Das Land, das Titelautor Erich Follath, 58, beschreibt, könnte zerrissener kaum sein:

January 17, 2018 | Author: Florian Gerstle | Category: N/A
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 17. September 2007

Betr.: Titel, Augstein, Doping

as Land, das Titelautor Erich Follath, 58, beschreibt, könnte zerrissener kaum sein: Verbündeter der USA, aber Hort von Ausbildungscamps, in denen Tausende extremistische Muslime für Anschläge in Europa trainieren, ein Armenhaus, aber auch eine Atommacht, die zur weltweiten Gefahr werden könnte, wenn die Gemäßigten um Präsident Pervez Musharraf, 64, die Macht verlieren würden. Follath kennt die Gegebenheiten und die Protagonisten der pakistanischen Politik schon lange: Musharraf seit 1995, dessen Gegenspieler Benazir Bhutto, 54, und Nawaz Sharif, 57, bereits seit den achtziger Jahren. „Noch nie war die Gemengelage so gefährlich wie heute“, sagt Follath. Während die SPIEGELRedakteure Matthias Bartsch, 43, Simone Kaiser, 28, Marcel Rosenbach, 35, und Holger Stark, 37, den Spuren von Terrorverdächtigen in der deutschen Provinz nachgingen, beobachtete SPIEGEL-Reporterin Susanne Koelbl, 41, die Eskalation der Sicherheitslage in Pakistan, wo Koelbl (in Pakistan) „fast täglich Bomben explodieren, um Musharraf zu schwächen“. Koelbl, die nun mit ihrem Ex-Kollegen Olaf Ihlau, 65, im Siedler Verlag das Buch „Geliebtes, dunkles Land – Menschen und Mächte in Afghanistan“ veröffentlicht, zählt zu den besten Kennern der Region. Für diese Ausgabe fuhr sie auch ins Grenzgebiet zur Provinz Waziristan, einer Hochburg der Taliban. Viele ihrer Gesprächspartner hatten „aus Angst vor den Taliban wenig Mut, ein wahres Bild der Lage zu zeichnen“ (Seite 134).

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s ist auch Insiderwissen, auf das der TV-Journalist Peter Merseburger, 79, zurückgreifen konnte, als er seine jetzt bei der DVA erscheinende politische Biografie über SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein schrieb: Fünf Jahre lang, von 1960 bis 1965, war Merseburger SPIEGEL-Redakteur in Brüssel und Berlin. Sein Buch zeigt auf, warum der Name Augstein von der SPIEGELAffäre im Jahr 1962 über die Enthüllung zahlreicher Affären bis zur Debatte um die Wiedervereinigung im Jahr 1989 von der deutschen Nachkriegsgeschichte kaum zu trennen ist – und wie sein Magazin durch „Skepsis gegenüber allen Autoritäten“ zum „Institut der Respektlosigkeit“ (Merseburger) wurde. Der Kritiker Hellmuth Karasek, 73, hat die Biografie für den SPIEGEL rezensiert. Auch er verfügt über Insiderwissen: Von 1973 bis 1996 war Karasek SPIEGEL-Redakteur, 18 Jahre davon Leiter des Karasek, Augstein (1979 in St. Moritz) Kulturressorts (Seite 188).

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eit mehr als 17 Jahren schreibt SPIEGEL-Redakteur Udo Ludwig, 49, über die dunkle Seite des Sports. Nach der Wende deckte er auf, wie die DDR sich mit dem Doping von Athleten zur Weltmacht im Sport gespritzt hatte, er recherchierte die Doping-Affären um die Deutsche Katrin Krabbe und die Amerikanerin Marion Jones und enthüllte die Machenschaften im Radfahrstall Team Telekom. Mit dem renommierten Heidelberger Experten Werner Franke, 67, veröffentlicht er im Verlag Zabert Sandmann jetzt das Buch „Der verratene Sport. Die Machenschaften der DopingMafia“, aus dem der SPIEGEL Auszüge druckt. Sein Resümee klingt düster: „Es gibt keinen fairen Wettkampf mehr, der Sport hat sich selbst erledigt“ (Seite 212).

Im Internet: www.spiegel.de

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ARMGARD SEEGERS

KNUT MÜLLER

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In diesem Heft Titel Pakistan – Hort des Terrors ............................ 134 In der Grenzregion Waziristan gerät die Lage außer Kontrolle ................................ 138 Wie die Stadt Langen zur internationalen Drehscheibe für Dschihadisten wurde ............ 142 Der Film „Ein mutiger Weg“ mit Angelina Jolie schildert die Suche nach dem 2002 in Karatschi verschleppten und ermordeten US-Reporter Daniel Pearl ............................... 146

MARCEL METTELSIEFEN / PICTURE-ALLIANCE/ DPA

Bahn-Privatisierung vor dem Aus

Deutschland Panorama: Bundesregierung plant Zuschüsse für Geringverdiener / Nato-Eingreiftruppe vor dem Aus / Tabaklobby ködert Abgeordnete mit Fußball-Freikarten ...................................... 18 Verkehr: Der schleichende Tod der Bahn-Privatisierung ................................... 24 Außenpolitik: Die Risse im deutschfranzösischen Verhältnis werden größer ........... 28 Sozialdemokraten: Richtungsstreit um die Reform-Agenda .......................................... 30 Karrieren: Aufstieg und Abstieg der SPD-Hoffnung Ute Vogt ............................. 36 NRW: Zoff in der schwarz-gelben Koalition ..... 40 Katholiken: Wie die Kirche einen Kinderschänder im Talar schützte .................... 44 Verbraucher: Die Kontrollen fernöstlicher Importprodukte sind lückenhaft ....................... 48 Europa: EU-Kommissar Günter Verheugen über die Gefahr durch Hedgefonds und die Berichte über sein Privatleben ............ 50 Kriminalität: DNA-Spuren überführen Gewalttäter noch Jahrzehnte nach dem Verbrechen ... 52 Jugendliche: Ex-Kriminelle sollen Gangs in Kreuzberg zähmen ....................................... 58

Im Ausnahmezustand

Machtkampf bei VW

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J. MACDOUGALL/AFP (L.); C. CHARISIUS/REUTERS (R.)

Seite 100

Zwei Jahre nach dem Einstieg von Porsche bei VW hat der offene Kampf um die Macht begonnen. Es geht darum, wer bei Volkswagen, Europas größtem Autohersteller, künftig das Sagen hat und wie viel Einfluss die Betriebsräte dann noch haben. PorscheBoss Wendelin Wiedeking macht Druck, er will VW auf Profit trimmen. Konzernchef Martin Winterkorn versucht, die aufgebrachten Arbeitnehmervertreter zu beruhigen. Wolfsburg stehen unruhige Zeiten bevor. Wiedeking Winterkorn

Ex-Gangster wollen den Kiez befrieden

Seite 58

Dealer, Hehler und Jugendbanden beherrschen die Naunynstraße mitten in BerlinKreuzberg. Weil Polizei und Pädagogen an ihre Grenzen stoßen, setzt der Senat nun auf ein gewagtes Modell: Kiez-Gänger aus dem Milieu und mit dunkler Vergangenheit sollen die Gangs zähmen – auch wenn Sozialarbeiter vor der rauhen Konkurrenz warnen. D. ABUELO

Medien Trends: Weitere Ermittlungen gegen Journalisten wegen Geheimnisverrats / ARDQuerelen um Barschel-Dokumentationen ...... 123 Fernsehen: Vorschau / Rückblick .................. 124

ULLSTEIN BILD / AP

„Landshut“-Kapitän Jürgen Schumann

Gesellschaft

Wirtschaft

Seite 62

Todesangst in der entführten „Landshut“, Selbstmord der Terroristen, der Mord an Schleyer – der zweite Teil der SPIEGEL-Serie beschreibt, wie die RAF den Staat im Herbst 1977 in den Ausnahmezustand trieb.

Serie

Trends: Löscher will Siemens umbauen / E.on steigt in Russland ein / Chaotische Jagd nach Telekom-Kunden ..................................... 97 Autoindustrie: Wie Porsche-Chef Wendelin Wiedeking VW aufmischt ............... 100 Energie: In den Gasmarkt kommt Bewegung 104 Luftfahrt: SPIEGEL-Gespräch mit Air-Berlin-Chef Joachim Hunold über das rasante Wachstum seiner Fluggesellschaft und neue Übernahmegerüchte ....................... 106 Karrieren: Herkunft schlägt Leistung ............ 108 Transrapid: Nächste Runde im Kostenpoker 121

In der Koalition wächst der Widerstand gegen die geplante Privatisierung der Bahn. Ein breites Bündnis aus SPD- und Unionspolitikern lehnt den Gesetzentwurf von Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee ab. Den Privatisierungsgegnern ist es gelungen, den Zeitplan der Bahn-Reformer um Kanzlerin Angela Merkel und Bahn-Chef Hartmut Mehdorn zu stören. Der Börsengang des Unternehmens könnte so zum zentralen Thema der Landtagswahlen im nächsten Jahr gemacht werden – und wäre damit faktisch tot. Mehdorn, Tiefensee, Merkel

Der Deutsche Herbst (II): Wie die Republik 1977 an den Rand des Staatsnotstands geriet .... 62

Szene: Sachbuch über die abenteuerlichsten Seereisen / Wie Werber alte Rollenklischees bedienen ........................... 83 Eine Meldung und ihre Geschichte – über eine Frau, die 20 Stunden in der Warteschleife ihrer Telefongesellschaft hing ........................... 84 Welthandel: In Kamerun wehren sich Bauern gegen importiertes Billigfleisch aus Europa – ein Lehrstück für Globalisierungskritiker ......... 86 Ortstermin: Auf der Kölner Fahrradmesse zeigen Hersteller, wie sie das Rad neu erfunden haben ............................ 94

Seite 24

Jugendliche in Berlin d e r

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Fernsehurteil: Die Karlsruher Gebührenentscheidung geht an der Welt von heute vorbei 126 Justiz: Weil „Emma“ schlecht über einen Mann schrieb, muss sich Alice Schwarzer vor Gericht verantworten ................................ 129

Ausland Panorama: Kabarettist macht mobil gegen Italiens politische Klasse / Skandinaviens Angst vor den Russen / Tauwetter in Turkmenistan 131 Verbrechen: Vorentscheidung im Fall Maddie? .............................................. 154 Russland: Der Schattenpräsident .................. 156 Belgien: Flamen und Wallonen streiten sich – und provozieren eine Staatskrise ................. 158 Japan: Verlieren die Liberaldemokraten nach einem halben Jahrhundert die Macht? ............... 160 Entwicklungshilfe: Der Architektur-Preis des Aga Khan ................................................. 162 Global Village: Wie der Irak in Dubai Öl verkaufen will ............................................ 166

CLEMENS BILAN / DDP

Ehepaar McCann mit Foto seiner Tochter Maddie

Unter Verdacht

Wissenschaft · Technik

Seite 154

Prisma: Passagierjet für den U-Boot-Krieg / Jungen-Schwund in der Arktis ........................ 169 Artenschutz: Grüne Korridore sollen die deutschen Wälder vernetzen ..................... 172 Psychologie: Der Schweizer Therapeut Gerhard Dammann über Despoten in den Chefetagen ... 175 Medizin: Warum senkt saubere Luft die Zahl der Herzinfarkte? .............................. 179 Hirnforschung: Wissenschaftler auf der Spur eines Fehler-Detektors im Kopf .............. 180

Die portugiesische Polizei glaubt, dass Kate McCann den Tod ihrer Tochter verschuldet hat und sucht nun nach der Leiche. Ehemann Gerry spricht von „frisierten Beweisen“. In dieser Woche soll die Entscheidung fallen, ob Anklage erhoben wird.

Globalisierung: Aufstand der Verlierer

Seite 86

Kultur

GUY CALAF

Weil die europäischen Konsumenten vom Huhn eigentlich nur die Brust wollen und der Rest der Tiere vor allem nach Afrika exportiert wird, wächst in manchen Ländern der Widerstand gegen diese Einfuhren. In Kamerun wehren sich Bauern mit Erfolg gegen europäische Hähnchenschenkel und gegen eine Globalisierung, die sie zu Verlierern macht.

Szene: Die Schauspielerin Milla Jovovich über ihre Rolle in Actionfilmen / Endstation Stammheim am Stuttgarter Staatstheater......... 185 Biografien: Peter Merseburger erzählt die Lebensgeschichte des SPIEGEL-Gründers Rudolf Augstein .............. 188 Zeitgeschichte: Zwei TV-Highlights über die untergehende DDR, geschildert aus der Frauenperspektive .............................. 192 Kino: Rainer Kaufmanns Verfilmung der Walser-Novelle „Ein fliehendes Pferd“ ........... 194 Literatur: Julia Francks Roman „Die Mittagsfrau“ – eine grandiose Familiengeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ........ 196 Bestseller ...................................................... 199 Fotografie: Besuch beim legendären ArchitekturFotografen Julius Shulman in Kalifornien ........ 202 Geistesgrößen (IX): Der Germanist Karl Eibl wendet Darwins Evolutionstheorie auf die Literaturwissenschaft an ..................... 206 Nahaufnahme: Schreiben lernen mit dem Autor Bodo Kirchhoff am Gardasee ............... 208

Hühnerstall in Kamerun

Narzissten in den Chefetagen

Seite 175

In vielen Vorstandsetagen sitzen krankhafte Narzissten, die ihre Untergebenen schikanieren und die taub sind für Kritik. Der Psychologe Gerhard Dammann hat die Eigenheiten solcher Despoten untersucht. Oft seien sie vaterlos aufgewachsen, meint der Therapeut im SPIEGEL-Interview. Es treibe sie die Sehnsucht nach einem Kick.

Heldinnen der Geschichte

Sport Szene: Der Kampf der Spielerorganisation ATP gegen Wettbetrug im Tennis / Formel-1Teamchef Gerhard Berger über das Spionage-Urteil gegen McLaren ................ 211 Doping: Der Traum vom sauberen Sport – sechs Vorschläge für einen radikalen Umbau ... 212 Fußball: Die Frauen-Nationalelf verteidigt in China ihren WM-Titel ..................................216

Seite 192 STEFAN FALKE / MDR / UFA

Zwei TV-Filme zur deutsch-deutschen Geschichte erzählen von starken Frauen und Müttern. Anneke Kim Sarnau („Prager Botschaft“) und Veronica Ferres („Die Frau vom Checkpoint Charlie“) spielen vor historischer Kulisse. Ferres d e r

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Briefe ............................................................... 10 Impressum, Leserservice ............................ 218 Chronik .......................................................... 220 Register ........................................................ 222 Personalien ................................................... 224 Hohlspiegel /Rückspiegel ........................... 226 Titelbild: Fotos Atlas Press, BILD-Zeitung (2), AP, Reuters (2), dpa (2)

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Briefe Die maulstopfende Antwort auf die offenen und versteckten Vorwürfe gegen die Verantwortlichen von 1977, verfassungswidrig agiert zu haben, gibt Ihnen Hans Kollischon, der damalige Leiter der Staatsschutzabteilung: „Es wäre doch idiotisch, wenn man solche Einrichtungen nicht nutzen würde, um das Leben Schleyers zu retten. Alles, was machbar war, wurde gemacht.“ Hoffentlich hat sich an dieser Grundeinstellung in der Auseinandersetzung mit den neuen Terroristen nichts geändert!

„Ein großes Lob für Ihre Titelgeschichte sowie für Ihre TV-Dokumentation. Beide Berichte waren hochinteressant und klasse recherchiert! Ich musste anschließend mit meinen Eltern über die RAF-Zeit diskutieren.“

Moisburg (Nieders.)

Felix Böhm aus Ostfildern zum Titel „RAF. SPIEGEL-Serie. 30 Jahre Deutscher Herbst. Die Nacht von Stammheim“

den Selbstmorden dieser Täter, weniger ihren Zielen und Opfern. Wie fragwürdig, vor dem Hintergrund aktueller terroristischer Bedrohungen! Die auf die damalige Situation bezogene, heutige selbstquälerische Analyse des verantwortlichen Bundeskanzlers Schmidt kann ich menschlich und politisch verstehen. Aber seine Entscheidung war richtig, weil sie, trotz allen Leides für Opfer und Hinterbliebene, die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie bewies.

Solange Sie das Phänomen RAF als wohligschaurige Kriminalgeschichte begreifen, kommen Sie der Sache keinen Schritt näher. Nur eine die RAF miteinschließende Kritik der damaligen Gesellschaft kann die tragische Verirrung der RAF in ihrer historischen Bedingtheit erhellen. Dazu gehört eine kritische Würdigung des Vietnam-Kriegs oder der Wirtschaftsgeschichte der jungen Bundesrepublik und deren Auswirkungen auf breite Bevölkerungsschichten. Was Adorno, Fromm, Marcuse am jungen Nachkriegskapitalismus bemängelten, haben die Mörder aus der RAF beschossen.

Hamburg

Berlin

SPIEGEL-Titel 37/2007

Völlig von der Rolle Nr. 37/2007, Titel: RAF. SPIEGEL-Serie. 30 Jahre Deutscher Herbst. Die Nacht von Stammheim

Der dringende Verdacht ist, die RAF-Terroristen wurden „geselbstmordet“, denn ihr mehrfach angekündigter Suizid erschien manchen Verantwortlichen in Justiz und Politik fälschlicherweise als die eleganteste Lösung. Bleibt die Frage, auf welcher Ebene und wann die Entscheidung fiel, die Zellen der Häftlinge nicht nach Waffen zu durchsuchen. Spätestens, als sie, vermutlich abgehört, am Radio in Stammheim den Ausgang der Befreiungsaktion in Mogadischu entgegenfieberten?

Jost Ecker

Die Spitzen der RAF und ihre Helfershelfer waren anarchistische Verbrecher, die unsere Demokratie zerstören wollten. Jetzt gehört die journalistische Aufmerksamkeit 10

Küsten (Nieders.)

Gefängnis Stuttgart-Stammheim

Jens Feuerriegel

Nur fair und längst überfällig Nr. 36/2007, Entschädigung: Berlin knausert bei Renten für frühere Ghetto-Arbeiter

Höchst beklemmende Vorstellung

Der Staat ist bei seiner Entscheidung einer einfachen Logik gefolgt. Tote Helden können nicht mit Terror freigepresst werden. Trier (Rhld.-Pf.)

Günther Schleier

Mir fällt niemand ein, der den Tod der RAF-Leute damals bedauerte. Es herrschte vielmehr ein Gefühl der Erleichterung vor. Mit Ihrer Serie werten Sie diese Verbrecher nur auf. Mir tun die Opfer der RAF und ihre Angehörigen leid. Lauenau (Nieders.)

Thomas Fischer

Ich bin 1925 in Hamburg geboren, 1931 dort eingeschult und 1941 deportiert worden. Meine Familie wurde ermordet; ich überlebte das Ghetto Lodz, die Lager Auschwitz, Neuengamme und Bergen-Belsen. Ihren Artikel zu den immer noch ausstehenden Rentenzahlungen für ehemalige Ghetto-Arbeiter habe ich mit großem Interesse gelesen. 62 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs steht Deutschland – auch dank des Marshallplans – wirtschaftlich und politisch mächtig da. Doch was ist mit den wenigen Überlebenden, die mit

Hendrik Tongers

Es ist erstaunlich, wie sicher sich der SPIEGEL ist, dass die RAF-Mitglieder Baader, Ensslin und Raspe Selbstmord verübt haben. Aber egal, wie sie ums Leben kamen. Sie haben bewiesen, was zu beweisen war. Oftringen (Schweiz)

Dr. Uta Maria Stier

Mal ganz ehrlich: Warum hätte der Staat diese Wahnsinnigen auf ihrem Trip ins Jenseits stoppen sollen, selbst wenn er es gewusst hat? Baader, Ensslin & Co. hatten mit ihren Selbstmorden die Massen ein einziges Mal tatsächlich hinter sich.

Alf Tondern

Nein, unser Staat war wegen der durchgeknallten Bande nie in Gefahr. Aber offenkundig war die baden-württembergische Justiz und Politik völlig von der Rolle. Dieses Gemisch aus Angst, Inkompetenz und schierer Dummheit eröffnete das erste Terroristencamp auf bundesdeutschem Boden. Die staatlichen Entscheidungsträger, die dafür gesorgt hatten, dass im Stammheimer Kommunikationscenter der RAF-Bande Mord-, Entführungs- und Nachfolgediskussionen ermöglicht wurden, tragen schwere Mitschuld am Tode Schleyers und seiner Begleiter. Diesen Justizdilettanten auch noch zu unterstellen, sie hätten vielleicht alles gewusst, das hätte Sachverstand und eine gewisse Intelligenz vorausgesetzt. Stammheim war so, wie es kürzlich Altbundeskanzler Helmut Schmidt formulierte, einfach nur ein „Saustall“. Langeoog (Nieders.)

Siegfried F. Storbeck

DPA

München

Gebhart Müller-König

Vor 50 Jahren der spiegel vom 18. September 1957 Bundesfinanzen Ära der leeren Kassen. Wohnungsbau Kaum noch Defizite mehr. Krankenkassen Das verhinderte Gesetz. „Die Papiere des Herrn von Holstein“ Glanz und Niedergang des Bismarck-Reichs. Sowjets entsenden Marine-Einheiten ins Mittelmeer USA verstärken ihre Flotte. Neue Ära der Rassen-Integration in den USA Schwindel um Unruhen in Little Rock. Premiere von Chaplins Film „Ein König in New York“ „Charlie ist tot.“ Architektur Streit um Le-Corbusier-Bauten in Berlin. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. Titel: Tunesischer Staatspräsident Habib Burgiba

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Briefe Krankheit und Armut zu kämpfen haben? Haben sie kein sorgenfreies Leben verdient? Deutschlands fehlende Bereitschaft, uns im Alter ein Leben ohne finanzielle Nöte zu ermöglichen, ist beschämend. Wenn diese Renten eine Milliarde Euro kosten würden – dann ist das eben so. Es wäre nur fair und längst überfällig. Mein persönlicher Anspruch währt mittlerweile

Mal Bergstiefel, mal Turnschuh Nr. 36/2007, Bildung: War Waldorf-Ahnherr Rudolf Steiner ein Rassist?

„Was ist mit den Überlebenden?“

Göppingen (Bad-Württ.)

mehr als 60 Jahre. Ich würde ihn gern in finanzieller Hinsicht eingelöst sehen, menschlich und mit Entschuldigung für das Vergangene. Nur die Toten können verzeihen – wir können es nicht.

In Schweden haben die Waldorfschüler nach einer neuen Untersuchung eine positivere Einstellung den Immigranten gegenüber als die Schüler der Regelschulen. Auch vergleichende Untersuchungen in Finnland (in den achtziger und neunziger Jahren) zeigen ähnliche Resultate: weltoffenes soziales Verhalten der Waldorfschüler.

WIENER LIBRARY

Ghetto-Arbeiter in Lodz (um 1941)

Steiners Äußerungen kann man nur dann als rassistisch missdeuten, wenn man nicht wie er davon ausgeht, dass der Mensch einen physischen Körper, eine Seele und einen Geist, also ein Ich besitzt, das durch wiederholte Erdenleben neue Erfahrungen zu seiner Weiterentwicklung sammelt. Der Mensch ist somit nicht sein Leib, sondern der Leib ist nur die irdische Voraussetzung für sein Leben auf der Erde. Dass nun der Leib je nach den genetischen Besonderheiten der Vorfahren Stärken und Schwächen hat, wird von Steiner in seiner Rassenlehre dargestellt. Das ist wie bei Schuhen. Je nach Anlass braucht man mal einen Bergstiefel, mal einen Turnschuh. Entscheidend wird aber immer sein, „wer“ den Schuh anhat.

Oakland (USA)

Dr. Lucille Eichengreen

Man ist bei der Formulierung des missglückten Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto völlig irrig davon ausgegangen, dass alle Ghettos wie das Ghetto Lodz organisiert waren, in dem es tatsächlich viele Produktionsbetriebe gab, in denen die überwiegende Zahl der Insassen einer sowieso reichlich kühn konstruierten rentenbeitragspflichtigen Tätigkeit nachgegangen sein konnten. Lodz war aber eine Art „Vorzeigeghetto“ und überhaupt nicht typisch für die Arbeitssituation in der Vielzahl anderer Ghettos. Obwohl man im Gesetzgebungsverfahren davon ausging, dass der Mehrzahl aller Antragsteller eine Rente zugesprochen werden würde, verpflichtet das Gesetz zu Antragsprüfungen, nach denen man gar nicht anders konnte, als die Mehrheit der Anträge abzulehnen. Hinbiegen lässt man das möglichst die Sozialgerichte, die diesbezüglich bereits atemberaubend viel Phantasie bewiesen haben.

Helsinki (Finnland)

Das ist ein Paradoxon Es gibt keinerlei logischen Grund dafür, den Erwerb großkalibriger Waffen erst ab 21 Jahren festzulegen. Der Staat verpflichtet 18-Jährige zur Ausbildung an der Waffe, um dem Staat zu dienen und ihn zu verteidigen, indem er auf Feinde schießt. Gleichzeitig soll er unmündig sein, sich als Sportschütze privat Waffen anzueignen und auf Pappscheiben mit Ringen zu schießen. Das ist ein Paradoxon. Anzweifeln würde ich auch die Anmerkung, 18-Jährige könnten sich jetzt leichter „stattliche Waffenarsenale anlegen“. Zum legalen Waffenerwerb in Deutschland bedarf es neben der zunächst einjährigen Sportschützeneigenschaft in einem Verein nachgewiesener Sachkunde, persönlicher Eignung, polizeilich geprüfter Zuverlässigkeit und eines kontrollierten Bedürfnisses! Auch nach diesem Entwurf! Am Anfang kann man lediglich zwei Waffen beantragen. Davon abgesehen sind großkalibrige Waffen sehr teuer. Von der Munition ganz zu schweigen, die stets – ähnlich wie Benzin – von Preiserhöhungen betroffen ist.

Als ehemaliger Waldorfschüler möchte ich anmerken, dass während der Schulzeit in Hamburg-Farmsen jedoch kaum etwas von den – zugegebenermaßen verstörend wirkenden – Theorien Steiners vermittelt wurde, wohl aber das Anthroposophische als Lebensidee. Und auch wenn ich privat keinerlei anthroposophische Lebensführung an den Tag lege: Geschadet hat mir diese spezielle Schulbildung nicht, im Gegenteil. Der Satz „Hände falten, Köpfchen senken und an Rudolf Steiner denken“ war immer schon ironische Kritik an diesem Schulmeister, und wahrscheinlich sind die Ex-Waldorfschüler ohnehin die größten Kritiker seiner Schriften. Hamburg

Werl (Nrdrh.-Westf.)

Zwischen Weltseele und Volksseele

Lambsborn (Rhld.-Pf.)

„Hände falten, Köpfchen senken“

JAN MICHALKO / BILDERBERG

Steiner-Porträt in Nürnberger Waldorfschule

Das schlichte Zuschlagen des „Ironikers Heine“ zur Romantik ist grob fahrlässig. Heines Stellung zur Romantik ist zwar durchaus ambivalent, gleichwohl hat er die reaktionären Tendenzen der etwa zum Katholizismus konvertierten Romantiker in der „Romantischen Schule“ wütend kommentiert – aus dem Geist einer auch politischen Aufklärung, die er aus der von Rüdiger Safranski unterstellten ästhetischen Langeweile der Romantik an Rationalismus und Protestantismus nie verraten hat. Für den Juden Heine kam (so bedenklich sie auch war) nur eine Konversion zum Protestantismus als aufklärerischer Religion in Frage. Es wäre auch ein Wort fällig gewesen darüber, dass die deutschen Juden im 19. Jahrhundert bis aufs Blut nicht nur mit Fichtes Antisemitismus malträtiert worden sind. Konstanz

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Waldemar Martens

Nr. 36/2007, Romantik: Die frühen Verfechter werden wiederentdeckt; Rüdiger Safranski über die Weltkarriere des deutschen romantischen Gefühls

Dr. Florian Ropohl

Deutschland, immer gern bereit, den moralischen Zeigefinger gegen andere zu erheben, ist augenscheinlich nicht in der Lage oder willens, wenigstens ansatzweise eine Schuld abzutragen, die nicht abzutragen ist. Nach mehr als 60 Jahren immer noch zu schachern und zu feilschen, als ob es um einen simplen Buchungsfehler ginge und nicht um das Leid und die Qual ausgebeuteter und hinweggeschlachteter Menschen, ist erbärmlich und verabscheuungswürdig.

Michael Grandt

Nr. 36/2007, Panorama: Waffenrecht soll gelockert werden

Prof. Reijo Wilenius

Norderstedt (Schl.-Holst.) Wolfgang Ahrens

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Bisingen (Bad.-Württ.)

Irene Trenkel

Auch die unverbesserlichen Anthroposophie- und Waldorffetischisten müssen langsam erkennen, dass Steiners Lehre rück-

Steffen Neumann

wärtsgewandt und esoterisch verbrämt ist. Schon zehn Jahre vor Helmut Zanders Untersuchung der Anthroposophie haben wir in unserem „Schwarzbuch“ aus Steiners Schriften heraus belegt, dass seine Lehre rassistische Tendenzen aufweist. Die Folge: wütende Proteste und jahrelange Klagen.

Hermann Kinder Universität Konstanz, Fachbereich Literaturwissenschaft

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass Heine, wenngleich er im Text Erwähnung findet, in ihrer Bildergalerie fehlt. Dies ist nicht nur beschämend, sondern auch bezeichnend. Die deutsche Romantik hat immer zwischen Weltseele und Volksseele geschwankt, und dabei ist Heine, weil er nun mal Jude und damit Außenseiter war, nicht als das erkannt worden, was er eigentlich war: der letzte große Romantiker, zunächst in seinem Schreiben, in der romantisch-genialen Spielfreude und der Nähe zum Volkslied, aber auch in seinem Leben. Altenhagen (Nieders.)

Karl Heinz Potthast

Nationenübergreifende Kraft Nr. 36/2007, Kampfspiele: Warum Rugby im WM-Land Frankreich so populär ist

Wenn Rugby also, wie Sie suggerieren, ein Kampfspiel und brutales Spektakel ist, warum kommen dann Pädagogen und Professoren gleichermaßen immer häufiger zu dem Ergebnis, dass es nicht nur als Schulsport einsetzbar ist, sondern auch zur Gewaltprävention in die Lehrpläne aufgenommen werden sollte? Aufgrund des Reglements und der Spielweise ist es ein Sport für Jungen und Mädchen, Große und Kleine, Dicke und Dünne. Wer in anderen Sportarten immer als Letzter gewählt wird, erhält beim Rugby eine besondere Aufgabe, die ihn zu einem wichtigen Teil der Mannschaft macht. Birkenwerder (Brandenburg)

Max Joachim

Endlich bringt es einer auf den Punkt: Rugby ist nicht nur Sport, sondern beinhaltet einen Ehrenkodex, der im positiven Sinne charakterprägend ist. Hier bietet das enge Regelwerk und die absolute Autorität des Schiedsrichters die Chance zu lernen, bei Schiedsrichterentscheidungen den Mund zu halten und diese zu akzeptieren. Heidelberg

Die Ausnahme und nicht die Regel

übergreifende Kraft des Rugby, die ich zurzeit in Riad erlebe. Hier spielen Saudi-Araber, Jordanier, Libanesen, Inder, Sri-Lanker, US-Amerikaner, Neuseeländer, Fidschianer, Südafrikaner, Briten, Franzosen und eben ein Deutscher gemeinsam Rugby. Riad (Saudi-Arabien)

Marc Meckle

Prof. Dr. Hermann Hofer

Der Protestantismus war selten langweilig! Es war der evangelische Theologe Schleiermacher, der die Berliner Romantik aufmischte. Der „romantische“ Schwerter-zuPflugscharen-Aufstand in der DDR war nicht nur protestantisch, sondern sogar kirchlich. Bielefeld

Rugby-Spieler beim Gedränge

Snorre Björkson

Wenn Rüdiger Safranski die Romantik für deutsch erklärt, dann fehlt ihm jede Kenntnis der europäischen Literatur. Wie dumm all diese Engländer und Franzosen doch sind, die in vielem die „deutsche“ Romantik vorweggenommen haben und von den Deutschen dann kopiert worden sind. Marburg

ANDREW PARSONS / PA PHOTOS

Briefe

Mitfühlende, ermutigende Blicke Nr. 36/2007, Tiere: Klüger als gedacht – die Intelligenzforschung entdeckt den Haushund

Hier ein Beispiel zu lernender Hund-MenschSapientia aus meiner psychologischen Beratungspraxis: Eine Klientin, begleitet von ihrem wahrhaft goldenen Retriever, weiht mich in ihr fundamentales Misstrauen gegenüber Männern im Allgemeinen und Psychologen im Besonderen ein und schlägt schließlich vor, die Sitzung abzubrechen. Da erhebt sich der Goldene, schenkt ihr einen mitfühlenden, mir einen ermutigenden Blick, legt mir eine Pfote aufs Knie, die andere auf die Schulter, schaut mir tief in die Augen, legt die Pfote behutsam auf meinen Scheitel. Als wir beide verstanden haben, worum es geht, und die ersten Tränen fließen, lässt er von mir ab, nimmt wieder seinen Platz zu Füßen seiner Schutzbefohlenen ein, zufrieden über das nun in Gang kommende Gespräch und seinen anthropologischen Erfolg. Frankfurt am Main

Helmut Möck

Das Training mit meinem Irish Setter rührte zu höheren Erkenntnissen als eine Lücke in einem Zaun oder den richtigen Ort des versteckten Leckerbissens zu finden. Bei intensiver „mentaler“ Verbundenheit mit seinem Führer kann ein Hund durchaus telepathische Fähigkeiten entwickeln und zu einer vereinfachten Art von Denken und Voraussehen von Abläufen fähig sein. Spiez (Schweiz)

Rudolf Senn

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected]

Ralph Burggraf

Die hervorgehobene Darstellung von Verletzungen und Unsportlichkeiten in Ihrem ansonsten durchaus guten Artikel taugt nicht als Abbild unseres Sports. Diese sind die Ausnahme, nicht die Regel. Ein wichtiger Aspekt ist die nationen- und kulturd e r

In einer Teilauflage befindet sich ein zwölfseitiger Beihefter von Peek & Cloppenburg (P&C), Düsseldorf. Eine Teilauflage enthält einen Prospektbeikleber des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. In einer Teilauflage befinden sich Beilagen von PLAN INTERNATIONAL, Hamburg, Economist Newspaper, London, Nike Deutschland, Frankfurt, BILANZ, Zürich, SPIEGEL-Verlag, Hamburg, Fritz Immobilien, Berlin, und SPIEGEL TV (Kabel Deutschland).

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Deutschland

Panorama S O Z I A L S TA AT

Mehr Geld für Familien und Geringverdiener M

GERO BRELOER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (L.); BERTHOLD STADLER / DDP (R.)

it einer neuen staatlichen Sozialleistung will die Bundesregierung Kinderarmut bekämpfen und Geringverdiener besserstellen. Auf die Grundzüge eines entsprechenden Konzepts hat sich vergangene Woche eine Staatssekretärsrunde aus Arbeits-, Finanz-, Familien- und Bauministerium geeinigt. Wer als Alleinstehender zwischen 800 und 1300 Euro verdient, soll danach künftig einen gestaffelten Lohnzuschuss von maximal 20 Prozent des Bruttolohns erhalten. Für Paare liegen die Einkommensgrenzen entsprechend höher. Haben die Geringverdiener Kinder, erhalten sie je nach Verdienst ei-

Essensausgabe an Kinder, Müntefering, von der Leyen

KLIMASCHUTZ

PFLEGEVERSICHERUNG

Merkel will Bush an Zusagen erinnern

Heime öfter prüfen esundheitspolitiker der SPDBundestagsfraktion fordern eine G deutlich schärfere Kontrolle von

lich, so die Bedenken in Berlin, nur unverbindliche Regelungen diskutieren. Zwar beteuert die US-Regierung, das Treffen solle den Uno-Prozess ergänzen. Doch in der Bundesregierung traut man diesen Zusagen nicht. So war Washington erst nach heftigem Drängen von Deutschland und anderen EU-Regierungen bereit, die Teilnahme von Politikern mit Ministerrang zu akzeptieren. Für die Bundesregierung soll Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) nach Washington reisen.

SAUL LOEB / AFP

ie Bundesregierung plant eine neue diplomatische Offensive in Sachen Klimaschutz. Im Rahmen ihres Treffens mit anderen Staats- und Regierungschefs in New York will Kanzlerin Angela Merkel in der kommenden Woche die US-Regierung von Präsident George W. Bush an ihre Zusage erinnern, intensiv an einem neuen internationalen Uno-Klimaschutzabkommen mitzuarbeiten. In der Bundesregierung herrscht die Sorge, dass Bush versuchen könnte, einen Parallel-Prozess zu den im Dezember in Bali beginnenden Uno-Verhandlungen zu organisieren. Der US-Präsident hoffe offenbar auf eine „Untertunnelung“, heißt es in Berlin. Misstrauen erregt vor allem die von Bush initiierte Konferenz, die am 27. und 28. September in Washington tagt. Bei dem Treffen wollen die Amerikaner mit Vertretern von 15 anderen Staaten über Maßnahmen gegen den Klimawandel beraten – und womögBush

MICHAEL KAPPELER / AP

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nen weiteren Zuschuss pro Sprössling von maximal 140 Euro. So soll verhindert werden, dass Niedriglöhner allein wegen ihrer Kinder oder geringer Arbeitseinkünfte Hartz IV beantragen müssen. Um die Ausgaben für den sogenannten Erwerbstätigen- und Kinderzuschuss (Regierungstitel) einzudämmen, soll der Kreis der Berechtigten in Grenzen gehalten werden. Die neue Leistung bekommt nur, wer mindestens 30 Stunden in der Woche arbeitet. Geringverdiener, die neben ihrem Lohn zu hohe Zusatzeinkünfte aus Renten, Zinsen oder Unterhaltszahlungen beziehen, erhalten keine Hilfen. Zugleich will die Regierung die Förderung für jene Hartz-IV-Bezieher beschränken, die neben der Stütze eine gering entlohnte Teilzeitstelle oder einen Minijob haben. So soll der Freibetrag von 100 Euro, den heute jeder Arbeitslosengeld-II-Empfänger anrechnungsfrei hinzuverdienen darf, deutlich abgesenkt werden. Auf diese Weise will die Regierung erreichen, dass es sich für Hartz-IV-Empfänger stärker lohnt, eine Vollzeitstelle anzunehmen. Die Kosten des Modells belaufen sich den Regierungsplänen zufolge auf rund 800 Millionen Euro. Der Betrag soll auf den Bund sowie die Bundesagentur für Arbeit aufgeteilt werden. Dort will die Regierung auch einen neuen Behördenzweig einrichten, der den Einkommenszuschuss verwalten soll.

