurfs- wie bautechnisches Prinzip der Exotisierung erkennen, wonach die Suggestivität der Eckbebauung auf die Spitze getrieben wird. Es ist vor allem die geometrische Form, die die Aufmerksamkeit so eindringlich provoziert. Eine spitz zulaufende Ecke zieht die Blicke in anderer Weise auf sich als eine stumpfe oder gerundete, die ein Weiter hinter der Ecke erwarten lässt.10 Aus der Perspektive der Bahnsteige des Mannheimer Bahnhofs spitzt sich die ästhetische Exzentrik des Bauwerks zu. Aufgrund der Blickrichtung ist nur eine Seite des rautenförmigen Gebäudes sichtbar. Auf einer Strecke von ca. 20 Metern erscheint es nicht als dreidimensionales Gebäude, sondern als zweidimensionales Gebilde (s. Abb. 5). Erst im Weitergehen gibt sich der Baukörper wieder zu erkennen, nachdem sich die vertikal zum Betrachter stehende Linie der Fläche plötzlich in eine spitz abgewinkelte Raumkante verwandelt. Vom Spiel der Verrätselung wird der Blick erst in der simultanen Wahrnehmung der Bewegung des Vorbei-, Hin- und Weggehens gebannt. Der sich bewegende Blick lässt das Bild changieren, sodass eine Vexiergestalt entsteht. Die optische Täuschung der sinnlichen Wahrnehmung konstituiert den Sensationswert der Extravaganz des Turmes. Diese allein begründet aber noch keine Atmosphäre. Auch aus einem geringen Abstand von 20 oder 30 Metern vermittelt die Exzentrik der Gestalt zwar eine Lust am Spiel mit der eigenen Wahrnehmung; eine atmosphärisch immersive Macht geht von diesem Eindruck jedoch noch nicht aus. Die Faszination hat eher einen symbolischen und intellektualistischen Reiz. Dies ändert sich erst, wenn das flächige Trugbild hinter dem Laubdach hoher Platanen in den Himmel ragt

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Neubau Europäische Zentralbank, Frankfurt/M.

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Reykjavik, Island

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Jürgen Hasse    

Atmosphären des Lichts

Hafenhaus, Emden

Die räumliche Organisation der Stadt schließt ab dem späten Mittelalter die Schaffung einer öffentlichen Beleuchtung ein. Diese diente aber noch nicht in einem modernen Sinne der Belebung des öffentlichen Raums in den Abend- und Nachtstunden. „Nächtliche Straßenbeleuchtung durch an den Häusern befestigte Laternen und Fackeln fand nur bei Feindesgefahr, Feuer, inneren Unruhen, beim Einzug eines Fürsten oder gelegentlich großer Feste statt.“1 Die Installation des künstlichen Lichts folgte im Wesentlichen dem Ziel der Inszenierung festlicher Atmosphären und dem der Gefahrenabwehr. Aber es bot sich auch für die Einfädelung in ein Dispositiv der Macht an, konnte die Kontrolle der Bürger in den Abendstunden im Licht doch viel nachhaltiger praktiziert werden als in der Dunkelheit.2 Die Stadt und ihre Licht-Ästhetik Die moderne, mehr noch die postmoderne Stadt ist in ihrer zweiten Wirklichkeit im Schein des künstlichen Lichts zu einer Selbstverständlichkeit geworden. „Architektur ohne Licht ist keine Architektur (Architectura sine luce nulla architectura est)“3. Die Gewöhnung an die ubiquitäre Permanenz des pragmatischen und ästhetischen Lichts machte die illuminierte Stadt in der Wahrnehmung unauffällig. Das in seinen ästhetischen Gestalten so mannigfaltige Licht der Stadt ist aber nicht gleich-wertig; eher unbewusst wird es in einer Rangfolge kultureller Bedeutungen erlebt. Herausgehobene

