Arzneimittelberatung bei seltenen Erkrankungen
February 24, 2018 | Author: Herbert Knopp | Category: N/A
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Arzneimittelberatung bei seltenen Erkrankungen Rare Disease Day Symposium MHH, 29.02.2012 Solidarität – Rare but Strong Together
Roland Seifert Institut für Pharmakologie, MHH
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Sehr geehrte Damen und Herren,
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ich schreibe Ihnen aus den USA, weil ich hoffe, bei Ihnen einen Experten zu finden, der uns weiterhelfen kann. Bei meiner Freundin (45 Jahre alt) wurde letztes Jahr das SANDO-Syndrom diagnostiziert. Es hat mehrere Jahre gedauert, bis diese Diagnose gestellt werden konnte. In den letzten Monaten ist die Krankheit immer schlimmer geworden, und es ist furchtbar, den Verlauf hilflos mit ansehen zu müssen. Können Sie uns weiterhelfen? Manchmal gibt es in Europa innovativere Forschung und bessere Behandlungsmöglichkeiten als hier in den USA. Vielen Dank!
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Was ist das SANDO-Syndrom? → www.orpha.net
Sensorisch-ataktische Neuropathie mit Dysarthrie und Ophthalmoparese Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Was ist das SANDO-Syndrom?
Ursache für die Erkrankung: • Mutationen in der mitochondrialen DNA (POLG1- oder PEO1 (Twinkle)-Gen)
Symptome: • Schwere sensorisch-ataktische Neuropathie, Dysarthrie, progressive externe Ophthalmoplegie • Muskelbiopsie zeigt Myopathie mit Ragged Red Fasern (RRF)
Behandlungsmöglichkeiten? Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Was ist das SANDO-Syndrom? → Pubmed-Recherche
Das SANDO-Syndrom gehört zu den POLG-Erkrankungen, zu denen auch diverse andere mitochondriale Erkrankungen zählen. Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Was ist das SANDO-Syndrom? Mitochondrienerkrankungen (Beispiele) Defekte mitochondrialer DNA • Atmungskette, Komplex 1: LHON (Lebersche hereditäre Optikusneuropathie) • tRNA: MELAS (mitochondriale Enzephalomyopathie mit Laktatazidose und Schlaganfall-ähnlichen Episoden)
Defekte nukleärer Gene • Frataxin: FA (Friedreich-Ataxie) • POLG: • AHS (Alpers-Huttenlocher-Syndrom) • MEMSA (Myoklonische Epilepsie mit Myopathie und sensorischer Ataxie) • SANDO (Sensorisch-ataktische Neuropathie mit Dysarthrie und Ophthalmoparese) Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
POLG = Mitochondriale DNA Polymerase γ mtDNA
Mitochondrium
ADP
ATP
POLG
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Mitochondrienfunktion: Physiologie und Pathophysiologie
K1 → K2 → Q10 → K3 → K4 → K5 ATP
POLG Mitochondrium
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
→
Zellstoffwechsel
Mitochondrienfunktion: Physiologie und Pathophysiologie
K1 → K2 → Q10 → K3 → K4 → K5
Mutationen
ROS ATP
POLG Mitochondrium
Neuronendegeneration Klinische Symptome
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
gestörte NeurotransmitterFreisetzung
→
Zellstoffwechsel
Therapieversuch mit Coenzym Q10 (Idebenon) bei Mitochondrienerkrankungen Coenzym Q (Q10)
K1 → K2 → Q10 → K3 → K4 → K5
Mutationen
ROS ATP
POLG Mitochondrium
Neuronendegeneration Klinische Symptome
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
gestörte NeurotransmitterFreisetzung
→
Zellstoffwechsel
Welche Behandlungsmöglichkeiten für POLG-Erkrankungen gibt es? → Pubmed-Recherche
28 Publikationen
z.B. Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
• Symptomatische Therapie mit Antiepileptika (z. B. Lamotrigin) • Magnesium bei Status epilepticus • Vorsicht mit Valproinsäure, weil Mitochondrien-Toxizität! Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Mögliche Therapie des SANDO-Syndroms • Coenzym Q wegen ähnlicher Pathophysiologie wie bei anderen POLG-Erkrankungen • Symptomatische Behandlung der Epilepsie • Symptomatische Behandlung der Polyneuropathie Probleme • Off-label-use • Bislang keine klinischen Studien • Rechtzeitiger Therapiebeginn erforderlich • Bezahlung der Therapie durch Versicherungsträger?