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Merkel, Gabriel d e r

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Pflegeheimen als bislang vorgesehen. Die Abgeordneten, darunter die stellvertretende Fraktionschefin Elke Ferner und der Sozialpolitiker Karl Lauterbach, schlagen vor, jede stationäre Einrichtung einmal im Jahr auf Qualitätsmängel zu überprüfen. Die von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) in der vergangenen Woche vorgelegten Pläne für eine Reform der Pflegeversicherung sehen vor, dass die Heime höchstens alle drei Jahre gecheckt werden sollen. Damit der mit den Kontrollen beauftragte Medizinische Dienst der Krankenkassen den Aufwand bewältigen kann, wollen die SPD-Politiker die Liste der Prüfkriterien stark kürzen. Die Ergebnisse jeder Kontrolle sollen ihrer Vorstellung nach umgehend veröffentlicht werden.

Panorama N AT O

Eingreiftruppe am Ende ehn Monate nach der feierlichen Verkündung ihrer Einsatzbereitschaft steht die Nato Response Force (NRF), die schnelle Eingreiftruppe der westlichen Militärallianz, vor dem Aus. Der Grund: Die USA und die meisten übrigen Partnerländer leisten die versprochenen Beiträge an Truppen und Material nicht. Die Generalstabschefs der 26 Nato-Staaten verabredeten deshalb bei einer Krisensitzung im kanadischen Victoria eine Kehrtwende: Der Plan, für Einsätze in aller Welt ständig rund 25 000 Soldaten nebst Flugzeugen, Schiffen und sonstigem Kriegsgerät in ständiger Bereitschaft zu halten, wird aufgegeben. Stattdessen soll nur noch ein kleiner „Kern“ aus wenigen sofort abrufbaren Spezialeinheiten gebildet werden, eine Art Vorhut mit Kampftruppen, Fernmeldern und Nachschubsoldaten. Je nach Bedarf soll die Kerntruppe um Einheiten verstärkt werden, die von den Nationen zwar als verfügbar angemeldet sind, aber nicht mehr binnen weniger Tage abmarschbereit sein müssen. Die Allianz kehrt so zu Methoden aus dem Kalten Krieg zurück. Um das Scheitern des Renommierprojekts zu kaschieren, soll die neue Mini-Truppe auch künftig unter dem Etikett „NRF“ firmieren. Ihren Schrumpf-Plan, der im Detail noch mit den potentiellen Teilnehmerländern ausgehandelt werden muss, wollen die Militärs beim 2008 in Bukarest vorgesehenen Nato-Gipfel politisch absegnen lassen.

CLAUS FISKER / AFP

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Nato-Eingreiftruppe

I N T E G R AT I O N

S E N AT O R E N

Kurse für Imame

Abmeldung versäumt

WALTRAUD GRUBITZSCH / PICTURE ALLIANCE/ DPA

ie Integrations- und Ausländerbeauftragten der Länder wollen diese Woche darüber beraten, wie mehrere hundert Imame an deutschen Moscheen zu einer engeren Zusammenarbeit mit den Behörden bewegt werden können. So sollen die muslimischen Vorbeter das Recht bekommen, an Integrationskursen teilzunehmen – auch wenn sie nicht dauerhaft in Deutschland bleiben wollen. In einem internen Beschlussvorschlag aus NordrheinWestfalen wird eine geplante Fortbildungsreihe des Berliner Senats für die Imame als vorbildlich und nachahmenswert eingestuft: Vorbeter, die „eine besondere Vorbildfunktion für die Muslime“ einnähmen, sollten zur Zusammenarbeit gewonnen und über das Leben in Deutschland informiert werden. Die Kooperation zwischen Sicherheitsbehörden wie dem LanVorbeter deskriminalamt Nordrhein-Westfalen und muslimischen Organisationen solle ausgeweitet werden, heißt es weiter. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), will auf der Herbsttagung in Bonn außerdem eine Initiative zur Bekämpfung von Rechtsextremismus präsentieren. Bürgermeister, so die Idee, sollen eine Art „Pakt für Demokratie“ unterschreiben und regelmäßig berichten, was sie gegen Rechtsextreme unternommen haben. 20

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isela von der Aue (SPD), die wegen der Zustände in Berliner Gefängnissen in die Kritik geratene Berliner Justizsenatorin, kämpft noch an einer zweiten Front um ihre Zukunft: Sie liegt im Clinch mit ihrem früheren Arbeitgeber, dem Land Brandenburg. Die Juristin, von 1998 bis 2006 Präsidentin des Landesrechnungshofs Brandenburg, hatte sich beim Wechsel nach Berlin bei ihrem Dienstherrn nicht korrekt abgemeldet, so der Vorwurf aus Potsdam. Wegen ihrer Amtsführung ohnehin umstritten, beantragte der brandenburgische Landtagspräsident auf Drängen der Potsdamer Regierung beim zuständigen Richterdienstgericht Gisela von der Aues Entlassung aus dem Öffentlichen Dienst – und hatte damit Erfolg. Gegen diese Entscheidung hat von der Aue, 58, Berufung eingelegt. Als Rechnungshofpräsidentin, so ihre Argumentation, sei sie Richtern gleichgestellt, deren Dienstverhältnis bei Übernahme eines öffentlichen Amtes lediglich ruhe. Setzt sich von der Aue durch, hätte sie nach einem Ausscheiden aus dem Senatorenamt Anspruch auf einen gutdotierten Posten in Brandenburg. Von der Aue

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JOHANNES EISELE / PICTURE-ALLIANCE/ DPA

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D I P L O M AT I E

BUNDESGERICHTSHOF

„Für Freiheit und Demokratie werben“

Harms’ langer Arm ine Intervention von GeneralbunE desanwältin Monika Harms ist offenbar für die stockende Suche nach

Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU), 49, über das Treffen des Dalai Lama mit der Bundeskanzlerin SPIEGEL: Herr Koch, Ange-

la Merkel will am kommenden Sonntag als erste deutsche Regierungschefin den Dalai Lama empfangen. Ist das klug, wenn man gleichzeitig gute Beziehungen zu China wünscht? Koch: Ich glaube, dass das sehr richtig ist, gerade wenn man gute Beziehungen zu China wünscht und unterhält. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die chinesische Führung auf Dauer denjenigen ernst nimmt, der offen und ehrlich mit ihr redet, auch wenn es zunächst Bauchgrimmen verursacht. SPIEGEL: Der deutsche Botschafter in Peking ist ins Außenministerium bestellt worden. Er berichtet von „echter und tiefgehender Verärgerung“ der chinesischen Seite. Koch: Natürlich ist die chinesische Regierung nicht begeistert über den Empfang. Sie hat ein Interesse daran, dass das Thema Tibet möglichst nicht auf der internationalen Tagesordnung erscheint. Wir müssen den Chinesen klar sagen, dass wir gute Beziehungen zu China wollen, aber dass sie auch das Problem verantwortlich regeln müssen. Dann wird es auch von der Tagesordnung verschwinden. SPIEGEL: Noch einmal: Droht eine ernsthafte Belastung der deutsch-chinesischen Beziehungen? Koch: Uns Deutschen nützt es, wenn wir in der Welt als ein Land wahrgenommen werden, das seine Werte lebt. Wir gucken auch an anderen Orten der Welt nicht nur, ob wir Geld verdienen können. Wir versuchen, für unser Verständnis von Freiheit und Demokratie zu werben. Im Übrigen ist es ganz normal, dass sich ein Regierungschef mit dem Führer einer wichtigen Weltreligion trifft. SPIEGEL: Die Kanzlerin hat erst neulich China aufgefordert, die Menschenrechte zu achten, ohne Tibet direkt anzusprechen. Ist es die hohe Kunst der Diplomatie, den Dalai Lama so kurz danach zu empfangen? Koch: Es gab lange Zeit außerhalb der USA nur wenige Politiker, die den Dalai Lama empfangen haben. Das hat in China die Hoffnung gestärkt, man könne das Thema vergessen machen. Es ist richtig, der Führung in Peking zu signalisieren, dass dies nicht gelingen wird. Die Chinesen d e r

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LAURENCE CHAPERON

WOLFGANG HÖRNLEIN / PDH

Deutschland

Dalai Lama, Merkel (im Juni 2005)

wissen im Übrigen, dass sie in der Kanzlerin Angela Merkel einen sehr verlässlichen Partner haben. SPIEGEL: Verstehen sie die Sorgen der deutschen Wirtschaft, der Besuch könne sich negativ auswirken? Koch: Der Dalai Lama trifft den amerikanischen Präsidenten regelmäßig. Ich kann nicht erkennen, dass das die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und China beeinträchtigt hätte. Das Auswärtige Amt hat dem hessischen Landtag in den neunziger Jahren geschrieben, ein Empfang des Dalai Lama wäre schlecht für die hessische Wirtschaft. Das war auch unbegründet. Wir Hessen arbeiten mit China glänzend zusammen, und die Führung hat nach meiner Erfahrung akzeptiert, dass ich ein Freund Chinas und des Dalai Lama bin.

einem neuen Präsidenten für den Bundesgerichtshof (BGH) mitverantwortlich. Der vom amtierenden BGH-Präsidenten Günter Hirsch vorgeschlagene Vorsitzende des 3. Strafsenats, Klaus Tolksdorf, war von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) unterstützt, von der Union jedoch abgelehnt worden. Obwohl Tolksdorf – wie von den Koalitionären erwünscht – als politisch neutral gilt und allgemein hohes Ansehen genießt, fiel er dem großen Einfluss zum Opfer, den Monika Harms beim Geschacher um Justizposten in der Union besitzt. Den beiden ehemaligen Richterkollegen wird ein eher unherzliches Verhältnis nachgesagt; zudem fiel der für Staatsschutzsachen zuständige Tolksdorf-Senat mehrfach der Bundesanwaltschaft in den Arm, so beim Streit um die Online-Durchsuchung und bei der Verfolgung von alQaida-Sympathisanten.

Panorama TA B A K I N D U S T R I E

Freikarten für den FC Bayern

Allianz Arena

das Angebot, wollte aber nicht mitteilen, wie viele Abgeordnete angeschrieben wurden und wer zugesagt hat. Der scheidende Vorsitzende des Energiekonzerns

BRANDENBURG

DAT E N S C H U T Z

Aus für „Euroworld“

„Umfassende Kontrolle“

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DIETER SALZMANN

n Brandenburg ist ein umstrittenes Großprojekt gescheitert. Nach den Plänen des Kaufmanns Jürgen Kahl sollten in Sperenberg, vor den Toren Berlins, eine neue Stadt und ein gigantischer Freizeitpark entstehen, der den europäischen Kontinent im Maßstab 1 : 800 nachgebildet hätte; die Anlaufkosten wurden mit 7,5 Milliarden Euro beziffert, von rund 36 000 neuen Arbeitsplätze in der Region war die Rede. Doch nun steht „Euroworld“ vor dem Aus. Wie Wilfried Eysell, Aufsichtsrat der Euroworld Holding AG dem SPIEGEL bestätigte, werde „Euroworld in Sperenberg definitiv nicht verwirklicht“ und die Holding demnächst „wohl aufgelöst“. Schuld seien Schwierigkeiten mit dem Denkmalschutz. Gleichzeitig wurde eine EntscheiKahl dung des Schweizer Kantonsgerichts St. Gallen bekannt, das den Euroworld-Vorstand Kahl am 10. September in zweiter Instanz wegen mehrfacher Veruntreuung, ungetreuer Geschäftsbesorgung und Misswirtschaft zu 14 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt hatte. Hintergrund waren Kahls frühere dubiose Geschäftspraktiken in der Schweiz (SPIEGEL 10/2007). Das Urteil ist bislang nicht rechtskräftig, Kahl will in Revision gehen. 22

Peter Schaar, 53, ist Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Diese Woche erscheint bei C. Bertelsmann sein Buch „Das Ende der Privatsphäre“. SPIEGEL: Während der Bundesinnenminister Online-Durchsuchungen von Computern plant, sehen Sie in Ihrem Buch Deutschland auf dem Weg in eine Überwachungsgesellschaft. Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Schaar: Nein, es ist vielmehr höchste Zeit, dass wir aufwachen. Die Privatsphäre ist ja gleich von mehreren Seiten bedroht: durch staatliche Kontrollen, aber auch wirtschaftliche Interessen und Schaar technologische Entwicklungen. Und wir sind dabei, uns an immer umfassendere Kontrolle und Überwachung zu gewöhnen. SPIEGEL: Den meisten Bürgern scheint ihr persönlicher Freiraum noch ausreichend. Schaar: Bereits jetzt wird unser Verhalten überall beobachtet, registriert und bewertet. Videokameras überwachen immer größere Bereid e r

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EnBW, Utz Claassen, muss sich im November vor Gericht verantworten, weil er sieben Landespolitikern kostenlose WM-Eintrittskarten angeboten hatte.

che des öffentlichen Raums und zeichnen auf, wo wir uns bewegen und mit wem wir Kontakt haben. Und per Handy sind wir heute überall erreichbar und können mittels Satellitenortung metergenau feststellen, wo wir uns gerade aufhalten, wo sich unsere Kinder herumtreiben oder wo das Auto abgestellt ist. SPIEGEL: Viele Menschen freuen sich aber über solche Technologien, die ihnen das Leben erleichtern, oder auch über Kundenkarten, die ihnen Rabatte im Supermarkt sichern. Schaar: Vielen ist gar nicht bewusst, wofür ihre Daten benutzt werden. Durch die stetige Erhebung, Speicherung, Übermittlung und Auswertung persönlicher Daten entgleitet ihnen die Kontrolle darüber, wer was über sie weiß. Wenn aber unser gesamter Alltag registriert wird, schrumpfen die privaten Refugien immer weiter zusammen, in denen wir nicht beobachtet sind und uns unbefangen verhalten. SPIEGEL: Ist das so schlimm? Schaar: Die Privatsphäre ist unverzichtbare Voraussetzung einer freien Meinungsbildung und damit einer freien Gesellschaft – totalitäre Systeme haben stets versucht, sowohl die öffentliche als auch die private Sphäre vollständig zu kontrollieren. RÜDIGER NEHMZOW / LAIF

ie Tabaklobby will Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit kostenlosen Eintrittskarten für attraktive Fußballspiele ködern. In einer E-Mail bietet der Zigarettenkonzern Philip Morris den Parlamentariern Tickets für die Münchner Allianz Arena an. In dem elektronischen Schreiben listet der Konzern die Spiele auf, für die sich die Politiker in den nächsten Wochen anmelden können, darunter auch die Uefa-Cup-Partien des FC Bayern. Die Abgeordneten werden gebeten, ihre „1., 2. und 3. Spiel-Priorität“ mitzuteilen, man werde sie „dann umgehend kontaktieren.“ Der Konzern bestätigte

MATTHIAS HANGST / WITTERS

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Deutschland BLUE CARD

JUGENDSTRAFRECHT

Schavan setzt auf nationale Lösung

Härter gegen Gewalt er Bundesrat wird voraussichtlich D am Freitag Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) auffordern, die

undesforschungsministerin Annette Schavan will die Diskussion um die sogenannte europäische Blue Card nutzen, um in Deutschland ein neues Regelwerk für die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte und Wissenschaftler voranzutreiben. Vergangene Woche hatte EUKommissar Franco Frattini für Ende Oktober einen Gesetzentwurf angekündigt, der qualifizierten Migranten mittels Schnellverfahren einen einfaSchavan chen Zugang zum EU-Arbeitsmarkt ermöglichen und in allen Mitgliedstaaten gelten soll. Zwar lehnt Ministerin Schavan eine europaweite Regelung ab – „die Länder werden beim Thema Zuwanderung ihre eigenen Wege finden“ – , doch im Gegensatz zu Arbeitsminister Franz Müntefering und Wirtschaftsminister Michael Glos, die Frattinis Vorstoß brüsk zurückgewiesen haben, sieht sie in ihm einen positiven Impuls für eine Lösung des innenpolitisch umstrittenen Themas. „Frattinis

JOHANNES EISELE / DPA

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Äußerungen zeigen, wie wichtig das Thema Zuwanderung Hochqualifizierter für die gesamte EU geworden ist“, sagt Schavan. Bereits im August hatte sich die Bundesregierung auf ihrer Klausur in Meseberg darauf verständigt, ein Konzept zur Zuwanderung in Deutschland zu erarbeiten. Die Forschungsministerin arbeitet derzeit an Neuregelungen für Fachkräfte und Wissenschaftler.

geplante nachträgliche Sicherungsverwahrung für junge Täter zu verschärfen. Nach Zypries’ Entwurf sollen alle Gefangenen, bei denen eine besondere Gefährlichkeit erkennbar wurde und die zu mindestens sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt worden sind, am Ende ihrer Haft von Gutachtern überprüft werden. Auf Initiative der unionsgeführten Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen plädiert der Innen- und Rechtsausschuss des Bundesrats dafür, bereits jugendliche Straftäter, die zu fünf Jahren verurteilt worden sind, überprüfen zu lassen. Außerdem sollte eine Begutachtung nicht nur bei Tötungsdelikten oder Vergewaltigung, sondern auch bei Geiselnahme und schwerem Raub erfolgen. Mit dem geplanten Gesetz will die Bundesregierung erstmals Richtern ermöglichen, junge Täter wie erwachsene Schwerverbrecher zu behandeln – und eine Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen zu können.

Deutschland

VERKEHR

Koalition der Unwilligen Mit massiven Geld- und Investitionszusagen versucht die Regierung, die Gegner der Bahn-Reform umzustimmen. Doch ein Bündnis aus Unionspolitikern, Sozialdemokraten, Verbänden und Gewerkschaften hat den Privatisierungszeitplan gestört. Das Projekt steht kurz vor dem Aus.

S

ie sind Nachbarn. Peter Struck und Hartmut Mehdorn leben im selben Haus. Der Vorsitzende der SPD-Fraktion und der Chef der Bahn wohnen in einer der besseren Gegenden der Hauptstadt. Der Tiergarten liegt um die Ecke, schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Landwehrkanals, haust der Ameisenbär in seinem Gehege im Berliner Zoo, ein Gedenkstein erinnert an die Stelle, an der

Rosa Luxemburg im Januar 1919 von ihren Mördern in den Kanal geworfen wurde, eine Straße weiter liegt die CDU-Parteizentrale. Manchmal, wenn Struck und Mehdorn abends spät nach Hause kommen, begegnen sie einander im Aufzug. Dann halten sie einen nächtlichen Nachbarschaftsplausch. Langweilig wird ihnen nicht. Es gibt viel zu besprechen in diesen Tagen.

Ausgerechnet ihr gemeinsames Großprojekt, die Bahn-Reform, ist ins Schlingern geraten. Verzweifelt kämpfen die beiden Nachbarn für den umstrittenen Gesetzentwurf – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Mehdorn träumt davon, die Bahn durch die geplante Teilprivatisierung zu einem globalen Spieler auf dem weltweiten Logistikmarkt auszubauen. Der Niedersachse

che meldete sich Unionsfraktionschef Volker Kauder kleinlaut bei Struck. Er könne seine Zusage leider nicht einhalten und den Gesetzentwurf in dieser Woche schon von seiner Fraktion verabschieden lassen. „Das geht sonst hundertprozentig schief“, warb er bei seinem Kollegen für Verständnis. Kauders Einschätzung war zutreffend. Auf einer Sitzung der Arbeitsgruppe Verkehrspolitik der Fraktion war bei einer Probeabstim175 % mung nur die Hälfte der +gegenüber Unionsabgeordneten für das 2005 Projekt, die andere Hälfte dagegen. Und weiteres Unheil steht bevor. An diesem Montag werden 1680 die Verkehrsminister aus Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt ein Gutachten der Unternehmensberatung KCW und des Verfassungsrechtlers Dirk Ehlers

Sichere Schiene Der Deutsche-Bahn-Konzern

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GEWINN

180

85 2000 01

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in Mio. Euro

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– 245 – 406

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in Mio. Euro

– 468

UMSATZ nach Geschäftsbereichen 2006, in Prozent Transport und Logistik

56,7 38,3

Personenverkehr

gesamt: 30,1 Mrd. Euro

Sonstige 0,6

4,4 Infrastruktur

und Dienstleistung

Verkehrsminister Tiefensee, Bahn-Chef Mehdorn, Kanzlerin Merkel*

AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS

Struck dagegen sieht die Dinge nüchterner. Als Fraktionschef ist er verpflichtet, die eigenen Minister zu schützen. Und keiner ist durch ein Aus der Bahn-Reform so gefährdet wie Wolfgang Tiefensee, der glücklose SPD-Kollege aus dem Verkehrsressort. Anfangs klangen die Neuigkeiten noch beruhigend, die Struck abends mit nach Hause brachte. Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause zum Beispiel hatte er mit SPD-Chef Kurt Beck und Vizekanzler Franz Müntefering vereinbart, das Gesetz noch vor dem SPD-Parteitag Ende Oktober durch das Parlament zu treiben. Doch in den vergangenen zwei Wochen fielen die Frontberichte von Tag zu Tag düsterer aus. Zuerst zwangen ihn die eigenen Abgeordneten, die letzte und entscheidende Abstimmung über das Gesetz auf einen Zeitpunkt irgendwann nach dem Parteitag zu verlegen. Dann schwankte auch noch der Koalitionspartner. In der vergangenen Wo-

vorlegen. Ehlers kommt zu dem Schluss, dass Tiefensees Gesetzentwurf mit dem Grundgesetz in mehrfacher Hinsicht „nicht vereinbar“ sei. Der Versuch, das Schienennetz zwar juristisch im Eigentum des Bundes zu belassen, es aber wirtschaftlich der dann teilweise privatisierten Bahn zuzuschlagen führe zu „einer Art Quadratur des Kreises“. Die Berater von KCW stellten darüber hinaus fest, dass die Länder finanziell deutlich mehr belastet würden als bislang – von rund einer Milliarde Euro bis zum Jahr 2011 ist die Rede. Der Grund steht unter anderem in einem geheimen Bericht der Investmentbank Morgan Stanley, die im Auftrag der Bundesregierung die Unternehmensentwicklung der Bahn überwacht. Danach will das Unternehmen ab 2008 seine Trassenpreise jedes Jahr um zwei Prozent anheben. Es bestehe, so die KCWGutachter, zudem die Gefahr, dass kleinere Bahnhöfe mit weniger als hundert Ein- und Aussteigern pro Tag geschlossen würden. Mittelfristig drohe die Stilllegung von mehreren tausend Streckenkilometern. Selbst die wenigen Unterstützer der großen Bahn-Reform sehen die Lage deshalb inzwischen mehr als düster. Kaum einer gibt dem Projekt in der jetzigen Form noch eine Chance. Je länger sich die endgültige Verabschiedung des Gesetzes verzögert, desto erbitterter wird die Debatte über Sinn und Unsinn der Reform geführt. Die Wahrscheinlichkeit wird damit immer geringer, dass es am Ende eine Mehrheit gibt für dieses zentrale Vorhaben der Großen Koalition. Allen Beteiligten ist klar, dass es bei der Bahn-Reform um nicht mehr und nicht weniger geht als um das Selbstverständnis des Staates. Welche Aufgaben muss er selbst erfüllen, und welche darf er an private Investoren delegieren? Gibt es ein Grundrecht auf Mobilität auch in den entferntesten Winkeln des Landes, das der Staat garantieren muss? Soll die Bahn den Interessen der Allgemeinheit verpflichtet sein oder ein Privatunternehmen, das den Wohlstand seiner Aktionäre mehrt? Darf es sein, dass private Investoren von einer Infrastruktur profitieren, die mit Steuermitteln geschaffen und ausgebaut wurde? Tiefensees Gesetzentwurf gibt auf all diese Fragen keine ausreichenden Antworten. In dem Versuch, die unterschiedlichen Interessen innerhalb der Großen Koalition auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen, haben die Beamten des Verkehrsministeriums einen Zwitter vorgelegt, mit dem niemand zufrieden ist – nicht einmal Bahn-Chef Mehdorn selbst. Formal werden Bahnbetrieb und Schienennetz zwar getrennt, doch tatsächlich * Bei der Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs am 26. Mai 2006.

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Deutschland ner Not bat Fraktionschef Struck am vergangenen Montag den CSU-Politiker und heutigen Bahn-Vorstand Otto Wiesheu zur Fraktionssitzung. Doch viele Abgeordnete erinnerten noch sehr genau, wie sich der damalige bayerische Wirtschaftsminister bei den Koalitionsverhandlungen 2005 für eine dauerhafte Erhöhung der Bahn-Mittel stark gemacht hatte. Wenige Tage später berief ihn der Bahn-Aufsichtsrat für ein Jahresgehalt von 1,6 Millionen Euro zum neuen Vorstandsmitglied. Als ihn ein SPDAbgeordneter am vergangenen Montag auf diese Zufälligkeit ansprach, reagierte Wiesheu peinlich berührt – und schob Erinnerungslücken vor. Verärgert registrierte die Fraktion, dass Struck vorsorglich Kritiker der Privatisierungspläne erst gar nicht eingeladen hatte. Einen Mann wie den Berliner SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin etwa, der das Tiefensee-Modell seit längerem heftig kritisiert. Sarrazin hat zusammen mit dem Umweltpolitiker Hermann Scheer das

THOMAS SCHULZE / PICTURE-ALLIANCE / DPA

soll die teilprivatisierte Bahn für mindestens 15 Jahre weiter nahezu unbeschränkt über das Netz verfügen. In dieser Zeit muss der Bund weiter zahlen: etwa 2,5 Milliarden Euro pro Jahr, um das Netz zu erhalten, und eine weitere Milliarde, um es auszubauen. Zu allem Überfluss soll der Bund den Bahn-Investoren auch noch rund 7,5 Milliarden Euro zahlen, wenn der Staat nach 15 Jahren das Netz zurückhaben will – weit mehr, als der Börsengang einbringen soll. Doch das kann er ohnehin nur, wenn die Bahn zum Beispiel die Infrastruktur verlottern lässt. Das ist ungefähr so, als würde man einem Mieter, der seine Wohnung verkommen lässt, beim Auszug auch noch den Kaufpreis hinterherwerfen. So verkorkst ist der Reformvorschlag, dass sich eine massive Koalition der Unwilligen gebildet hat, die das Projekt mit allen Mitteln verhindern will. Die Fronten verlaufen quer zu den bekannten Lagern. Da verbünden sich linke Sozialdemokraten

Zug des privaten Bahn-Konkurrenten Connex (2002): Eine Art Quadratur des Kreises

mit konservativen Unternehmerverbänden genauso wie marktliberale Unionsabgeordnete mit der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di. Die will neben der Bahn-Reform am liebsten auch noch der Konkurrenz der kleinen Eisenbahnergewerkschaft Transnet den Garaus machen, die den Gesetzesentwurf unterstützt. Die breite Phalanx der Gegner wird nur durch zwei Dinge geeint: Alle wollen die Bahn-Reform in der jetzigen Form verhindern und die Schuld dafür möglichst dem Konkurrenten zuschieben. „Das Ding ist praktisch tot – jetzt kommt es nur noch darauf an, dass die SPD die Niederlage mit nach Hause nimmt“, feixte Steffen Kampeter, der haushaltspolitische Sprecher der Unionsfraktion, in der vergangenen Woche auf einem Empfang. Die Sozialdemokraten quälen sich in der Tat am heftigsten und am lautesten. In sei26

Modell der Volksaktie entwickelt, das pro forma zwar eine Privatisierung der Bahn vorsieht, tatsächlich aber dem Bund weiter die vollständige Kontrolle des Unternehmens garantieren und renditehungrige Finanzinvestoren abschrecken würde. Der populäre Plan dient vor allem dazu, die Reformpläne entgleisen zu lassen. In dieser Woche wollen über 50 SPD-Abgeordnete einen entsprechenden Änderungsantrag einbringen, auch der Parteitag Ende Oktober soll darüber diskutieren. Sechs Landesverbände lehnen Tiefensees Privatisierungsplan ab. Je länger die Debatte über die Bahn-Reform anhält, so das Kalkül der Gegner, desto stärker werden die Schwächen des Regierungskonzepts in den Vordergrund treten. „Der Entwurf ist doch jetzt schon ein kalter, ausgelaugter Teebeutel“, sagt der sozialdemokratische Reformkritiker Karl Lauterd e r

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bach, „wer will das am Ende noch trinken, wenn er noch vier, fünf Mal aufgegossen wird?“ Die Befürworter der Volksaktien haben einen unerwarteten Verbündeten gefunden. Ausgerechnet der Industriellenverband BDI hält das Modell für eine interessante Alternative. Der Bund könne so seiner Verantwortung für die Infrastruktur direkter nachkommen. Auch in der Union wächst die Kritik an dem Tiefensee-Entwurf bedrohlich. Als der Essener Bundestagsabgeordnete Norbert Königshofen auf einer Fraktionssitzung am vergangenen Montag die Reform grundsätzlich kritisierte, erhielt er tosenden Beifall. Fast ein wenig verzweifelt appellierte die Kanzlerin an die Abgeordneten: „Denken Sie gut darüber nach; eine Bahn-Reform geht nur in dieser Konstellation.“ Teilen der Fraktion geht die Privatisierung nicht weit genug, andere fürchten das genaue Gegenteil. Der Bund wolle zu viel Einfluss abgeben, glauben sie. Um wenigstens wie verabredet den Entwurf in dieser Woche in erster Lesung in den Bundestag einbringen zu lassen, haben die Verkehrspolitiker ein Positionspapier erarbeitet. Die Union beharrt darin auf einem einjährigen Testlauf, noch vor dem Börsengang, der sogenannten Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung in der Bund und Bahn die jeweiligen Rechte und Pflichten in den nächsten Wochen festlegen wollen. Folge: Der Börsengang könnte frühestens Anfang 2009 stattfinden. Die Verzögerungstaktik ist offensichtlich, denn für 2009 ist die nächste Bundestagswahl angesetzt. Eine Privatisierung im Wahlkampf aber scheint so gut wie ausgeschlossen. Der Aufschub würde einer neuen Regierung unter Unionsführung die Möglichkeit eröffnen, das Gesetz an entscheidenden Stellen zu korrigieren. In der Spitze der Union stellt man sich ohnehin darauf ein, dass vor den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen im Januar keine Entscheidung fallen wird. „Ich habe mit Struck besprochen, dass wir keinen Zeitdruck haben“, sagte Kauder auf einer vertraulichen Sitzung mit Mittelstandspolitikern der Fraktion: „Wenn die Reform erst nach den Landtagswahlen beschlossen wird, ist es auch nicht schlimm.“ Um eine peinliche Abstimmungsniederlage schon in dieser Woche zu vermeiden, hat Kauder den Abgeordneten zugesagt, das Einbringen des Gesetzes werde der Fraktion „keinerlei Diskussions- oder Verhandlungsspielraum“ nehmen. Vieles spricht dafür, dass diese Versicherung von den Parlamentariern als Aufforderung verstanden wird, die Reform zu zerpflücken. Nur von einer Front dringen vereinzelt Siegesmeldungen in das Lager der Reformfreunde. Einige der Länder, die das Projekt bislang mit großer Mehrheit ablehnen, schwanken inzwischen. Es ist nicht die Kraft der Argumente, die hier ihre Wir-

KARSTEN HENNIG / ACTION PRESS

kung entfaltet – es ist die Aussicht auf Geld, viel Geld. Mit allerlei Investitionsund Finanzierungszusagen versuchen Mehdorn und Tiefensee, den Widerstand der Länder zu überwinden. Besonders erfolgreich geht dabei der Privatisierungspropagandist Wiesheu vor. Meldet ein Landesverkehrsminister seine Bedenken gegen den Börsengang an, hat er meist umgehend den Bayern an der Strippe. Ob er denn alle finanziellen Folgen für das Land bedacht habe, will Wiesheu dann wissen, und ob man bei dieser Gelegenheit nicht auch über dieses oder jenes Streckenbauprojekt reden könne. Im zweiten Teil der Werbeaktion nimmt Mehdorn den zögernden Ministerpräsidenten persönlich ins Gebet. Zusätzliche Verkehrsverbindungen werden in Aussicht gestellt, neue Brücken, Tunnel oder Fahrspuren ausgelobt und Hilfe beim Anzapfen der Brüsseler Fördertöpfe versprochen. Und so kommt es, dass der Bund in den vergangenen Monaten sein Okay für eine verdächtig hohe Zahl von Verkehrsprojekten der Länder gab. Baden-Württemberg bekommt etwa 500 Millionen Euro für sein gigantisches Bahnhofs- und Schnellbahnvorhaben „Stuttgart 21“. Bayern erhält fast 400 Millionen Euro zusätzlich für den Transrapid (siehe Seite 121). Auch Bremen wird mit einer Millionensumme für die soge-

Fraktionschefs Struck, Kauder

„Das geht sonst hundertprozentig schief“

nannte Y-Trasse nach Hannover und Hamburg bedacht. Kein Wunder, dass die begünstigten Länder Tiefensees Börsenpläne inzwischen wohlwollender betrachten. Geht es nach der Regierung, soll es so auch bei den übrigen Ländern laufen. Schon haben die Privatisierungsstrategen eine Reihe von Projekten ausgeguckt, von denen sie glauben, dass sie in den Landeshauptstädten das Vorhaben entscheidend befördern könnten. In Hessen ist vom Ausbau der Autobahn Gießen–Kassel die Rede. Thüringen hofft auf den Bau einer ICE-Verbindung von Leipzig nach Erfurt. Niedersachsen braucht neue Gleisverbindungen zum Tiefseehafen in Wilhelmshaven.

Hessens Verkehrsminister Alois Rhiel, ein erbitterter Gegner der Tiefensee-Reform, ist empört: „Ich halte es für einen politischen Sittenverfall, dass der Bundesverkehrsminister nicht einmal selbst bei den Ländern für sein Gesetz wirbt, sondern Herrn Mehdorn, seinen Günstling und Nutznießer des Gesetzes, zu den Landesregierungen schickt.“ Doch der Bahn-Chef dürfte sich kaum noch Illusionen machen. Nicht nur die Länder wollen den Privatisierungsprozess ausbremsen, auch große Teile des Bundestags wollen die Entscheidung möglichst ins nächste Jahr verschieben. Wenn der Gesetzentwurf bis Anfang 2008 nicht verabschiedet sei, das hat Mehdorn intern immer wieder klargestellt, drohe die Privatisierung zu scheitern. Auf keinen Fall dürfe die Bahn-Privatisierung in den Landtagswahlkämpfen des kommenden Jahres zum Thema werden. Zu groß sei dann die Versuchung, sich als Gegner der ungeliebten Reform zu profilieren. Genau deshalb versuchen seine Gegner jetzt auf Zeit zu spielen: „Vielleicht hält es mancher auch für einen großen Sieg, eine Bahn-Reform, die seit zehn Jahren läuft, aufgehalten zu haben.“ Matthias Bartsch, Konstantin von Hammerstein, Ralf Neukirch, Wolfgang Reuter, Michael Sauga, Jörg Schmitt

Deutschland AU S S E N P OL I T I K

Atombombe im Angebot Überraschen, Umgehen, Spalten – Frankreichs Präsident Sarkozy verwirrt Berlin jede Woche neu. Das Kalkül, den Furor des Neulings auszusitzen, geht nicht auf.

Französische Zeitungen werden schon aufgefordert, wenigstens einen Sarkozyfreien Tag einzurichten – und in Berlin wäre man darüber ziemlich froh. Vorbei die Zeiten, als man die Hyperaktivität des Franzosen mit dem Schwung des Neulings entschuldigt hat. Vor allem Merkel, Steinmeier und Finanzminister Peer Steinbrück werden immer wieder von Initiativen überrascht, umgangen oder irritiert. Noch schlimmer: Manchmal sucht der französische Präsident regelrecht den Streit, weil er findet, dass die Deutschen schnöde mit ihm umgingen.

ERIC FEFERBERG / AFP

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Staatschef Sarkozy, Kanzlerin Merkel

Trommelhase auf diplomatischem Feld

Kein Wunder, dass Steinmeier sein Desinteresse an der französischen Atombombe betont höflich formulierte. Keinesfalls wollte er Sarkozy provozieren. Denn der mag es gar nicht, wenn ihm ein einfacher Minister aus Allemagne krumm kommt. Das hatte Kollege Steinbrück ein paar Wochen zuvor erlebt, als er dem Präsidenten der Fünften Republik in einer Debatte über die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank zu widersprechen wagte. Während der Finanzminister redete, winkte Sarkozy den deutschen Staatssekretär Thomas Mirow herbei und herrschte ihn auf Französisch an, er solle seinen Chef stoppen: „So spricht man nicht mit einem Präsidenten.“ Mirow setzte sich wieder, schwieg und wunderte sich. Sarkozy rief die Kanzlerin an und verlangte, Steinbrück müsse öffentlich gerügt werden. Merkel wies darauf hin, dass sie einen Minister nicht einfach mal so in den THIERRY ORBAN / SIRPA-MER / CORBIS SYGMA

uf die Sache mit den Bomben kam der französische Präsident nicht direkt zu sprechen. Er nahm den Umweg über die Atomkraft. Wer das Klima wirklich schützen wolle, müsse mehr Kernkraftwerke bauen, begann der Franzose vorigen Montag beim Mittagessen in Meseberg. So weit konnten ihm Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier im Gästehaus der Bundesregierung problemlos folgen. Dann kam die Überraschung. Da er schon mal bei der Sache sei, fuhr der Präsident fort, er habe da noch einen Vorschlag. Dann präsentierte er seine zündende Idee. Der französische Nuklearschirm schütze nicht nur das Mutterland, sondern auch die Nachbarn, und das sei ja auch gut so. Die Deutschen sollten sich doch mal überlegen, ob sie nicht auch politisch an den französischen Atomwaffen teilhaben möchten. Kanzlerin und Außenminister waren sprachlos. Der Gedanke an eine Mitverantwortung für Atombomben ist in Deutschland ein Tabu. Sarkozys Vorgänger Jacques Chirac hatte das Thema vor zwölf Jahren einmal vorsichtig angesprochen, spürte aber rasch, dass es sinnlos war. Als Erster fand der Außenminister die Worte wieder. Deutschland strebe den Besitz von Atomwaffen nicht an, erläuterte Steinmeier, deshalb sei es auch 1975 dem Nichtverbreitungsvertrag beigetreten. Die Kanzlerin setzte ein freundliches Lächeln auf und sprang ihrem Minister dann bei. So geht es ständig: Seit Sarkozy vor vier Monaten ins Amt kam, überrascht er mit Vorstößen: Manches ergibt durchaus Sinn, aber besonders gern marschiert der Präsident wie ein Trommelhase über das diplomatische Feld.

Französisches Atom-U-Boot: An Nuklearwaffen der Fünften Republik teilhaben?