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diese auch durch einverleibte Symbole christlicher Mythologie getragen werden, so dürfte ihr emotionalisierender Effekt in säkularen Gesellschaften doch eher in die Ein-stimmung einer erhöhten Konsumbereitschaft als in die Vermittlung christlich motivierter Kontemplation münden. In weihnachtlichen Atmosphären konstituieren sich – je nach individuellen Präferenzen, aber auch gruppenspezifischen Wertdispositionen – christliche, soziale, ökonomische, kulinarische und andere Erlebniserwartungen in besonderer Dichte. Die Arrangeure weihnachtlichen Erstrahlens innerstädtischer Einkaufs­ zonen können in ihrer ästhetischen Arbeit auf ein großes Reservoir tradierter Praktiken zurückgreifen. Dabei verdanken sich die nachhaltigsten Methoden nur scheinbar dem Einsatz materieller Symbole des Weihnachtlichen (Sterne, Schnee, Engel etc.). Ihren affizierenden Schub erhalten die Dinge erst in ihrer synästhetischen Inszenierung. In der Anwendung professionellen Gestaltungswissens greifen Lichtdesigner auf implizites ästhetisches Bewirkungswissen zurück.53 Die Komplexität der Gestaltungsaufgabe stellt sich weniger auf einem licht-, sondern vielmehr auf einem stimmungs-„technischen“ Niveau der Evozierung von Empfindungen. Den sentimentalistischen Inszenierungen kommen selbst profane architektonische Gegebenheiten dann unterstützend entgegen, wenn diese gleichsam von sich aus in die weihnachtliche Stimmungsprogrammatik hineinfließen. Solche sinnlichen und symbolischen Synthesen setzen voraus, dass sich profane ästhetische Szenen für eine stimmungsintentionale Zweifachverwertung anbieten. So fügt sich zum Beispiel die gelblich illuminierte Sandsteinfassade eines repräsentativen gründerzeitlichen Gebäudes in die weiche Atmosphäre des Weihnachtlichen ein (s. Abb. 5), weil der Schein des vom rauen und gelblichen Sandstein absorbierten weichen Lichts auf dem Wege der Gestaltverläufe die Wirksamkeit einer weihnachtlichen Atmosphäre ergänzt. Außerhalb der Weihnachtszeit evoziert das weiche Licht auf historischen Sandsteinfassaden eine feierliche, aber keine weihnachtliche Atmosphäre; zur Adventszeit genügt vor solchen Gebäuden schon die Platzierung weniger geschmückter Tannen mittlerer Größe und das profane Fassadenlicht verbindet sich samt historisierter Laternen zu einem atmosphärischen Medienverbund des Weihnachtlichen. Das Licht als Medium Die Inszenierung städtischer Illumination setzt Planung voraus, deren Ziele über die Installation einer profanen Beleuchtungstechnik hinausgehen. Auf dem Hintergrund der Antizipation angestrebter Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen stellt sich die Aufgabe einer Operationalisierung atmosphärischer Programme der Beeindruckung. Solche Antizipation basiert auf Wissen um die Wirkung eines Ganzen wie der Synthesen, dank derer einzelne

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Atmosphären des Lichts

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Weihnachtsbeleuchtung an der Alten Oper (Frankfurt/M.)

Schritte der Umsetzung eines Illuminationsplans in einen Gesamteindruck münden. Während sich das technische Arrangement im engeren Sinne planen lässt, entzieht sich der damit angestrebte Affektzustand aufgrund individueller Dispositionen weitgehend seiner Vorhersehbarkeit. Deshalb merkt Gerhard Auer auch an, dass der Architekt die durch eine Situation des Lichts angestrebte Stimmung „im voraus kaum kalkulieren und nur schwer planen“ kann, weil sie „einer Unzahl von Ingredienzen, der Spontaneität und der Subjektivität“ entspringe.54 Die Diskurse über die Illumination von Bauten, Plätzen, Straßen und Flussufern haben in der Gegenwart einen lichttechnologischen Überhang. Im Unterschied dazu waren sich namhafte Architekten zu Beginn des 20. Jahrhunderts der integralen Aufgabenstellung des Bauens mit Licht noch sehr viel bewusster. Johannes Teichmüller nahm maßgeblichen Einfluss auf eine Debatte über die Bedeutung des Lichts in der Architektur.55 Unter anderem differenzierte er zwischen Architekturlicht und Lichtarchitektur. Das die Architektur lediglich „erklärende“ Architekturlicht wandele sich dann zu Lichtarchitektur, wenn „die Beleuchtung mit künstlichem Licht besondere architektonische Wirkungen hervorrufe, die gleichzeitig mit dem Licht entstehen und vergehen“.56 Mit dem „Baustoff“ Licht sollten – wie mit Stein, Stahl und Glas – räumliche Qualitäten geschaffen werden. Ähnliche Akzente wurden unter anderem von Erich Mendelsohn gesetzt, der Intellekt und Gefühl als die beiden Komponenten von Lichtarchitektur hervorhob. Dabei liefere das Gefühl den schaffenden Impuls „des Bluts, des Temperaments [und] der Sinne“.57 In der zu Anfang des 20. Jahrhunderts herrschenden Lichteuphorie spiegeln sich mythisch aufgeladene Bedeutungen wider, die mit dem transparenten und lichten Baustoff Glas verbunden waren. Die emphatische Stilisierung der Glasarchitektur drückte in der schriftstellerischen Arbeit von Paul Scheerbart den emotional-erwartungsvollen Aufruhr der Zeit aus. Glasarchitektur sei Voraussetzung für die Schaffung neuer „Lichtnächte“. Die Erde umkleide sich „mit einem Brillianten- und Emailschmuck. Die Herrlichkeit ist gar nicht auszudenken.“58 In der Architektur des Neuen Bauens der 1910er und 20er Jahre wurde das Licht als Medium der Reinheit symbolisch überhöht. Einer der herausragendsten Lichtmystiker unter den Architekten war im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts Bruno Taut59, neben Walter Gropius, Hans Scharoun und Wassili Luckhardt.60 Aus einem Affekt gegen eine „verstaubte, verfilzte, verkleisterte Welt der Begriffe, der Ideologien, der Systeme“ dachte er die „gläserne“ Vision einer gewaltlosen Welt: „Hoch das Durchsichtige, Klare! Hoch die Reinheit! Hoch der Kristall!“61 In seiner Glasarchitektur schrieb Scheerbart: „Das neue Glas-Milieu wird den Menschen vollkommen umwandeln.“62 Seine größte Ausstrahlung entfaltete der Baustoff als leuchtendes Medium. So wurde das (gläserne) Licht im Neuen Bauen zu einem Symbol sozialer Utopien. „Die Menschheit sollte aus den dunklen Kerkern der steinernen Miets­kasernenstadt, den Klauen des Staates und der Geißel des rechten Winkels befreit und ans Licht geführt werden.“63 Die Utopie einer besseren Gesellschaft fand in konkreten Baugestalten ihren historischen