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Medikation des zur Beratung gekommenen SANDO-Patienten (I) Arzneistoff
Wirkungsmechanismus
Beurteilung
Coenzym Q10
Verbesserung der Funktion der mitochondrialen Atmungskette, Radikalfänger
Wirkungsnachweis in klinischen Studien fehlt, aber nicht schädlich
Amitriptylin
nicht-selektiver MonoaminWiederaufnahme-Inhibitor
Symptomatische Besserung der Polyneuropathie, Gefahr von Krampfanfällen und anticholinergem Syndrom bei Überdosierung
Escitalopram
selektiver SerotoninWiederaufnahme-Inhibitor
Keine synergistische Wirkung mit A. bei Polyneuropathie, ähnlicher Wirkungsmechanismus wie A., Gefahr des Serotoninsyndroms und von Krampfanfällen bei Überdosierung
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Medikation des zur Beratung gekommenen SANDO-Patienten (II) Arzneistoff
Wirkungsmechanismus
Beurteilung
Coenzym Q10 Amitriptylin Escitalopram
… … …
9 9 ⇒ Empfehlung: Absetzen
Lamotrigin
Antiepileptikum, pleiotrope Wirkungsmechanismen
Antiepileptische Wirkung, neuroprotektive Wirkung, keine Mitochondrientoxizität
Clobazam
Benzodiazepin, Antiepileptikum
Antiepileptische Wirkung, keine Mitochondrientoxizität, aber Abhängigkeit und Gewöhnung, Entzugserscheinungen, für Dauertherapie nicht gut geeignet ⇒ Empfehlung: Absetzen! ggf. Dosiserhöhung von Lamotrigin
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Empfohlene Medikation des zu beratenden SANDO-Patienten ⇒ So wenig Arzneistoffe wie möglich ⇒ Kompromiss zwischen Symptomlinderung und unerwünschten Arzneimittelwirkungen Keine perfekte Therapie, keine Evidenz-basierte Therapie
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Zielgerichtete Therapie von Mitochondrienerkrankungen Erkrankung
Arzneistoff
Mechanismus
MNGIE
Thymidinphosphorylase
Gentherapie mittels Knochenmarkstransplantation
CoQ-Defizienz
Coenzym Q10
Spezifisches Substrat einer Komponente des mitochondrialen Elektronentransportes
MELAS
Dichloracetat
Hemmung der Pyruvatdehydrogenase, Laktatazidose ↓, Studienstopp wegen reversibler Polyneuropathie in allen Behandlungsfällen
MELAS
L-Arginin → NO-Freisetzung
Verminderung von Schlaganfällen durch verbesserte NO-vermittelte Vasodilatation
MERFF
CGP37157 (mitochondr. Calciumkanalblocker)
Verbesserung der mitochondrialen Ca2+-Homöostase
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Mitochondrien-Erkrankungen als Modell für Volkserkrankungen
K1 → K2 → Q10 → K3 → K4 → K5
M. Alzheimer
ROS ATP
POLG Mitochondrium
M. Parkinson
Herzinfarkt
Diabetes mellitus POLG-Mutation Klinische Symptome
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Zellzerstörung
→
Zellstoffwechsel
In Entwicklung befindliche Therapiestrategien • Körperliches Ausdauertraining • Antioxidanzien und Radikalfänger: Vitamin E, Carnitin, ungesättigte Omega-3-Fettsäuren, Vitamin B, C, K („Cocktail“) • Stimulation der mitochondrialen Biogenese: z. B. über β2-Adrenozeptor und nukleären Rezeptor PGC1α: Bezafibrat • Reduktion der mitochondrialen Permeabilität: Cyclosporin A, Sangliferin • Verbesserung der Ca2+-Homöostase: Blockade mitochondrialer Ca2+-Kanäle • Hemmung der Mitochondrienfragmentierung • Aktuell über 40 doppelt-blinde randomisierte Studien über Pharmaka für Mitochondrienerkrankungen
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
Schlussfolgerungen • Orphanet und Pubmed sind wichtige und sich ergänzende Datenbanken, aber nicht perfekt • Fachwissen über pathophysiologische Mechanismen wichtig • Häufig keine klinischen Studien, sondern nur off-label-use möglich • Profundes pharmakologisches Fachwissen zur Abschätzung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen unabdingbar • Arzneimittel für seltene Erkrankungen haben breiteres Anwendungsspektrum als primär vermutet • Sehr enger Forschungsbezug der Arzneimittelberatung notwendig • Forschung an Orphan Drugs lohnt sich für alle!
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Roland Seifert 29.02.2012
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