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Senkel stellen könne, zumal er bloß die Position der Bundesregierung referiert habe. Offenbar ziemlich wütend hat Sarkozy die Geschichte dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber erzählt, als der CSU-Mann ihn bei seiner Abschiedsvisite im Elysée-Palast besuchte. Wenig später fand sie sich in deutschen Tageszeitungen. Merkel würde ihm „zunehmend auf die Nerven gehen“, stand da. Aber es sind nicht nur Stil-, sondern immer häufiger auch Substanzfragen, in denen Deutsche und Franzosen aneinandergeraten. Das Auswärtige Amt wurde kalt erwischt, als Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner kürzlich zu einem Blitzbesuch nach Bagdad flog und den Schulterschluss mit den Amerikanern demonstrierte. In Konkurrenz zu den Deutschen reklamierte Sarkozy die Befreiung der fünf bulgarischen Krankenschwestern in Libyen für sich und nutzte den Coup nebenbei für einen französisch-libyschen Nukleardeal – natürlich ohne Absprachen. Gut möglich, dass in Europa der legendäre deutsch-französische Motor für eine Weile ausfällt. Sarkozy ersetzt die Absprache durch die Ansage, versehen mit der impliziten Drohung: Entweder ihr macht mit, oder wir gehen allein. Das könnte bald zum nächsten Showdown führen. Sarkozy will die EU dazu bringen, zusätzliche Sanktionen gegen Iran zu verhängen. Statt Berlin als bevorzugten Partner vorab einzubeziehen, informierte Paris die Deutschen wie jedes andere EU-Mitglied mit einer diplomatischen Demarche. In Meseberg hielt Steinmeier den Franzosen entgegen, die deutsche Wirtschaft habe ihr Iran-Geschäft längst dramatisch gesenkt. Paris solle erst mal seine Banken, Energiekonzerne und Autohersteller aus dem Iran abberufen, um auf das deutsche Niveau zu kommen, bevor es mehr fordere. Seitdem wird der Ton im Iran-Streit noch rauer. In Paris streuen Diplomaten, Merkel sei für den französischen Vorstoß, werde aber von ihren SPD-Ministern Steinmeier und Steinbrück gebremst. Berlin dementiert. Eine weitere Eskalation wollen die Regierungszentralen verhindern. „Das Verhältnis der beiden ist wirklich gut“, beteuert ein Vertrauter Merkels. Sanftere Töne muss Sarkozy aber noch üben. Merkel sei halt „eine Frau aus dem Osten“, sagte er vor seinem Kabinett am vergangenen Mittwoch. Eilig schob der Elysée-Palast zur Erläuterung nach: Als Ostdeutsche habe sie eben „nicht die affektive Nähe zu Frankreich – anders als Rheinländer“. Ralf Beste, Stefan Simons

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Deutschland

Hang zum Hadern Die SPD ringt um das Vermächtnis des Reformers Gerhard Schröder. Der Parteitag im Oktober muss klären, was den Genossen wichtiger ist: Gefühlshaushalt oder Regierungshandwerk?

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s gibt ihn auch aus Fleisch und Blut, nicht nur als Phantom. Gerhard Schröder, Bundeskanzler a. D., hält eine Rede im Kölner Gürzenich und lobt natürlich seine Arbeit. Dass Deutschland heute so gut dastehe, referiert Schröder am Dienstag vergangener Woche vor Vertretern der deutschen Energiewirtschaft, habe „auch etwas zu tun mit der Fähigkeit“, an „einmal eingeschlagenen Überzeugungen unbeirrt festzuhalten“. Seine Fähigkeit, seine Überzeugungen, seine Unbeirrtheit, sein Festhalten: seine Agenda 2010. Sie wirkt nach, nicht nur als Quelle des Aufschwungs, sondern auch als Quelle eines großen Streits in der SPD. Die Partei mit dem ewigen Hang zum Hadern zankt nun um Schröders Erbe. Er ist wieder da. Täglich spukt er als Phantom in den Köpfen und Debatten der Genossen. War die Agenda historische Notwendigkeit, auf die der aktuelle Konjunkturaufschwung maßgeblich zurückgeht? Oder war sie ein neoliberales Sparprogramm, das die sozialen Gegensätze im Land weiter verschärft hat? War Schröders Reformpaket wegweisend auch für künftige sozialdemokratische Politik, oder muss sich die SPD vor allem wieder jenen zuwenden, die sich vernachlässigt und ausgegrenzt fühlen? Über diese Fragen wird nun gestritten im „Fight Club“ SPD, Deutschlands größtem Kampfsport- Kanzler Schröder (2003): Phantom der Partei verein. Die Genossen schaffen es wieder mal nicht, sich ihrer Regierungs- Finanzminister Peer Steinbrück, zugleich beteiligung zu erfreuen und die Erfolge der Parteivize, zürnt über „Heulsusen“ und eigenen Minister zu würdigen. Sie verlie- „strukturkonservative Elemente“ in seiner ren sich stattdessen in Selbstzerfleischung Partei: „Bei uns meinen viele immer noch, von unten bis ganz oben. Der linke Flügel sie müssten sich für die Agenda 2010 entkämpft gegen den rechten, Arbeitsminister schuldigen.“ Beide haben zusammen mit dem BranFranz Müntefering stichelt gegen den Parteivorsitzenden Kurt Beck. Und die Um- denburger Ministerpräsidenten Matthias fragewerte dümpeln seit Wochen zwischen Platzeck kürzlich ein Buch vorgestellt („Auf der Höhe der Zeit“), in dem sie 24 und 29 Prozent. Die obersten Schröderianer sitzen in der Schröders Reformpolitik verteidigen und Regierung. „Wir können stolz sein auf die eine Fortsetzung anmahnen. Das hätte sieben Jahre“, sagt Außenminister Frank- nicht weiter Aufsehen erregt, aber weil sie Walter Steinmeier, einer der Hauptarchi- dabei über „Sozialstaatskonservative“ in tekten des Reformpakets von 2003, als er der SPD lästerten und dazu aufforderten, Kanzleramtschef war. Steinmeier klagt: „die Partei aus dem vermufften Sofa raus„Wir stehen uns manchmal selbst im Weg.“ zukriegen“, war der Krach da. 30

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FRITZ REISS / AP

S O Z I A L D E M O K R AT E N

Widerstand kommt vor allem aus den Ländern. „Die Basis wartet nicht auf so was“, zürnte im Parteirat die nordrheinwestfälische Landesvorsitzende Hannelore Kraft. „Kein Landes- oder Fraktionsvorsitzender kann sich vorstellen, mit AgendaStolz und Heulsusen-Rhetorik eine Wahl zu gewinnen“, sagt der Saarländer Heiko Maas. Was wie ein Streit um die Folgen der Agenda erscheint, ist in Wahrheit der Aufgalopp für die Debatte über die künftige Ausrichtung der deutschen Sozialdemokratie. Wird die SPD „Fortschrittspartei“, wie es sich Platzeck wünscht? Hat für sie gutes Regierungshandwerk in einer Großen Koalition erste Priorität, wie es Vizekanzler Franz Müntefering einfordert? Oder soll sie, eingezwängt zwischen populistischer Linkspartei und populärer Kanzlerin, wieder dem Leitgedanken einer „wirklich linken Volkspartei“ folgen und sich als Anwalt derjenigen verstehen, „die glauben, in dieser Gesellschaft ausgegrenzt zu sein“, wie es die Parteilinke Andrea Nahles will? Dass die Debatte um die Agenda zwei Jahre nach Schröders Abgang wieder aufflammt, liegt daran, dass die rot-grüne Reformpolitik die SPD zutiefst erschüttert hat. Rund 150000 Mitglieder haben die Partei seit Anfang 2003 verlassen, so viele wie nie zuvor in so kurzer Zeit. Das Verhältnis zu den Gewerkschaften erlitt Totalschaden. Nach Hessen, dem Saarland und Hamburg ging nun auch noch die Macht in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen verloren – schwere Treffer für die Volkspartei SPD. Nur die Wirtschaft jubilierte. Die Lohnzurückhaltung, die Freigabe der Zeitarbeit, die Flexibilisierung des Flächentarifvertrags haben die Konjunktur in Schwung gebracht. Das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft rechnet in einer Studie vor, dass die Agenda die Wachstumschancen in Deutschland dauerhaft erhöht habe. Rund ein Drittel des aktuellen Wachstums, also rund ein Prozent, schreibt die Studie Schröders Strukturveränderungen zu, den Rest der konjunkturellen Belebung. Ohne die Reformen wären den Deutschen Einkommen und Gewinne in Höhe von rund 20 Milliarden Euro entgangen – pro Jahr. Es ist ein Erfolg, den nicht alle Genossen feiern können. „Die SPD ist in ihrem Gefühlshaushalt geprägt von den glorreichen siebziger Jahren“, sagt der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. „Die SPD hat dafür gesorgt, dass Wachstum verteilt wird, dass die Gesellschaft durchlässig

bleibt und es insgesamt so gerecht wie möglich zugeht.“ Dieser Eindruck ist offenbar verlorengegangen, nicht nur bei den Genossen. In einer Umfrage für den SPIEGEL finden 61 Prozent der Befragten, die SPD solle sich vom Agendakurs verabschieden (siehe Grafik). Nach Jahren der Genügsamkeit schauen die Bürger inzwischen besonders genau darauf, wie der neue Wohlstand verteilt wird. 76 Prozent der SPD-Anhänger finden laut TNS Emnid überdies, die Große Koalition tue zu wenig für die soziale Gerechtigkeit. Auf diese Skepsis haben die Vordenker der Partei noch keine Antwort gefunden. Die Genossen haben sich mal wieder im Widerspruch von Utopie und Realität verheddert. Die immerwährende Vision der Sozialdemokraten von einem besseren Leben hat sich schon häufig nicht mit den Erfordernissen der schnöden Realpolitik in Übereinstimmung bringen lassen. Während insbesondere den Parteilinken die Welt nie gerecht genug strukturiert sein kann, gehen die Pragmatiker unter den Genossen davon aus, dass im politischen Alltag ohne Kompromisse gar nichts geht. In der Präsidiumsrunde am vergangenen Montag forderte Parteichef Beck erstmals zur offenen Aussprache auf, über Agenda und Stolz, Heulsusen und Regie-

UMFRAGE: AGENDA 2010

„Sollte die SPD stolz auf die Agenda 2010 und ihre Auswirkungen sein und auf dieser Linie weiterarbeiten?“

JA Anhänger von:

31 % CDU/CSU

SPD

FDP

Linke B’90/Grüne

33

45

37

22

61 %

NEIN Anhänger von:

37

CDU/CSU

SPD

FDP

Linke B’90/Grüne

60

48

57

71

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TNS Forschung für den SPIEGEL vom 12. und 13. September; 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“

rungslogik. „Lasst uns darüber reden“, verlangte er. Das Ergebnis war mager. Vizekanzler Müntefering sprach von „Missverständnissen“, Peer Steinbrück warnte alle, „die eine alleinige Deutungshoheit für sozialdemokratische Politik für sich in Anspruch nehmen wollen“. Der Europapolitiker Martin Schulz widersprach. „Es macht unsere Partei kaputt, wenn sich immer nur die Hälfte der Partei für die Beschlüsse der Gesamtpartei für

zuständig erklärt.“ Im Übrigen gebe es durchaus ein Gremium, „wo die Mehrheiten geklärt werden – auf dem Parteitag“ in sechs Wochen. Und Andrea Nahles mahnte: „Wenn ihr jetzt Stolz einfordert, kann das nicht funktionieren.“ Eine vorwärtsweisende Idee, die die unterschiedlichen Standpunkte zusammengeführt hätte, war nicht erkennbar. Es geht schon gar nicht mehr um die Agenda in ihrer ursprünglichen Form. Längst ist Schröders Rede vom 14. März 2003 zum Synonym für Einschnitte, Zumutungen und Belastungen jeder Art geworden. Im Bundestag hatte er damals angekündigt, er wolle das Arbeitslosengeld auf zwölf Monate verkürzen, Arbeitslosenund Sozialhilfe auf Sozialhilfeniveau zusammenlegen, die Tarifverträge öffnen sowie die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen kürzen. Doch weil die Agenda begleitet wurde von jahrelanger Lohnzurückhaltung, von stagnierenden Renten, wachsenden Zuzahlungen im Gesundheitswesen und stetig steigenden Vorsorgeleistungen, fühlte sich die Mehrheit der Deutschen einem anhaltenden Rollgriff ausgesetzt. Inzwischen werden von der Riester-Rente über die Hartz-Gesetze, von der Rente mit 67 bis zur Pflege-Vorsorge sämtliche Belastungen der Agenda-Politik zugeschrieben – selbst wenn sie mit Schröders

Deutschland mokratie als einziger und wahrer Hort sozialer Gerechtigkeit präsentieren könnte. Für Müntefering, Steinbrück und Steinmeier ist die Agenda 2010 zudem ein Stück Lebenswerk. Sie haben sich als Schröders Helfer dafür in den Kampf gestürzt, es war ein Kampf mit Folgen: Müntefering verlor sein Amt als Parteichef, Steinmeier den Job im Kanzleramt, Steinbrück musste als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen abtreten. Der Schmerz der Niederlagen ist offenbar nur erträglich, wenn darauf beharrt wird, für die richtige Sache gekämpft zu haben. Auch deshalb halten sie seltsam unbeirrt an ihren Positionen fest. Bei Kurt Beck ist das anders. Lange hat er die Agenda und ihren Geist mitgetragen. Lange war auch er überzeugt davon, dass der Sozialstaat alter Prägung sanierungsbedürftig sei. Er verteidigte Gerhard Schröder, und er stellte sich dem Konflikt mit den Gewerkschaften.

YANNIK WILLING / DDP (L.); CHRISTIAN BAUER / ACTION PRESS (R.)

Ankündigungen vom März 2003 nichts zu tun haben. Alles, was nicht die reine sozialdemokratische Lehre ist, gilt nun als „Agenda“verseucht. Aber wie will man die reine sozialdemokratische Lehre in einer Großen Koalition zum Regierungsprogramm machen, fragt vor allem Arbeitsminister Franz Müntefering. Für ihn kann sich die Sozialdemokratie nur Vertrauen und Respekt erarbeiten, wenn sie gutes Handwerk abliefert. Müntefering will seiner Partei und den Deutschen insgesamt die Zweifel nehmen, dass die SPD gut regieren kann. „Sozialdemokraten haben aus ihrer Geschichte heraus eine Macke“, hat er einmal gesagt. „Sie mussten sich immer wehren – gegen Obrigkeit, Reichswehr und die Kirche.“ Daraus sei eine „Mentalität des Zweifels erwachsen, ob wir überhaupt regieren können“.

Sozialdemokraten Steinbrück, Müntefering, Beck*: „Raus aus dem vermufften Sofa“

Münteferings Mission ist es, diese Zweifel zu tilgen. Möglichst für immer. „Es ist ein Unterschied, ob wir als Rotkreuzwagen antreten, oder ob wir sagen, dass wir regieren wollen.“ Er ist eindeutig fürs Regieren und will seine Partei nie mehr auf die Funktion des Sanitätswagens reduziert sehen. Für Müntefering und Steinbrück wäre es fatal, wenn sich ihre Partei wieder zurückfallen ließe in die alte Erwartungshaltung an den Staat. „Das ist eine Ecke, in der die SPD nicht mehr regierungsfähig ist“, sagt Müntefering und verlangt deshalb, dass die Partei den Regierungskurs geräuschlos mitträgt. Dass Angela Merkel seit nunmehr zwei Jahren sozialdemokratische Politik macht und die sozialdemokratischen Umfragewerte tief gefallen sind, irritiert Müntefering dabei keineswegs. „Die soziale Gerechtigkeit ist unser Markenzeichen“, sagt er. Der Vizekanzler ist felsenfest überzeugt, dass die Spannungen in der Union über Merkels Kurs spätestens im Wahlkampf 2009 offen aufbrechen. Das wäre der Zeitpunkt, an dem sich die Sozialde32

Doch vor der Bundestagswahl 2005 begann er Witterung aufzunehmen, zuerst in Rheinland-Pfalz, dann in ganz Deutschland. Er registrierte, dass den Wählern die Einschnitte und Zumutungen kaum noch vermittelbar waren. „Ich glaube, dass wir sehr gut auf die Menschen hören müssen“, mahnte er damals. Es müsse „eine faire Verteilung von Lasten geben“. Er traf sich mit Gewerkschaftsführern und Betriebsräten, er besuchte Unternehmen und SPD-Unterbezirke, und die Gespräche bestärkten seinen Eindruck: Das Verständnis dafür, dass die Gewinne sprudeln, Dividenden und Vorstandsgehälter steigen, gleichzeitig aber die Löhne stagnieren, dass der Kündigungsschutz aufgeweicht und die Zulagen gestrichen werden, verflüchtigte sich im ganzen Land rapide. Beck erkannte die Herausforderung für die Sozialdemokratie. „Wir müssen die Situation der Betroffenen im Blick haben“, sagte er im April 2006, als er designierter * Bei einer SPD-Veranstaltung in Herne Anfang September. d e r

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Parteichef war. Es war sein erster Hinweis, dass die SPD den Arbeitnehmern, Rentnern und Arbeitslosen nicht weiter in die Taschen langen dürfe. Wo immer er heute hinreist, zu den Betriebsräten von Blohm + Voss in Hamburg, zu den Lastwagenbauern von MAN in Salzgitter, zu den Chemiearbeitern der BASF in Ludwigshafen: Er spürt die Ferne der Arbeiter zur SPD. Er hört die kritischen Untertöne. „Ich betrachte die Zumutungen aus Sicht der Individuen“, sagt Beck und spricht von seinem Vater, der sein Leben lang als Maurer gearbeitet hat. Natürlich sei die Einführung der Riester-Rente im Jahr 2001 eine Erfolgsgeschichte, aber sie sei auch „ein Verlust an verfügbarem Einkommen“ für den Einzelnen. „Dann kann ich dem Einzelnen doch nicht sagen, für dich ist das eine großartige Geschichte.“ So hat der Streit in der SPD viel mit der Perspektive der Beteiligten zu tun. Müntefering sieht die Notwendigkeiten einer Regierung, Beck die Sorgen von Bürgern. Wer die Oberhand behält, wird der Parteitag Ende Oktober in Hamburg nicht entscheiden, aber er wird Kräfteverhältnisse klären und den Kompass justieren. Beck kann sich derzeit auf die Parteilinke verlassen, auch die meisten Landesvorsitzenden haben bereits ihre Solidarität signalisiert: Hannelore Kraft in NordrheinWestfalen genauso wie Ludwig Stiegler in Bayern, Heiko Maas im Saarland, Ralf Stegner in Schleswig-Holstein oder Andrea Ypsilanti in Hessen. Sie dürften dafür sorgen, dass Becks Kurs auf dem Parteitag klar gestützt wird. Das Buch von Steinbrück, Steinmeier und Platzeck habe „dafür gesorgt, dass Beck eine breite Basis hat“, frohlockt bereits die Parteilinke Nahles. Die Gewerkschaften sind ohnehin auf Becks Seite. Beim Treffen der SPD-Fraktionschefs aus Bund und Ländern kürzlich in Saarbrücken bekannte der als Gast geladene DGB-Chef Michael Sommer: „Wir können lange über die Agenda streiten. Selbst wenn man der Meinung ist, dass Teile umgesetzt werden mussten – unsere Leute werden niemals zugeben, dass es richtig war.“ Beim Parteitag wird auch Gerhard Schröder anwesend sein. Er soll eine Rede halten, „wenn möglich eine motivierende Rede“, heißt es im Willy-Brandt-Haus. Es muss eine geniale Rede sein, wenn er beide Flügel gleichzeitig motivieren will. Horand Knaup, Christian Reiermann

Deutschland

Hoffnung a.D. Sie galt als Zukunft der SPD, eine große Karriere schien ihr sicher. Doch jetzt denkt Ute Vogt manchmal ans Aufhören. Protokoll eines politischen Scheiterns. Von Markus Feldenkirchen

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s sind nur noch ein paar Minuten bis zum Beginn ihrer Veranstaltung, der Wind pfeift über den Parkplatz, der Regen prasselt auf sie nieder, aber sie muss noch mal zurück zum Auto, sie hat etwas vergessen. „Mist, die Broschüren.“ Ute Vogt war mal die Zukunft der SPD, aber davon ist in der Gegenwart nicht mehr viel zu spüren. Jetzt steht sie auf einem Parkplatz vor dem Best Western Palatin Kongresshotel Wiesloch und zieht einen Jutebeutel von der Rückbank, in dem die Broschüren stecken. „Is’ immer besser mit Broschüren“, sagt Vogt, dann läuft sie durch die Pfützen hinüber zum Eingang des Palatin. Wenigstens ist sie pünktlich. Im Foyer vor dem „Minnesängersaal“ warten Bekannte auf sie, auch alte Freunde, die Ute Vogt ins Herz geschlossen haben und nicht wieder rauslassen werden. Sie ist in Wiesloch groß geworden, hier im Stadtrat begann eine der verheißungsvollsten Karrieren der deutschen Politik. „Es ist schön, dich zu sehen“, sagt ein Parteifreund, er legt ihr die Hand auf den Rücken, er möchte Trost spenden. „Du bist doch eine von uns.“ „Ich bin auch immer froh, wenn ich hier bin“, sagt Vogt. „Tut gut.“ „Wie geht’s dir?“ „Ach Gott.“ Sie seufzt. „Ich Sozialdemokratin Vogt (2006): „Ist nicht ganz leicht“ kämpf mich durch.“ Sie schluckt jetzt. „Ist nicht ganz leicht.“ Neben ihr ne Woche gerade noch einen Putsch verplätschert ein Zimmerspringbrunnen. „Gar hindern. Am kommenden Samstag muss sie auf dem Landesparteitag ein Debakel nicht leicht.“ Gleich soll Ute Vogt auf dem Kreispar- bei der anstehenden Wiederwahl fürchten. teitag der SPD eine Rede halten, aber jetzt Auf dem Bundesparteitag Ende Oktober schießt ihr wieder ihr Schicksal durch den soll sie ihr Amt als stellvertretende VorsitKopf, und das Lächeln, das ihr schon so zende der Bundes-SPD abgeben. Sie hat hoch hinaus geholfen hat, verschwimmt ihr. angekündigt, sie wolle nie wieder in den Bundestag zurückkehren. Ute Vogt ist erst „Wird schon wieder“, sagt der Freund. Es sieht derzeit nicht so aus, als ob es 42 Jahre alt, aber vielleicht schon am Ende noch was würde. Es gibt viele Genossen in ihrer politischen Karriere. Baden-Württemberg, die ihre Partei- und Der Aufstieg und Fall der Ute Vogt in Fraktionsvorsitzende loswerden wollen. In der deutschen Politik ist eine erstaunliche der Landtagsfraktion konnte sie vergange- Geschichte. Es ist nur wenige Jahre her, da 36

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STEFAN BONESS / IPON

KARRIEREN

galt sie als Kandidatin für fast jedes Ministeramt, manche Genossen glaubten sogar, sie habe das Zeug zur Bundeskanzlerin. Es sind nur wenige Jahre, aber in der Politik können sie alles verändern. Sie können aus der Beinaheministerin eine Gescheiterte machen. Die Frage ist, wie es dazu kommen konnte? Wie es sein kann, dass die Politik neue Stars produziert und sie so schnell zusammenschrumpfen lässt? Die Fahrt nach oben beginnt 2001. Ute Vogt ist 36 Jahre alt, Abgeordnete des Deutschen Bundestags und seit zwei Jahren SPD-Chefin in Baden-Württemberg, sie ist ehrgeizig und mutig. In einer Kampfkandidatur hat sie sich gegen ihren Parteifreund Siegmar Mosdorf durchgesetzt und zieht als Spitzenkandidatin in die Landtagswahl. Sie wirkt wie frisch gepresst, übervoll mit Leben, gerade neben Erwin Teufel, dem altväterlichen Kandidaten der CDU. Sie muss nicht viel machen, sie muss nur ihr Lächeln verschenken, denn sie kann andere glücklich lächeln. Die ersten Porträts, die in den Zeitungen über sie erscheinen, sind Liebeserklärungen. Es gibt im Journalismus eine Gier nach Abwechslung und nach neuen Gesichtern. Oft werden sie dann höher geschrieben, als es ihnen guttut. Ute Vogt wird nicht Ministerpräsidentin, aber sie holt wunderbare 33 Prozent im Reich der Konservativen. Am Tag nach der Wahl steht sie neben dem Bundeskanzler auf der Bühne des Willy-Brandt-Hauses in Berlin. Gerhard Schröder hat sie schon im Wahlkampf „eine phantastische junge Frau“ genannt, jetzt sagt er: „Ute Vogt hat in der SPD noch viel vor sich. Sie zählt zur Führungsreserve erster Klasse.“ Schröder hofft, mit ihr sein eigenes Image aufzubessern, er möchte etwas abhaben vom Glanz der Jugend, von der Aura der Modernität. Ute Vogt ist jetzt offiziell Führungsreserve, aber inoffiziell auch Schmuckstück erster Klasse. Schröder schickt sie zu Otto Schily, als Parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium. Der Prozess der Entzauberung beginnt. Sie hat nun ein Amt, einen Dienstwagen und ein hübsches Einkommen, aber was ihr fehlt, ist die Luft zum Atmen. Nachwuchspolitiker werden gern zu Parlamentarischen Staatssekretären gemacht, weil man hofft, dass es die Vorstufe zum Großpolitiker sei. Aber das ist Unsinn. Staatssekretäre verwandeln sich

ACHIM MELDE / MELDEPRESS

meist in Beamte und selten in GroßPolitik, manche bestreiten mit ihm politiker. eine ganze Karriere, aber nur selten Ute Vogt vertrocknet bei Otto münden solche Karrieren in ein Schily. Sie muss zu Terminen gehen, Spitzenamt. auf die der alte Herr keine Lust hat. 2006 tritt sie wieder zur LandIm Fernsehen sieht man sie jetzt tagswahl in Baden-Württemberg an. öfter in Rüschenblusen, die von der Sie genießt jetzt nicht mehr den Oma geliehen sein könnten. Mit eiSchutz der Jugend, es fällt nun auf, genen Ideen oder einem Thema fällt dass sie noch immer kein eigenes sie nicht auf in diesem Amt. Thema hat. Selbst Mitarbeiter klaTrotzdem geht es weiter nach gen jetzt, dass sie sich nie in etwas oben. Ende 2003 wird sie zur stellvertieft habe. Es fehlt ihr die Ausvertretenden SPD-Vorsitzenden gedauer, an etwas dranzubleiben. Am wählt, es ist der Höhepunkt ihrer Ende des Wahlkampfs bleibt hänKarriere. Kurz darauf sitzt Vogt in gen, dass sie mal, wie sie im Radio ihrem Stuttgarter Büro und redet verriet, einen Orgasmus vorgeüber ihren Aufstieg und das Besontäuscht hat. Das ist zu wenig. dere an ihrer Generation. Sie sagt, Ute Vogt hat immer auf ihre unsie wundere sich manchmal selbst komplizierte, symphatische Art verdarüber, wie weit sie mit ihren fast traut. Sie hat versäumt, ihrem Talent 40 Jahren schon gekommen sei. Auf ein solides Fundament zu bauen. ihr ruhen jetzt die Hoffnungen eiOhne das aber sind kaum Wahlen ner ganzen Generation. zu gewinnen. Viele Bürger verlanDie Netzwerker der SPD wollen gen nach einem anderen Politikeranders sein als ihre Vorgänger, die typus als noch vor ein paar Jahren, 68er, nicht ideologisch, weniger bruals der 11. September noch ein getal im Umgang untereinander. Aber wöhnlicher Tag und Globalisierung man wirft ihnen vor, sie seien nur ein Fremdwort war. Die Welt ist seitein Verein zum Sammeln von Ämdem unsicherer, unübersichtlicher tern, sie wollten sich gegenseitig und viel komplizierter geworden. nach oben helfen, ohne zu wissen, Die Bürger fürchten sich vor der wozu. Klugheit und dem Fleiß in der Welt Vogt hat das Netzwerk mitda draußen, sie wollen kluge Politigegründet, und sie ist die Erste, ker, deren Kompetenz sie beschützt. die es in ein hohes Amt geschafft Volksnähepolitiker zählen zu den hat. Es geht jetzt nicht mehr Verlierern der komplizierten Welt. nur um ihre persönliche Karriere. Motorradfahrerin Vogt (2003): Traum vom Aussteigen Man kann sie bedenkenlos an den „Ich will zeigen, dass es noch Bratwurststand schicken, aber nicht Sie verfolgt das Prinzip der ständig in unbedingt in Verhandlungen über die Zueine andere Generation gibt in der SPD“, sagt sie und verschränkt die Arme hinter Aussicht gestellten Antwort. Ein typischer kunft eines Unternehmens. Der Satz, den dem Kopf. Sie lacht viel während des Ge- Ute-Vogt-Satz beginnt mit „Wir müssen die Volksnahen am häufigsten hören, lausprächs. „Wir wissen, dass es noch andere Antworten geben auf die Frage ...“, aber tet: „Das ist einer von uns.“ Ihr Pech ist Dinge im Leben gibt als Politik.“ Mit ei- dann kommt selten eine Antwort, sondern nur, dass die Menschen in einer komgenen Ideen oder einem Thema fällt sie meistens die nächste Frage. Der Satz- plexen Welt keine Politiker haben möchbeginn ist eine beliebte Floskel in der ten, die so sind wie sie selbst. Sie wollen nicht auf in diesem Amt.

Deutschland Kompetenz, selbst wenn sie in Gestalt von Günther Oettinger daherkommt. In den Sympathiewerten ist Vogt ihrem Konkurrenten während des Wahlkampfs weit überlegen. „Mehr Sachverstand“ hat nach Ansicht der Bürger Oettinger, viel mehr Sachverstand. Am schlimmsten Abend ihrer Karriere, dem Wahlabend im März 2006, als sie mit der SPD auf 25 Prozent abstürzt, möchte sie aufhören. Aber in der Nacht wird sie von Matthias Platzeck angerufen, dem da-

Aber sie hat ihr Talent um tiefe Sachkenntnis erweitert. Sie hat für die SPD das Konzept für eine Bürgerversicherung im Gesundheitswesen entwickelt. Danach hat sie sich in die Arbeitsmarktpolitik eingearbeitet. Man schenkt ihr Beachtung, weil sie etwas zu sagen hat. Ute Vogt versinkt nach der Wahl und dem Anruf von Platzeck in der Landespolitik wie im Moor. Sie findet kaum Gehör, die wenigen Auftritte vor dem Parlament wirken unvorbereitet.

MARCO-URBAN.DE

Schottland und erzählt, dass es nun genug ist, dass sie aufhören will mit der Politik. Sie will sich noch einmal zur Landesvorsitzenden wählen lassen, um über ihre Nachfolge mitentscheiden zu können. Aber sie will keine weiteren Ämter mehr. Sie ist Juristin, war schon als Rechtsanwältin tätig. Vogt sitzt an einem Tisch im „Alten Schlachthof Wiesloch“. Sie redet über Freunde, die sie mit den Jahren verloren hat, und über den Wunsch nach drei Kindern, den sie aufgegeben hat. Schlimm sei auch der Verlust an Freiheit. „Du bist nicht frei, dich zu kleiden, du bist nicht frei, im Auto ,Scheiße‘ zu brüllen, du bist nicht frei, mit einem muffigen Gesicht über das Stadtfest zu rennen.“ Sie lacht nicht mehr so viel wie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie wirkt verunsichert, ihre Hände kneten einen Würfel mit dem Nichtraucherzeichen. Vogt sagt, dass sie von einer Motorradtour durch Australien träume, viele Wochen, der Traum vom Aussteigen. Dann spricht sie über die Ursachen für ihren Fall, sie sagt, dass es sicher nicht gut gewesen sei, ständig für irgendein Amt gehandelt zu werden. Und das große Foto SPD-Netzwerker*: Verein zum Sammeln von Ämtern auf dem Wahlkampfplakat 2006 sei auch In diesem Sommer beginnen die fru- scheußlich gewesen. „Viel zu ernsthaft, viel maligen Parteichef, er bittet sie weiterzustrierten Kritiker aus der Fraktion zu sti- zu seriös. Das war nicht ich.“ machen. Sie erklärt ihr Schicksal mit den widHartwig Wätjen hat schlohweiße Haare cheln. Sie versuchen, Vogt mürbe zu maund trägt ein blaues Hemd, unter dem sich chen. Sie wollen einen neuen Fraktions- rigen Umständen, mit dem Amt der Staatsein fußballgroßer Bauch wölbt. Er ist Vor- vorsitzenden und bei der nächsten Wahl sekretärin, mit dem erzkonservativen sitzender des Ortsvereins Leimen, seit 34 einen anderen Spitzenkandidaten. Für sie Baden-Württemberg, sie sagt, dass man Jahren in der SPD. Er hat viele Politiker ist Vogt ein Auslaufmodell, obwohl sie jün- verstehen müsse, wenn Kurt Beck die steigen und fallen sehen, er hat ein Ge- ger ist als sie alle. In einer der Fraktionssit- Führung der SPD straffen wolle und sie spür für Potential. Er streift jetzt durch die zungen wird ihr vorgeworfen, „die Marke deshalb nicht mehr Vizevorsitzende sein hinteren Reihen des Parteitags von Wies- Ute Vogt“ ziehe nicht mehr. Die Gier nach dürfe. Das alles ist richtig, aber es ist nur die loch, vorn Vogt, hinten Wätjen. Er bleibt ständig neuen Gesichtern hat ihr nach oben bei einem anderen Ortsvereinsvorsitzen- geholfen. Jetzt erfährt sie, wie schnell man halbe Wahrheit. Wer fehlt in dieser Erklärung, ist sie selbst. den hängen. sich an ihr sattgesehen hat. In Wahrheit hatte sie riesige Möglich„Neulich hatten wir ja die Andrea NahWährend Vogt im August mit Freunden les da“, sagt Wätjen. und dem Motorrad durch die schottischen keiten, sie hatte Talent, sie hatte ihre „Und? Wie war die?“, fragt der Kollege. Highlands fährt, greifen ihre Parteifreunde Freunde aus dem Netzwerk, man hat sie „Unter uns: Sie bringt unterm Strich an, sie geben Interviews, die verkappte förmlich nach oben gebeten. Aber Ute mehr.“ „Als wer?“ Rücktrittsforderungen sind. Vogt sitzt in Vogt hat ihre Chancen nicht genutzt. Am Abend, an dem sie auf dem „Als uns Ute.“ „Glaub ich Kreisparteitag redet, erzählt sie von auch.“ ihrer Schulzeit, vom LateinunterAndrea Nahles, 37, ist das Gericht, in dem sie auf Fünf stand, genmodell. Sie war nie bei den Ergebnisse der Landtagswahlen 49,0 weil ihr das Fach nicht lag, weil ihr Netzwerkern, sie war immer stramm in Baden-Württemberg in Prozent das Pauken zu mühsam war und sie links. Sie ist vielen Leuten auf die nicht mit der Lehrerin konnte. Nerven gegangen, aber man hat ihr CDU Dann aber spielte sie die Hauptnoch nie vorgeworfen, sie habe kein 44,8 44,2 rolle in einem Stück der Theater Profil. Nahles ist ein Original, man 41,3 SPD 39,6 AG, es hieß „Die vier Freiheiten“, kann sie nicht austauschen. es ging um die Charta der MenEs ist kein Zufall, dass Nahles schenrechte. Sie verstand nicht, nächsten Monat beim SPD-Partei32,0 33,3 worum es ging, aber sie machte es tag in Hamburg stellvertretende 29,4 Nach der Vorstellung Vorsitzende werden und Ute Vogt 25,1 25,2 überzeugend. sagte ihr die Lateinlehrerin: „Vogt, diesen Posten wieder abgeben soll. ich dachte immer, Sie seien ein Auch Nahles stammt aus der Pro1988 1992 1996 2001 2006 faules Stück. Aber jetzt habe ich vinz, auch sie kann auf Menschen Dieter Spöri Ute Vogt gemerkt: Sie können ja, wenn sie zugehen, sie wirkt sympathisch. wollen.“ Lothar Erwin Günther Es sieht so aus, als wollte sie * Ute Vogt, Sigmar Gabriel, Nina Hauer, Ute Späth Teufel Oettinger nicht mehr. ™ Berg, Hubertus Heil am 19. Juni 2004 in Berlin.

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Deutschland Ministerpräsident Rüttgers*

HORST SCHNASE / ACTION PRESS

Geschwätz über den Neoliberalismus?

Hübscher Affront Während in Berlin wieder schwarz-gelbe Träume aufkommen, kracht es in der Düsseldorfer Koalition: CDU und FDP misstrauen sich zutiefst.

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er Donnerstag vergangener Woche hätte schön werden können für Jürgen Rüttgers: Er stellte sein neues Buch („Die Marktwirtschaft muss sozial bleiben“) gleich zweimal vor: morgens in Berlin, abends dann in Bonn. In seiner Abrechnung mit den „Lebenslügen“ auch der Union wollte sich der NRW-Ministerpräsident mal wieder als das soziale Gewissen der CDU präsentieren. Zu dumm nur, dass er zwischen den Terminen hektisch telefonieren musste – um daheim seine Koalition beisammenzuhalten. Denn die schwarz-gelben Koalitionäre hatten sich in den Tagen zuvor noch heftiger bekämpft als in den vergangenen Wochen ohnehin schon: Den Liberalen passen Rüttgers’ Buchthesen nicht, vor allem aber fühlt sich im Gegenzug die CDU von der FDP immer wieder zu unpopulären Reformen genötigt – und dann schnöde im Stich gelassen, sobald es Ärger gibt. Alle paar Tage ziehen vor dem Landtag Demonstranten auf. Und die beiden Fraktionschefs können in dem Bau am Rhein kaum mehr den Zorn innerhalb der eigenen Reihen besänftigen. Noch am Dienstag wurde in der CDUFraktion beispielsweise über den Abbau von Mitbestimmungsrechten im Öffentlichen Dienst gestritten. Der starke Arbeitnehmerflügel setzte dabei ein paar kleine Änderungen durch – etwa dass der Perso* Am 11. September beim Kinderforum der Regierung in Düsseldorf.