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Garagendachgarten

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Garagenterrasse

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Regen

Verkehrs­ architektur als Affektraum

Seit Jahrtausenden bedient sich der Mensch technischer Mittel der Beschleu­ nigung zur Erschließung seines Entfaltungs- und Wirkungsraums. Einfache Wege für Pferd und Wagen stellten geringe Anforderungen an den Bau spezieller dem Verkehr dienender Infrastrukturen. Dagegen hatte die Elek­tri­ fizierung im 19. Jahrhundert, besonders aber die Automobilisierung seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine radikale Umgestaltung der Stadt zu einem Verkehrsraum zur Folge. „Verkehr und Mobilität sind sowohl Ausdruck als auch Treiber jenes Modernisierungsprozesses, der den menschlichen Lebens­ raum in den letzten beiden Jahrhunderten radikal umgestaltete und erweitert hat.“1 Noch im 1929 erschienenen Lexikon der Baukunst von Wasmuth hieß es: „Hauptträger des Personenverkehrs auf öffentlichen Verkehrmitteln sind die Straßenbahnen auch in den Weltstädten.“2 Genau 70 Jahre später trifft Paul Virilio die Diagnose vom „rasenden Still­stand“3. Damit thematisiert er die Auswirkungen aller bis dato realisierten Beschleunigungstechnologien auf die Wahrnehmung ihrer Benutzer. „Unab­hängig davon, ob wir uns DAHEIM oder auf der REISE befinden, wird es für uns nicht mehr darum gehen, die Landschaft zu bewundern, sondern einzig darum, ihre Bild­ schirme, ihre Skalen, die Steuerung ihrer interaktiven Bahnen zu überwachen“.4 Aber nicht erst die Benutzung der Verkehrsmedien verändert den wahr­genommenen Raum; schon das hermetisch dichte Netz der Verkehrs­ infrastrukturen5 und ihrer Trägersysteme hat eine verkehrsarchitektonische Dichte hervorgebracht, die das Erleben der Stadt imprägnierte.

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lischer Akt, der die Spaltung der Bevölkerung vertiefen sollte.“41 Wenn Brücken auch verkehrsinfrastrukturellen Zwecken dienen, so leben in ihren Assoziationen auch kulturelle Bedeutungen auf, die über die profane Funktion des Bauwerks hinausweisen. Für Cäsar war es eine Frage der Würde des römischen Volkes, den Rhein auf einer Brücke zu überqueren und nicht zu Schiff. „Obgleich sich nun bei der Breite, der reißenden Strömung und der Tiefe des Rheins der Bau einer Brücke als überaus schwierig herausstellte, glaubte er [Cäsar, Vf.] doch, da­ rauf bestehen oder den Übergang ganz unterlassen zu müssen.“42 Angesichts der Tatsache, dass die Brückenbauten der Römer bautechnisch äußerst aufwendig waren43, hatten sie ihren Sinn auch darin, in der Gestalt eines Bauwerks technische Verfügungsmacht zu symbolisieren, dessen Sichtbarkeit atmosphärisch (warnend und mahnend) eine politische Macht der Stärke kommunizieren sollte.44 Aufgrund ihrer symbolischen Überschüsse werden ästhetisch herausragende Brückenbauwerke oft zu städtischen Wahrzeichen, wie die GoldenGate-Bridge in San Francisco oder die Tower Bridge in London.45 Auch die in Frankfurt allein für die neu errichtete Europäische Zentralbank im Bau befindliche Mainbrücke Ost46 ist eine symbolische Transversale, weil sie als Objekt an dieser Stelle die internationale finanzpolitische Bedeutung der Zentralbank beglaubigt. Oft bilden Sym­­bol und Wahrzeichen eine Einheit; so die Rotterdamer Erasmusbrücke (s. Abb. 2), die die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaute „alte“ Kernstadt mit der postmodernen Innenstadterweiterung des Kop van Zuid verbindet und für den Aufbruch in eine neue Zeit steht. Die Brücke ist aber nicht nur ein Symbol des Aufbruchs und der produktiven Verbindung. Wo sie zum Beispiel in Gestalt der monströsen Hochstraße die Stadt der Menschen in einen Funktionsraum der Automobilität verwandelt (s. Abb. 3), versinnbildlicht sie den „Unfall“ (Virilio) kommunaler Verkehrspolitik und das Scheitern der sozialen Stadt. Hochstraßen, die weder Brücken, noch Straßen im engeren Sinne sind und in ihrer Platzierung Gefühle der Beengung und Bedrängung hervorrufen, lassen das Vergessen des menschlichen Maßes im Bau der Stadt erkennen. Die Logik der Verbindung von architektonischer Geste, Symbol und Gefühl wird an Beispielen zur Architektur totalitärer Regime evidenter als an den ideologisch vielsprachigen, heterogenen, widersprüchlichen und oft hoch verschleierten Symbolismen der Architektur in demokratischen Gesellschaften. Die Brückenbauten der Reichsautobahn erfüllten als gleich-

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Verkehrsarchitektur als Affektraum

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Entwurf einer Brücke für die Reichsautobahn (Friedrich Tamms 1941)

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Erasmusbrücke in Rotterdam (NL)

sam aufgestelzte Straßen nicht nur verkehrsinfrastrukturelle Zwecke, sondern auch solche der Ideologiebildung. Insbesondere monumentale Kons­ truk­tionen wie die von Friedrich Tamms47 sollten die „‚kulturhistorische Größe’ des monumentalen ‚Baudenkmals Reichsautobahn’“48 veranschaulichen. Der in Abb. 4 dargestellte Entwurf einer Autobahnbrücke von Tamms, der nie realisiert wurde, strahlt im Medium des technisch Erhabenen die Atmosphäre einer diffusen Macht aus, die durch die materielle Größe und kolossale Gestalt des Bauwerks (leiblich) kommuniziert wird. Nicht nur Brücken, sondern auch andere Bauten, die im Zusammenhang mit dem Ausbau der Reichsautobahn geschaffen wurden, sollten „Hoheitszeichen des Reiches“ sein und der Staatsrepräsentation dienen.49 Ihre Planung stellte sich deshalb nicht nur als technische Aufgabe, sondern auch als ein synästhetisches Projekt der Konstruktion von Atmosphären. Die Autobahn sollte in ihrer Gestaltung und ästhetischen Einbindung in die Landschaft „Freude und innere Zustimmung“ auslösen.50 Es war indes eher die Zuschreibung besonderer atmosphärischer Qualitäten, die diese Ästhetik bewirken sollte, als die tatsächlich gebaute Gestalt der Trassen, denn diese waren stets das Gegenteil dessen, was sie bedeuten sollten: „Unsere deutsche Heimat ist so schön und so charaktervoll, daß es unverantwortlich wäre, wenn wir mit hartem Eingriff in die Natur diese Straßen entwerfen und bauen würden.“51 Der an der symbolischen Programmierung von Bauten totalitärer Regime evident werdende Zusammenhang von Baugestalt und Ideologie macht aber letztlich nur auf das Grundmuster einer allgemeinen Systemabhängigkeit kul­tureller Markierungen signifikanter Bauten aufmerksam. Die Affinität physio­gnomisch großer, architektonisch herausragender oder aus anderen Gründen auffälliger Bauten für die atmosphärische Aufladung mit poli­tischen, ökonomischen, historischen und anderen Bedeutungen ist kein Spezifikum totalitärer Regime, vielmehr Ausdruck einer affektiven Einbettung von Bauwerken in die symbolische Ordnung einer Gesellschaft. Der Tunnel – Raum des Hindurch

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Hochstraße (Hagen/Westf.)