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nalrat bei Versetzungen wieder mitreden kann. Das trieb umgehend den Koalitionspartner FDP auf die Palme. Zuvor hatte das Kabinett beschlossen, den Stadtwerken landesweit Fesseln anzulegen – was seit Wochen für Proteststürme von CDU-Bürgermeistern sorgt. Sie machen gegen die eigene Partei Front. Denn die hat auf Druck der FDP dafür gesorgt, dass kommunale Betriebe der Privatkonkurrenz lukrative Aufträge etwa bei der Müllbeseitigung überlassen müssen. Der Ärger wird nur noch durch „Kibiz“ getoppt, das neue Kinderbildungsgesetz. Es regelt, dass Gelder nicht mehr nach der Zahl der Gruppen etwa in Kitas berechnet werden, sondern nach der Kopfzahl. Dagegen ziehen Eltern, Erzieher, Kirchen und Gewerkschaften zu Felde. Sie wollen den Trend zu großen Gruppen stoppen. Beide Partner der selbsternannten „Koalition der Erneuerung“ hatten das Gesetz beschlossen – doch nun bekämpft die FDP es nach Kräften. Während die CDU-Leute dem zuständigen Minister Armin Laschet in einer zweitägigen Anhörung tapfer den Rücken stärkten, zeigte der FDP-Abgeordnete Christian Lindner viel Sympathie

MARC DARCHINGER

NRW

Liberale Westerwelle, Pinkwart

In die Büsche geschlagen d e r

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für die Gesetzesgegner. Lindner ist nicht irgendein Hinterbänkler, er ist FDP-Generalsekretär in NRW und fordert seit voriger Woche eine Generalrevision bei Kibiz. Eine Koalitionsrunde soll nun versuchen, die Wogen zu glätten. Neben Kibiz muss sich die Runde auch um den Streit zwischen Vize-Ministerpräsident Andreas Pinkwart, dem FDPLandeschef, und der Wirtschaftsministerin Christa Thoben von der CDU kümmern. Es geht um eine Kohlenmonoxid-Pipeline des Bayer-Konzerns quer durch das Ruhrgebiet. CDU und FDP hatten das Großprojekt gemeinsam beschlossen. Doch dann organisierten Bürgerinitiativen Widerstand gegen die vermeintliche „Giftgas-Leitung“. Mit der Folge, dass die Stadt Monheim Pinkwart kürzlich den Eintrag in ihr Goldenes Buch verweigerte – ein hübscher Affront. Das Bayer-Rohr sei aber doch Frau Thobens Leitung, verbreiteten Pinkwarts Leute daraufhin. Aber die Wattenscheiderin Thoben lässt solche Spielchen nicht mit sich machen. Die Ministerin diktierte einen frostigen Brief an den „sehr geehrten Herrn Prof. Pinkwart“ und verzichtete auf die sonst in der Koalition übliche Floskel „lieber Kollege“. Auf zwei Seiten erinnerte sie Pinkwart, den Stellvertreter von FDP-Chef Guido Westerwelle, dass er das Pipeline-Gesetz mitbeschlossen habe. Sich dann nachträglich in die Büsche zu schlagen sei „politisch und rechtlich fragwürdig“. Man müsse den Mut haben, unbequeme Entscheidungen zu verteidigen. Solchen Mut fordert FDP-Fraktionschef Gerhard Papke immer wieder bei der CDU ein – wenn sich dann der Ministerpräsident aber mal vorwagt, mit seinem Buch über neoliberale Sünden etwa, ist es den Liberalen auch wieder nicht recht. Papke warf Rüttgers vor, er spiele mit seinen Thesen Populisten wie Oskar Lafontaine in die Hände. Ihren Ministerpräsidenten in die Nähe des linken Gottseibeiuns zu rücken, finden CDU-Leute aber schwer erträglich. Und Papke legte noch nach: „Wenn Ludwig Erhard hören müsste, welch dummes Zeug heute über den Neoliberalismus geschwätzt wird, würde er sich im Grabe umdrehen.“ Das Gezänk zeigt, wie weit Theorie und Praxis beim schwarz-gelben Konzept auseinanderliegen können: Um Theorie ging es, als am vergangenen Dienstag in Berlin Spitzenleute der beiden Bundesparteien bei Steinpilz-Mousse und Hirschkalbrücken über Gemeinsamkeiten redeten. In der NRW-Praxis hilft aber oft nicht einmal mehr ein Mann wie Pinkwart. Dabei hat sich der Professor der Betriebswirtschaft vor dem Weg in die Politik mit Chaostheorie beschäftigt. Barbara Schmid

Deutschland

FRANZISKA KRUG / ACTION PRESS

macht und die Kinderbetreuung dem Kaplan K. überlassen“, sagt Johanna T. Der Priester spielte mit den Kindern Verstecken und lockte sie dabei in besonders abgelegene Ecken. Dabei bedrängte K. ihren neunjährigen Sohn und betatschte ihn am Geschlechtsteil. Dann verlangte er von dessen zwölfjährigem Bruder Benedikt, sich auszuziehen. Der eingeschüchterte Junge gehorchte dem Geistlichen. K. befummelte Benedikt zwischen den Beinen. Doch Benedikts elfjährige Schwester sah alles mit an – und berichtete auf der Heimfahrt ihren Eltern von den seltsamen Spielchen. Die Eltern beschwerten sich sofort beim Generalvikar. Aber das Ordinariat in Regensburg habe sie überredet, sagt Johanna T., keine Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Man wolle den Fall im Bistum lieber intern regeln. Am 25. November 1999 dann wurde ein rechtlich höchst dubioses Abkommen zwischen Familie, Täter und Bischöflichem Ordinariat geschlossen. In dem bislang der Öffentlichkeit unbekannten Vertrag heißt es: „Im wohlverstandenen Interesse der Kinder und auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern soll Stillschweigen gewahrt werden.“ Bischof Müller: Grausames Experiment mit den Seelen von Kindern Benedikt erhielt damals 4000 Mark, seine Schwester 1000 Mark, der Bruder 1500 K AT H O L I K E N Mark als „Schmerzensgeld“ vom Pfarrer. Die Mutter verlangte vom Bistum aber auch noch die schriftliche Zusicherung, dass der Fummel-Priester nicht wieder in der Jugendarbeit eingesetzt werde: „Ich kann mit der Vorstellung nicht ruhig schlaMit unmoralischen Angeboten hart am Rand der Legalität hatte fen, dass er weitere Kinderseelen zerstören die Kirche versucht, einen Kinderschänder im Talar zu schützen – könnte.“ Die Angst war offenbar berechtigt. Doch so konnte er sich offenbar wieder an Ministranten vergreifen. der Justitiar des Bistums verweigerte eine neuen Schäfchen hatten zur Be- der missbrauchten Jugendlichen wirft den die Zusicherung, dergleichen könne „vom grüßung ein Geschenk mit Symbol- Kirchenmännern vor: „Es geht ihnen nicht Bischöflichen Ordinariat nicht gutgeheikraft besorgt: Als der Priester Peter um die Opfer, sondern vor allem darum, ßen werden“, schrieb er an die Familie zurück. Die Kirche könne K. im September 2004 in Riekofen bei Re- dass nichts an die Öffentlichnur versprechen, „dass der gensburg seinen Dienst antrat, überreich- keit kommt. Das tut weh.“ künftige Einsatz des Herrn Denn K., heute 39, war ten sie ihm einen großen Scheinwerfer. K. erst aufgrund einer sorgEr möge das Licht Gottes nach Riekofen schon Jahre zuvor als Kinfältigen Entscheidung erfolbringen und auch in die dunklen Ecken derschänder aufgefallen. Nur gen wird“. eine knappe Stunde Autoblicken. Die von der Fummelei geDoch dunkle Ecken suchte der Katholik fahrt entfernt, im Städtchen schockte Familie wollte sich offenbar selbst gern auf – um sich, so be- Viechtach, kann die 46-jährizumindest vorbehalten, den haupten Zeugen, an Ministranten zu ver- ge Johanna T. kaum fassen, Priester später noch anzeigen greifen. Ende August wurde er auf dem was jetzt in Riekofen passiert zu dürfen. Aber auch das büWeg in den Urlaub von Fahndern der Kri- ist. Mehrfach hat sie die Kirgelte das Ordinariat ab: „Da minalpolizei festgenommen, wegen Flucht- che in Regensburg genau vor der künftige seelsorgliche so etwas gewarnt. Johanna T. gefahr. Einsatz von Herrn K. allein Jetzt sitzt der Gottesmann hinter Git- ballt die Fäuste, wenn sie an im Kompetenzbereich des tern, und Riekofen steht unter Schock. Der Pfarrer K. und das Verhalten Bischöflichen Ordinariates Fall im Bistum Regensburg könnte sich zu des Bistums denkt: „Das Ververbleiben soll, wobei bei einem der schwersten Sex-Skandale unter schweigen und Vertuschen Art und Zeitpunkt des Einden deutschen Katholiken ausweiten. Mas- von Anfang an“ macht sie satzes die Vorfälle berücksiv sind die Vorwürfe gegen den Regens- wütend. sichtigt werden, können wir Denn K. hatte sich schon burger Bischof Gerhard Ludwig Müller. es nicht akzeptieren, dass ... Dem SPIEGEL liegen Dokumente vor, die an ihren Söhnen vergriffen, eine Anzeige vorbehalten belegen, dass sein Ordinariat – hart an während des Osterfestes bleibt.“ der Grenze der Legalität – versucht hat, 1999: „Wir hatten es uns im Die Familie unterschrieb Kindesmissbrauch zu vertuschen: Schwei- Viechtacher Kolpinghaus mit Pfarrer Peter K. (2001) schließlich die Schweigevergen sollte mit Geld erkauft werden. Einer anderen Familien gesellig ge- Seltsame Spielchen

Schweigen gegen Geld

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Deutschland Da galt es als glückliche Fügung, dass der Priester 2004 vom Bistum zum Gemeindepfarrer von Riekofen-Schönach berufen wurde, als Nachfolger des Ortsgeistlichen Helmut Grüneisl. „Nicht einmal ich wusste was von Viechtach“, beklagt sich Grüneisl. „Man hätte mir das sagen müssen, da wär mir vieles komisch vorgekommen.“ Ende Juli schlug dann die Bombe in Riekofen ein. Die Lokalpresse berichtete über den Fall Benedikt. Doch viele Riekofener hielten da noch immer zu ihrem Priester, manche wollten Unterschriften sammeln, damit K. im Amt blieb. Jeder könne schließlich mal Mist bauen, sagten sie. K. jedoch fehlte beim folgenden Sonntagsgottesdienst – ein Nervenzusammenbruch, er lag in der Klinik. Dort besuchte ihn Pfarrer Grüneisl: „Da hat er mir zugesichert, dass

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einbarung. Nach etlichen Monaten aber zeigte eine Bekannte des Vaters den Priester dann doch noch an. Der Vater hatte sich der Frau in einer Klinik anvertraut. Nach dem Übergriff auf seine Söhne litt er unter psychischen Problemen. Im Juli 2000 wurde Kaplan K. per Strafbefehl zu zwölf Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt – und zuvor aus Viechtach abgezogen. Wohin der Pfarrer verschwand, erfuhr die Familie T. zunächst nicht. Und in Riekofen ahnte niemand, woher der neue Geistliche kam. Denn das Bistum hatte die Zeit in Viechtach sorgfältig aus dessen Vita im Pfarrbrief entfernt. Und schon ab Herbst 2000, als die dreijährige Bewährungszeit gerade mal begonnen hatte, pflegte Peter K. wieder Kontakt zu Ministranten – anders, als Bischof Müllers Leute jetzt behaupten: Die Kirche habe

Pfarrkirche Riekofen: 100 Kinder auf der Zeugenliste

erst eine vierjährige Therapie abgewartet, bevor K. wieder in der Nähe von Kindern eingesetzt wurde, sagte Bistumssprecher Jakob Schötz noch vergangene Woche. Laut Personalplan war der Kinderschänder tatsächlich als Seelsorger in einem Altenheim beschäftigt. Aber er vertrat an vielen Sonntagen auch den kranken Ortspfarrer im Gottesdienst. Bereits im Frühjahr 2001 feierte Peter K., wie ein Foto beweist, Firmung in Riekofen und segnete dabei mindestens einen Jungen, der laut Zeugenaussagen zu seinen späteren Opfern zählen sollte. Überhaupt bemühte sich der junge Kirchenmann rührend um die Jugend: Er organisierte Ausflüge, Reisen nach Hamburg und Rom, rauchte mit den Kids schon mal Wasserpfeife im Keller. K. schaffte es, rund 100 Schüler aus der Gemeinde als Ministranten zu werben. Die Eltern waren zufrieden. 46

das mit Viechtach eine einmalige Sache war.“ Im Dorf aber waren Eltern misstrauisch geworden. Einige Familien holten eine Psychologin in die Pfarrgemeinde, die sich sonst für den Weidener Verein Dornrose um missbrauchte Kinder kümmert. Die Frau sprach mit Ministranten, und die begannen zu reden. Die Aussagen von Kindern sind längst nicht immer verlässlich – nicht bei solchen Themen und oft erst recht nicht, wenn sie gezielt befragt werden. Aber die Staatsanwaltschaft Nürnberg, die gegen K. wegen des Missbrauchsverdachts ermittelt, hat inzwischen rund 100 der Kinder auf ihre Zeugenliste gesetzt. Die Mitglieder des Pfarrgemeinderats glauben nur so viel zu wissen: Seit 2003 soll der Pfarrer, so erzählen es zumindest Kinder, erneut Jungen missbraucht haben. Zunächst auf Ausflügen, später d e r

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angeblich in seinem Pfarrhaus, in dem er ohne Haushälterin lebte. K. soll die Buben einzeln eingeladen und aus einem Sexualkundebuch vorgelesen haben, sagt ein Vater, der es von Ministranten erfahren hat. Dann habe der Priester die Jungs oft gefragt, ob sie schon einmal Sex hatten. Anschließend soll er zudringlich geworden sein. „Die Übergriffe“, mutmaßt der Vater, „waren wohl wesentlich schlimmer als das Geschehen in Viechtach.“ Das ist bislang nicht mehr als ein Verdacht: Es könnte sich noch immer um Missverständnisse handeln, verstärkt durch die Phantasie von Kindern. Aber der Pfarrer selbst mag sich zu all dem bislang nicht äußern, nichts aufklären. Und es ist für die Eltern ein sehr schwerwiegender Verdacht, weil er durch K.s Vergangenheit gestützt wird. Deshalb fühlten sich viele Familien in dem 2000-Einwohner-Sprengel vom Bistum hintergangen und sind enttäuscht, versichern die Pfarrgemeinderäte in einem Pfarrbrief: Die Kirche habe ein „grausames Experiment“ mit den Seelen von Kindern gewagt. Der Zorn auf Bischof Müller ist groß. Doch Müllers Leute halten sich für unschuldig. Das Ordinariat habe ein Gutachten vorliegen, sagt Müllers Sprecher Schötz, wonach Pfarrer K. als geheilt gelte. Der Geistliche habe sich einer Therapie unterzogen und sei erst danach in Riekofen eingesetzt worden. Bei dem Gutachten aber handelt es sich nur um eine Stellungnahme des Therapeuten, der den Pfarrer behandelte. Und dass K. schon wieder zu Kindern in der Pfarrei Kontakt hatte, als es noch lange kein Gutachten gab, hat man im Ordinariat geflissentlich übersehen. Bischof Müller, ein strenger Kirchenmann, der seine Ortspfarrer sonst wegen Kleinigkeiten tadelt, vermag keine Schuld bei sich zu sehen – und war deshalb lange für die Riekofener nicht zu sprechen. Stattdessen keilte er zurück, Kritiker würden eine Kampagne gegen ihn starten. Dabei hat der sanfte Umgang mit Kinderschändern unter Müllers Ägide System. So wurde im Sommer 2004 bekannt, dass ein Pfarrer in Falkenberg über einen Jungen hergefallen war. Die Eltern des Opfers wandten sich an das Bistum, wurden aber nach eigenen Aussagen hingehalten. Erst als sie dann doch zur Polizei gingen, wurde der Priester aus dem Verkehr gezogen. Der Bischof mag zu Riekofen nichts sagen. Aber immerhin telefoniert er seit Tagen mit Kollegen und sucht Rat in der Frage, ob er denn nun am 23. September dorthin fahren soll, wenn ein neuer Pfarrer eingeführt wird. Er könnte dann zum ersten Mal den Kindern gegenübertreten – und ihren aufgebrachten Eltern. Conny Neumann, Peter Wensierski

Deutschland V E R B R AU C H E R

Stoffhund im Giftschrank ULRICH BAUMGARTEN / VARIO IMAGES

Obwohl immer mehr gefährliche Spielwaren und Elektrogeräte aus Fernost nach Deutschland kommen, leisten sich die Behörden ein ineffizientes Kontrollregime.

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ormalerweise ist der Beamte Robert Rath ein besonnener Mensch, der sich durch nichts so leicht aus der Ruhe bringen lässt. Aber in diesen Tagen kann er sich gehörig aufregen, und das liegt am Inhalt eines Schrankes, der im zwölften Stock seiner Behörde im Berliner Stadtteil Friedrichsfelde steht. Es ist ein grüner Schrank, er ist vollgestopft mit Puppen, Christbaumbeleuchtung und Haartrocknern, alles aus China. „Sehen Sie sich diese Lichterkette an“, sagt Rath. „Die sieht eigentlich ganz harmlos aus. Aber wenn sie die anschließen, erhitzt sie sich auf 160 Grad. Da kann ganz schnell die Wohnung brennen.“ Dann zieht er einen Stoffhund aus seinem Giftschrank. „Sieht süß aus, nicht?“, fragt Rath rhetorisch, um gleich die Macke des putzigen Tiers zu nennen: „Der verliert so viele Haare, dass ein Kind leicht daran ersticken kann.“ Rath ist Referatsleiter beim Landesamt für technische Sicherheit, er würde gern dafür sorgen, dass seine Behörde weit mehr von diesen lebensgefährlichen Billigwaren aus dem Verkehr zieht. Aber er weiß, dass das unmöglich ist, weil das Geld dafür fehlt. Die Behörde von Herrn Rath hatte mal 600 Mitarbeiter, jetzt sind es noch 170, und davon gehen gerade mal drei Kollegen raus in die Läden, um gefährliche Waren aus den Regalen zu fischen. „Es ist ausgeschlossen, mit so wenig Leuten eine Dreieinhalb-Millionen-Stadt zu überwachen“, sagt Rath. Seit Wochen werden die deutschen Konsumenten von Schlagzeilen über feuergefährliche Aufladegeräte und bleiverseuch-

MICHAEL WOLF / LAIF

Spielzeug im TÜV-Test: „Sieht süß aus, nicht?“

Chinesische Arbeiterinnen (in Guangdong)

Kaum wirksame Prüfungen 48

tes Spielzeug aus China verschreckt. Die Politik gibt sich alle Mühe, die Bürger zu beruhigen, und verweist auf die gute Kontrolle der deutschen Behörden. Allen voran der Verbraucherschutzminister: Das deutsche System, so Horst Seehofer, habe sich „bewährt“. Ähnliches behaupteten vergangenen Freitag auch Länderkollegen Seehofers bei einer Konferenz der Verbraucherschutzminister in Baden-Baden. Herr Rath und seine Kollegen können darüber nur schmunzeln. In Wahrheit werden sie der Flut des Gefahrguts aus Fernost nicht Herr. Von einer wirksamen Überprüfung von Spielzeug und Elektrogeräten kann kaum die Rede sein. Die Funde der vergangenen Wochen gehen meist auf reuige Firmen wie den Spielzeugriesen Mattel zurück, die von sich aus an die Öffentlichkeit gehen. Von den Behörden ist kein ausreichender Schutz zu erwarten. Dort herrscht eine Mischung aus Personalmangel und eifersüchtigem Kompetenzgerangel. So sind in Brandenburg im Schnitt zwölf Inspekteure des Landesamts für Arbeitsschutz unterwegs. Aber die müssen nicht nur Ausschau halten nach brüchigen Kabelverbindungen und gefährlichem Spielzeug; sie sind auch dafür zuständig, dass schwangere Verkäuferinnen genügend Ruhezeiten haben und Geschäfte ordentliche Sanitäranlagen besitzen. In Bayern wird das Personal der Gewerbeaufsichtsämter bis 2009 um ein Viertel reduziert. Dazu kommt, dass die Zuständigkeiten für die Inspektionen derart zersplittert sind, dass selbst Experten kaum durchblicken. Ist ein Spielzeugauto so gebaut, dass Kleinteile abfallen, an denen sich Kinder verschlucken können, sind die Gewerbeaufsichtsämter zuständig. Hat das Auto eine gesundheitsschädliche Lackschicht, dürfen sich Lebensmittelbehörden in der Verantwortung fühlen. Wenn beides zutrifft, ist Kuddelmuddel garantiert. Als vor drei Wochen Bundeswirtschaftsminister Michael Glos eine Runde zur Sicherheit von Spielzeugen nach Berlin einberief, umfasste die Einladungsliste 37 Adressen. Sie reichte – neben diversen Wirtd e r

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schaftsverbänden – von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz bis zum Gewerbeaufsichtsamt von Mittelfranken. Ende September nun wollen sich Beamte aus dem Wirtschafts-, dem Arbeits- und dem Verbraucherschutzministerium zusammensetzen, um das Kompetenzdickicht zu entwirren. Sinnvoll wäre es, die Ware gleich beim Import in den EU-Binnenmarkt unter die Lupe zu nehmen, etwa im Hamburger Hafen. Dort aber ist der Zoll zuständig, und der kontrolliert im Wesentlichen, ob in den Containern auch die Waren drin sind, die auf den Lieferpapieren stehen. Ob die Waren giftig oder gefährlich sind, kann dabei nicht geprüft werden: „Unsere Beamten sind nicht dazu ausgebildet, Blei im Spielzeug aufzuspüren“, sagt Arne Petrick vom Zoll der Hansestadt. Zwar ist es bei der Masse der importierten Waren ohnehin nicht möglich, alle Gefahrenquellen zu untersuchen. Er könne ein halbes Jahr damit verbringen, eine Spielzeugpuppe nach sämtlichen gefährlichen Chemikalien durchzutesten, sagt Matthias Hoppe-Kossack vom Landeslabor Schleswig-Holstein. Allerdings wäre schon viel erreicht, wenn sich die Prüfbehörden untereinander besser abstimmten. Weil die meisten unkoordiniert vor sich hin arbeiten, kann es leicht passieren, dass der gleiche Fön zweimal getestet wird – einmal in Bayern und später ein zweites Mal in Schleswig-Holstein. Auch die Verbraucherschutzminister der Länder reagieren auf ihre Weise. Weil jeder seine Zuständigkeiten verteidigt, machten sie sich vergangenen Freitag auf einen Weg, der keinen verärgert. Sie verständigten sich auf die Forderung, das deutsche „GS“-Zeichen europaweit einzuführen. Was sinnvoll klingt, ist in Wahrheit ebenfalls nur bei intensiven staatlichen Kontrollen wirksam: Im Giftschrank von Robert Rath tragen fast alle Artikel das europäische „CE“-Zeichen oder das Gütesiegel „GS“ der amtlich zugelassenen Prüfstellen. „Solche Labels“, sagt Rath, „werden in China am liebsten gefälscht.“ Michael Fröhlingsdorf, René Pfister

Deutschland gen finde ich es seltsam, dass wir Investitionen aus China und Russland aussperren E U R O PA wollen, gleichzeitig von diesen Ländern aber grenzenlose Investitionsmöglichkeiten für unsere Unternehmen fordern. SPIEGEL: Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt, man dürfe bei diesem Thema „nicht naiv“ sein. Europa müsse sich vor dem EU-Kommissar Günter Verheugen, 63, über Einfluss fremden Staatskapitals schützen Investitionen ausländischer Staatsfirmen, seine Kritik an Hedgekönnen, wenn das nötig werde. Verheugen: Wenn es irgendwann einmal, fonds und über die Berichte zu seinem Privatleben was ich nicht glaube, zu einer Situation kommen sollte, in der strategische Interessen Europas oder eines Mitgliedlandes durch solche Investitionen bedroht sind, dann stehen doch heute schon Instrumente zur Verfügung, um dagegen vorzugehen und sensible Sektoren zu schützen. SPIEGEL: Welche Branchen fallen Ihrer Meinung nach darunter? Verheugen: Die Rüstungsindustrie, die Luft- und Raumfahrtindustrie, die gesamte Infrastruktur, Elektronik und Kommunikation … SPIEGEL: … also auch die Telekom zum Beispiel? Verheugen: Eindeutig. Alle industriellen Sektoren von strategischer Bedeutung. SPIEGEL: Medien auch? Einige Regierungsmitglieder plagt der Alptraum, der Springer-Konzern würde von Gasprom gekauft. Verheugen: Das ist ein Grenzfall, und ich würde es politisch jedenfalls nicht wünschen. Aber zusammengefasst: Ich sehe keinen europäischen Handlungsbedarf. Jeder hat die Instrumente, sich zu wehren, wenn es nötig wird. Sozialdemokrat Verheugen: „Jeder hat die Instrumente, sich zu wehren“ SPIEGEL: Welche? Verheugen: Staaten können eine solche BeSPIEGEL: Herr Verheugen, Russlands Ener- keinen Anhaltspunkt erkennen, dass sol- teiligung verhindern. Das sehen die Regeln gieriese Gasprom nimmt angeblich Deutsch- che Firmenübernahmen für uns schlecht der Welthandelsordnung für strategisch lands größten Energiekonzern E.on ins Vi- sein sollten. Nehmen wir doch mal den wichtige Firmen vor. Die USA machen resier. Chinesische Staatsfonds sind schon konkreten Fall: Investoren aus China, gelmäßig von dieser Möglichkeit Gebrauch. indirekt bei der Deutschen Telekom ein- Russland oder anderswo kommen mit Ta- Ich würde aber statt für Verbote für eine gestiegen. Ist das alles der ganz normale, schen voller Geld zu uns … privatwirtschaftliche Lösung plädieren. globale Kapitalismus – oder bereitet Ihnen SPIEGEL: … und investieren bei uns nicht, SPIEGEL: Nämlich welche? die Entwicklung Sorgen? um Profit zu machen, sondern um politi- Verheugen: Ich würde als Regierung versuchen, ein geeignetes privates Konsortium Verheugen: Überhaupt nicht, ich sehe darin schen Einfluss zu gewinnen. nichts Bedrohliches. Solche Investitionen Verheugen: Wie sollten sie das tun? Eine zusammenzustellen, das dann als „Weißer werden gemacht, um Geld zu verdienen, Pipeline kaufen und den Hahn zudrehen? Ritter“ das Unternehmen übernimmt. Denn nicht um politische oder wirtschaftliche Oder stellen sie die Stromerzeugung ein, wir dürfen nicht vergessen, dass ja eine VerStrukturen anderer Länder zu beeinflus- wenn sie E.on gekauft haben? Das käme kaufsabsicht seitens der Eigentümer besteht. sen. Das sind unsere Erfahrungen mit sol- doch einer Kriegserklärung gleich. Im Übri- Ein Verkaufsverbot scheint mir da doch eine zu große Beschneidung der Eichen Direktinvestitionen, gleichgültig ob gentumsrechte. aus traditionellen Industrieländern oder aus den neuen Wirtschaftsmächten. Ich SPIEGEL: Sind Sie gegenüber den sehe deshalb keinen Anlass, den für Euroebenso umstrittenen Firmenpa so wertvollen Grundsatz der Freiheit übernahmen durch Hedgefonds des Kapitalverkehrs jetzt aufgrund irgendgenauso gelassen wie bei den welcher Ängste aufzugeben. Shopping-Touren der Staatsfonds? SPIEGEL: Das sieht die Bundesregierung Verheugen: Hedgefonds bereiten ganz anders. Politiker der Großen Koalimir tatsächlich viel größere Sortion, auch aus Ihrer Partei, der SPD, übergen. Um es ganz klar zu sagen: Ich bieten sich derzeit mit Vorschlägen, wie Firbin kein Freund von Hedgefonds. menaufkäufe durch sogenannte staatliche SPIEGEL: Warum nicht, was unterHeuschrecken verhindert werden könnten. scheidet sie von den Staatsfonds? Verheugen: Ich halte solche Aufregung für Verheugen: Bei Übernahmen unbegründet. Es gibt keinen Grund für durch Hedgefonds kommt es imhektischen Aktivismus. Ich kann wirklich Börse in Hongkong: „Sensible Sektoren schützen“ mer wieder zu Zerschlagungen PICTURE-ALLIANCE / DPA

JOCK FISTICK / REPORTERS / LAIF

„Eisenhart verteidigen“

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Deutschland von Unternehmen, die SPIEGEL: Herr Verheugen, mit dem Verkauf oder eisenhart verteidigen müsder Schließung von Unsen Sie sich derzeit vor ternehmensteilen enden, allem selbst. Ihr Privatalles im Namen einer leben geht erneut durch noch höheren Rendite. die Medien. Dabei werAnschließend stellt sich den schwere Beschuldidann heraus, dass einst gungen erhoben: Sie hätwettbewerbsfähige Unten über die Beziehung ternehmen ruiniert und zu Ihrer Mitarbeiterin PeArbeitsplätze mutwillig tra Erler nicht die Wahrvernichtet wurden. So etheit gesagt. Verheugen: Diese Beschulwas hat man von Staatsdigungen sind falsch. Polifonds noch nicht gehört. SPIEGEL: Werden wir Politiker Verheugen, Freundin Erler* tisch relevant ist eine konkret: Stellen Sie sich „Rechtlich vorgegangen“ Frage: Gab es, als meine Mitarbeiterin Frau Erler vor, dass sich ein angelsächsischer Hedgefonds anschickt, die Te- zu meiner Kabinettschefin befördert lekom zu übernehmen. Er kündigt an, dass wurde, eine über Freundschaft hinauser das Unternehmen filetieren werde, um gehende Beziehung zwischen uns, und gibt die Einzelteile leistungsfähiger zu machen. es sie heute? Die Antwort lautet: nein. Das Verheugen: Hier wäre für mich eindeutig ist die Wahrheit, die ich stets so gesagt der Punkt erreicht, wo das strategische habe. Interesse des Landes die Bundesregierung SPIEGEL: Nun gibt es Fotos, die den Eindruck erwecken, dass Ihr Verhältnis zu zum Eingreifen zwingt. SPIEGEL: Viel ausrichten kann sie aber Ihrer Mitarbeiterin schon vor der Beförnicht. Ihr fehlen die Instrumente. derung mehr als freundschaftlich war. Verheugen: Die kann sie aber jederzeit Verheugen: Da irren Sie sich. Es geht um schaffen, zum Beispiel durch eine gering- ein Foto, das eine deutsche Illustrierte jetzt fügige Änderung des Außenwirtschafts- veröffentlicht hat und das mich angeblich gesetzes. Das schützt bislang nur den zusammen mit Frau Erler am 2. August Rüstungssektor und die rüstungsnahe Pro- 2007 morgens beim gemeinsamen Verlasduktion. Die Vorgaben könnten aber pro- sen ihres Hauses zeigt. Dagegen bin ich blemlos um weitere Wirtschaftsbereiche rechtlich vorgegangen, weil es die angeberweitert werden. Strategisch wichtige lich dargestellte Situation … Branchen umfassen viel mehr als nur den SPIEGEL: … die Sie nicht näher erläutern möchten … Rüstungssektor. SPIEGEL: Befürchten Sie nicht, dass solche Verheugen: … nicht gegeben hat. Das ist beprotektionistischen Maßnahmen, gleich- weisbar. Beweisbar ist auch, was bisher der gültig ob gegen Staats- oder Hedgefonds Öffentlichkeit nicht so bekannt ist, dass ich gerichtet, den europäischen Binnenmarkt einer wochen-, vielleicht sogar monatelangefährden? gen Observierung ausgesetzt war, mit AusVerheugen: Nein, überhaupt nicht. Wieso spähung meiner Nachbarschaft, meiner Eindenn? kaufsgewohnheiten. Einmal bin ich sogar SPIEGEL: Weil sich die Fälle häufen, in de- quer durch Deutschland verfolgt worden. nen Regierungen der Mitgliedstaaten SPIEGEL: In einer aktuellen Veröffentligrenzüberschreitende Fusionen innerhalb chung breitet sich eine Freundin Ihrer Eheder EU verhindern wollen. So scheiterte frau lang und breit über Ihr Eheleben aus. der Energieversorger E.on daran, die spa- Verheugen: Meine Frau und ich werden kein öffentliches Wort über unsere Ehe sanische Endesa zu übernehmen. Verheugen: Das würde ich nicht verall- gen. Manche Medien sind jetzt auf einem gemeinern. Von solchen Problemfällen gibt Niveau der Berichterstattung angekomes nur eine Handvoll. Die treten überall men, das jede Kommentierung verbietet. dort auf, wo die Märkte noch nicht voll- SPIEGEL: Es gibt Gerüchte in Brüssel, dass ständig liberalisiert sind, wie in der Elek- Kommissionspräsident Barroso Sie aufgetrizitätswirtschaft. Dem steht aber eine Re- fordert haben soll, Frau Erler in eine ankordzahl von grenzüberschreitenden Ak- dere Dienststelle zu versetzen. Wäre das quisitionen und Fusionen innerhalb der EU nicht eine gute Idee? in diesem Jahr gegenüber. Und die finden Verheugen: Das hat er nicht, auch schon komplett ohne Einmischung der Politik deshalb, weil ich das gar nicht könnte. Frau statt. Und wenn es zu Komplikationen Erler ist keine Kommissionsbeamtin. Ihr kommt, die gegen das EU-Recht verstoßen, Arbeitsvertrag ist an meine Amtszeit gedann werden wir als EU-Kommission ein- koppelt. schreiten, darauf können Sie sich verlas- SPIEGEL: Kommen Sie überhaupt noch zum sen. Wir werden das Prinzip der fairen und Arbeiten? gleichen Wettbewerbsbedingungen in Eu- Verheugen: Ich arbeite sogar sehr viel und, wie ich glaube, mit vorzeigbaren Ergebropa eisenhart verteidigen. Interview: Hans-Jürgen Schlamp, nissen. Christian Reiermann

* Vor Petra Erlers Haus in Brüssel. d e r

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Deutschland

Spur in die Vergangenheit Mit DNA-Analysen finden Polizisten immer mehr Gewalttäter, die sich seit Jahrzehnten in Sicherheit wähnen. Manche Taten bleiben ungesühnt – das soll eine Gesetzesinitiative nun ändern.

Experte vor DNA-Sequenz

1985 wurde die Prostituierte Blanca A. in Hamburg erstochen. Vor wenigen Wochen erst wurde der Rentner Willi Z. als Mörder verurteilt – obwohl die Staatsanwaltschaft nur Totschlag annahm. Doch der wäre verjährt gewesen.

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rteile von Strafrichtern pendeln sich sehr oft zwischen den Anträgen der Verteidiger und denen der Staatsanwälte ein. Deshalb war es für alle Beteiligten eine große Überraschung, was das Hamburger Landgericht Ende Juli verkündete: Die Richter verurteilten den 60-jährigen Rentner Willi Z. wegen Mordes, weil dieser die Prostituierte Blanca A. erstochen hatte – vor 22 Jahren. Dabei hatten sowohl der Rechtsbeistand des Mannes als auch die Staatsanwaltschaft auf Freispruch plädiert. Willi Z. war damals zwar als Zeuge verhört worden, doch die Polizei konnte ihn nicht als Täter überführen. Der Fall lag danach für lange Zeit im Archiv. Doch mit dem Einzug der DNA-Analyse in den Polizeialltag kramten die Fahnder auch irgendwann die Akte Blanca A. wieder hervor. Sie verglichen Spuren vom Tatort mit einem aktuellen Speichelabstrich von Z. Das Ergebnis war ein Volltreffer. Der mutmaßliche Mörder war in der Zwischenzeit Vater geworden und hatte sich mit seiner Ehefrau in einer Kleinstadt in Bayern zur Ruhe gesetzt. Als ihn die Polizei mit den neuen Fakten konfrontierte, gab er zu, damals auf die Frau aus dem Milieu im Streit „wie von Sinnen“ eingestochen zu haben. Bis heute höre er „das 52

Geräusch des Blutes“, das gegen die Wand spritzte. Dennoch durfte der Mann hoffen, freigesprochen zu werden. Denn die Staatsanwaltschaft nahm keine Heimtücke an, eines der juristischen Merkmale für einen Mord. Nach über 20 Jahren war die Tat kaum noch exakt zu rekonstruieren, Zeugen konnten sich nicht mehr erinnern. Alles sah juristisch nach Totschlag aus – aber Totschlag verjährt im Normalfall bereits nach 20 Jahren. Und deshalb mussten selbst die Ankläger Freispruch für Z. beantragen. Die Richter mochten den Mann aber nicht so einfach in die Freiheit entlassen. Sie sahen keinen Totschlag im Affekt, vielmehr habe Z. „im Streit den Entschluss gefasst“, die Frau zu ermorden. Wegen der Besonderheit der Umstände verhängten sie eine milde Strafe von siebeneinhalb Jahren, wie sie bei Totschlag angemessen wäre – die Konstruktion war ein Notbehelf. Z. hat angekündigt, in Revision zu gehen, und es ist fraglich, ob das Hamburger Urteil vor dem Bundesgerichtshof Bestand haben wird. Denn die spektakulären Fahndungserfolge durch die DNA-Analysen enthüllen nun auch Schwächen im deutschen Strafrecht. Der genetische Fingerabdruck kann zwar Täter entlarven, die sich d e r

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Lüdemann fordert, die Verjährung beim Totschlag zu streichen: „Die Schwere der Tat ist so gravierend, dass die Täter nicht davonkommen dürfen.“ Gemeinsam mit Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU), seiner Kollegin aus Nordrhein-Westfalen, will Lüdemann mit einer Bundesratsinitiative im Oktober dafür sorgen, dass noch eine weitere „Gerechtigkeitslücke“ geschlossen wird. Bisher dürfen rechtskräftig Freigesprochene in der Regel nicht noch einmal vor Gericht gestellt werden – selbst wenn es neues Beweismaterial gibt. Auch das war zu einer Zeit ins Grundgesetz und in die Strafprozessordnung geschrieben worden, als die neuen Methoden der Kriminaltechnik noch unvorstellbar waren. Anlass des Vorstoßes aus Hamburg und Düsseldorf ist der Fall der 28-jährigen Andrea B. Die Mutter von drei Jungen arbeitete im Dezember 1993 in einer Düsseldorfer Videothek, als ein Mann gegen Mittag den Laden betrat. Der Kunde zog eine Pistole, fesselte Andrea B. und entblößte ihre Brüste. Dann stülpte er ihr eine Plastiktüte über den Kopf und wickelte ihr Klebeband um den Hals. Die junge Frau erstickte qualvoll, der Täter flüchtete mit 650 Mark aus der Kasse. Einen Monat später konnte die Kripo den mutmaßlichen Verbrecher fassen. Un-

HIRSCHBIEGEL / ULLSTEIN BILD (O.L.); KARINA PALZER / BILD ZEITUNG (U.L.); PASCAL BROZE / REPORTERS / LAIF (R.)