Wenn Tunnels auch im Erdreich dem Erlebnisraum der (Stadt-)Land­ schaft entzogen sind, so tragen sie in ihrer „Verbergung“ doch auch einen symbolischen Sinn. So berührte die 1994 fertiggestellte Untertunnelung des Ärmelkanals zwischen Folkstone in Großbritannien und Coquelles in Frankreich, für die es schon im 18. Jahrhundert erste Pläne gab, die nationale Identität des britischen Inselreichs. Das Gefühl, durch das Meer vom europäischen Festland getrennt zu sein, war zumindest temporär irritiert. Ich werde im Folgenden den atmosphärischen Raum des Tunnels aber nicht als sphärologisches Medium des Politischen ansprechen, sondern seinen unterirdischen Röhrencharakter zum Anlass nehmen, um die Tunnelpassage auf ihre atmosphärische Erlebnisqualität hin zu thematisieren. Der Begriff des Tunnels stammt aus der Bergmannssprache (abgeleitet von „Stollen“ und „Schacht“) und war im 18. Jahrhundert zur Bezeichnung unterirdischer Kanäle gebräuchlich: „Auch der tunnel ist ein stolln, welcher an zwei Punkten zu tage geht“52. Erst ab dem 19. Jahrhundert verändert sich

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eher reproduzierender als schonender Praktiken der Landwirtschaft macht aber deutlich, dass das erwünschte Wachsen und Gedeihen nur in Grenzen der natura naturans abgerungen werden kann. In angestrebte Zustände von Natur mischen sich stets störende Prozesse ein. Die Grenzproblematik zwischen einer von sich aus seienden und einer in ihrem Wachsen kulturell initiierten Natur steigert sich schließlich im Doppelcharakter des Menschen, der als Wesen der Natur zur Kultur fähig ist, gänzlich zum Dilemma, wäre doch auch der Umbau der Natur, ihre „Ausbeutung“ wie die Entfremdung von ihr letztlich nur Ausdruck ihrer selbst. Allein die Lebenswelt suggeriert ein „eindeutiges“ Naturverständnis. Danach gilt das Meer ebenso als Natur wie die (Kultur-)Landschaft vor den Toren der Stadt, während der agroindustrielle Acker als beider Gegensatz betrachtet wird. Solche Trennung steht unter der Macht einer ästhetischen Verblendung, die mythisch trennt, was sich in einer unaufhebbaren Über­ lagerung von Natur und Kultur in hybriden Gestalten stets aufs Neue herausbildet. Ein kritisches Naturverständnis setzt daher die Aufhebung einfacher Dichotomien voraus und verlangt eine Revision kulturell tradierter Formen der sprachlichen bzw. denkenden „Behandlung“ dessen, was wir Natur nennen.2 Daraus ergeben sich Konsequenzen für das Verstehen von Atmosphären der Natur, die sich in ihrem Erscheinen durch die variationsreichen Ausdrucksformen der natura naturans vermitteln. Sie machen die Anmutungsqualitäten lebendig, welche am „wild“ gewachsenen Baum ebenso spürbar werden wie an einem technischen Bauwerk. Wenn die substanzialistische wie essenzialistische Rede über Natur als Folge ihrer Hybridisierung auch auf dem Grat zu kulturellen Formen ihrer Aneignung steht, so lassen sich doch die Wirkkräfte der natura naturans von jenen Ausdrucksmedien trennen, die Produkt der Herstellung durch den Menschen sind. Das natürliche Licht bedarf keiner technischen Initiierung, es kommt aber an Dingen der (Kultur-)Natur ebenso zur Erscheinung wie an technischen Artefakten. Im Unterschied dazu ist das künstliche Licht ganz von der Investition und Intention menschlicher Anstrengungen abhängig, wenn es in seiner technischen Herstellung auch den Gesetzen der Natur folgt. Dasselbe gilt für das Meeresrauschen und den Ruf der Eule im Unterschied zur technisch inszenierten Klangkulisse einer Musikveranstaltung. Atmosphären der Natur stellen keine Natur dar, drücken sich aber in ihren wirkenden Kräften aus. Phänomenologische Anmerkungen zur Wahrnehmung von Natur Die verschiedenen Naturen begegnen dem Menschen im Verstehen ihrer sozialen Bedeutungen als kognitive Gegenstände; in ihrem sinnlichen Erleben begegnen sie dagegen am eigenen Leib. Gernot Böhme hebt in seiner ästhetischen Theorie der Natur eine dreifache Unterscheidung hervor, indem er zwischen „dem Ding, dem Medium und dem Sinn“3 differenziert. In der Wahrnehmung erscheinen die Dinge in ihrer Physiognomie, die Atmosphäre ist das Medium der Wahrnehmung ihres Erscheinens, und die Sinne vermitteln uns davon Empfindungen und Gefühle, die am ei-

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Atmosphären der Natur

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Regen als Atmosphären erzeugendes Medium der Natur

genen Leib spürbar werden.4 So korrespondiert die Dreiheit von Ding, Medium und Sinn in der Wahrnehmung mit der Dreiheit von „Physio­ gno­mie, Atmosphäre und Befindlichkeit“5. Diese Perspektive unterscheidet sich grundlegend vom paradigmatischen „Sehvermögen“ der Natur- wie der Sozialwissenschaften, denn es kommt nun weniger auf körperliche Sub­stan­ zen an als auf die „leibliche Anwesenheit des Menschen in Umgebungen“6 erscheinender (Kultur-)Natur. Ein Baum erscheint im Licht der Mittagssonne in einer anderen Atmosphäre als in der Dämmerung, bei Windstille in einer anderen als bei Sturm. Solche Wandlungen gehen nicht auf Dinge zurück, auch wenn sie an ihnen wahrgenommen werden. Die Dreiheit von Ding, Atmosphäre und Befindlichkeit bedarf daher einer Variation ihres ersten Elements. Zu den Dingen kommen die Halbdinge 7 hinzu (vgl. Kap. Atmosphären), die als bewegende Kräfte – wie das Licht, die Dämmerung und der Wind – zwischen und über den Dingen stehen. Sie modulieren die Art und Weise, in der Natur zur Erscheinung kommt, stimmen ihren Vitalton und geben den Atmosphären ihre Farben und Klänge. Das Meer wandelt sich in seiner Erlebnisgestalt je nach der Bewegung und Lebendigkeit der Halbdinge geradezu dramatisch. Im fahlen Licht eines windstillen Morgens erscheint es als ein anderes denn im Halbdunkel des Vollmondes bei tobendem Sturm. Halbdinge wirken aber nicht nur am atmosphärischen Erscheinen der Natur im weiteren Sinne mit, sie verleihen auch – über Licht und Schatten sowie die Erscheinungen des Wetters (Nebel, Tau und Wind) – Häusern, Straßen und Brücken ein atmosphärisch je situationsspezifisches Gesicht (s. Abb. 1). Zivilisationshistorische Hypotheken – die vergessene Natur des eigenen Selbst Wenn Norbert Elias resümiert, „die Situation der ‚Natur’ auf dieser Erde hängt in letzter Instanz immer von der Situation der Menschheit und besonders von ihren Machtverhältnissen ab“8, so ist damit nicht nur das Verhältnis des Menschen zur äußeren Natur angesprochen, sondern implizit auch zu seiner eigenen. Hierbei kommt es nicht auf das Wissen um seine zoologische Herkunft und seinen anatomischen Aufbau an, sondern das vergessen gemachte Verhältnis zu seiner eigenen Leiblichkeit, in der ganz andere Bezüge zur Natur lebendig sind als im abstrakten naturwissenschaftlichen Umgang mit ihr. Die Natur der Naturwissenschaften wird in Begriffen, Theorien, Modellen und deren Logik folgenden Experimenten und Versuchen als Verfügungsgegenstand konstruierend hervorgebracht. Die Naturwissenschaften machen Natur in einem konstellationistischen Denken zu einem Gegenstand (der Veränderung). Aber auch in der Lebenswelt ist das vergegenständlichende Denken und Sprechen über Natur verbreitet. Im Gegensatz dazu ist Natur im Medium der Leiblichkeit nicht sprachlich und abstrakt vergegenständlicht, sondern befindlich in Gefühlen und Empfindungen gegeben.