K R I M I N A L I TÄT

längst in Sicherheit wähnten – doch Jahrzehnte danach lassen sich die genauen Umstände und die Motive für die Tat oft kaum noch aufklären. Justizminister der Länder wollen deshalb das geltende Strafrecht an die Ermittlungsmethoden anpassen. Die DNA-Analyse sei ein „Quantensprung“ der Kriminalistik, sagt Hamburgs Justizsenator Carsten Lüdemann (CDU), die Strafgesetze seien nicht mehr zeitgemäß.

Deutschland fehlte ihr das Geld für den Stoff. Mit ihrer Nichte vermutlich, so das Gericht, ging sie die Teppen ihres Wohnhauses hinauf in das Dachgeschoss, wo die 96-jährige Elisabeth Landbeck und deren 88-jähriger Ehemann Paul wohnten. Mit einem Messer und einem Hammer habe das Duo die alten Leute niedergemetzelt. Die Täterin wurde damals nicht gefasst – und begann wenig später ihr zweites Leben: Sie machte eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin und gründete eine Familie. Und selbst als sie 16 Jahre nach der Tat eine Speichelprobe abgeben musste, blieb sie gelassen – so als wäre die wiederaufgenommene Fahndung eine Geschichte aus einer anderen Welt. Erst als Polizisten an ihrer Haustür klingelten, geriet sie in Panik und versuchte zu flüchten. Das Gericht konnte nach all den Jahren die Details des Doppelmords nicht mehr klären. Wegen der eindeutigen DNA-Spuren verurteilten die Richter die Frau dennoch zu zehn Jahren Gefängnis. Sosehr sich die Polizei über die Erfolge einer ihrer schärfsten Waffen freut, so

Obwohl eine DNA-Spur heute darauf hindeutet, dass Werner P. (M.) 1993 Andrea B. (r.) getötet hat, kann er nicht verurteilt werden. Er war kurz nach der Tat vom Gericht mangels Beweisen freigesprochen worden. Bundeskriminalamt 1998 steigt die Zahl der durch den genetischen Fingerabdruck überführten Täter von Jahr zu Jahr. Inzwischen sind dort mehr als 615 000 Datensätze gespeichert, rund 500 000 stammen von Personen, 115 000 von Spuren, die an Tatorten gefunden wurden. Mehr als 40 000-mal konnten mittlerweile Tatortspuren Personen zugeordnet werden. 486 Treffer führten zu Mördern und Totschlägern, darunter sind auch zahlreiche Fälle, bei denen die Tat mehr als 20 Jahre zurückliegt. Das wird mit dem technologischen Fortschritt immer öfter passieren. Bisweilen hat das Leben der einstigen Täter überhaupt nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun. In Hamburg stand im April 2005 eine Mutter, 41, von zwei Kindern vor den Richtern, die 16 Jahre lang ein bürgerliches Leben geführt hatte. Doch im Oktober 1988 war die Frau noch schwer drogenabhängig. Eines Tages 56

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schwer tut sich die Justiz, die Beweislage zu bewerten und über die Schwere der Schuld zu urteilen. Zudem muss ein DNA-Treffer nicht immer die Überführung des Mörders bedeuten. Im August 1985 wurde in Hamburg-Fuhlsbüttel die 41-jährige Antonie Scharringhausen getötet. 20 Jahre danach konnten die Ermittler Spermien aus der Vagina der Toten einem 42-Jährigen zuordnen. Der Mann wurde festgenommen, saß sechs Monate in Untersuchungshaft und kam im Juni 2006 vor Gericht. Der Angeklagte gab zu, mit der Köchin geschlafen zu haben, stritt aber die Tat ab. Sachverständige machten weitere DNATests an Tatortspuren, die aufbewahrt worden waren, und stellten schließlich fest, dass sie von mindestens drei weiteren Männern stammten. Der Angeklagte wurde daraufhin freigesprochen. Der Fall blieb Udo Ludwig, Andreas Ulrich ungelöst.

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BARBARA KIRCHNER / DÜSSELDORFER EXPRESS (L.); DÜSSELDORFER EXPRESS (R.)

ter anderem fanden sich Kleidungsfasern und Schuhabdrücke am Tatort, die von dem 33-jährigen Packer stammen konnten. Der Düsseldorfer kam wegen Mordes vor Gericht. Doch den Richtern reichten die Indizien nicht aus; sie sprachen ihn frei. Aber die Ermittler gaben nicht auf. Vor wenigen Monaten fanden sie Hautpartikel an dem Klebeband, die von Werner P. stammten. Die Arbeit war indes vergebens. Obwohl dieser Beweis nun erdrückend ist, bleibt der Mann frei, da er nicht erneut wegen desselben Verbrechens abgeurteilt werden kann. Das sei ein „Schlag ins Gesicht der Hinterbliebenen“, sagt Helmut Rüster vom Weißen Ring. Die Gesetze müssten dringend geändert werden. Denn bisher bleiben die Spuren in die Vergangenheit oftmals schlichtweg ungenutzt. Dabei habe dieses „revolutionäre Verfahren“, so begeisterte sich das Fachblatt „Kriminalistik“ für die DNA-Methode, „selbst für kühnste Optimisten eine nicht vorhersehbare Entwicklung genommen“. Seit Einrichtung der DNA-Datei beim

Deutschland

JUGENDLICHE

Drei Engel für Kreuzberg

YAVUZ ARSLAN / DAS FOTOARCHIV

Pädagogen und Polizei sind bereits gescheitert: Nun sollen in Berlin drei Streetworker mit dunkler Vergangenheit kriminelle Gangs zähmen.

Jugendliche in der Berliner Naunynstraße: „Viele von uns haben schon Ärger gemacht“

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DOUGLAS ABUELO (L./R.)

er Oberkörper des Mannes sieht nötig, den Deal irgendwie zu verheimlichen. beeindruckend aus: Messerstiche Sie lachen und zünden sich einen Joint an. Hier, Ecke Naunyn- und Adalbertstraße, haben 14 Narben zurückgelassen. Sechsmal wurde Ali S. operiert. Die Spu- mitten in Berlin-Kreuzberg, ist ihr Revier: ren davon sind Andenken aus jenen Zei- Dealer, Kiffer, Hehler, jugendliche Gangs, ten, als das ehemalige Mitglied der Kreuz- die Bewohner und Passanten anpöbeln berger Türken-Gang „36 Boys“ sich noch und abziehen, gehören zum Alltag. Die regelmäßig prügelte. „Von vorn hat mich Straße gehört ihnen. Die Polizei lässt sich nie einer plattgemacht“, prahlt er. Wenn allenfalls sporadisch blicken, Sozialarbeiter er an seine dunkle Vergangenheit denkt, verzweifeln. Wer es sich leisten kann, zieht dann jucken die Narben. Und seitdem Ali weg, und wenn es dunkel wird in Kreuzberg, dann meiden viele die Naunynstraße. S. diesen neuen Job hat, jucken sie oft. Alis neue Waffe im Straßenkampf ist das Wort. „Schon komisch, wie viel man mit Reden und Zuhören erreichen kann“, sagt der stämmige Mann. Er zieht den Reißverschluss seiner neuen schwarzen Jacke hoch. Das ist jetzt seine Uniform. Auf der Jacke steht „Sprich mit uns!“ Ali S. blickt misstrauisch auf die andere Straßenseite, wo gerade zwei junge Türken vor dem Internet-Café Geldscheine in der Hose verschwinden lassen und dafür einem Deutschen ein Päckchen in die Hand drücken. Sie haben es nicht Kiezläufer Ali, Kaio, Selime: „Sprich mit uns!“ 58

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Nicht so Ali S., 37, Kaio Khakreh, 32, und Selime Djudaki, 30. Die drei sollen in Kreuzberg retten, was noch zu retten ist. Im Auftrag der Senatsverwaltung patrouillieren sie als „Kiezläufer“ nun täglich in der Naunynstraße. Sie sollen die Gegend wieder begehbarer machen, Flagge zeigen. Sie sind Beobachter, Helfer, Kontaktpersonen – aber weder Polizisten noch Pädagogen. Ihre Qualifikation ist ihre Herkunft. Denn alle drei haben den Stallgeruch der Naunynstraße: Sie sind hier geboren und aufgewachsen. Wenn sie die Jugendlichen auf der Straße sehen, sehen sie auch immer ihre eigene Vergangenheit. „In der Naunynstraße gibt es eine dunkle Seite und eine helle Seite“, sagt Ali – viel Kriminalität, aber auch so etwas wie Zusammenhalt für die Ghetto-Kids. Nun geht es darum, die dunkle Seite aufzuhellen. Ali und Kaio waren bei den „36 Boys“, einer der berüchtigtsten Türken-Gangs in Kreuzberg. Selime ist albanischer Abstammung, mit 13 lief sie von zu Hause weg, wuchs im Heim und auf der Straße auf, sie schlug sich durch. Wenn ihr einer krumm kam, egal ob Chef oder Freund, dann langte sie zu. „Ich hatte immer Probleme mit Autoritäten“, sagt sie. Jetzt soll sie selbst eine sein. Die drei Engel für Kreuzberg sind so etwas wie das letzte Aufgebot. „An die Jugendlichen hier kommt man mit der Sichtweise eines klassischen Sozialarbeiters nicht mehr heran“, sagt Ralf Hirsch von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Deshalb haben sich Beamte auf die Suche gemacht nach Helfern von der dunklen Seite. In einer Senats-Analyse zur Lage in der Naunynstraße ist die Rede von einer „Nogo-Area“. Messerstechereien etwa seien „nicht unbedingt eine Ausnahmeerscheinung“. Die Straße sei „Treffpunkt für Dealer und Hehler“. Hier würden „Bewohner, Frauen, Kinder bestohlen, bedroht. Familien mit größeren Brüdern lernen die Kleinen an. In Gruppen rekrutieren Ältere die Jüngeren für niedrigere Tätigkeiten und bringen ihnen die erforderlichen Tricks bei“, so das Papier. 150 000 Euro steckte der Senat in den vergangenen zwei Jahren in Projektarbeit für die Naunynstraße, es gab Fußballturniere und Nachbarschaftsfeste – Auszüge des Registers deutscher Wohlfühl-Pädagogik. Aber die Horrormeldungen rissen nicht ab. Wenn die Polizei Gewalttäter auf der Straße einkassieren wollte, sah sie sich wiederholt Gangs gegenüber. „Wenn es in Deutschland mal zu Kämpfen wie in Paris kommen sollte, dann zuerst in der Naunynstraße“, fürchtet Ali S. Hirsch, 47, einst Staatsfeind in der DDR, nun im Referat „Soziale Stadt“ die Feuerwehr des Se-

Deutschland Gruppe, der dealt, damit die ganze Clique in Schwierigkeiten bringt, werden die sich gegenseitig erziehen“, hofft Kaio. Dafür haben die Kiezläufer einen mächtigen Verbündeten gefunden: Der Türke und Ex-Gangster Turan A. weiß nicht genau, wie alt er ist, weil sein Vater ihm nicht sagen kann, ob er 1970 oder 1971 geboren wurde. Er hat ein verlebtes Gesicht, aber sehr wache Augen und war nach eigener Einschätzung „der Schlimmste unter meinen zwölf Brüdern“: Jeden zweiten Tag stand die Polizei vor der Haustür in der Naunynstraße und holte einen der Brüder ab. Turan war lange Chef der „36 Boys“ und hat oft die Gegend unsicher gemacht: „Zwischen zwei U-Bahnhöfen waren jedes Mal mindestens fünf Leute fällig.“ In Kreuzberg ist Turan eine Legende, für die Jugendlichen ist er so etwas wie ein Held – nicht trotz, sondern wegen sei-

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nats für besondere Konfliktfälle, ist sich des „besonderen Charakters“ der neuen Idee durchaus bewusst. Er kann auf keinerlei Erfahrung zurückgreifen – schwere Jungs im Staatsauftrag, das ist auch für den Senat selbst ein Risiko. Deshalb ist die Arbeit der Kiezläufer erst mal auf drei Monate begrenzt. Während Ali, Kaio und Selime in CrashKursen nebenbei Basiswissen über Suchtprävention und Deeskalation pauken, spricht Hirsch nach den ersten drei Wochen vorsichtig von kleinen Erfolgen: „Wir hatten ja gar keinen Zugang mehr zu den Jugendlichen. Jetzt wissen wir, wo wir ansetzen können.“ Wenn die drei auf der Straße sind, bildet sich immer schnell eine kleine Gruppe von Jungs um sie. Optisch entsprechen die Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren mit ihren Camouflage-Hosen, Lederjacken,

Bewaffnete Berliner Jugend-Gang: „Der Schlimmste unter meinen zwölf Brüdern“

Base-Caps und betont bösen Blicken allen Klischees einer Ghetto-Clique, die nur nach eigenen Regeln lebt. „Fünfzig zu fünfzig“ schätzt Kiezläufer Kaio das Verhältnis zwischen denen, die „Scheiße bauen“, und denen, die nur Anschluss suchen oder brauchen. Bei beiden Gruppen macht es Eindruck, wenn schwere Jungs wie Ali und Kaio erzählen, was passieren kann, wenn man keinen Schulabschluss macht oder die Lehre hinschmeißt, um mit Drogen zu dealen. „Wir haben das ja alles selbst erfahren“, sagt Ali. Die Kiezläufer reden anders als Sozialarbeiter und Präventionsbeauftragte, sie sprechen nicht von oben herab, sie sind auf Augenhöhe. Ihre Sprache ist die Sprache der Straße. Vieles funktioniert in der Naunynstraße über das Gruppengefühl. Deutsche Sozialarbeiter oder gar Polizisten haben da wenig Chancen. „Wenn wir es schaffen, den Jungs klarzumachen, dass einer aus der 60

ner Vergangenheit. Turan kommt auch noch an die heran, die den neuen Kiezläufern erst mal misstrauisch gegenüberstehen, denn manche Gang-Mitglieder halten sie für V-Leute. Das war die erste große Hürde: „Wir mussten klarmachen, dass wir nicht für die Polizei arbeiten“, sagt Ali. Turan sitzt im Café Orya und trinkt Tee. Er hat sich von Ali und Kaio angehört, worum es gehen soll bei den neuen Kiezläufern. Es kostet ihn einen Anruf, und zehn Minuten später sammeln sich 20 Jugendliche aus der Naunynstraße um ihn. Er begrüßt jeden mit Handschlag und Namen, er kennt ihre Brüder, ihre Eltern, er kennt ihre Geschichten. Er lässt sie reden. Und dann passiert etwas, was für jemanden wie den Senatsmann Hirsch ein „kleines Wunder“ ist. Es sprudelt aus ihnen heraus: Manche fühlen sich kriminalisiert durch das Image ihrer Straße, manche würden selbst gern die Dealer und Hehler d e r

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zum Teufel jagen. Viele fühlen sich in Sippenhaft genommen und ausgeschlossen – etwa aus der „Naunyn Ritze“, einem Jugendhaus des Bezirks in ihrer Straße, das sie kaum noch betreten. Ein Gemeinschaftsraum sei ihnen wieder weggenommen worden, nachdem dort Haschisch gefunden wurde. „Einer hat Scheiße gebaut, und wir werden alle bestraft“, klagt ein Junge. Turan hört zu, er macht sich sogar Notizen. Am Ende entsteht eine Art Forderungskatalog, mit dem die Jugendlichen sich nun an den Bezirk, den Senat und die Erzieher in der „Naunyn Ritze“ wenden wollen. Sie möchten ihren Raum wiederhaben, wollen die Freizeitangebote im Jugendtreff mitbestimmen. Sie wollen, dass mit ihnen entschieden wird, nicht über sie. Aber über den Forderungen steht so etwas wie eine Präambel der Selbstkritik: „Viele von uns haben schon viel Ärger gemacht, viele von uns möchten von der dunklen Seite der Straße auf die helle Seite der Straße. Das schaffen wir nicht alleine, sondern nur gemeinsam.“ Am Ende setzen 20 Jugendliche mit feierlichem Blick ihre Unterschrift unter das Papier. Für die Kiezläufer ist das ein erster Erfolg. Schon am nächsten Tag registrieren sie kleine Veränderungen auf der Straße. Es hat sich herumgesprochen, dass etwas passieren soll. Eine türkische Mutter reißt ihr Fenster auf, als Ali und Kaio an ihrem Haus vorbeigehen, sie reicht Tee und bedankt sich. Selime gelingt es endlich mal, einen ihrer Straßen-Jungs davon zu überzeugen, dass er mit ihr zur Berufsberatung geht: „Es sind kleine Sachen, aber es bewegt sich was.“ Doch das Experiment mit den Kiezläufern, das mit der Polizei abgesprochen ist, findet nicht nur Freunde. Die deutschen Erzieher in der „Naunyn Ritze“ beobachten ihre neuen Kollegen auf der Straße mit Misstrauen. Öffentlich wollen sie sich nicht äußern, aber sie intervenieren heftig gegen die coole Konkurrenz, sie beklagen die fehlende Qualifikation und die dunkle Vergangenheit, sie befürchten, die Kiezläufer könnten sich mit den Problemkindern der Straße verbrüdern. Die Fronten in der Naunynstraße könnten noch unübersichtlicher werden. Es scheint, als seien zur Zeit alle auf Bewährung. Ali S. weiß auch noch nicht, wie das Experiment ausgehen wird: Was ist, wenn sich ihre Arbeit als fruchtlos erweist? Was ist, wenn die drei Monate Probezeit vorbei sind? Und was passiert, wenn die Kids die Kiezläufer ausnutzen, wenn die drei zwischen Polizei und Gangs geraten? Ali zuckt mit den Achseln und blickt zu den Dealern, die gegenüber der Kneipe „Trinkteufel“ weiter ungeniert ihre Geschäfte machen. Seine Narben jucken. Der „Trinkteufel“ heißt bei den Menschen hier auch „Das Tor zur Hölle“. Markus Deggerich

Serie (II): Der Showdown

„Dann gibt es Tote“ Die Republik am Rand des Staatsnotstands: Die Polizei verpasst die Chance, Hanns Martin Schleyer aus den Händen der RAF zu befreien, 86 Lufthansa-Passagiere werden zu Geiseln, die Stammheimer Häftlinge begehen unter staatlicher Aufsicht Selbstmord. Von Stefan Aust und Helmar Büchel

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s war am Tag zwei der Entführung von Hanns Martin Schleyer, da glaubte die Polizei im rheinischen Erftstadt zu wissen, wo er versteckt war. Jeder Beamte kannte mittlerweile die Kriterien, die für konspirative Wohnungen der RAF galten: Hochhaus, nahe der Autobahn, Tiefgarage mit direktem Liftzugang, größtmögliche Anonymität. Der 15-geschossige Bau an der Straße Zum Renngraben 8 im Ortsteil Liblar könnte es sein, dachten die Polizisten – und schickten ihren erfahrenen Kollegen Ferdinand Schmitt dorthin. „Ich suche Herrn Schleyer“, sagte er dem Hausmeister, und der verwies ihn an eine Angestellte des Maklerbüros. Was Schmitt von ihr erfuhr, elektrisierte ihn: Am 17. Juli 1977, gerade mal vor sieben Wochen, hatte eine junge Frau die Wohnung gemietet, und als sie die Kaution in Höhe von 800 Mark an Ort und Stelle bezahlte, zog sie aus ihrer Handtasche ein Bündel mit Fünfzig-, Hundert- und Fünfhundertmarkscheinen hervor. Schmitt erfuhr auch, dass sie direkt nach der Anmietung das Türschloss hatte auswechseln lassen. Am Tag vier der Entführung wurde die heißeste aller Spuren nach Köln gemeldet – mit dem Fernschreiben 827. Es war adressiert an den „Koordinierungsstab“, der Großeinsätze vorbereiten sollte. Und ein Durchschlag, möglicherweise auch das Original, ging an die Sonderkommission des Bundeskriminalamts. Nichts passierte. Es passierte auch nichts, als kurz danach noch einmal auf genau dieses Fernschreiben 827 hingewiesen wurde. Der Versuch des örtlichen Kripochefs, telefonisch nachzuhaken, wurde abgebügelt mit der Bitte, „von weiteren Fragen abzusehen, weil sie zeitlich und organisatorisch nicht zu bewältigen“ seien. In der Polizeistation Erftstadt, nicht mal 20 Kilometer von Köln entfernt, war man mehr denn je davon überzeugt, Schleyer könnte in der Wohnung 104 gefangen gehalten werden. Wenn Schmitt mit seiner Frau oder mit Kollegen auf Streife am Hochhaus vorbeikam, zeigte er nach oben: „Da sitzt er.“ Für Schmitts Chef Rolf Breithaupt war sonnenklar: „Das Raster stimmte eindeutig.“ Schließlich schien der Hinweis auf dieses Objekt – und sieben andere im Erftkreis –

Verschleppter Schleyer

Fernschreiben 827 versandete

so dicht, dass eine schlagartige Überprüfung und Durchsuchung geplant wurde, Auslöser sollte das Stichwort „Vollkontrolle“ sein. Jedes der verdächtigen Objekte sollte von einem Einsatztrupp „überholt“ werden, der aus neun Schutzpolizisten, vier Kriminalbeamten und einem „ortskundigen Führer“ bestehen sollte – Breithaupt, der Hauptkommissar, war zuständig für Wohnung 104. Um die Örtlichkeiten für den Einsatz zu checken, schlich er sich mit einem Kollegen durchs offene Rollgitter an der Tiefgaragenausfahrt ins Innere des Hauses. Beide sondierten Ein- und Ausgänge, dann fuhren sie in den dritten Stock. Während Breithaupt langsam den Flur entlangging, gab ihm der Kollege Feuerschutz. Vor der Eingangstür zur Wohnung 104 verharrte Breithaupt und horchte. „Ich war“, zeigt er heute mit den Händen an, „so ein Stück von Herrn Schleyer entfernt.“ Auf der anderen Seite der Tür stand der RAF-Mann Peter-Jürgen Boock. Einmal hörte er, wie jemand draußen auf und ab ging. „Füße, Klingeln, tapp, tapp, tapp, nächste Tür, Füße, Klingeln und so weiter, und das kam näher.“ Schleyer sah Boock fragend an, Boock lud die Waffe durch und richtete sie auf Schleyer. Boock: „Und

dann klingelte es natürlich auch an unserer Tür. Aber die Schritte gingen weiter, zur nächsten Tür auf der anderen Gangseite.“ Dann war Stille. Schleyer fragte: „Hätten Sie mich jetzt wirklich erschossen?“ Boock antwortete, so sagt er heute: „Selbstverständlich, was dachtest du denn?“ Der Einsatzbefehl „Vollkontrolle“ kam nicht, und nach zehn Tagen, die Schleyer in seinem Versteck zugebracht hatte, wurden die Terroristen nervös. Man beschloss, die Geisel wegzuschaffen – in die Niederlande. Es hätte den Deutschen Herbst 1977 womöglich nicht gegeben, wäre Fernschreiben 827 nach den Regeln polizeilichen Handwerks bearbeitet worden. Vielleicht hätte die GSG 9 Schleyer befreit, und ob sich eine frustrierte Rest-RAF dann noch zu einem weiteren Schlag hätte aufraffen können, steht dahin. Aber Fernschreiben 827 versandete. Hanns Martin Schleyer blieb 44 Tage in den Händen der RAF. Ein Flugzeug wurde entführt und befreit, die Anführer der RAF, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, brachten sich im Gefängnis Stammheim um, und Schleyer wurde ermordet. Dieser Deutsche Herbst ist bis heute voller Rätsel und Widersprüche. Es sind noch viele andere Fragen offen: Wussten die Behörden davon, dass die Häftlinge Waffen hatten? Wie hat sich Andreas Baader erschossen? Haben die Behörden in der Nacht von Stammheim abgehört? Vergangene Woche hat der SPIEGEL in Teil I einer großen Serie zur RAF zahlreiche Indizien dargelegt, die darauf hinweisen, dass man die Häftlinge während der Schleyer-Entführung tatsächlich abgehört hat. Es wurden zudem die Ereignisse des blutigen Jahres 1977 bis zur Entführung Schleyers erzählt. Teil II knüpft nun dort an und erzählt die Tage bis zum Tod Schleyers. Am Donnerstag, dem 6. Oktober 1977, besuchte der Gefängnisarzt Helmut Henck,

Klaus meinte: „Ein lebendiger Hund ist immer noch besser als ein toter Löwe.“ d e r

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NORDISK / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Entführter Lufthansa-Jet „Landshut“ in Dubai: „Warum helft ihr uns nicht?“

der zu den Gefangenen inzwischen ein leidlich gutes Verhältnis aufgebaut hatte, Jan-Carl Raspe in dessen Zelle. Er traf einen Gefangenen, der einen deprimierten Eindruck machte, über Schlafstörungen klagte und dem das Sprechen schwerfiel. Raspe hatte Tränen in den Augen und sprach von Gedanken an Selbstmord. Henck erschrak. Nach diesem Besuch schrieb der Arzt einen Vermerk für die Anstaltsleitung: „Nach dem Gesamteindruck muss davon ausgegangen werden, dass bei dem Gefangenen eine echte suizidale Handlungsbereitschaft vorliegt. Ich bitte um Kenntnisnahme und Mitteilung, auf welche Art und Weise ein eventueller Selbstmord verhindert werden kann.“ Am Nachmittag ließ der stellvertretende Anstaltsleiter, Regierungsdirektor Ulrich Schreitmüller, den Arzt und den Amtsinspektor Horst Bubeck zu sich kommen. Er wollte wissen, welche Maßnahmen man trotz Kontaktsperre ergreifen könne. „Ist es vertretbar, Raspe in eine Beruhigungszelle zu verlegen oder ihn bei angeschaltetem Licht nachts laufend zu überwachen?“ Henck verneinte: „Dadurch wird der Druck auf Raspe noch mehr verschärft.“ Man entschied, Henck solle Raspe einmal täglich aufsuchen. In den Wochen vor der Schleyer-Entführung hatte man die Gefangenen nachts sehr häufig kontrolliert, und wenn sie keine Reaktionen zeigten, sogar mitten in der Nacht den Arzt geholt. Jetzt, während der Kontaktsperre, als Zeichen für suizidale Neigungen festgestellt und weitergemeldet wurden, tat man nichts. Oder hatte man andere Möglichkeiten der Kontrolle, etwa durch Belauschen der Gefangenen? Inzwischen trafen sich die RAF-Mitglieder Boock und Brigitte Mohnhaupt mit Wadi Haddad alias Abu Hani, einem wichtigen Funktionär der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) in Bagdad. Abu Hani schlug vor, die Forderungen der RAF mit einer Aktion zu unterstützen. Es gebe zwei Möglichkeiten: entweder die Besetzung der Deutschen Botschaft in Kuweit oder eine Flugzeugentführung. Die RAF-Illegalen entschieden sich für das Flugzeug. Boock hatte den Eindruck, die Operation sei schon vorbereitet und könne sofort losgehen. Als Flughafen schlug Abu Hani Palma de Mallorca vor; dort seien die Sicherheitsvorkehrungen sehr dürftig. Am Freitag, dem 7. Oktober, besuchte Anstaltsarzt Henck die Gefangenen im siebten Stock. „Noch ein paar Tage, dann gibt es Tote“, sagte ihm Baader. Am Nachmittag des 9. Oktober hatte Gudrun Ensslin ein Gespräch mit dem BKA-Beamten Alfred Klaus. Ensslin brachHäftlinge Baader, Ensslin, Mohnhaupt

„Sie sind keine Opfer“ 63

RAF-Serie (II): Der Showdown te Notizen mit und verlangte, dass der Vollzugsbeamte Bubeck mitschreibe, was sie zu sagen habe: „Wenn diese Bestialität hier, die ja auch mit Schleyers Tod nicht beendet sein wird, andauert und die Repressalien im sechsten Jahr der Untersuchungshaft und Isolation – und da geht es um Stunden, Tage, dass heißt nicht mal eine Woche –, dann werden wir, die Gefangenen in Stammheim, Schmidt die Entscheidung aus der Hand nehmen, indem wir entscheiden, und zwar wie es jetzt noch möglich ist, die Entscheidung über uns.“ Als Gudrun Ensslin ihren Text verlesen hatte, fragte der BKA-Beamte sie: „Welcher Art ist die Entscheidung, die Sie dem Kanzler abnehmen wollen?“ „Das geht ja wohl aus der Erklärung unmissverständlich hervor“, sagte Ensslin. Auch Raspe wollte an diesem Nachmittag mit Klaus sprechen. „Die politische Katastrophe sind die toten Gefangenen und nicht die befreiten“, sagte Raspe. „Das geht die Bundesregierung insofern an, als sie für die jetzigen Haftbedingungen verantwortlich ist, die darauf abzielen, die Ge-

Opfer der RAF

fangenen als verschiebbare Figuren zu behandeln. Die Gefangenen werden der Bundesregierung, wenn dort keine fällt, die Entscheidung abnehmen.“ „Wollen Sie sich selbst töten, so wie es Ulrike Meinhof getan hat?“, fragte Alfred Klaus. „Ich weiß nicht“, sagte Raspe. Er dachte einen Augenblick nach: „Es gibt ja auch das Mittel des Hungerstreiks und des Durststreiks. Nach sieben Tagen Durststreik ist der Tod unausweichlich. Da nützen auch keine medizinischen Mätzchen mehr.“ Klaus meinte: „Ein lebendiger Hund ist immer noch besser als ein toter Löwe. Ein Wort aus dem Buch ,Prediger Salomon‘.“ Alfred Klaus rief nach den Gesprächen sofort den Präsidenten des BKA Horst Herold an und unterrichtete ihn von den Selbstmorddrohungen der Gefangenen. In seinem Aktenvermerk schrieb er am Abend: „Nach den Umständen ist anzunehmen, dass die Selbsttötung gemeint ist … Hinsichtlich ihrer eigenen Person (Ensslin) ist die Ernsthaftigkeit dieser Ankündigung nicht auszuschließen. Bei den Mitgefangenen ist die Realisierung we-

niger wahrscheinlich – zumal als Alternative zur Freilassung.“ Am 10. Oktober sprach Andreas Baader bei einer Visite des Anstaltsarztes von einem „kollektiven Selbstmord“. Gudrun Ensslin äußerte sich ähnlich, meinte dann aber: „Selbstmord ist hier ja wohl nicht drin.“ Henck wunderte sich, dass beide trotz Kontaktsperre „mit fotografischer Wiedergabe“ die gleichen Worte benutzt hatten. Er wurde seine „unterschwelligen Befürchtungen“ nicht mehr los. Getan wurde nichts.

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ngefähr zur selben Zeit kam auf Mallorca das Entführerkommando an. Die vier Palästinenser, zwei Frauen und zwei Männer, hatten keine Waffen dabei, die sollten ihnen nachgeliefert werden. Eine der Frauen, Souhaila Andrawes, die als Einzige überleben sollte, sagte später zum SPIEGEL: „Ich habe dort jemanden getroffen, der die Waffen bei sich hatte. Sie war eine Deutsche. Sie hat die Waffen geliefert. Sie waren in Pralinenschachteln mit Schokolade versteckt.“ Die Waffenlieferantin war Monika Haas aus Frankfurt am Main, die dama-

Norbert Schmid

Paul Bloomquist

Andreas Baron Siegfried von Mirbach Buback

Jürgen Ponto

Am 22. Oktober 1971 wollte der 32-jährige Zivilfahnder in Hamburg die ihm verdächtige Ulrike Meinhof stellen und wurde von dem sie absichernden RAF-Mann Gerhard Müller erschossen. Müller wurde als Kronzeuge dafür nicht verurteilt. Bei Schusswechseln mit RAF-Mitgliedern starben nach Schmid auch die Polizisten Herbert Schoner, 32, Hans Eckhardt, 50, Fritz Sippel, 22, Hans-Wilhelm Hansen, 25, Arie Kranenburg, 46; die niederländischen Zollbeamten Dionysius de Jong, 20, und Johannes Goemans, 24, sowie der Bundesgrenzschutzbeamte Michael Newrzella, 25.

Der 39 Jahre alte Offizier der US-Armee wurde bei einem Bombenanschlag der RAF auf das Hauptquartier des V. US-Corps am 11. Mai 1972 in Frankfurt getötet. 13 Tage später starben bei einem Anschlag auf das Hauptquartier der 7. USArmee in Heidelberg Charles Peck, 23, Clyde Bonner, 29, und Ronald Woodward, 26. Sie waren nicht die einzigen von der RAF ermordeten US-Bürger. Bei der Explosion einer Autobombe auf der Rhein-Main-Airbase am 8. August 1985 kam der US-Soldat Frank Scarton, 20, ums Leben sowie Becky Bristol, 25, eine Zivilangestellte der US-Armee.

Der Militärattaché an der bundesdeutschen Botschaft in Stockholm wurde am 24. April 1975 von einem Mitglied des „Kommandos Holger Meins“ der RAF erschossen. Die schwedische Polizei hatte drei Ultimaten zur Räumung des besetzten Teils der Botschaft verstreichen lassen. Mirbach, 44, wurde tödlich verletzt eine Treppe hinuntergeworfen. Um der Forderung an die Bundesregierung nach der Freilassung von 26 „politischen Gefangenen“ Nachdruck zu verleihen, erschoss ein RAF-Mitglied auch noch den Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart, 64.

Der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, 53, war ein Berater des Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Die RAF wollte den Bankier am 30. Juli 1977 eigentlich entführen, um den Aktionszyklus zur Freipressung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und weiteren RAF-Mitgliedern zu starten. Als Türöffner zu seiner Villa in Oberursel bei Frankfurt fungierte Susanne Albrecht, die Tochter eines Studienfreundes von Ponto. Doch Christian Klar verlor die Nerven. Er und Brigitte Mohnhaupt erschossen den Bankier und bekamen beide 1985 dafür eine lebenslange Freiheitsstrafe.

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Der Generalbundesanwalt wurde am 7. April 1977 in Karlsruhe auf dem Weg zum Bundesgerichtshof von einem bislang unbekannten RAF-Mitglied des „Kommandos Ulrike Meinhof“ erschossen. Für Gudrun Ensslin verkörperte er den „postfaschistischen Polizeistaat Bundesrepublik“. Mit Buback, 57, wurden ermordet Georg Wurster, 33, und Wolfgang Göbel, 30, von der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft. Nach Aussagen des ExRAF-Manns Peter-Jürgen Boock soll sein einstiger Mitkämpfer Stefan Wisniewski Buback und dessen Begleiter erschossen haben.

SVEN SIMON

„Das Raster stimmte eindeutig“

lige Frau des palästinensischen Kommandeurs, bei dem die RAF im Jemen trainiert hatte. Am Donnerstag, dem 13. Oktober, gegen 13 Uhr startete in Palma de Mallorca die Lufthansa-Maschine „Landshut“ mit der Flugnummer LH 181 zum Flug nach

Frankfurt. An Bord der Boeing 737 waren 86 Passagiere, im Frachtraum zwei Leichen in Zinksärgen. Unter den Passagieren war eine Gruppe junger Frauen, die an einer Misswahl in einer Discothek auf Mallorca teilgenommen hatte. Unter ihnen war Diana Müll, damals 19 Jahre alt: „Ich denke, wir waren eine Stunde unterwegs. Neben uns saßen eine Terroristin und ein Terrorist“, berichtet sie. „Wir haben die beobachtet, weil er ein lustiges kariertes Sakko anhatte, und deshalb haben wir auch gerade hingeschaut, als die beiden aufsprangen und nach vorn rannten.“ Co-Pilot Jürgen Vietor hörte es poltern, und kurz darauf stürmte der Chef der Entführer ins Cockpit, richtete die Pistole auf Flugkapitän Jürgen Schumann, trat dem Co-Piloten in die Rippen und schrie: „Out, out, out.“ Dann griff er das Mikrofon und brüllte hinein, dass die Maschine entführt sei. Eine der Stewardessen, Gabi Dillmann, lief nach vorn. „Wir wurden alle wie Vieh * In Wohnung 104 befand sich das Schleyer-Versteck.

nach hinten getrieben“, sagt Dillmann. „Als ich dann den arabischen Akzent hörte, wusste ich, wir sind in Schwierigkeiten.“ Als Nächstes lief er durch die Kabine und schrie, er habe das Kommando übernommen und sei jetzt der Kapitän. „Captain Martyr Mahmud“, so heiße er. Um 14.38 Uhr meldete die Flugsicherung Aix-en-Provence in Südfrankreich, dass die „Landshut“ von ihrer Route abgewichen sei. Eine Stunde später setzte die Maschine auf dem römischen Flughafen Fiumicino auf. In Bonn tagte der „kleine Krisenstab“ mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, Vertretern von vier Ministerien sowie BKAChef Horst Herold und Generalbundesanwalt Kurt Rebmann. Die Runde beschloss, auch nach der Flugzeugentführung bei der harten Linie zu bleiben. Um 19.55 Uhr wurde auf dem Frankfurter Flughafen eine Maschine der Lufthansa startklar gemacht. An Bord waren Beamte des Bundeskriminalamts. Bei einer Zwischenlandung in Köln/Bonn stieg gegen 22 Uhr eine Gruppe durchtrainierter junger Männer in Turnschuhen, Jeans und Pullovern zu. Es waren 30 Mann, ausgerüstet mit Waffen, Handgranaten, Lei-

Hanns Martin Schleyer

Edward Pimental

Gerold von Braunmühl

Alfred Herrhausen

war Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und Vorstandsmitglied der DaimlerBenz AG. Der vormalige SS-Untersturmführer, der als „Boss der Bosse“ galt, wurde am 5. September 1977 in Köln entführt. Dabei wurden sein Fahrer Heinz Marcisz, 41, und die Polizisten Reinhold Brändle, 41, Roland Pieler, 20, und Helmut Ulmer, 24, ermordet. Nach dem Selbstmord der RAFFührung in Stammheim erschossen, nach Aussagen von Peter-Jürgen Boock, Rolf Heißler und Stefan Wisniewski am 19. Oktober 1977 ihre 62-jährige Geisel.

Am 7. August 1985 wurde der US-Soldat, 20, in Wiesbaden von einer RAF-Frau aus einer Discothek gelockt und im Stadtwald erschossen. Mit seinem Dienstausweis gelangten RAF-Mitglieder in die RheinMain-Airbase und brachten eine Autobombe zur Detonation, die zwei Menschen tötete. Der Mord an Pimental stieß selbst bei RAF-Gefangenen auf scharfe Kritik. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt hat Birgit Hogefeld den Soldaten aus der Discothek gelockt. Kritikern attestierten die RAF-Illegalen einen „verklärten, sozialarbeiterischen Blick“.