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Plattenkamera erreichte optische Schärfe hätte der Bild-ung des verwaschen wirkenden Charakters der Szene im Wege gestanden und dem atmosphärischen Gefühl in diesem Wetter nicht entsprochen. Die Unschärfe der Aufnahme sagt aber nicht nur etwas über „das“ (vergegenständlichte) Wetter, sondern zugleich über das atmosphärische Mitsein des Fotografen in der Kälte des Tages, an dem er für diese Aufnahme mehrere Stunden ausgeharrt haben soll. Beide Bilder von Alfred Stieglitz spielen mehr auf die wirkende Dynamik der Natur in Ekstasen des Wetters an, als dass sie diese „dokumentieren“ würden. Sie widmen sich der Wirkung der Halbdinge im lebendigen Sich-Zeigen einer städtischen Situation. Es gibt keine Großstadt dies- oder jenseits des Wetters. Wenn auch nicht jede seiner Variationen im spürbaren Wandel der Atmosphären empfunden wird, so berühren doch schon alltägliche Wetterekstasen wie starker Regen, kräftig böiger Wind oder Nebel das bewusste leibliche Befinden in Atmosphären. In der alltagssprachlichen Rede von einer „spannungsgeladenen Gewitteratmosphäre“ oder „drückend heißem Wetter“25 sind Relikte dieses pathischen Wissens um die leibliche Berührung von Situationen des Wetters lebendig geblieben. Inszenierung von Atmosphären durch Stadtgestaltung und Architektur Die ab Mitte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhundert in vielen nordeuropäischen Großstädten angelegten Passagen (s. Abb. 4) dienten unter anderem einer technischen und architektonischen Beherrschung widrig empfundenen Wetters. Die mit Glas überdachten, offenen Durchgänge zwischen Höfen oder zur Verbindung mehrerer Gebäude waren regenfreie und windstille Räume, die den Außentemperaturen in Frost- und Hitzephasen die Spitze nahmen. In den Passagen entstand durch diese räumliche Luxurierung des Innen im Außen ein in seiner architektonischen Exzentrik exklusives atmosphärisches Milieu, das sich vom übrigen Raum der Stadt abhob. Die beidseitig der Durchgänge auf dem Niveau des Erdgeschosses angelegten Läden verorteten dieses Ambiente im sozialen Kosmos der Stadt. Die kulturelle Atmosphäre der Repräsentation26 setzte die physische Filterung des Wetters voraus. Die Passage versinnbildlicht stadthistorisch ein Paradigma der Zurückdrängung der Natur aus dem Erlebnisraum der Stadt und die gleichzeitige Selbstverortung des „zivilisierten“ Menschen in einer Welt der Kultur. Gleichsam umgekehrt verfolgen Architektur und Stadtplanung gegenwärtig die Integration naturbezogener Erlebnisqualitäten in den Raum der Stadt. Die Gestaltung inszenierter Naturmilieus soll zum Beispiel in der Grünraumplanung eine Aufwertung bebauter Räume durch naturbezogene Erlebnisqualitäten bewirken. „Insgesamt wird eine hohe Lebens- und Wohnumfeldqualität erwartet, für die eine ausreichende Versorgung mit Grün- und Freiflächen in Wohnungsnähe sowie ein an-

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Atmosphären der Natur

Mediale Natur­ inszenierung (verspiegelte Bank, Michaela Zimmer, Berlin) 5

4

County-Passage in Leeds (1900)