Der Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt, 51, ein Vertrauter von Außenminister HansDietrich Genscher, wurde am 10. Oktober 1986 vor seinem Haus in Bonn von zwei RAF-Mitgliedern erschossen. Vor ihm hatte die RAF am 1. Februar 1985 Ernst Zimmermann, 55, den Vorstandsvorsitzenden der Motoren- und Turbinen-Union, in seinem Haus bei München gefesselt und erschossen. Am 9. Juli 1986 waren in Straßlach bei München mit einer Bombe das Siemens-Vorstandsmitglied Karl Heinz Beckurts, 56, und sein Fahrer Eckhard Groppler, 42, ermordet worden.

war Vorstandssprecher der Deutschen Bank und ein Freund und Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl. Herrhausen, 59, machte sich auch für einen partiellen Schuldenerlass für arme Länder der Dritten Welt stark. Als er am 30. November 1989 in seiner Limousine durch Bad Homburg zur Arbeit gefahren wurde, explodierte ein mittels einer Lichtschranke gezündeter Sprengsatz. Die Explosion drückte die gepanzerte Wagentür ein und tötete Herrhausen auf der Stelle. Die Deutsche Bank, so die RAF-Erklärung, stehe „an der Spitze der faschistischen Kapitalstruktur“.

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V.L.N.R.: GEORG SPRING / PICTURE-ALLIANCE / DPA; BLUM / PICTURE-ALLIANCE / DPA; SVEN SIMON; AP (3); PICTURE-ALLIANCE / DPA; J. H. DARCHINGER; WOLFGANG VON BRAUCHITSCH

Hochhaus in Erftstadt*

Detlev Karsten Rohwedder Der Vorstandsvorsitzende der Treuhandanstalt, die ostdeutsche Staatsbetriebe privatisierte, war das letzte Opfer der RAF. Rohwedder, 58, wurde am 1. April 1991 in seinem Haus in Düsseldorf von einem Scharfschützen ermordet. Auf einem am Tatort zurückgelassenen Handtuch fand sich ein Haar, das später mittels DNA-Analyse dem RAF-Mann Wolfgang Grams zugeordnet wurde. Doch die Bundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt konnten dieses Verbrechen ebenso wenig genauer aufklären wie die übrigen Morde der dritten Generation der RAF. 65

RAF-Serie (II): Der Showdown Um 20.28 Uhr landete die „Landshut“ auf dem zypriotischen Flughafen Larnaka. Die Entführer forderten, die Maschine aufzutanken. Um 22.50 Uhr startete sie wieder. 23 Minuten später landete die Maschine mit der GSG 9 in Larnaka. Die „Landshut“ flog in die Dämmerung hinein nach Osten, nahm Richtung auf den Persischen Golf. Um 1.52 Uhr am 14. Oktober landete die Maschine in Bahrein und flog kurz darauf nach Dubai. Dort ging der Terror an Bord weiter. Stewardess Dillmann musste vor Captain Mahmud niederknien. Er schlug sie und brüllte sie an, sie sei Jüdin und solle es gestehen. Dillmann funkelte ihn wütend an. Da lachte er und sagte: „Okay, okay, you get up.“

tern und Sprengstoff. Die Gruppe gehörte zur GSG 9, einer Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes. Kurz vor dem Abflug erklärte der Chef der Truppe, Oberstleutnant Ulrich Wegener, seinen Leuten, worum es ging. Die entführte „Landshut“ sollte gekapert, die Geiseln sollten befreit werden. Es sei ein Himmelfahrtskommando. Er nehme es keinem übel, wenn er nicht mitwolle. Die Männer grinsten. Auf so einen Einsatz hatten sie lange gewartet. An Bord der „Landshut“ terrorisierten indessen die Entführer Passagiere und Besatzungsmitglieder. „Der Captain Mahmud ist einfach durchgegangen“, sagt Diana Müll, „hat mit dem Ellenbogen auf die Köpfe geschlagen oder ihnen den Pistolenlauf auf den Kopf gehauen.“

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Handgranaten der „Landshut“-Entführer

PICTURE-ALLIANCE/ DPA

Plastik- statt Metallhüllen

Kurz nach dem Start wird das Flugzeug gekapert und umgeleitet.

anzleramtsminister Hans-Jürgen Wischnewski, der wegen seiner guten Arabien-Kontakte Ben Wisch genannt wurde, folgte der „Landshut“ nach Dubai. Er hatte einen Geldkoffer mit zehn Millionen Mark dabei. Wischnewski wollte in Dubai um die Erlaubnis bitten, dass die GSG 9 zuschlagen dürfe. Am 16. Oktober um 5.30 Uhr meldet sich der Chef der Entführer beim Tower. Die Maschine müsse sofort aufgetankt werden, sonst würde er den Flugkapitän erschießen. In der Nacht war die Klimaanlage ausgefallen. In der prallen Sonne heizte sich die Maschine immer weiter auf. Diana Müll: „Zum Schluss waren, glaube ich, 60 Grad in der Maschine. Man konnte nur noch sitzen und sich nicht bewegen.“ Als Kapitän Schumann Zigaretten bestellte, versuchte er zu signalisieren, wie

Die Odyssee der entführten „Landshut“ Frankfurt

ITALIEN

15.45 Uhr, Zwischenlandung

20.28 Uhr

Rom Die Entführer fordern unter anderem die Freilassung inhaftierter RAF-Mitglieder.

Larnaka Tankstopp auf Zypern. 14. Okt., 01.52 Uhr

13. Okt. 1977, ca. 13.00 Uhr*

Palma de Mallorca Start der „Landshut“ in Richtung Frankfurt.

Zwischenlandung in Bahrein.

Damaskus Bagdad Beirut Kuweit Amman

05.51 Uhr

Dubai Mehr als 54 Stunden Aufenthalt.

*jeweils Mitteleuropäische Zeit

VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE

Masirah 16. Oktober, 15.55 Uhr

SÜDLandung in Aden. Ein JEMEN

Entführer erschießt den Flugkapitän.

17. Oktober, 04.34 Uhr

Flughäfen, die keine Landeerlaubnis erteilt haben 66

SOMALIA

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Landung in Mogadischu. Am 18. Oktober um 00.05 Uhr Befreiung der Geiseln durch die GSG 9. s p i e g e l

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viele Entführer an Bord waren: „Four packs of cigarettes, two of this and two of this, maybe.“ Die Informationen halfen dem inzwischen ebenfalls in Dubai eingetroffenen GSG-9-Chef Wegener, sich auf die Erstürmung der Maschine vorzubereiten. Doch in einem Radiointerview lobte der Verteidigungsminister Dubais die heimlichen Signale, die Schumann gegeben hatte. Mahmud hörte das im Radio. Jürgen Vietor: „Kapitän Schumann musste vorn ins Cockpit, und nach zehn Minuten kam der Mahmud raus und hat gesagt, euer Kapitän hat Nachrichten rausgeschmuggelt. Und dann musste Kapitän Schumann im Mittelgang exerzieren. Auf und ab marschieren. Demütigung, schlimmer geht es kaum noch.“ Kurz vor Mittag meldete sich Captain Mahmud wieder beim Tower. Wenn nicht sofort aufgetankt würde, werde er alle fünf Minuten einen Passagier erschießen. Diana Müll sollte die Erste sein: „Der hat mir die Pistole an die Schläfe gesetzt und hat dann von zehn runtergezählt. Erst habe ich überlegt, dem Mahmud ins Gesicht zu gucken, damit er sieht, wie ich sterbe. Aber dann habe ich gedacht, das kann es nicht sein, wenn das Letzte, was du siehst, dieses hässliche, brutale Gesicht ist. Dann habe ich nach draußen in die Sonne geguckt, und dann war er bei eins, und dann hat der Tower geschrien, wir tanken auf.“ Um 12.19 Uhr war die Maschine startklar. Mahmud gab den Befehl zum Abflug. Das Ziel sollte Aden sein. Am selben Tag gingen Anstaltsleiter Hans Nusser und der Vollzugsbeamte Horst Bubeck zu Baader. Sie wollten ihn fragen, welchen Zweck das von den Gefangenen verlangte Gespräch mit Kanzleramtschef Schüler haben sollte. Baader gab keine Auskunft. Dann lachte er und sagte: „Wenn Schüler nicht bald kommt, muss er unter Umständen sehr weit reisen, um mit mir zu sprechen.“ Bei allen Gesprächen mit Baader und den übrigen Gefangenen zeigte sich, dass diese sehr genau über die Entführung der „Landshut“ informiert waren. Doch niemand wunderte sich offenbar darüber, dass die Gefangenen trotz der seit der Entführung Schleyers verhängten Kontaktsperre miteinander sprechen und Informationen von außen erhalten konnten. Später erfuhr die Öffentlichkeit, dass sich die Gefangenen eine Kommunikationsanlage gebastelt hatten und sich austauschen konnten. Die „Landshut“ hatte inzwischen Kurs auf Aden genommen. Schumann nahm Kontakt zum Flughafen auf. „Sie können nicht landen. Der Flughafen ist gesperrt“, teilte ihm der Fluglotse im Tower mit. Die Stewardessen gaben den Passagieren Anweisungen für das Verhalten bei einer Notlandung. Uhren, Broschen und Gebisse, alle spitzen Gegenstände wurden

MICHAEL WESENER / KÖLNER STADTANZEIGER

Chefunterhändler Wischnewski beim Verlassen des Towers in Dubai: Einen Geldkoffer mit zehn Millionen Mark dabei

in einer Plastiktüte eingesammelt. CoPilot Vietor flog eine Schleife. Er konnte sehen, dass alle Betonwege auf dem Flughafen mit Panzerfahrzeugen blockiert waren. Der Tower Aden meldete sich nicht mehr. Vietor schaffte es, die „Landshut“ auf einer Sandpiste neben der mit Panzern gespickten Rollbahn aufzusetzen. Einige hundert Soldaten liefen auf das Flugzeug zu und stellten sich mit erhobenen Waffen im Kreis auf. Mahmud sagte, so Vietor, die Behörden in Aden wollten, dass die Maschine wieder startet. Mahmud war sichtlich erschüttert. „Der war fix und alle.“

seinem Charakter nicht entsprechen.“ Mahmud sagte dem Copiloten: „Wenn der Kapitän zurückgebracht wird, wird er erschossen.“ Plötzlich tauchte Schumann aus der Dunkelheit auf. Mahmud befahl, die hintere Treppe herunterzulassen. Schumann ging die Treppe hinauf und nach vorn in die erste Klasse auf Mahmud zu. „Runter, auf die Knie!“, schrie der Chef der Entführer. Schumann gehorchte. Er hatte die Hände über dem Kopf gefaltet. Mahmud setzte einen Fuß auf einen leeren Sitz: „Dies ist ein Revolutionstribunal. Du hast alle hier der Gefahr ausgesetzt, in die Luft gesprengt zu werden. Du hast mich bereits

Baader: „Demgegenüber, was jetzt läuft, hat die RAF eine gemäßigte Politik verfolgt.“ Er gab dem Flugkapitän die Erlaubnis, die im Sand steckenden Räder der „Landshut“ zu untersuchen. Schumann stieg die Treppe links hinten an der Maschine runter und ging zum linken Fahrwerk. Sein Co-Pilot konnte ihn mit der Taschenlampe leuchten sehen. Das Fahrwerk steckte bis zu den Achsen im Sand. Dann ging Schumann auf die rechte Seite und kam nicht zurück. Dillmann: „Meine persönliche Interpretation ist, dass er von den Soldaten, die das Flugzeug umstellt hatten, gefangen genommen wurde. Alles andere würde

einmal verraten. Dieses zweite Mal verzeihe ich dir nicht. Bist du schuldig oder nicht schuldig?“ Schumann antwortete mit leiser, ruhiger Stimme: „Captain, es gab Schwierigkeiten, zum Flugzeug zurückzukommen.“ Mahmud schlug ihm mit der linken Hand ins Gesicht. „Schuldig oder nicht schuldig?“, schrie er. „Sir, lassen Sie mich erklären, ich konnte nicht zur Maschine zurück.“ Mahmud schlug so hart zu, dass der Kopf des Piloten zur Seite flog. Dann drückte er ab. Schumann fiel zu Boden. Er war tot. d e r

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Am 17. Oktober um 2.02 Uhr deutscher Zeit startete die Maschine. Die Leiche von Schumann war von den Entführern aufrecht stehend im hinteren Garderobenschrank des Flugzeugs verstaut worden. Zweieinhalb Stunden später landete die „Landshut“ in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Inzwischen war eine zweite Einheit der GSG 9 von Bonn aus gestartet, mit zunächst unbekanntem Ziel. Auf Kreta erreichte sie der Befehl zum Abflug nach Mogadischu über Funk: „Immediately, immediately, es kommt auf jede Minute an, ihr müsst weg. Mogadischu so schnell wie möglich.“ Kurz vor Mittag landete auch die Maschine mit Staatsminister Wischnewski in Mogadischu. Jetzt ging es darum, von der Regierung die Erlaubnis zur Erstürmung der Maschine zu bekommen. Bundeskanzler Schmidt telefonierte vom Kanzleramt aus mit dem somalischen Diktator Siad Barre: „Wir haben ihnen nichts versprochen, wir haben aber hinterher etwas gehalten, was wir nicht versprochen haben, nämlich der hat eine ganz schöne Hilfe für sein Land bekommen.“ An diesem Tag, dem 17. Oktober, trafen der BKA-Beamte Alfred Klaus und der Bonner Ministerialdirigent Hans Joachim Hegelau mit Baader in Stammheim zusammen. Baader wollte über die Entführung der „Landshut“ sprechen: „Die RAF hat diese Form des Terrorismus 67

RAF-Serie (II): Der Showdown

Akache und Duaibes

Toter Akache alias Mahmud

Erschossene Duaibes

Harb

Mitglieder des Kommandos „Martyr Halimeh“ auf Mallorca und in Mogadischu: „Dann haben wir die praktisch in der Toilette erledigt“

bis jetzt abgelehnt.“ Die Häftlinge hätten Aktionen gegen unbeteiligte Zivilisten nie gebilligt und billigten sie auch jetzt nicht. Die Bundesregierung müsse sich klar darüber sein, dass die zweite oder dritte Generation die Brutalität weiter verschärfen werde. „Es gibt zwei Linien im Kampf gegen den Staat“, sagte Baader. „Die Bundesregierung hat durch ihre Haltung dieser extremen Form zum Durchbruch verholfen.“ „Wo fängt denn Ihrer Meinung nach der Terrorismus an?“, erkundigte sich Hegelau. „Bei dieser Form terroristischer Gewalt gegen Zivilisten“, antwortete Baader. „Das ist nicht Sache der RAF, die langfristig eine gewisse Form politischer Organisation angestrebt hat. Das kann man in den Schriften nachlesen. Demgegenüber, was jetzt läuft, hat die RAF eine gemäßigte Politik verfolgt.“ „Meinen Sie das ernst – nach den acht Toten der letzten Monate?“, fragte der BKA-Beamte. „Die Brutalität ist vom Staat provoziert worden“, antwortete Baader und erwähnte die Schussanlage, die gegenüber der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe aufgebaut worden war, aber nicht losging. „Die Maschine ist von Leuten der zweiten, dritten oder vierten Generation installiert worden. Auch die Schleyer-Entführer und andere, nach denen gefahndet wird, sind uns persönlich gar nicht mehr bekannt. Wenn das BKA behauptet, die Aktionen würden aus dem Gefängnis gesteuert, dann trifft das allenfalls im ideologischen Bereich zu.“ Hegelau fragte: „Welchen Einfluss haben Sie, etwa als Symbolfigur, noch?“ „Ich sehe zwei Möglichkeiten“, sagte Baader, „einmal die weitere Brutalisierung und zum anderen einen geregelten Kampf, im Gegensatz zum totalen Krieg. Ich weiß ein paar Dinge, bei deren Kenntnis der Bundesregierung die Haare zu Berge stehen würden. Aber ich bin der Überzeugung, dass noch eine Einflussmöglichkeit, zumindest auf die Gruppen in der Bundesrepublik, besteht. Man kann noch ver68

suchen, eine Entwicklung zum Terrorismus hier zu verhindern, obwohl es Strömungen anderer Art gibt. Das ist letztlich der Grund für den Gesprächswunsch gewesen. Der Terrorismus ist nicht die Politik der RAF.“ Am Ende sagte Baader: „Zwischen dem Staat und den Gefangenen gibt es zurzeit einen minimalen Berührungspunkt des Interesses. Gudrun hat dazu schon alles gesagt. Freigelassene Häftlinge sind im Verhältnis zu toten Gefangenen auch für die Bundesregierung das kleinere Übel.“ Sterben müssten die Gefangenen so oder so.

noch einmal mit dem deutschen Botschafter sprechen zu dürfen. Mahmud übergab ihr das Mikrofon. Gabi Dillmanns kurze Rede, die sie auf Englisch hielt, wurde vielfach in einer stark veränderten Form gedruckt. Dies ist die Übersetzung vom Originaltonband: „Ich möchte der deutschen Regierung sagen, dass es ihr Fehler ist, dass wir sterben werden – und wir werden sterben. Ich weiß, dass die es tun werden. Sie haben schon alle gefesselt. Und das ist, wie wir es auf Deutsch sagen, ein Himmelfahrtskommando. Ihnen ist das eigene Leben gleichgültig, und ihnen ist das Leben der anderen Leu-

„Okay, noch vier Minuten bis zum Ende des Ultimatums“, sagte Captain Mahmud. Nach ihrer Landung in Mogadischu hatten die Entführer der „Landshut“ ihr Ultimatum für den Austausch der Gefangenen auf 15.00 Uhr mitteleuropäischer Zeit verlängert; 17.00 Uhr Ortszeit. Während Staatsminister Wischnewski fieberhaft mit der somalischen Regierung verhandelte, um die Erlaubnis zum Einsatz der GSG 9 zu erhalten, sprach General Abdullahi, der somalische Polizeichef, mit Captain Mahmud: „Die deutsche Regierung wird Ihre Bedingungen nicht annehmen … Die somalische Regierung ersucht Sie, die Passagiere und Besatzung freizulassen. Wir versprechen Ihnen sicheres Geleit …“ Der Entführer antwortete: „Ich habe Ihre Nachricht verstanden, General, dass die deutsche Regierung unsere Forderungen ablehnt. Das ändert nichts. Wir werden das Flugzeug genau bei Ablauf des Ultimatums in die Luft sprengen, das heißt genau in einer Stunde und 34 Minuten … Wenn Sie dann zufällig im Tower sind, werden Sie das Flugzeug in tausend Stücke fliegen sehen …“ Mahmud sagte den Passagieren, dass ihre Regierung sie sterben lassen wolle. Die Stewardess Gabi Dillmann bat ihn, d e r

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te gleichgültig. Und auch der deutschen Regierung ist unser Leben gleichgültig. Wir werden jetzt sterben. Ich habe versucht, es so gut, wie es geht, zu ertragen, aber die Angst ist so mächtig. Aber wir möchten, dass Sie wissen, dass die deutsche Regierung es wirklich nicht ist, die uns hilft, am Leben zu bleiben. Das Problem Deutschlands ist, sie hätten alles tun können, alles. Wir verstehen die Welt nicht mehr. In Ordnung, dies ist wahrscheinlich die letzte Botschaft, die ich jemals mitteilen kann. Mein Name ist Gabi Dillmann, und ich wollte einfach reden, wollte meinen Eltern und meinem Freund – sein Name ist Rüdeger von Lutzau – sagen, dass ich so tapfer wie möglich sein werde, dass ich hoffe, dass es nicht zu sehr weh tut. Bitte sagt meinem Freund, dass ich ihn sehr liebe, und sagt meiner Familie, dass ich sie auch liebe. Sagt ihnen vielen Dank, und falls es in den letzten Stunden irgendeine Möglichkeit gibt, dann bitte ich Sie, bitte versucht es. Denken Sie an all die Kinder, denkt an alle die Frauen, denkt an uns. Warum helft ihr uns nicht? Ich verstehe das nicht, wirklich nicht. Könnt ihr mit eurem Gewissen weiterleben, können Sie wirklich leben, mit Ihrem Gewissen für

J. H. DARCHINGER (U.); O.L.: DPA (2); O.R.: DPA; GAMMA / STUDIO X

Sterbender Nabil Harb

den Rest Ihres Lebens. Ich weiß es nicht. Wir werden alle versuchen, so tapfer wie möglich zu sein, aber es ist nicht leicht. Ich bete zu Gott, bitte, wenn da irgendeine Chance ist, irgendeine Möglichkeit, helft uns. Es ist nur noch wenig Zeit übrig. Wenn es eine Möglichkeit gibt, bitte helft uns.“ Inzwischen steuerte die Maschine mit der GSG 9 Mogadischu an. Über Funk kam der Einsatzbefehl aus Deutschland. „Die Entscheidung ist gefallen, ihr seid committed to land, ihr seid committed to land.“ Die Antwort aus dem Cockpit: „Okay, verstanden, Mogadischu so schnell wie möglich.“ Die vier Palästinenser hatten Sprengstoff an den Kabinenwänden befestigt. Sie befahlen den Männern an Bord, einzeln in den Gang zu treten, und fesselten ihnen die Hände auf dem Rücken. Dann knoteten sie den Frauen die Hände mit zerschnittenen Strumpfhosen zusammen. Sie sammelten alle Flaschen mit Spirituosen, schlugen die Hälse an den Sitzlehnen ab und gossen den Inhalt über Teppiche und Passagiere. Die Entführer verlängerten das Ultimatum um eine halbe Stunde, damit die So-

Andrawes

Angeschossene und einzige Überlebende Andrawes

malis die Umgebung des Flugzeugs räumen könnten. Die Somalis ließen sich Zeit. Zwölf Minuten nach Ablauf des neuen Ultimatums fragte Mahmud beim Tower nach: „Haben Sie alle Rollbahnen geschlossen?“ „Nein, noch nicht. Wir werden räumen. Warten Sie, Sir.“ Kurz darauf meldete sich der deutsche Geschäftsträger in Somalia, Michael Libal: „Wir haben gerade die Nachricht bekommen, dass die Häftlinge in den deutschen Gefängnissen, die Sie freigelassen haben möchten, hier nach Mogadischu geflogen werden sollen.“ Wegen der großen Entfernung könne die Maschine aber erst am Morgen in Mogadischu sein. „Sie wagen, mich um eine Verlängerung des Ultimatums bis zum Morgen zu fragen – stimmt das, Herr Vertreter des faschistischen, imperialistischen westdeutschen Regimes?“ „Im Prinzip stimmt das“, sagte Libal. „Wie groß ist die Entfernung zwischen der Bundesrepublik und Mogadischu, Herr Vertreter des westdeutschen Regimes?“ „Mehrere tausend Meilen.“ Mahmud wollte es genau wissen, und Libal versprach, das zu prüfen.

„Okay, noch vier Minuten bis zum Ende des Ultimatums“, sagte Mahmud. Vom Tower kam die Nachricht, dass zwischen Frankfurt und Mogadischu 3200 nautische Meilen lägen, sieben Flugstunden. Der Entführer erklärte sich bereit, das Ultimatum bis 3.30 Uhr somalischer Zeit, 1.30 Uhr deutscher Zeit, zu verlängern. Mahmud ging aus dem Cockpit in die Kabine. Zögernd sagte er: „Wir nehmen jetzt die Fesseln ab. Es ist eine Möglichkeit eingetreten, die unser aller Rettung sein könnte. Aber es ist noch nicht Zeit, sich zu freuen.“ Dillmann: „Einer der Terroristen lief durch die Kabine und sagte, alles wird gut werden, alles wird gut werden. Und dann habe ich mich umgedreht zu den Passagieren, habe gesagt, wir sind frei, es wird ausgetauscht. Und dann haben sie alle gejubelt, und dann ging es nur noch darum, möglichst schnell die Fesseln aufzuschneiden, weil die Hände teilweise schon blau waren.“

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ie Maschine mit der GSG 9 war da bereits im Anflug. Über Funk kam aus Deutschland die Anweisung: „Okay, diesmal keine Warteschleifen irgendwo. Flieg ein bisschen sparsam, es kommt nicht auf zehn Minuten an, sondern nur darauf, dass du sachte in die Dunkelheit kommst.“ „Okay, verstanden.“ „Landung möglichst diskret, Landung möglichst diskret.“ Um 19.30 Uhr Ortszeit, 17.30 Uhr deutscher Zeit, landete die Boeing 707 mit der GSG 9, 2000 Meter entfernt von der „Landshut“, in einem entlegenen Teil des Rollfelds. Alle Lichter waren ausgeschaltet. Die Terroristen merkten nichts. Zwei Stunden dauerte es, bis die Männer der GSG 9 ihr Gerät und ihre Waffen entladen hatten. Ulrich Wegener erkundete in der Zwischenzeit das Gelände um die „Landshut“. Im Schutz einiger Sanddünen GSG-9-Männer vor Bonner Bundeskanzleramt

Auf so einen Einsatz lange gewartet 69

RAF-Serie (II): Der Showdown robbte er bis auf wenige Meter an sein Einsatzziel heran. Kurz vor 22 Uhr meldete sich in Stammheim Jan-Carl Raspe über die in allen Zellen installierte Rufanlage in der Wachtmeisterkabine und bat um Toilettenpapier. Der diensthabende Justizassistent Rudolf Springer versprach ihm, die Rolle bei der Medikamentenausgabe mitbringen zu lassen. Raspe war einverstanden. Um 23 Uhr bekam er durch die Essensklappe das Toilettenpapier und seine Medikamente, Paracodin-Hustensaft und ein Schmerzmittel, Dolviran-Tabletten oder Optipyrin-Zäpfchen. Er sagte: „Danke schön.“ So freundlich und höflich hatten die Beamten ihn selten erlebt. Baader verlangte eine Tablette Dolviran oder ein Optipyrin-Zäpfchen und bekam eine Adalin-Tablette in die Hand. Er schluckte sie und trank Wasser nach. Baader kam den Beamten ausgeglichen wie selten vor.

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ine Gruppe der GSG 9 schlich sich derweil von hinten an das Flugzeug heran. Die Männer hatten Leitern, Waffen und Horchgeräte dabei. Ein Teil des Trupps postierte sich unter der Maschine und befestigte die Horchgeräte, um jede Bewegung im Flugzeug festzustellen. Vom Tower aus meldete sich der deutsche Vertreter mit einer Ablenkungsmeldung: „Nach unseren Informationen ist die

Lufthansa-Maschine um 19.20 Uhr GMT in Deutschland gestartet. Die Maschine soll nach unseren Berechnungen um 4.08 Uhr GMT in Mogadischu landen. Wir erwarten nun von Ihnen konkrete Vorschläge über den Austausch der Geiseln. Ende.“ „Das ist nach Ablauf des Ultimatums“, sagte Mahmud. Der deutsche Vertreter erklärte ihm, dass es Schwierigkeiten bei der Zusammenführung der Häftlinge gegeben habe. Mahmud vergewisserte sich beim somalischen Polizeichef, ob die Angaben des Deutschen zuträfen. Dann gab er die Modalitäten für den Austausch durch: „Erstens: Wir wollen keine Presse oder Fernsehkameras beim Austausch. Zwei-

„Wiederholen Sie das“, wurde Mahmud vom Tower her aufgefordert. Mahmud wiederholte seinen Satz. „Verstanden“, kam die Antwort vom Tower, „wenn die kommen …“ In diesem Moment detonierten Blendgranaten vor den Cockpit-Fenstern und machten „Martyr Mahmud“ für einen Moment handlungsunfähig. Es war 0.05 Uhr mitteleuropäischer Zeit. GSG-9-Chef Wegener: „Die Sturmtrupps haben den Mahmud sofort außer Gefecht gesetzt. Und plötzlich stand im Mittelgang die Nummer drei von den Entführern, und ich hab da auf ihn geschossen. Der fiel dann um und warf noch eine Handgranate.“

„Frankfurt, GSG 9, nur einer leicht verletzt, okay, alles, Gott sei Dank!“ tens: Was ist mit den Genossen, die aus Deutschland kommen? Drittens: Wir wünschen, dass der Vertreter Somalias das Flugzeug, das jetzt auf dem Rollfeld in Mogadischu steht, untersucht und sicherstellt, dass dort niemand an Bord ist.“ „Verstanden, verstanden.“ Er nannte weitere Modalitäten, bis er den Satz sagte: „Wir werden weitere Vorkehrungen treffen mit den Genossen, die aus der Türkei kommen.“

Die Granate rollte direkt auf Gabi Dillmann zu. Ihr ging durch den Kopf: „Wie muss man das jetzt machen? Man darf die Luft nicht anhalten, wenn eine Explosion ist, sondern muss sie rauslassen, oder wie war das?“ Sie atmete aus, die Granate explodierte, Dillmann wurde am Fuß getroffen. „Dann hab ich geguckt, aha, das Rückgrat funktioniert, dann habe ich meinen Fuß, der betroffen war, bewegt. Die Zehen waren noch dran. Aber wenn er ab gewesen wäre, Hauptsache lebendig.“

Die Stewardess hatte Glück. Vor der Entführung gab Peter-Jürgen Boock den Palästinensern den Rat, die Handgranaten aus Kunststoff anfertigen zu lassen, damit sie leichter durch die Flughafenkontrollen geschmuggelt werden konnten. Jetzt war die Sprengkraft und Splitterwirkung nicht annähernd so groß wie bei einer normalen Handgranate. Plötzlich rief jemand: „Da ist noch jemand in der Tote Ensslin: Material für Mythen Toilette.“ Wegener: „Und dann haben wir durch die Tür geschossen Nach knapp sieben Minuten war die und haben die praktisch in der Toilette er- Operation beendet. Über die Funkzentrale ledigt.“ der Lufthansa in Frankfurt meldete sich die Die Zweite aus dem Entführerkomman- Bundesregierung: „Give result, give result!“ do überlebte schwer verletzt, es war Sou„Eine Schwerverletzte, wahrscheinlich haila Andrawes. Die Männer der GSG 9 sterbend. Drei Terroristen tot.“ gingen davon aus, dass sie noch eine Hand„Ist verstanden.“ granate in der Hand hielt, und zogen sie „Frankfurt, Frankfurt, GSG, einer, nur nach hinten. Andrawes kam zu sich: „Ich einer leicht verletzt, nur einer, one, einer habe gemerkt, dass ich verwundet bin, und leicht verletzt … Okay, okay, alles … GSG, ich dachte, ich würde sterben. Ich erinne- einer leicht verletzt … all okay … Gott sei re mich daran, dass einer der deutschen Dank!“ Soldaten meine Hand hielt. Dabei merkte Der Alptraum von Mogadischu war er wohl, dass ich noch am Leben sei.“ Auf vorbei. der Trage streckte die Entführerin die Im Hochsicherheitstrakt von Stammheim Hand zum Victory-Zeichen aus. hörte der Vollzugsbeamte Rudolf Springer

in seiner Glaskabine Radio. Um 0.38 Uhr meldete der Deutschlandfunk die Befreiung. Springer stellte sich an die Gittertür des Terroristentrakts und lauschte. Alles war still. In seine Nachtdienstmeldung schrieb er: „23.00 Uhr Medikamentenausgabe an Baader und Raspe. Sonst keine Vorkommnisse!“ Bei der Frühstücksausgabe um 7.41 Uhr wurden die Stammheimer Gefangenen gefunden: Raspe lebte noch. Er starb im Krankenhaus. Baader und Ensslin waren tot. Möller wurde ins Krankenhaus gebracht und operiert. Um 8.18 Uhr traf die Mordkommission in Stuttgart-Stammheim ein. Eine halbe Stunde später folgten Beamte des Landeskriminalamts. Um 9.00 Uhr ließ Kriminalrat Müller die Zellen öffnen, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Er ordnete an, dass bis zum Abschluss der gerichtsmedizinischen Untersuchungen niemand die Zellen betreten dürfe. Lediglich von den Türen aus wurden einige Polaroidfotos gemacht. Was sich in den knapp neun Stunden zwischen 23.00 Uhr und 7.41 Uhr im Hoch-

RAF-Serie (II): Der Showdown waren. Boock hatte den Eindruck, Brigitte Mohnhaupt könne das Lamentieren nicht mehr ertragen. Energisch und aggressiv habe sie gesagt: „Ihr könnt euch wohl nur vorstellen, dass die Opfer gewesen sind. Ihr habt die Leute nie gekannt. Sie sind keine Opfer, und sie sind es nie gewesen. Zum Opfer wird man nicht gemacht, sondern zum Opfer muss man sich selber machen. Sie haben ihre Situation bis zum letzten Augenblick selbst bestimmt. Ja, was heißt denn das? Ja, das heißt, dass sie das gemacht haben, und nicht, dass es mit ihnen gemacht worden ist.“

SPIEGEL TV

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Abtransport der Verletzten Möller: „Mord oder Selbstmord?“ wurde zur Glaubensfrage

sicherheitstrakt zutrug, wird wohl nie völlig geklärt werden – Material für Mutmaßungen und Mythen. Für die Ermittler – Kriminalbeamte, medizinische Gutachter, Staatsanwälte – sprachen die Indizien eine einfache und eindeutige Sprache: Raspe hatte in seiner Zelle ein kleines Transistorradio. Nachdem er im Süddeutschen Rundfunk die Nachricht von der Befreiung der Geiseln in Mogadischu gehört hatte, informierte er über die Kommunikationsanlage, die sich die Häftlinge gebastelt hatten, seine Mitgefangenen. In den Stunden darauf müssen sich die Gefangenen Baader, Ensslin, Raspe und Möller auf einen gemeinsamen Selbstmord verständigt haben. Nach den Ermittlungsergebnissen muss es so abgelaufen sein: In Zelle 719 holte Baader die Pistole aus einem Versteck im Plattenspieler und feuerte im Stehen – wohl um einen Kampf vorzutäuschen … und die Pistole auszuprobieren – zwei Schüsse ab, einen in sei-

leiste und setzte sich aufs Bett. Dann drückte er den Lauf der Waffe an die rechte Schläfe und feuerte. Das großkalibrige Geschoss durchschlug seinen Schädel, streifte ein Holzregal und prallte gegen die Wand. In Zelle 720 schnitt Gudrun Ensslin mit ihrer Schere ein Stück vom Lautsprecherkabel ab, rückte einen Stuhl vor das Zellenfenster, knüpfte den zweiadrigen isolierten Draht durch das feinmaschige Gitter, legte eine Schlinge um ihren Hals und stieß mit den Füßen den Stuhl zur Seite. In Zelle 725 nahm Irmgard Möller ein Besteckmesser aus Anstaltsbeständen, schob ihren Pullover hoch und stach sich viermal in die Brust. Die Stiche trafen den Herzbeutel, verletzten ihn aber nicht. Möller überlebte als Einzige. Dem Staatsanwalt erklärte Irmgard Möller: „Ich habe weder einen Selbstmordversuch begangen noch intendiert, noch war eine Absprache da gewesen.“

Und doch fielen in dieser Nacht im siebten Stock in Stammheim vier Schüsse. ne Matratze, einen in die Zellenmauer neben dem Fenster. Dann suchte er die von der Pistole ausgeworfenen Patronenhülsen zusammen und legte sie neben sich. Er hockte sich auf den Zellenboden und setzte den Lauf der Waffe in seinen Nacken. Mit der einen Hand hielt er den Griff, mit der anderen den Lauf und drückte mit dem Daumen ab. Die Kugel trat im Nacken ein und an der Stirn, kurz über dem Haaransatz, aus. In Zelle 716 holte Jan-Carl Raspe die 9-Millimeter-Pistole vom Typ Heckler & Koch aus einem Versteck hinter der Fuß72

In Bagdad hielt sich die Hauptgruppe der RAF in einem von den Palästinensern zur Verfügung gestellten Haus auf. Dort hörten sie die Nachricht vom Tod der Häftlinge über die Deutsche Welle. „Die Leute saßen da wie betäubt“, erinnerte sich Peter-Jürgen Boock, „einige haben geweint. Die anderen gaben dem Staat die Schuld … nun haben die Schweine das wahr gemacht und sie umgebracht …“ Doch dann ergriff Brigitte Mohnhaupt das Wort, außer Boock die Einzige, die wusste, wie die Waffen nach Stammheim gekommen und wofür sie gedacht gewesen d e r

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isiges Schweigen. Alle waren wie vor den Kopf geschlagen, niemand wollte glauben, was Mohnhaupt da eben gesagt hatte. Einige meldeten sich zu Wort. Aber Mohnhaupt wehrte ab: „Da gibt es jetzt keine Debatten drüber. Darüber rede ich nicht mit euch. Das geht euch nichts an. Ich kann euch nur sagen, dass es so war. Hört auf, sie so zu sehen, wie sie nicht waren.“ Damit war das Thema erledigt. Und die Legende vom Mord in Stammheim geboren; außerhalb der Gruppe, nicht in ihrem inneren Kreis. Später gaben auch andere RAF-Mitglieder zu Protokoll, dass sie an diesem Tag von Brigitte Mohnhaupt erfahren hatten, dass die Gefangenen in Stammheim Selbstmord begangen hatten. Die Alternative „Mord oder Selbstmord“ wurde für Linksradikale zur Glaubensfrage. Wer den Selbstmord der Stammheimer für denkbar oder wahrscheinlich hielt, galt im Umfeld der RAF als „Counter-Schwein“, bestenfalls als unkritischer, ahnungsloser Zeitgenosse. In jedem komplizierten Ermittlungsverfahren gibt es Vorgänge, die nur begrenzt aufgeklärt werden können. Der Rekonstruktion vergangener Ereignisse sind Grenzen gesetzt. Indizien sprechen nicht immer für sich, unterliegen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten. Jede unverständliche Schlamperei kann, wenn man will, als Teil eines perfiden Plans angesehen werden, jede Dummheit als Strategie, jeder Zufall kann zur Grundlage abenteuerlicher Spekulationen werden. So wie die RAF schon zu Lebzeiten ihrer Gründer oftmals als Projektionsfläche für Wünsche und Hoffnungen, Ängste und Hassgefühle diente, so kumulierten derartige Übertragungen in der Beurteilung der Todesnacht von Stammheim. Zumal im Ausland traute man den Deutschen alles zu. Wie sorgfältig auch immer die Todesermittlung geführt worden wäre – alle Spekulationen und Verdächtigungen hätte man damit nicht beseitigt. Wer glaubt, was er glauben will, lässt sich auch durch Indizien nicht überzeugen. Und doch wäre ein Großteil der Spekulationen über die Todesnacht von Stammheim bei gründlicherer Untersuchung, bei

RAF-Serie (II): Der Showdown

Selbstmörder Baader

Verschleppte Pulverschmauchspuren?

weniger Voreingenommenheit der Ermittler wohl gar nicht erst entstanden. In der Eckzelle 619, ein Stockwerk unter Baader, lagen in jener Nacht fünf Häftlinge. In der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung sagte einer von ihnen: „Ich habe in dieser Nacht keine Schüsse gehört. Ich bin um 23.00 Uhr eingeschlafen. Dann habe ich fest bis zum anderen Morgen um 6.30 Uhr durchgeschlafen.“ Keiner von den 128 vernommenen Stammheimer Häftlingen hatte in dieser Nacht ein Geräusch gehört, das mit den Todesfällen im siebten Stock in Verbindung zu bringen war. Und doch fielen in dieser Nacht im siebten Stock der Vollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim vier Schüsse. Der Untersuchungsausschuss des Stuttgarter Landtags tagte 19-mal, um Licht in das Dunkel der Nacht von Stammheim zu bringen. Einige der Sitzungen waren geheim – Futter für Mutmaßungen. Es wurden 79 Zeugen und Sachverständige vernommen. „Aus Geheimhaltungsgründen wurde bei der Vernehmung eines Zeugen teilweise die Öffentlichkeit ausgeschlos-

sen“, heißt es im Bericht des Ausschusses. Über Einzelheiten aus den Sitzungen des Krisenstabs in Bonn durften Zeugen nicht befragt werden. Die Protokolle des Krisenstabs sind geheim und werden es wohl noch lange bleiben. Der Bericht des Untersuchungsausschusses wurde fertiggestellt, bevor die letzten kriminaltechnischen Untersuchungen abgeschlossen waren. Er widerspricht sich in einem wichtigen Punkt. So ist auf Seite 88 von einer weiteren Waffe, einer „Pistole Smith & Wesson, vernickelt“ die Rede, gefunden in einem Wandversteck in Zelle 723. Auf Seite 90 ist daraus ein „verchromter Revolver Marke Colt Detective Special“ geworden. Der Schlussbericht des Staatsanwalts, mit dem das „Ermittlungsverfahren wegen des Todes von Baader, Ensslin und Raspe“ eingestellt wurde, ist ganze 16 Seiten lang. Auf Widersprüche in den Untersuchungsergebnissen wird mit keinem Wort eingegangen. Im Einstellungsbeschluss heißt es zum Beispiel: „Die Beschaffenheit der Mündung der Pistole, die links neben dem Kopf Baaders in seiner Zelle gefunden wurde, stimmte mit dem Erscheinungsbild der Eintrittsöffnung des Projektils im Nacken Baaders vollständig überein. Kriminaltechnische Untersuchungen ergaben außerdem, dass das tödliche Geschoss – wie auch die übrigen in Baaders Zelle vorgefundenen verschossenen Projektile – aus dieser Pistole abgefeuert worden war.“ Aber es gab auch noch andere kriminaltechnische Untersuchungen in diesem Zusammenhang, die der Staatsanwalt nicht für erwähnenswert hielt. In seiner „Schussentfernungsbestimmung“ stellte der Wissenschaftliche Rat im Bundeskriminalamt, Roland Hoffmann, Spuren fest, die mit einer „Selbstbeibringung“ des tödlichen Schusses nur schwer in Einklang zu bringen sind. Dem BKA-Spezialisten war ein Hautteil aus Baaders Nacken zur Untersuchung zugeschickt worden. Er schrieb in seinem Gutachten: „In dem Hautteil befindet sich eine kanalförmige Verletzung, die … durch ein Projektil des Kalibers 7,65 mm entstanden sein kann. Auf der Hautoberseite ist die Verletzung von einer Prägemarke umgeben, deren Konturen dem Mündungsprofil der vorbezeichneten Pistole entsprechen.“ In der Schmauchhöhle seien Spuren von Pulverschmauch gefunden worden. Der BKA-Gutachter kam zu dem Ergebnis: „Erfahrungsgemäß entstehen Prägemarke und Schmauchhöhle nur dann bei einem Schuss, wenn dieser mit aufgesetzter oder aufgepresster Waffe abgefeuert wurde.“ Ein aufgesetzter Schuss also?

„Lauschmitteleinsatz bei Gesprächen von RAF-Gefangenen untereinander.“ 74

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Er kam bei einem anderen Test aber auch zu dem Ergebnis: „Vergleichsweise müsste der Tatschuss aus einer Entfernung zwischen 30 und 40 Zentimetern abgefeuert worden sein.“ Ein Schuss aus 30 bis 40 Zentimeter Entfernung also? Diesen offenkundigen Widerspruch erklärte der Wissenschaftler des Bundeskriminalamts so: „Da dies jedoch aufgrund der übrigen Befunde mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, muss eine Verschleppung von Pulverschmauchspuren stattgefunden haben.“

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a hatte also jemand auf Baaders Schusswunde herumgefingert? Oder wie sonst soll eine „Verschleppung von Pulverschmauchspuren“ zustande gekommen sein? Oder hat der BKA-Gutachter vielleicht Baaders Pistole genommen, aber andere, stärkere Munition? Oder wurde mit einem Schalldämpfer geschossen? Daran kann sich sofort die nächste Mutmaßung anschließen: Wenn keiner der Gefangenen in den Zellen unter Baader in jener Nacht einen Schuss gehört hat, könnte die Erklärung ein Schalldämpfer sein. Es wäre die Aufgabe eines Staatsanwalts gewesen, derartigen Erwägungen vorbehaltlos nachzugehen. Der ermittelnde Staatsanwalt hatte das Gutachten über die Schussentfernung bei Baader fast zwei Monate vor Abschluss seiner Untersuchungen vorliegen – erwähnt hat er es mit keinem Satz. Anfragen bei Staatsanwaltschaft oder Landesregierung werden zumeist pauschal mit dem Hinweis auf die abgeschlossenen Ermittlungen und deren eindeutigem Ergebnis beantwortet. Der in der Todesermittlung federführende Staatsanwalt Rainer Christ 1980 zum SPIEGEL: „Wir haben uns entschlossen, über Detailfragen keine Angaben mehr zu machen.“ Dabei wäre es vielleicht ganz einfach gewesen, aller Mythenbildung von vornherein entgegenzutreten – allerdings zu einem hohen Preis. Es deutet einiges darauf hin, dass – wie schon bei der Vertuschung der verhängnisvollen Fahndungspanne von Erftstadt-Liblar – ein weiteres Versagen der Sicherheitsorgane bis heute streng geheim gehalten wird. Es gibt Indizien dafür, dass die Gefangenen in Stammheim abgehört worden sind – und wenn nicht, muss man sich fragen, warum nicht. Rechtsstaatliche Bedenken können dem nicht im Weg gestanden haben. Schon im Frühjahr 1975 und Ende 1976 wurde im Hochsicherheitstrakt von Stammheim abgehört, mit Wanzen. Zudem wäre es ein Leichtes gewesen, die geheime Kommunikationsanlage der Häftlinge anzuzapfen. Alle Regeln der Wahrscheinlichkeit sprechen dafür, dass auch während der

SPIEGEL TV (L./R.)

RAF-Serie (II): Der Showdown

Elektromaterial in Zellen der RAF-Inhaftierten: Selbstgebastelte Kommunikationsanlage

Schleyer- und der „Landshut“-Entführung die Gespräche der Gefangenen mitgeschnitten worden sind. Dann aber müsste es ein Tonband der Todesnacht von Stammheim geben. Der ehemalige BKA-Präsident Horst Herold erklärt, er habe von möglichen Abhörmaßnahmen in Stammheim während der Schleyer-Entführung nichts gewusst. Deshalb habe er auch bei seinen Lageberichten im Krisenstab niemals irgendwelche Erkenntnisse aus möglichen Abhörmaßnahmen mitteilen können. Herold regt einen Untersuchungsausschuss an und verwahrt sich entschieden dagegen, mit Abhöraktionen in Stammheim in Verbindung gebracht zu werden. Ein vergangene Woche in der ARD-Dokumentation „Der Herbst des Terrors“ gezeigtes und im SPIEGEL veröffentlichtes Konzept für die Bekämpfung anarchistischer Gewalttäter sei nicht umgesetzt worden. In dem „VSvertraulich, amtlich geheimhalten“ klassifizierten Dokument heißt es unter anderem: „Lauschmitteleinsatz zur polizeilichen Gefahrenabwehr – bei Gesprächen von RAF-Gefangenen untereinander“ sowie „Schaffung der Befugnis, Gespräche zwischen verdächtigen Verteidigern und RAF-Gefangenen zu überwachen“. Das Konzept war eine Auflistung aller denkbaren Bekämpfungsmöglichkeiten, über deren Zulässigkeit und Realisierung die Innenminister des Bundes und der Länder befinden sollten. Herold legt Wert auf die Feststellung, dass das von ihm entworfene Konzept keinesfalls bedeutet, dass sich das Bundeskriminalamt an Abhörmaßnahmen im Gefängnis Stammheim beteiligt habe. Tatsächlich gab es unabhängig von Herolds Konzept im Jahr 1976 eine entsprechende Maßnahme. Das beweist das Protokoll des Bundestagsinnenausschusses vom 8. März 1977, als der damalige Bundesinnenminister

Werner Maihofer sagte: „Es gibt sogar noch aus dem Jahr 1976 eine gemeinsame Vorlage, die damals zwischen Justiz und Innenministerium erörtert worden ist, etwa was die Lauschoperationen in Strafanstalten anlangt. Das war ja damals mit der Verteidigerüberwachung ein Riesenproblem. Diese Vorlage kommt zu dem Ergebnis: Auf keinen Fall einen solchen Einsatz bei der Verteidigerüberwachung, auch nicht in solchen Terroristenfällen, weil das ja noch einmal eine zusätzliche Kollision mit dem Kernbestand unserer Rechtsstaatlichkeit bedeutet.“ Beim Abhören von Verteidigergesprächen wollte man sich also zurückhalten, für das Abhören von Gefangenen aber gab es freie Bahn.

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uch ohne irgendeine rechtliche Grundlage wurden schon Anfang 1975 Lauschmaßnahmen in Stammheim unternommen. So installierten Techniker des Bundesamts für Verfassungsschutz am 1., 2. und 3. März 1975 aufgrund einer Anfrage aus Stuttgart Mikrofone in fünf leerstehenden Zellen des Hochsicherheitstrakts von Stammheim. Angeblich ging es darum, Gespräche zwischen Gefangenen und verdächtigen Anwälten abzuhören. Im Mai 1975 bat man auch die Kollegen vom Bundesnachrichtendienst um Unterstützung. Dafür war eigens ein hochrangiger Beamter der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts Stuttgart nach Pullach gefahren. Daraufhin reisten zwei BND-Techniker nach Stammheim und installierten dort in zwei leerstehenden Zellen eine Abhöranlage. Damit müssten insgesamt fünf plus zwei Zellen verwanzt worden sein. Besucherzellen gab es aber im Hochsicherheitstrakt nur vier. Offiziell wurde später eingeräumt, in zwei Phasen, zunächst 1975 und dann 1976/77, an je zehn beziehungsweise zwölf Tagen abgehört zu haben. Die Anstaltsleitung er-

Die „Sondermaßnahme“ hat es bis zum Tag der Selbstmorde in Stammheim gegeben. 76

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fuhr davon nur wenig. Der stellvertretende Anstaltsleiter Schreitmüller heute: „Da hab ich nicht viel mitbekommen. Aber ich glaube, das LKA hatte seinen Raum im Mehrzweckgebäude, nicht bei uns.“ In der ersten Abhörphase 1975 hatten die Lauscher direkt im siebten Stock neben den Besucherzellen gesessen und dort ihre Tonbandgeräte laufen lassen. Danach siedelte man offenbar in das benachbarte Prozessgebäude, die sogenannte Mehrzweckhalle, um. Dort gab es einen mit Monitoren und Tonbandgeräten ausgestatteten Technikraum. Hier hatten schon während des Stammheimer Prozesses verschiedene Dienststellen, das Landeskriminalamt, der Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt, einen Arbeitsplatz. Informationen aus der Abhörphase im Frühjahr 1975 wurden offenbar auch an andere Dienststellen weitergegeben. So erklärte die Ehefrau des Militärattachés Andreas von Mirbach, der in Stockholm bei der Botschaftsbesetzung ermordet worden war, dass sie im Anschluss an den Tod ihres Mannes schwedische Polizeibeamte und Soldaten zu sich eingeladen hätte. Auch ein Polizeipräsident sei dabei gewesen und habe ihr gesagt, sie solle mit ihren Kindern nicht mehr zu lange in Schweden bleiben. Er habe von der deutschen Polizei erfahren, dass durch Abhören in Stammheim herausgefunden worden sei, dass die RAF Kinder als Geiseln nehmen wollte. Daraufhin sei dann die deutsche Schule aufgrund einer angeblichen Bombendrohung geschlossen worden. Tatsächlich war bei der Abhöraktion im Frühjahr 1975 ein Gespräch zwischen dem Anwalt Klaus Croissant und der Gefangenen Ulrike Meinhof belauscht worden, in dem es um Aktionen auf Kinderspielplätzen gegangen war. Der damalige Chef des LKA in Stuttgart, Kuno Bux, räumte gegenüber dem SPIEGEL ein, dass zudem versucht worden sei, Gespräche zwischen den Häftlingen und mit den Anwälten durch Richtmikrofone abzuhören. Das habe aber technisch nicht

DPA (L./R.)

RAF-Serie (II): Der Showdown

Begräbnis von Baader, Ensslin und Raspe, Trauerfeier für Schleyer*: Das Todesurteil wurde per Telex nach Brüssel gesandt

geklappt. Deshalb sei er zu Kurt Rebmann gegangen, damals Ministerialdirektor im Justizministerium, später Generalbundesanwalt. Daraufhin sei vom Bundesnachrichtendienst Amtshilfe geleistet worden. Über die genauen Zeiträume könne er keine Auskunft mehr geben. Auch der Stammheimer Anstaltsleiter Hans Nusser berichtet von dem Versuch, Gespräche im Hochsicherheitstrakt mit Hilfe von Richtmikrofonen aufzunehmen. Der Inspektionsleiter Terrorismus im LKA, Günter Textor, erklärte gegenüber dem SPIEGEL, dass er über die Einzelheiten von Abhörmaßnahmen in Stammheim nichts gewusst habe. Solche geheimen Operationen seien mit Hilfe von Nachrichtendiensten durchgeführt worden. Das sei auch richtig so, „weil das eben unter geheim lief, und ich war nicht eingeweiht“. Er wisse, dass in der Stuttgarter Johannesstraße, dem damaligen Amtssitz des LKA, TÜ-Maßnahmen, also Telefon-Überwachungsmaßnahmen, durchgeführt worden seien, die vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs angeordnet waren. Sein Vorgesetzter Hans Kollischon, damals Abteilungsleiter Staatsschutz, sagte dem SPIEGEL, dass die Lauschaktionen in Stammheim amtsintern unter dem Begriff „Sondermaßnahme“ geführt wurden. Es habe nur eine Aktion unter diesem Namen gegeben. Das allerdings bedeutet: Die Sondermaßnahme hat es bis zum Tag der Selbstmorde in Stammheim gegeben. Im Einsatzkalender der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts Stuttgart vom 18. Oktober 1977 ist unter der Uhrzeit 10.21 ein Anruf des Beamten Dieter Löw bei der Apparatnummer 289 des LKA verzeichnet: „Die Beamten der Sondermaßnahme 80

wurden von dem Vorfall in Stammheim verständigt und angewiesen, Erkenntnisse in ihrem Bereich, die im Zusammenhang mit dem Vorfall in Stammheim stehen, sofort an die Abt. 8, App. 362 und 361 weiterzugeben.“ Ein für Zellendurchsuchungen im Hochsicherheitstrakt von Stammheim eingesetzter höherer Beamter des Staatsschutzes (Abteilung 8 des LKA Stuttgart) räumte gegenüber dem SPIEGEL ein, indirekt von Abhörmaßnahmen erfahren zu haben. Während der Schleyer-Entführung, als jeder Mann in seiner Abteilung gebraucht wurde, habe man ihm des Öfteren Beamte für eine Sondermaßnahme entzogen. Diese hätten dann eine höhere Geheimhaltungsstufe als er selbst erhalten und hätten ihm nichts von ihrer Tätigkeit erzählen

fangenen in Stammheim, aber: „Sie müssen sich vorstellen, die Bundesrepublik war doch damals in einem seelischen Ausnahmezustand.“ Es seien auch „Handlungen vorgenommen worden, die vielleicht nicht ganz koscher waren“. Nach SPIEGEL-Recherchen spielte damals eine besonders geheime Truppe bei den Überwachungsmaßnahmen in Stammheim eine wichtige Rolle, die „Gruppe Fernmeldewesen“ des BGS, die vor allem für die Aufklärung im deutsch-deutschen Funkverkehr eingesetzt wurde. Die Gruppe F agierte ohne Rechtsgrundlage und wurde erst 1994 legalisiert. Der ehemalige Referatsleiter für den Bundesgrenzschutz im Bundesinnenministerium, Günter Heckmann, wurde vom SPIEGEL präzise gefragt, ob ihm bekannt gewesen sei, dass

„Die Bundesrepublik war doch damals im seelischen Ausnahmezustand.“ dürfen. Dennoch habe er von einem Kollegen erfahren, dass es mitunter akustische Schwierigkeiten beim Abhören gegeben habe, weil die Wasserspülung der Toilette in der Zelle zu laut gewesen sei. Kurt Fritz, ehemaliger Ministerialrat im Bundesinnenministerium und zuständig für das Bundeskriminalamt, meinte in einem Telefonat mit dem SPIEGEL, es sei zur Zeit der Schleyer-Entführung „eine Selbstverständlichkeit, dass alles genutzt wurde, was vorhanden war“. Er wisse zwar keine Details über das Abhören der Ge* Links: am 27. Oktober 1977 auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof; rechts: am 25. Oktober 1977 in der Stuttgarter Domkirche St. Eberhard. d e r

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möglicherweise während der Schleyer-Entführung in Stammheim abgehört wurde. Seine Antwort: „Na ja, sicher, das weiß ich schon.“ Was im Einzelnen wo und mit welchen Mitteln und wer daran noch beteiligt war, könne er aber nicht sagen. Aufgrund der SPIEGEL-Anfragen wurden inzwischen im Stuttgarter Innenministerium viereinhalb laufende Meter bisher geheimgehaltener Aktenbestände zum Thema RAF und Stammheim gefunden. Der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech (CDU) teilte dem SPIEGEL am 10. September mit, dass „Innenund Justizministerium derzeit gründlich und sorgfältig die von Ihnen in Bezug genommenen Unterlagen sichten“. Auch

seien im Zuge der Recherchen zahlreiche Gespräche mit ehemaligen Bediensteten der Innen- und Justizverwaltung geführt worden, die in der damaligen Zeit mit den Vorgängen befasst waren. Nach alledem sei die Erkenntnislage unverändert: „Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim im Zusammenhang mit der SchleyerEntführung Gespräche der RAF-Häftlinge abgehört wurden.“ Die Behörden würden ihre Recherchen gleichwohl fortsetzen und den SPIEGEL informieren, wenn sich neue Kenntnisse ergeben. Nach der Befreiung der Geiseln in Mogadischu und dem Selbstmord der Häftlinge in Stammheim war allen Offiziellen klar, dass für Hanns Martin Schleyer kaum noch Hoffnung bestand. Der Kern der Entführergruppe war nach wie vor in Bagdad. Dort fiel die Entscheidung. „Bei so vielen toten Genossen können wir ihn nicht am Leben lassen, werden wir auch nicht“, erinnert sich Peter-Jürgen Boock an die Gespräche mit seinen Kumpanen. Das Todesurteil wurde per Telex nach Brüssel gesandt, wo die Restgruppe, die Schleyer bewachte, in einem Postamt zu erreichen war. „Wir müssen das Geschäft jetzt zum Abschluss bringen, die letzte Ladung ist verdorben“, kabelten die RAF-Kader aus dem Büro der PFLP den Bewachern zu.

Nach Boocks Erinnerung bestand die Antwort nur aus einem Wort: „Okay.“ Im Kofferraum transportierten zwei RAF-Terroristen Schleyer in einen Wald in der Nähe der belgisch-französischen Grenze. Nach Aussagen von Boock waren das Stefan Wisniewski und Rolf Heißler. Heißler habe ihm erzählt, wie die letzten Minuten abgelaufen seien. Die beiden seien ausgestiegen, hätten den Kofferraum geöffnet, Schleyer herausgehoben, ins Gras gelegt und auf der Stelle erschossen: „Das war eine Sache von weniger als einer Minute. Kofferraum auf, rausholen, Schuss, reinpacken, Kofferraum zu, abfahren.“

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eugen des Mordes gibt es nicht. Doch schon vor Jahren hatte Boock in einer Vernehmung bei der Bundesanwaltschaft Andeutungen über die angeblichen Täter gemacht. In seinem Verhör sagte Boock: „Mit Sicherheit waren Stefan Wisniewski und Rolf Heißler während meiner Zeit in Bagdad nicht dort.“ Daraus hatten die Bundesanwälte den falschen Schluss gezogen, Boock hätte ausdrücken wollen, dass die beiden nicht am Tatort waren, also nicht für die Ermordung Schleyers in Frage kämen. Tatsächlich hatte Boock aber ausdrücken wollen, die beiden seien nicht in Bagdad gewesen, kämen also als Täter durchaus in Frage.

Erst jetzt erzählte Boock in der ARDDokumentation über die RAF, woher er erfahren haben will, wer Schleyer erschossen hat. Kurz nach der Tat habe ihm Rolf Heißler gesagt, es sei von beiden geschossen worden, von ihm und Stefan Wisniewski. Tatsächlich stellten die Obduzenten bei Schleyer drei Kopfschüsse aus einer Waffe fest. Was sie bei der „Rekonstruktion der Schussrichtung“ herausfanden, stützt die Hypothese, dass zwei Schützen Schleyer ermordeten. Stefan Wisniewski hat juristisch wegen der Entführung und Ermordung Schleyers nichts mehr zu befürchten, er wurde dafür schon 1981 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Wisniewski hat knapp 21 Jahre abgesessen. Rolf Heißler hingegen wurde 1982 wegen Mordes an zwei niederländischen Zollbeamten, nicht aber für die Ermordung Schleyers zu lebenslang verurteilt und saß über 22 Jahre. Theoretisch könnte er dafür noch einmal angeklagt werden. Doch solange es keine weiteren Indizien als sein angebliches Geständnis gegenüber Boock gibt, wird er kaum erneut vor Gericht gestellt werden.

Im nächsten Heft: „High sein, frei sein ...“ – Wie aus Happenings der Studentenbewegung in WestBerlin blutiger Ernst wurde.

Gesellschaft

Szene

Was war da los, Herr Storm? „Wie sind die Augen, wie die Nase? Vor allem aber: Lächelt er wie Hemingway? Das sind die Fragen, die meine 15 JuryKollegen und ich uns bei jedem der mehr als 120 Kandidaten stellen. Beim ErnestHemingway-Look-Alike-Wettbewerb geht es in erster Linie ums Aussehen. Damit wir niemanden verschwommen beurteilen, trinken wir während der Wahl ausschließlich Mineralwasser und alkoholfreies Bier. Erst wenn der Gewinner feststeht, werden die Whiskeyflaschen geöffnet. Ich habe im letzten Jahr gewonnen, nun sitze ich wie meine Vorgänger in der Jury, aber es macht nicht weniger Spaß, als am Wettbewerb teilzunehmen. Es ist toll, drei Tage in Hemingways Stammkneipe ,Sloppy Joe’s‘ in Key West mit Männern zu verbringen, die sich alle ähnlich sehen.“

S C H I F F FA H R T

Schreiender Stahl ie stark es stürmt, können erfahrene Kapitäne hören: Wenn der W Sturm wie eine Orgel brummt, wissen sie, dass es knapp wird. In dem Buch „Orkanfahrt“ berichten 25 Kapitäne über ihre abenteuerlichsten Stunden auf See. Sie erzählen von Meuterei, randalierenden Passagieren und Ärger mit der Kriegsmarine. Aufgezeichnet und zu spannenden Protokollen verdichtet hat ihre Geschichten der Reporter Stefan Krücken. Der Hamburger Emil Feith schildert, wie der „Stahl schreit“, als ein Orkan an seinem Schiff zerrt. Für den Hurrikan „Grace“ erwies sich der Massengutfrachter „Svea Pacific“ als Leichtgewicht. Panik drohte. Kapitän Feith blieb ruhig, legte eine Kassette von Johnny Cash ein. Dann steuerte er sein Schiff durch den Sturm. Durch ein Leck strömte Wasser, doch der Frachter hielt durch. Als Feith und sein Schiff Liverpool erreichten, war die Ware Schrott, doch Kapitän auf hoher See

ANDY NEWMAN / AFP

Der Immobilienunternehmer Chris Storm, 56, über die Kunst, jemand anders zu sein

Juror Storm (l.)

alle Seeleute hatten überlebt. Auch der Schleswiger Peter Lunau brachte seine Mannschaft heil aus einer Katastrophe. Nach einer Explosion an Bord der „Eva Maria“ stand das Schiff in Flammen, Diesel lief aus, das Meer brannte. Die Besatzung rettete sich auf eine Bohrinsel. Die Kapitäne sind Haudegen, keine Helden. Sie sprechen über ihre Ängste und gestehen Gaunereien. „Orkanfahrt“ verzichtet auf Klischees – eine Prise Seemannsgarn ist dabei. Stefan Krücken, Achim Multhaupt: „Orkanfahrt. 25 Kapitäne erzählen ihre besten Geschichten“. Ankerherz-Verlag, Lüneburg; 176 Seiten; 29,90 Euro.

WERBUNG

Hübsche Püppchen

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apa verdient das Geld, Mama macht sauber. Traditionelle Frauen- und Männerbilder dominieren immer noch die Anzeigen in der deutschen Presse. Das hat die Unternehmensberatung „Ungleich Besser Diversity Consulting“ in einer Studie herausgefunden, für die sie über drei Monate lang Magazinwerbung auswertete. Die Ergebnisse stellten die Berater letzte Woche auf dem Gender Marketing Kongress in Berlin vor: In jeder dritten der 686 analysierten Anzeigen werden Frauen als fürsorgliche Hausfrau und Mutter dargestellt; in jeder fünften sind sie sogar nur schmückendes Beiwerk – „als technisch unbegabtes, aber hübsches Püppchen“. Der Mann ist in fast der Hälfte der Motive Familienvater und Beschützer. Hauptkritikpunkt der Studie: Die Werber kommunizieren an den Konsumenten vorbei, da Senioren, ethnische Minderheiten oder auch Homosexuelle kaum vorkommen. Unzeitgemäß, urteilt Michael Stuber, Gründer von „Ungleich Besser“, denn die Kaufkraft von Bevölkerungsgruppen außerhalb des Mainstream wachse: „Kein Unternehmen kann es sich leisten, dies zu ignorieren.“ 83

Gesellschaft

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EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE

Bitte legen Sie nicht auf! Wie eine Frau ihre Telefongesellschaft bezwang

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ledigt ist.“ Außerdem hatte sie das Gefühl, sie dürfe, nach dieser Warterei, so kurz vor dem Ziel nicht aufgeben. Sie stellte das Telefon auf Lautsprecher. „Wir bitten für die kleine Verzögerung um Entschuldigung“, klang es aus dem Hörer. „Ihr Anruf wird entgegengenommen.“ Gegen 19 Uhr erreichte sie den Techniker, auf dessen Handy. „Wo waren Sie?“, rief sie ins Telefon. „Warum sind Sie nicht gekommen?“

DARREN GRIFFITHS / HUW EVANS AGENCY

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annah King, Hausfrau aus Cardiff in Wales, Mutter von fünf erwachsenen Kindern, hat, was ihren Lebensabend angeht, keine übertriebenen Ansprüche. Eine eigene Wohnung soll es sein; ein Meer in der Nähe wäre schön, weil sie den Strand liebt. Am wichtigsten aber: ein einwandfrei funktionierendes Telefon. Vor ein paar Jahren entfernten Ärzte bei der 51-Jährigen einen Gehirntumor, 2001 erlitt sie einen schweren Schlaganfall und seither vier leichte; wenn etwas passiert, will sie sicher sein, dass sie jemanden erreichen kann. Gemeinsam mit ihrem Mann machte sie sich auf die Suche. In Milford Haven, drei Zugstunden von Cardiff entfernt, fanden sie ein Apartment, direkt am Strand, von der Veranda hat man einen weiten Blick über die Bucht. Blieb noch das Telefon. In Großbritannien besitzt die British Telecom (BT) bei allen Neuanschlüssen ein Monopol fürs Freischalten. Also wählte Hannah King die Service- King Nummer der BT. „Please hold the line“, sagte eine Frauenstimme vom Band, 10, 15, 30 Minuten lang. Es war eine 0800-Nummer, ein Anruf aus dem Festnetz kostete nichts, Hannah King legte auf, versuchte es aufs Neue. Eine Woche dauerte es, dann hatte sie jemanden erreicht, der mit ihr einen Termin vereinbarte: am 14. August, einem Dienstag, sollte der Techniker kommen, zwischen 8 und 13 Uhr. Hannah King fuhr in ihre neue Wohnung und wartete. BT war früher ein staatliches Unternehmen, verlässlich wie Big Ben oder die britische Eisenbahn. Als um 13 Uhr immer noch niemand aufgetaucht war, rief King die British Telecom an, diesmal vom Handy, denn der Festnetzanschluss war ja noch nicht freigeschaltet. „Ihr Anruf ist uns wichtig“, sagte eine Stimme vom Band, „in Kürze ist jemand für Sie da.“ Zwischendurch ertönte Flötenmusik. Stunden vergingen. Sie sei störrisch, sagt Hannah King über sich. „Wenn ich will, dass etwas erledigt wird, dann gebe ich nicht eher Ruhe, als bis es er-

gendwann verließ sie das Haus, wegen eines Arzttermins, sie legte das Telefon aufs Sofa. Als sie um Viertel vor vier zurückkehrte, empfing sie die vertraute Stimme: „Ihr Anruf ist uns wichtig.“ Hannah King hätte es gern geglaubt. Sie schrieb der British Telecom eine Mail. Sie erhielt eine Standardantwort: „Danke für Ihre Beschwerde, wir kümmern uns darum.“ King rief die Lokalzeitung an. Sie war inzwischen beim Arzt gewesen, ihr war schwindelig, die Sache fing an, sie krank zu machen. Die Zeitung schickte einen Reporter vorbei, gemeinsam lauschten sie der Ansage, die noch immer aus dem Telefon kam. Bis 22 Uhr wurde sie aufgefordert, nicht aufzulegen. Dann schaltete sich das Band ab. Am nächsten Tag, einem Donnerstag, versuchte Hannah King es erneut, diesmal von 7.30 Uhr morgens bis Mittag. „Gib es auf“, riet ihr Mann, „wir kommen schon irgendwie mit dem Handy klar.“ Am Freitag erschien ihre Geschichte im „South Wales Echo“, und am Abend meldete sich endlich jemand von British Telecom. Man bot ihr einen neuen Termin an, in fünf Tagen: Mittwoch, 22. August, zwischen 8 und 13 Uhr. Am nächsten Tag meldete sich der Leiter der Beschwerdeabteilung von BT bei ihr. Ein Einzelfall, sagte er, neues System, zu wenig Leute, sorry. Dafür könne er ihr einen neuen Termin anbieten: Freitag, 24. August. Sie habe bereits einen Termin, am 22., sagte King. An jenem Tag tauchte der Techniker tatsächlich auf und schaltete den Anschluss frei. Hannah King hatte, nach insgesamt 20 Stunden Warteschleife, endlich einen Festnetzanschluss. Zum ersten Mal hatte sie die Folgen der Privatisierung gespürt. Ein Grund mehr, so einem Laden Manieren beizubringen, besonders dann, wenn der auch noch Monopolist ist. Zwei Tage später stand derselbe Techniker erneut vor ihrer Tür, BT hatte ihm den Auftrag zweimal übermittelt. King bot ihm eine Tasse Tee an. Das Freischalten kostete Hannah King 125 Pfund, rund 190 Euro, außerdem musste sie sich verpflichten, mit der British Telecom einen Vertrag abzuschließen. Er hat eine Mindestlaufzeit, zwölf Monate, so lange muss sie bei der British Telecom bleiben. Danach kann sie sich den Telefonanbieter selbst aussuchen. Hauke Goos

Aus dem „Hamburger Abendblatt“

„Wie meinen Sie das?“, wollte der Techniker wissen, „ich war da.“ Leider bei der falschen Adresse, wie sich herausstellte, in ihrer alten Wohnung, wo Hannah King seit Jahren einen Festnetzanschluss besitzt. Sie wolle einen neuen Termin, sagte King. Wegen eines Termins, bekam sie zur Antwort, müsse sie sich an die Servicenummer wenden. Am nächsten Tag um acht Uhr morgens wählte King, inzwischen zurück in Cardiff, erneut die Nummer der BT. Ird e r

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Gesellschaft

W E LT H A N D E L

Streit im globalen Hühnerhof Europas Konsumenten schätzen am Hähnchen vor allem die Brust. Der Rest ist fast unverkäuflich und wird exportiert, zu Dumpingpreisen. Die Bauern in Kamerun wehren sich gegen europäische Hühnerschenkel und trotzen einer Globalisierung, die sie zu Verlierern macht. Von Uwe Buse

GUY CALAF

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s ist später Nachmittag in Jaunde, vorsichtig lenkt Bernard Njonga seinen neuen Land Cruiser durch den Feierabendverkehr. Es ist drückend heiß, die Scheiben des Toyota sind runtergedreht. Njonga schwitzt, er hat noch nicht herausgefunden, wie die Klimaanlage funktioniert. Plötzlich klopft jemand gegen die Tür. Njonga zuckt zusammen, an seinem Fenster steht ein Fremder, er streckt einen Arm ins Auto und bedankt sich überschwenglich für das, was Njonga getan, gewagt habe. Für Kamerun. Für die Bauern. Njonga lächelt unbeholfen. In letzter Zeit hat sich viel verändert in seinem Leben. Früher war er ein biederer Verbandsfunktionär, jetzt tritt er im Fernsehen auf, gibt Interviews im Radio, und vor seinem Büro stehen immer ein paar Männer. Verlässt Njonga sein Büro, greifen sie zum Handy. Kommt er zurück, melden sie auch das ihren Auftraggebern. Njonga ist überzeugt, die Männer arbeiten für die Regierung. Einmal hat er sie gegrüßt, um zu sehen, was passiert. Es passierte nichts. Der Dank von Fremden, die Aufmerksamkeit des Staates wird Njonga zuteil, weil er Siege errang gegen Gegner, die viele für unbesiegbar hielten. Gegner Nummer eins war der Präsident seines Landes. Er heißt Paul Biya, Kamerun regiert er seit 25 Jahren, er ist ein Diktator, der sich ein Parlament als Applausmaschine hält. Njonga zwang den Präsidenten, sich eines angeblich korrupten Ministers zu entledigen. Das allein war in Kamerun schon eine Sensation. Ein Nichtpolitiker, ein Zivilist veränderte die Zusammensetzung des Kabinetts, unglaublich. Aber wichtiger noch als die Tatsache, dass es geschehen konnte, war die Art und Weise, wie es geschah. Nicht durch Intrigen, nicht durch einen politischen Handel, sondern durch öffentlichen Druck, durch Demonstrationen, durch das Volk, das plötzlich einen Teil seiner Macht entdeckte und auf die Straße ging. Njonga schuf, ohne es geplant zu haben, die erste außerparlamentarische Opposition Kameruns, die erste echte Opposition überhaupt im Land. Hühnerverkäufer in Jaunde

Der Gegner ist Europa

Hühner im Maststall (in Frankreich)

144 000 Tonnen nach Afrika

ern, der möglichst viel Fleisch in möglichst kurzer Zeit produzieren will, dann ist das Markenhuhn dem Haushuhn in jeder Beziehung überlegen. Als Mvogo sich vor einigen Jahren entschloss, in diese Hähnchen zu investieren, gab es bereits Hähnchenschenkel in Kamerun zu kaufen. Auf den Märkten Jaundes tauchten sie immer wieder auf, aber es waren zu wenige, um Mvogo schlaflose Nächte zu bereiten. Er glaubte, dass sie früher oder später wieder verschwinden würden. Doch das taten sie nicht.