sprechendes Stadtbild wichtige Voraussetzungen sind.“27 Das äußerliche Naturverhältnis, das diesem Planungsverständnis zugrunde liegt, könnte kaum deutlicher zur Geltung kommen als in dem programmatischen Ziel der Versorgung der Menschen mit Grünflächen. Welchem Sinn solche „Versorgung“ letztlich dient, bleibt im Dunkeln. Während in den 1980er und frühen 90er Jahren die Idee der „Ökologisierung“ den Umgang mit öffentlichem Grün bestimmte, gewinnen seit der globalisierungsbedingten Verschärfung im Wettstreit der Städte um ästhetische „Standortfaktoren“ unter anderem natur-„nahe“ Quartiersatmosphären an Bedeutung. Als attraktiver Wohnraum überzeugt eine Stadt nur dann, wenn sie über nachfragegerechte Angebotsstrukturen im öffentlichen und gewerblichen Sektor hinaus auch „Oasen der Natur“ vorweisen kann. Wenn diese auch evidenten Zwecken dienen (von ihrer rekreativen Nutzung bis zur Symbolisierung einer ökologischen Stadtentwicklungsplanung), so erfüllen sie nicht zuletzt eine kompensationspsychologische Funktion. Die Inszenierung städtischer „Natur“-Räume wird zwar auf einer oberflächenästhetischen Seite sichtbar, auf einem verdeckten Niveau vermittelt sie dagegen tiefenästhetische Effekte28 einer Naturromantisierung, die einverleibte Naturentfremdungen im Unbewussten verfestigen und der nachdenkenden Reflexion damit entziehen. Im Raum städtischer Verdichtung artifizieller, abstrakter und funktionaler gesellschaftlicher Strukturen wird Natur so als „außergesellschaftlicher Ort“29 erlebt – als das Andere des Menschen und das Andere der spätmodernen Zivilisation. Dabei kommt es nicht auf den Zustand „authentischer“, wilder oder sich selbst überlassener Natur an. Als „Natur“ wird für das kollektive Erleben inszeniert, was in seinem physiognomischen und symbolischen Anderssein im Vergleich zum Kulturraum der Stadt die Zumutungen spätmodernen Lebens in Systemen ästhetisch zu entlasten verspricht. „Die Sehnsucht nach der Natur erweist sich als die Sehnsucht nach einem Ort, an dem nicht Arbeit, zweckrationales Handeln und rationale Rechtfertigung gefordert sind, an dem vielmehr Liebe, Sinnlichkeit und Gefühl walten.“30 Dies ist eine Natur in der Stadt, deren Erleben Ausdruck einer äußerlichen Naturbeziehung ist.31 So wird sie nicht nur in ihrer geplanten Herstellung, sondern auch in ihrer Nutzung als Sphäre der Freizeit zu einem Gegenstand. Das Verständnis der Stadt als Natur32 drückt sich im Unterschied dazu nicht in ästhetizistischen „Natur“-Inszenierungen aus, sondern in einem kritischen Bewusstsein der Stadtbewohner gegenüber ihrem einverleibten Naturverhältnis, das sich in der Organisation städtischen Lebens zuspitzt (s. Abb. 5). Ungewollt zeigt schon eine „Pflege“-Kultur städtischen Grüns, die defensiv betrieben wird und keinem rationalistischen Beherrschungsund Ordnungswahn unterliegt, dass Natur letztlich die Stadt in transformierter Form selbst ist. In der Gestaltung städtischer Grünräume wird Natur durch Mythen, Ideologien, Utopien und politi­sche Programme für ein wertendes Erleben eingestellt. Die Ge­ schich­te der Gartenarchitektur illustriert diesen Zu­sam­ men­hang. Auf einer Objektseite werden die dem Erleben

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Wohnstraße, Groningen/NL

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Neues Bauen, Groningen/NL

Jürgen Hasse    

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Lichtinstallation „Brandgrens“ – Rotterdam 2008. Illumination: Mothership

Atmosphären – die Macht des „Irrationalen“

In Atmosphären wird die Stadt in ihrer Komplexität und Dynamik spürbar. Schon geringfügige situative Veränderungen können sie intensivieren, variieren, abschwächen oder auflösen – durch einen Wandel von Licht und Geräusch sowie das Kommen und Gehen von Ereignissen, Personen oder Dingen. Oft ist es gerade dieses ortsspezifische Oszillieren, das an Städten so fasziniert. Solche mehr spürbaren als sichtbaren „Umwölkungen“1 machen Quartiere, Plätze oder Straßen so anziehend, weil sie das Dasein zum Schwingen bringen.2 In dieser Metapher spielt Buytendijk auf die Über­tra­gung äußerer Bewegungen in eine subjektiv spürbare Bewegtheit an. Atmos­phären lassen sich deshalb auch als affektive „Umschlagsräume“ verstehen, an denen die Lebendigkeit einer städtischen Situation in ein Gefühl der Teilhabe an dieser Lebendigkeit übergeht. Deren mimetische Vermittlung vollzieht sich nicht über rationale, son­­­ dern irrationale Beziehungen. In ihnen treibt aber nicht ein dunkler Anti­ po­de der Vernunft sein Unwesen, noch stehen sie für die Unzugäng­lich­ keit des Individuums gegenüber den Geltungsansprüchen von Normen der Rationalität. Als irrational soll jene Form der Erkenntnis gelten, die sich vor allem durch Intuition und leibliche Kommunikation vom analytisch-intelligiblen Denken unterscheidet. Rationalität und Irrationalität sind keine widerstreitenden Mächte, sondern komplementäre Vermögen der Welterschließung, auch wenn das Prinzip der Rationalität vom narziss­ tischen Subjekt als Zugpferd allen Tuns außerhalb sogenannter privater Lebensbereiche mythologisiert wird.

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Rick Messemaker

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