PHANIE / SUPERBILD / INCOLOR

Gegner Nummer zwei war Europa, die größte Wirtschaftsmacht der Welt, der es gefällt, in Afrika ihren Müll und andere unerwünschte Produkte zu entsorgen. Njonga kämpfte dafür, dass dies in Kamerun nicht mehr geschieht. Auch dies war ein spektakulärer Sieg, ein Triumph. Er katapultierte Njonga, den studierten Bauern, aus der Enge Kameruns auf die internationale Bühne der Politik. Er gilt jetzt in seinem Land als Experte für die Folgen der Globalisierung. Er hat den Afrikanern gezeigt, wie man sich wehren kann gegen einen Welthandel, der sie zu Verlierern macht. Er reist nach São Paulo, nach Hongkong, wo in Konferenzen über die Folgen des Wachstums, über die Grenzen der Globalisierung diskutiert wird. Njongas Aufstieg begann mit der Jagd auf europäische Hühnerschenkel. Die Schenkel fanden sich auf den Märkten, in jeder Stadt, in den Dörfern, und ihre Existenz trieb die Bauern zur Verzweifelung, denn sie ruinierte ihnen ihr Geschäft. Sie machten es den Bauern so gut wie unmöglich, ihre eigenen Hähnchen, ihre Hühner zu verkaufen. Die Schenkel stammten aus dem Ausland, sie wurden importiert und in Kamerun verkauft, zu Dumpingpreisen. Ein Kilo kostete rund 800 Westafrikanische Franc, umgerechnet 1,20 Euro. Die einheimischen Hähnchen, immer nur lebend verkauft, kosteten pro Kilo das Doppelte. Die Bauern hatten allen Grund, sich aufzuregen. Viele von ihnen hatten in den vergangenen Jahren in die Hähnchenmast investiert. Sie hatten Kredite aufgenommen, Ställe gebaut, um vom Strukturwandel in Kamerun zu profitieren. Stetig zogen Familien vom Land in die Städte, auf der Suche nach Arbeit, nach einem besseren Leben. Zurück blieben ihre Höfe und die Möglichkeit, sich selbst zu versorgen mit Getreide, Milch und Fleisch. Die gewerbliche Hühnermast sollte den Hunger der Städter stillen. Fridolin Mvogo ist einer dieser Bauern, aber er investierte nicht nur in Ställe, in den Strukturwandel, sondern auch in die Globalisierung. Er glaubte, mit der Zeit zu gehen, er verabschiedete sich vom gemeinen Haushuhn und legte sich zusammen mit seinen Nachbarn Markenhühner zu, 2000 Stück, gezüchtet und genetisch optimiert von global agierenden Zuchtbetrieben. Diese Tiere sind nur noch entfernt verwandt mit dem einfachen Hinterhofhahn. Mvogos Hähnchen der Marke „Hybro“ sind hocheffiziente Futterverwertungsmaschinen, die 1,65 Kilogramm Futter in ein Kilogramm Körpergewebe verwandeln. Das schafft kein Schwein. Diese Hühner wachsen in nur 35 Tagen zur Schlachtreife heran. Ihr Fleisch ist saftig. Betrachtet man diese Tiere aus dem Blickwinkel des Bau-

Es wurden mehr von Jahr zu Jahr, und das lag vor allem an einer Firma, die Kamerun als gut erreichbaren und ungesättigten Markt für billige Hühnerviertel entdeckt hatte. Der Name der Firma ist Kühne + Heitz, ihre Zentrale liegt im niederländischen Dordrecht. Ihre Mitarbeiter organisierten rund 70 Prozent aller Geflügelimporte nach Kamerun. Es war ein gutes Geschäft für die Fleischhändler. Für Mvogo war es eine Katastrophe. Er blieb auf seinen Hähnchen sitzen und rief, wie viele andere Bauern, Njonga an, den Ge-

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Takang, jung, ehrgeizig und unverheiratet. Bertrand Djami, früher Automechaniker, jetzt Redakteur der „Bauernstimme“, und Jacob Kotcho, ebenso ehrgeizig, aber besonnener als Yvonne Takang. Alle drei arbeiteten für Saild, den Bauernverband. Alle drei wechselten zu Acdic, einer Schwesterorganisation des Verbands, von Njonga gegründet, um seine Kampagne zum Erfolg zu führen. Das Akronym Acdic steht im Französischen für „Bürgerlicher Vereinigung zur Verteidigung kollektiver Interessen“. Njonga fand das aussagekräftig. Dann machten sich die vier daran, ein Volk zu mobilisieren. Erfahrung hatten sie keine. Sie wussten, die nötigen Angaben über ihre Gegner besaß der Zoll, sie wussten auch, diese Angaben waren nur für den Dienstgebrauch bestimmt und dass ein Bauernlobbyist Njonga: Jagd auf europäische Hühnerschenkel Mann die Akten hütete. Njonga schickte Die Weigerung der Konsumenten, das eine Frau zu ihm, eine Freundin von neralsekretär des Bauernverbandes „Saild“. Njonga sollte die Schenkel verschwinden Huhn am Stück zu kaufen und zu verwer- Takang, hübsch und sexy. Sie erzählte dem ten, hält gigantische Handelsströme am Zöllner, dass sie die Angaben brauche für lassen. Wie, war ihnen egal. Die Bauern hatten keine Ahnung, was Laufen. Allein die Mäster der EU liefern einen Cousin, der im Ausland Volkswirtsie von Njonga verlangten. Sein Gegner pro Jahr 225 000 Tonnen Geflügelteile in schaft studierte. Der Zöllner antwortete: war nicht nur eine Firma im fernen Hol- die ehemalige Sowjetunion, 144 000 Ton- Vielleicht kann ich helfen, aber vorher land, zu seinen Gegnern zählten auch die nen nach Afrika, 170 000 Tonnen in den müssen wir uns besser kennenlernen. Den zweiten Versuch unternahm DjaKonsumenten, sie setzen die verhängnis- Nahen Osten, 50 000 Tonnen nach Fernost. Zu welchem Preis das in Europa uner- mi, der ehemalige Automechaniker, nun volle Kettenreaktion in Gang, die in den Supermärkten Europas, der USA beginnt wünschte Fleisch im Zielland angeboten Redakteur der „Bauernstimme“. Er wohnund auf den Märkten von Kamerun endet. wird, bestimmen nicht so sehr die Produk- te in der Nähe des Hafens von Douala, er Es ist eine ununterbrochene Volksab- tionskosten in den Herstellungsländern, kannte ein paar Zöllner. Einen sprach er stimmung, ein globales Plebiszit, das statt- sondern die Kosten seiner Entsorgung im an, in einer Kneipe. Der Mann antwortete: findet an den Kühlregalen der Welt. Mit je- Fall des Nichtverkaufs. Seinen Gewinn hat Vielleicht kann ich helfen. Aber vorher dem Griff entscheiden Konsumenten über der Produzent in der Regel schon mit dem musst du zahlen. Ist das in Ordnung, fragten sich die vier. die Produktions- und die Lebensbedin- Erlös des Brustfilets erwirtschaftet. Die gungen von Hühnern, Puten, Gänsen und Vermarktung der Reste muss nur noch kos- Darf man ein korruptes System durch Korebenso über die Vermarktung des Fleisches tendeckend sein. So kann Fleisch für 80 ruption entlarven? Njongas Antwort: „Ja. Wer zu moralisch in einer vernetzten Welt. Gewünscht ist in Cent das Kilo verschifft, für 1,20 Euro verEuropa, in den USA, in allen wohlhaben- kauft werden, Tausende Kilometer vom ist, erreicht nichts, zumindest nicht in Kamerun.“ Njonga zahlte insgesamt den Ländern das Brustfilet, befreit vom Herkunftsland entfernt. 7000 Euro für die Listen. Sie Knochen, mager, fettarm. Der Rest der Tiewurden nachts in einem Ware ist hier fast unverkäuflich. Es ist eine Volksabstimmung, die gen übergeben. Das Geld Dem Wunsch der Konsumenten entsprechen die Hühnerzüchter. Sie schaffen an den Kühlregalen der Welt stattfindet. stammte vom Bauernverband. Rassen mit gigantischen Brüsten. WeltDie vier kannten jetzt die Lieferanten im In Kamerun sollte Bernard Njonga die weit sind es gerade einmal drei Firmen, die diesen Teil des Geflügelmarkts be- Invasion der Hähnchenschenkel stoppen. Ausland, die Käufer in Kamerun. Sie konnherrschen. Aviagen ist eine von ihnen, Aber wie? Das Fleisch wurde den Men- ten auch beweisen, dass es Korruption im sie ist im Besitz der niedersächsischen schen in Kamerun ja nicht aufgezwungen. Ministerium für Tierzucht gab, und sie erNjonga brauchte ein Argument, eine kannten, dass die korrupten Beamten Hühnermästerdynastie Wesjohann. Ihr Modell „Ross 708“ wird ausgeliefert mit Tatsache, irgendetwas, das dem importier- ebenfalls Anfänger waren. Oder sehr einem umfangreichen Handbuch, einer Be- ten Fleisch seinen Wettbewerbsvorteil neh- selbstsicher. In den Importbescheinigundienungsanleitung für die Kreatur, die er- men würde. Außerdem brauchte Njonga gen fand sich in der Rubrik Herkunftsland klärt, wie das komplizierte Wechsel- einen Gegner. Er wollte die Debatte emo- unter anderem die Angabe: Hohe See. Um den Ruf des Importfleisches ruiniespiel von Licht, Luft, Futter, Wasser in tionalisieren, er wollte einen Importstopp, den von der Außenwelt abgeschotteten mehr noch, er wollte ein Zeichen setzen ren zu können, ließ Njonga 200 Hähnchenschenkel vom Centre Pasteur in KaStällen gemanagt werden muss, um am für Kamerun, für ganz Afrika. Njonga war es leid, dass Afrikaner im- merun untersuchen. In Deutschland ist so Ende aus dem Huhn die maximale Leismer nur die Opfer sind, dass sie im Aus- etwas der nächste, logische Schritt. In Katung herauszuholen. Ist so ein Hähnchen schlachtreif, wird es land so gesehen werden, dass sie sich selbst merun nicht. Hier haben Privatpersonen getötet, zerlegt, verpackt, verkauft, und so sehen. Njonga wollte beweisen, dass die nicht die Aufgabe, die Qualität der Leseine Glieder werden verschifft, kreuz und Rollenverteilung in der globalisierten Welt bensmittel landesweit zu untersuchen. Desquer über den Globus. Seine Füße landen kein Gottesurteil ist und dass Verhältnisse halb verschwand die Studie, unmittelbar nach ihrer Fertigstellung, und Njonga in Thailand, die Innereien in der früheren sich ändern lassen. Doch allein war das nicht möglich, er musste sich mit einer Kurzfassung begnüSowjetunion, die Flügel gehen nach China, die Schenkel nach Japan, Mexiko – und brauchte Helfer, denen er vertrauen konn- gen. Ein Mitarbeiter des Instituts spielte te, und er wählte drei Personen: Yvonne sie ihm zu. Njonga las: 83,5 Prozent der Afrika. 88

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Schenkel sind für den menschlichen Verzehr nicht mehr geeignet. Verantwortlich seien die Händler, die das tiefgefrorene Fleisch ungekühlt zu den Märkten im Land transportierten. Njonga jubelte. Er hatte, was er brauchte. Er konnte seine Kampagne beginnen, und er wollte klotzen, nicht kleckern. Auf Flugblätter und Broschüren ließ er Totenköpfe drucken, daneben in Rot die Warnung: Todesgefahr! Darunter ein Bild, das Hähnchenschenkel zeigt. Die Hühnerimporteure des Landes waren davon nicht begeistert, vor allem die Einflussreichen nicht, Männer wie Emmanuel Nana. Nana ist kahl, rund, er liebt das Vage, er sagt von sich, er sei im Import-, Exportgeschäft tätig. Andere sagen, ihm gehöre das Café, in dem er gern sitzt, der Block, zu dem das Café gehört und ein Gutteil des Viertels, in dem der Block steht. Spricht er über den Geflügelhandel sagt Nana: „Ein gutes Geschäft!“, und blickt dann melancholisch in sein Glas mit Tee. Ein paar tausend Tonnen habe er importiert. Er habe Njonga gedroht, wie viele andere Importeure, er habe mit ihm gestritten. Er habe Njonga von einem Kompromiss überzeugen wollen, von einem stufenweisen Abbau der Importe. „So hätten“, sagt Nana, „alle gewinnen können.“ Njonga wäre immer noch der Retter der Bauern, die Regierung hätte das Volk ge-

Dörflerinnen beim Zerteilen eines Huhns: Heute sind Hähnchen wieder ein Luxusgut

schützt, und die Importeure hätten noch ein paar Jahre Geschäfte machen können. Aber über diese Dinge habe Njonga nie reden wollen. Ihm sei es immer nur um seine Salmonellen gegangen, um die Volksgesundheit, um die Hähnchen des Todes. Nana schnauft verächtlich. Hähnchen des Todes. Hat er Njonga jemals zusammenschlagen lassen? „Nein“, lautet die Antwort, „ich bin Kaufmann, kein Krimineller.“ Die Monate der Kampagne sind für Njonga nur eine verschwommene Erinne-

rung, eine scheinbar unendliche Folge von zu kurzen Nächten, Dörfern, Vorträgen, Fragen und Antworten. Aber die Mühe wurde belohnt. Zu den Versammlungen, auch in abgelegenen Gegenden, kamen Hunderte, die Treffen dauerten bis spät in die Nacht. Jeder hatte etwas zu sagen. Es waren aufgeheizte Debatten, denn es ging nicht nur um Hähnchen an diesen Abenden, es ging auch um die Möglichkeit, gehört zu werden. Von der Regierung, den Importeuren, den Exporteuren, von Europa. Es ging um die Chance, die Ge-

Gesellschaft sellschaft zu verändern, wenigstens an einem Punkt. Es ging um Demokratie. Njonga organisierte Demonstrationen, Protestmärsche. Die Medien griffen das Thema auf, und selbst die Regierungspresse konnte die Kampagne nicht negieren. In seinen Interviews prangerte Njonga die Machenschaften der Importeure an, die Korruption im Ministerium für Viehzucht und nie den Präsidenten. Das war klug. Es gab Männer, Frauen, die dies von ihm forderten, die mehr wollten als ein hähnchenschenkelfreies Kamerun, sie wollten ein neues Kamerun, und Acdic sollte ihr Werkzeug sein. Aber Njonga wollte davon nichts wissen, er wollte keinen Aufstand. Er hatte andere Ziele. Seine Kampagne sollte ein gesamtgesellschaftlicher Volkshochschulkurs werden für mehr Demokratie, sie sollte Kamerun in einen Debattierclub verwandeln. Und so kam es. Kameruns Präsident ließ ihn gewähren, denn auch er profitierte. Biya konnte sich als Liberaler, als wahrer Demokrat beweisen. Im Parlament, auf der Straße, den Märkten, auf Hochzeitsfeiern, Beerdigungen, überall wurde gestritten über das Für und Wider der importierten Schenkel. Niemand konnte sich dem Thema entziehen. Jeder hatte eine Meinung, und die Meinung der Mehrheit lautete: Wir wollen keine Hähnchenschenkel mehr in Kamerun.

Am Ende meldete sich auch der Präsident zu Wort. Biya verurteilte die Machenschaften der Importeure, verdoppelte den Zoll auf importiertes Geflügel, erließ den einheimischen Bauern die Mehrwertsteuer für ihre Hühner und schlug sie auf den neuen Importzoll auf. Auf diese Weise wurde das importierte Fleisch so teuer wie das einheimische. Außerdem entließ der Präsident den Minister für Tierzucht. Mehr musste nicht getan werden. Den Rest erledigte die Marktwirtschaft. Die Händler blieben auf ihren Hähnchen sitzen. Die Importeure gaben auf. Der Import brach ein. Nun ist Kamerun nahezu hähn-

Ein weiterer Erfolg soll her, für Njonga, für Kamerun, für Afrika. Ob es gelingt, ist ungewiss, der Markt hat seine eigenen Gesetze. Das musste auch Njonga erfahren. Kühne + Heitz, der frühere Hauptimporteur von Geflügel nach Kamerun, liefert nun Fisch ins Land. Die Hähnchenschenkel landen jetzt in Ghana, und hier bedroht die Flut der importierten Keulen nicht nur die Geschäfte der einheimischen Geflügelmäster, sondern auch die der Rinderzüchter. Ihre Kunden wandern ab zum billigen, importierten Hühnerfleisch. Njonga hat die Züchter schon besucht, um ihren Widerstand zu organisieren, und auch im Kongo, in Kinshasa, wird seine Erfahrung nun geEs ging nicht nur um Hähnchen, braucht. es ging auch um Demokratie. In Kamerun sind Hähnchen jetzt wieder ein Luchenschenkelfrei, auf den Märkten werden xusgut, sie sind so teuer wie vor der Krise. nun wieder ganze Hähnchen verkauft, le- Das freut die Konsumenten nicht. Und bend, für sie braucht man keine Kühlkette. auch die Hühnermäster klagen, wenn sie Njonga hat gewonnen. Mit einer Hand- wie Fridolin Mvogo auf Markenküken anvoll Helfer gelang ihm, was sonst nur Na- gewiesen sind. tionen zugestanden wird: einen nationaEs fällt Mvogo schwer, die Produktion len Markt zu schließen, ihn abzuschotten wieder hochzufahren, denn diese Küken von der Globalisierung. Auch Acdic hat ge- sind zurzeit ein knappes, teures Gut. Das wonnen, es gibt jetzt neue Mitglieder, neue Angebot der Brütereien des Landes hinkt Ziele. Es geht um Tomaten, Zwiebeln, Reis, der Nachfrage stark hinterher. Mvogo muss importiert und unnötig, wie Njonga fin- geduldig sein. Eine Alternative hat er nicht, det. Kamerun kann sich selbst versorgen. denn er will, was alle wollen: irgendwann Das ist der Tenor der neuen Kampagne. ein Gewinner der Globalisierung sein. ™

Gesellschaft

Die Absteiger-Show Ortstermin: Auf der Fahrradmesse in Köln werden die Zweiräder immer autoähnlicher.

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Fahrradbereich“, sagt Jens Lischke. „Das hedonistische Element.“ Wahrscheinlich ist das nicht einfach. Entwicklungshistorisch ist das Fahrrad ähnlich wie die Käsereibe an einem Punkt angelangt, wo eigentlich alles getan ist. Der größte Vorteil des Fahrrads gegenüber dem Auto lag in seiner Einfachheit. Das Auto verstand man irgendwann nicht mehr. Man könnte das Fahrrad jetzt ein Fahrrad sein lassen, als unveränderlicher, ruhender Gegenpol zur unruhigen Welt. Wie in jeder Industrie ist das leider unmöglich. Die deutsche Autoindustrie soll in Zukunft ökologischere Autos bauen, sagt Angela Merkel. Sie soll sich, sozusagen, dem Fahrrad annähern. Dafür, so sieht es aus, werden die deutschen Fahrräder immer autoähnlicher. Das Reiseliegerad GrassHopper fx ist schon nahe dran. Technisch und ideologisch. „Fahrspaß, Sitzkomfort, Geschwindigkeit, Panoramablick“, sagt Paul Hollants. In 60 Sekunden faltbar, Komfortfederung, 17 Kilo schwer, zieht Anhänger bis 40 Kilo. Netzsitz mit optimaler Belüftung, auch urologisch unbedenklich, der Blutfluss im Genitalbereich wird nicht eingeschränkt. „Dazu kommt der kommunikative Aspekt“, sagt Hollants. „Man fällt auf.“ Die Kundschaft: Besserverdienende, städtisch, gebildet, kreativ. Der Radfahrer liegt auf dem Gerät ungefähr so, wie ein Rennfahrer in Formel-1-Boliden sitzt. Es gibt das faltbare Reiseliegerad auch mit Elektromotor. Im Prinzip fehlt nur noch ein Dach. Das Ventil war vermutlich die letzte Konstante im Fahrradgeschäft. Das Ventil schien weitgehend unveränderlich. Das Ventil war sensibel und ließ, leider, irgendwann Luft, es war die Achillesferse der ganzen Konstruktion. Aber das kann man jetzt auch vergessen. Die Firma Alligator, in Köln vertreten durch Karl-Jürgen Pieper, hat nach „30 oder 40 Jahren“ ein neues Ventil entwickelt. Das Blitzventil Universal passt auf alle Fahrradtypen, hat eine ZweistufenKegeldichtung, das Zwei-Dichtungskonzept gegen „Schleichluft“ und geht designmäßig neue Wege. „Das alte Modell hatte ’ne schwarze Kappe“, sagt Pieper. „Jetzt isse grün.“ Jochen-Martin Gutsch FOTOS: NORBERT ENKER

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Das Pedelec, in neuester Version, ist eine as neue Birdy, sagt Heiko Müller, habe eine verbesserte Rahmen- Art Mischform aus Menschenkraft und form. Es hat eine neue Birdy-Farbe, Maschine, ein bisschen Fahrrad, ein bissdie sechste. Limegreen. Das neue Birdy chen Auto. Ein Kompromiss. Das Pedelec ist leichter als das alte Birdy. Das alte bekämpft die letzten großen Ur-Probleme Birdy wog 10,4 Kilogramm, das neue des Fahrradfahrers: den Berg und den GeBirdy wiegt 10 Kilogramm. Müller und genwind. Ein Pedelec ist ein Fahrrad mit seine Leute haben noch mal 400 Gramm Elektromotor, aber kein Mofa. Man muss treten, damit der Motor arbeitet. „Das Perausgeholt, es muss immer weitergehen. Der Schwachpunkt des Klappfahrrads delec ist ein Fahrzeug, das nicht von alleiwar, ähnlich wie beim Klapptisch und ne fahren kann“, sagt Thomas Hummel. dem Klappmesser, von jeher das Klap- „Ein Pendlerfahrzeug für schnelle, urbane pen. Müller sagt, das Klappen sei heute Stadtmobilität. Bewegung ja, Anstrengung kein Problem mehr. Profis falten das nein. Man bewegt sich, kommt aber nicht Birdy in sieben Sekunden. Zusammen- verschwitzt ins Büro.“ gefaltet erinnert das Birdy an einen Klappstuhl mit Rädern, limegreen. Müller hat einen kleinen Stand aufgebaut, Tisch, Stuhl und das Birdy. Die IFMA ist die größte Fahrradmesse Europas, in der Pressemappe steht: Neuheitentermin zur IFMA. Vor dem Eingang Nord, Kölnmesse, gleich hinter der Taxizufahrt, stehen jetzt Müller und rund ein Dutzend andere Aussteller auf einer kleinen Betonfläche im Freien, wie die ersten Abgesandten der großen RadShow. Gut hundert Kilometer südöstlich läuft die IAA, die große AutoShow, dort spricht Angela Merkel, die Kanzlerin. Die Deutschen lieben das Auto und ihre Autoindustrie, es gibt in Deutschland rund 67 Millionen Fahrräder, aber im Herzen sind die Deutschen Autofahrer. Volkswagen-Country. Die Liegeradfahrerin in Köln: Urologisch unbedenklich traditionelle deutsche Mobilitätskarriere führt vom Dreirad über den RolDas ist die Pedelec-Idee. ler, das Fahrrad, das Moped, das MotorBatteriereichweite: 50 Kilometer. Höchstrad, was man auch auslassen kann, zum geschwindigkeit: 45 km/h. In zehn JahAuto. Wenn es gut läuft im Leben, werden ren haben sich die Marktverhältnisse die Autos dicker und schneller. Wenn es womöglich gedreht, zugunsten des Peschlecht läuft im Leben, fährt man Rad. delecs. Autos waren Aufsteigersymbole, Fahrräder Das Problem ist zurzeit noch das Image. Absteigersymbole. Das Pedelec gilt als Seniorenrad. Es ist Womöglich muss man das jetzt alles nicht lässig, Fahrradfahrer wollen heute vergessen. Der Benzinpreis, die Umwelt- auch ein bisschen lässig sein und nicht diskussion, die Parkplatznot, die Über- mehr mit hochgekrempeltem Hosenbein gewichtsdebatte – eigentlich spricht alles herumfahren. für das Fahrrad. Es hat, anders, als das Das Bandee ist ziemlich lässig. Das Auto, keine natürlichen Feinde. Alle fin- Bandee ist eine Umhängeschärpe in wageden das Fahrrad irgendwie gut. Das Fahr- mutigen Farben mit kleinen Taschen für rad ist die Zukunft, staufrei, emissionsfrei, Handy, Schlüssel, iPod, Geld, Zigaretten. null Gramm CO2 pro Kilometer. „Wir brauchen Mode und Lifestyle im

Wirtschaft

Trends

STROM

E.on kauft sich in Russland ein

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JOSE GIRIBAS

er deutsche Energiemulti E.on steigt mit hohen Investitionen in den russischen Strommarkt ein. Für einen Preis von etwa fünf Milliarden Dollar ersteigerte E.on am Freitag einen Anteil von rund 70 Prozent am Stromproduzenten OGK-4. Das Unternehmen ist eine von 20 russischen Stromgesellschaften, die in den nächsten Monaten privatisiert werden. OGK-4 verfügt über Gas- und Kohlekraftwerke mit einer Gesamtkapazität von etwa 8,6 Gigawatt. Weitere Kraftwerke mit einer Kapazität von annähernd 3 Gigawatt will E.on-Chef

Cromme, Löscher SIEMENS

eim Münchner Siemens-Konzern sind die Pläne weit gediehen, die Führungsstrukturen nach der aktuellen Korruptionsaffäre zu reformieren. Konkrete Details will der neue SiemensChef Peter Löscher allerdings noch nicht in der nächsten Aufsichtsratssitzung am Mittwoch dieser Woche vorstellen, sondern frühestens beim darauffolgenden Treffen Ende November. Die größten Chancen hat ein Modell, nach dem der Konzern bis 1988 organisiert war – und das Löscher mit Hilfe seines Chefkontrolleurs Gerhard Cromme gern reaktivieren würde. Danach sollen im Vorstand neben dem Vorsitzenden künftig maximal vier Top-Manager übergreifende Funktionen wie Personal, Finanzen oder die Entwicklung betreuen. Die bisher eigenständigen Geschäftsbereiche

T E L E KO M M U N I K AT I O N

Chaotische Kundenjagd bwohl der Streik bei der Deutschen Telekom längst beendet ist, warten O noch immer rund 150 000 Kunden auf ihren neuen DSL-Anschluss. Betroffen sind vor allem Haushalte, die den Anschluss nicht bei der Telekom direkt bestellt haben, sondern bei einem der vielen selbständigen Callcenter, die auf Provisionsbasis Aufträge an den rosa Riesen vermitteln. „Da herrscht das totale Chaos“, sagt ein Branchenkenner.

könnten, wie damals, in größeren Einheiten zusammengefasst werden und deren Chefs ebenfalls ins oberste Führungsgremium einrücken. Bisher haben dessen Mitglieder keine direkte operative Verantwortung. Die Zeit für den Umbau ist günstig: Bis zum Frühjahr scheiden vier der bislang noch elf Vorstände aus oder erreichen die Pensionsgrenze. Der Vertrag eines weiteren Managers im Vorruhestandsalter läuft ein Jahr später aus. Ihre Plätze könnten Manager aus den neuformierten Arbeitsgebieten einnehmen. Unklar ist bislang noch, was aus Siemens-Vorstand Eduardo Montes wird. Der Spanier war 2006 als Betreuer für die Kommunikationssparte geholt worden, die der Konzern wenig später in eine Kooperation mit Nokia einbrachte.

Wegen der hohen Provisionen gingen in den vergangenen Monaten Hunderte von Firmen für die Telekom auf Kundenfang – oft mit dubiosen Methoden. Selbst Betriebe in der Türkei, Rumänien oder auf Teneriffa beteiligten sich. Doch Zigtausende dieser Neukunden sind noch nicht einmal bei der Telekom registriert, da die Aufträge über bis zu vier Vermittler wandern, ehe sie am Ziel ankommen. Besonders groß ist der Wirrwarr bei der Yezz-tele.com aus Darmstadt. Dort ist der Stand von mehr als 30 000 DSL-Verträgen, die wiederum von Dutzenden kleineren Callcentern d e r

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OGK-4-Kraftwerk

Wulf Bernotat in den nächsten Jahren aufbauen. Ziel der Aktion ist es, in dem rasant wachsenden russischen Strommarkt Bernotat Fuß zu fassen. Nach einer ähnlichen Übernahme ist mit der italienischen Enel bereits ein großer europäischer Konkurrent von E.on in Russland vertreten. Weitere dürften folgen.

eingereicht wurden, völlig ungeklärt. Weil die Stornoquote bei den über Yezz vermittelten Verträgen besonders hoch war, weigert sich die Telekom seit einiger Zeit, die Verträge aus Darmstadt anzunehmen. Seither versucht Yezz, die Abschlüsse über andere Firmen bei der Telekom zu plazieren. Einen Teil der Kunden, die einen Telekom-Vertrag akzeptiert hatten, soll Yezz sogar kurzerhand an den Konkurrenten Freenet weitergeleitet haben. Das allerdings, sagt Yezz-Geschäftsführer Karl-Heinz Kaspar, sei „von Mitarbeitern ohne mein Wissen veranlasst worden“. 97

FRANK AUGSTEIN / AP

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MARINA LYSTSEVA / ITAR-TASS

Zurück in die Zukunft

Trends

Wirtschaft FINANZMARKT

Northern-Rock-Krise trifft deutsche Fonds

BEN STANSALL / AFP

men wie Granite, Dolerite und Whinstone. Auch deutsche Fonds deckten sich mit den großzügig verzinsten Papieren ein. So halten etwa DWS-Fonds laut Halbjahresberichten Positionen von Granite. Allianz-Fonds investierten in Granite und Dolerite. „Diese Papiere leiden alle“, sagt Dominique Linder, Experte für besicherte Wertpapiere bei der Allianz. Da Northern Rock für die verkauften Hypotheken immer noch die Abwicklung der Zinseinnahmen übernehme, „besteht nun bei Investoren die Angst, dass es dort zu Störungen kommen könnte“. Auch Landesbanken wie die LBBW und die BayernLB dürften laut Insidern von der Northern-Rock-Krise betroffen sein. In ihren umstrittenen Investmentvehikeln, die außerhalb der Bilanz installiert wurden, stecken milliardenschwere Pakete mit verbrieften, britischen Hypotheken. Zur genauen Zusammensetzung will man aber weder in München noch in Stuttgart eine Stellungnahme abgeben.

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ie Krise beim britischen Hypothekenfinanzierer Northern Rock könnte auch deutsche Anleger und Banken treffen. Der fünftgrößte Baufinanzierer auf der Insel war vergangene Woche wegen der US-Hypothekenkrise in Refinanzierungsprobleme geraten und musste von der britischen Notenbank mit einer Finanzspritze gerettet werden. Wie die amerikanischen Branchenkollegen hatte Northern Rock jahrelang Immobilienfinanzierungen an Investoren weiterverkauft. Die komplexen Finanzinstrumente haben so schillernde Na-

BERUFSFORSCHUNG

Ein Neuer für Nürnberg euer Chef des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wird N der Regensburger

sprochen, die nicht zu hoch ausfallen dürfen und nach Regionen oder Berufsgruppen differenziert sind. Möller folgt der Soziologieprofessorin Jutta Allmendinger, die seit diesem Jahr das Wissenschaftszentrum Berlin leitet.

Ökonom Joachim Möller. Darauf haben sich die Spitzen der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit verständigt, zu der das Institut gehört. Möller ist als Arbeitsmarkt- und Regionalforscher bislang vor allem mit empirischen Arbeiten hervorgetreten. Einer ideologischen Schule ist er nicht zuzurechnen. So hat er sich in der Debatte um Mindestlöhne für die Einführung von Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg Verdienstgrenzen ausged e r

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FRANZ ROTH / PRESSEBÜROROTH

Northern-Rock-Filiale (in London)

LUTZ BONGARTS / INSIDE-PICTURE

Wirtschaft

VW-Chef Winterkorn, -Aufsichtsratsvorsitzender Piëch: „Man darf die Mitarbeiter nicht demotivieren“

AU TOI N D U ST R I E

Schleichende Entmachtung Seit der Sportwagenbauer Porsche seinen Anteil am Volkswagen-Konzern weiter ausbaut, fürchten Manager und Betriebsräte von Europas größtem Autohersteller um ihren Einfluss. Zu Recht: Porsche-Chef Wendelin Wiedeking ist kein Freund der Wolfsburger Konsenskultur.

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s war Mittwochmittag vergangener Woche, als die beiden breitschultrigen Männer mit den kahlgeschorenen Schädeln in einem Besprechungszimmer verschwanden. Mit ernster Miene hatten VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh und Porsches Arbeitnehmervertreter Uwe Hück den Porsche-Stand auf der Internationalen Automobilausstellung (IAA) betreten. Und als sie die Tür hinter sich schlossen, wirkte dies, als wollten sie ihren Streit jetzt handfest austragen. In diesem Fall hätte es nur einen Sieger geben können. Hück war zweimal Europameister im Thaiboxen. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Arbeiterführern ist nur einer von vielen Konflikten zwischen dem VW-Konzern und seinem neuen Großaktionär Porsche, die jetzt, zwei Jahre nach dem Einstieg der Stuttgarter in Wolfsburg, ganz offen ausbrechen. 100

Es begann damit, dass Porsche-Boss Wendelin Wiedeking mit Blick auf den besonders starken Einfluss der Wolfsburger Betriebsräte und auf den VW-Haustarifvertrag sagte, es dürfe „keine heiligen Kühe geben“. Man müsse permanent alles hinterfragen, „ist das noch zeitgemäß, passt das noch?“ Damit zog Wiedeking, der sich gern als Freund der Arbeiter gibt, den Zorn der IG-Metaller auf sich. Einer drohte gar, VW-Arbeiter könnten die Lieferungen von Karosserien an Porsche blockieren. Und nun nutzten beide Seiten die IAA für den Austausch von Unfreundlichkeiten. Zuerst sprang VW-Chef Martin Winterkorn seinen Arbeitnehmern bei und positionierte sich damit gegen Wiedeking. „Wir diskutieren im Moment den Haustarif nicht“, sagt er und schob noch hinterher, man dürfe „die Mitarbeiter nicht demotivieren“. d e r

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Daraufhin gab Wiedeking dem VW-Boss eins mit. Der VW-Konzern habe „noch viele Baustellen“, sagte er. Die Angebotspalette könne ausgeweitet werden, die Marken könnten besser abgestimmt werden. „Da kann noch viel optimiert werden.“ Ein VW-Manager wiederum warf Wiedeking vor, der habe als VW-Aufsichtsrat die Vertragsverlängerung für den früheren VW-Chef Bernd Pischetsrieder durchgesetzt und ein halbes Jahr später seiner Entlassung zugestimmt. Das kostet den Konzern Millionen, die er noch an den Frühpensionär Pischetsrieder überweisen muss. Szenen eines Machtkampfs. Nach dem Einstieg Porsches beim VW-Konzern geht es vor allem um zwei Fragen: Wer führt den Wolfsburger Automobilkonzern, VWChef Winterkorn, Porsche-Boss Wiedeking oder Ferdinand Piëch, der Aufsichtsratsvorsitzende von VW und Miteigentümer bei Porsche? Und wie stark wird

THOMAS IMO / PHOTOTHEK (L.); BERND WEIßBROD / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (U.)

Porsche-Chef Wiedeking

„Dann geht es bum, bum, bum“

die Macht der Wolfsburger Betriebsräte beschnitten? Die Besitzverhältnisse sind klar. Porsche hält 31 Prozent der VW-Aktien, und wenn das VW-Gesetz erst einmal gefallen ist, das den Einfluss jedes Aktionärs auf maximal 20 Prozent der Stimmrechte begrenzt, wollen die Stuttgarter ihren Anteil auf 51 Prozent erhöhen. Der Weltkonzern VW mit knapp 105 Milliarden Euro Umsatz und 324 900 Beschäftigten wird dann zur Tochtergesell-

schaft der Stuttgarter Autofirma, die gerade mal sieben Milliarden erwirtschaftet und 11 400 Mitarbeiter beschäftigt. Nicht der Große übernimmt den Kleinen, Porsche schluckt VW – ein in der Geschichte der Übernahmen eher seltener Vorgang. Zum Teil rühren die Machtkämpfe sicher daher, dass Manager und Betriebsräte bei VW noch gar nicht glauben können, was mit dem größten Autohersteller Europas, dem fünftgrößten der Welt, geschieht. Zudem prallen da zwei Unternehmenskulturen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Porsche war 1993 von der Pleite bedroht und hat sich anschließend durch harte Sanierung und erfolgreiche Modellpolitik zum profitabelsten Autohersteller weltweit hochgearbeitet. Wiedeking drückt auch in Jahren mit Rekordgewinnen die Kosten weiter runter. „Der ist so knauserig“, sagt sein Betriebsrat Hück, „dass er sich am zweiten Advent mit einer Kerze vor den Spiegel stellt.“ Die Auseinandersetzungen zwischen Vorstand und Betriebsrat sind deshalb hart. Hück sagt, das sei „nichts für Weicheier“. Aber er akzeptiert, dass jedes Modell und jede Fabrik profitabel sein muss, „denn sonst sind die Arbeitsplätze auf Dauer nicht zu halten“. Im VW-Konzern dagegen pflegten Betriebsrat und Vorstand jahrelang einen Nichtangriffspakt. Das Management ließ den teuren Haustarifvertrag unangetastet, die Arbeitnehmer gewährten dem Vorstand im Gegenzug freie Fahrt bei seinen Luxusprojekten Lamborghini, Bentley, Bugatti und dem Phaeton. Bei den Fabriken galt die Mischkalkulation. Ein profitables Werk musste andere subventionieren, die Verluste erwirtschafteten. Bei den verschiedenen Konzernmarken war es ebenso. Das Unternehmen wurde dadurch geschwächt. Aber Vorstände und Betriebsräte lebten in diesem System so prächtig,

Wolfsburger Stiefkinder

AUFSICHTSRAT Vorsitzender: Wolfgang Porsche

Struktur der neuen Porsche Holding

Arbeitgebervertreter: Ferdinand Oliver Porsche Hans-Peter Porsche Ferdinand Piëch Hans Michel Piëch Ulrich Lehner

EIGENTÜMER Familien Porsche und Piëch 100 % der Stammaktien

PORSCHE AUTOMOBIL HOLDING SE Vorstandsvorsitzender: Wendelin Wiedeking Stellvertreter: Holger Härter

100 % PORSCHE AG

31 %

dass es eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, die Arbeitnehmervertreter mit Luxusreisen und -prostituierten gewogen zu stimmen. Nach dem Porsche-Einstieg bei VW verbreitete sich in Wolfsburg der Eindruck, es gehe weiter wie bisher, besonders nachdem der Sanierer Wolfgang Bernhard aus dem Konzern gedrängt wurde. Mit VWChef Winterkorn und dem Aufsichtsratsboss Piëch hatten die Arbeitnehmer jahrelang gute Erfahrungen gemacht. Und als die beiden zusammen mit Betriebsratschef Bernd Osterloh im Januar dieses Jahres über die Auto-Show in Detroit spazierten, schien klar, dass das Macht-Triumvirat des VW-Konzerns zu besichtigen war. Im Aufsichtsrat des Konzerns aber ging es längst ganz anders zur Sache. Wiedeking und sein Finanzvorstand Holger Härter halten nichts davon, strittige Fragen in kleinen Runden vorab zu klären. Sie löcherten den Vorstand vor versammelter Aufsichtsratsrunde. Warum werden in den USA und in Brasilien seit Jahren Milliardenverluste hingenommen, ohne ein Konzept für diese Märkte zu entwickeln? Warum dümpelt Seat vor sich hin? Warum ist der VW-Konzern in Asien, mit Ausnahme von China, nur schwach vertreten? Die beiden Neuen legten mitunter mehr Folien auf als der Vorstand. Sie präsentierten Vergleiche mit Toyota, die wenig schmeichelhaft für VW ausfielen. Und sie hinterfragten auch die scheinbaren Erfolgsgeschichten der Tochtergesellschaften μkoda und Audi. μkoda bedient sich großzügig im Technikbaukasten des Konzerns, der tschechische Ableger stattet seine Modelle beispielsweise mit den modernsten Doppelkupplungsgetrieben aus und bietet die Autos dann deutlich billiger an als die vergleichbaren Volkswagen-Modelle. So wuchs μkoda auch zu Lasten von VW. Wiedeking und Härter forderten deshalb, dass μkoda

Stellvertretender Uwe Hück (PorscheVorsitzender: Betriebsratschef)

: P L A Nh u n g Erhö 1%… auf 5

VOLKSWAGEN AG

6 Arbeitnehmervertreter von Porsche eils n jew r… dan eitnehme b r n A o v 3 eter ve r t r h e u n d s r Po c w a g e n Volks d e r

s p i e g e l

Porsche-Aufsichtsratschef Porsche

Mit Wiedekings Kurs einverstanden 3 8 / 2 0 0 7

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Wirtschaft als Einstiegsmarke des Konzerns neu positioniert wird. Bei Audi stieß ihnen seltsam auf, dass die Ingolstädter ihren Absatz in den vergangenen Jahren zwar von gut 650 000 auf mehr als 900 000 Fahrzeuge steigerten. Die Rendite ist im Vergleich dazu aber viel zu gering. Der Verdacht liegt nahe, dass Audi vor allem die Absatzzahlen im Blick hatte und weniger den Gewinn. Langjährige VW-Aufsichtsräte überraschte auch, dass Wiedeking gleich zu Beginn eine neue Richtlinie für den gesamten Konzern vorgab: Es dürfe keine Modelle oder Marken mehr geben, die langfristig keine Gewinne erwirtschaften. Oder, wie er es formulierte: „Die Zeit der teuren Spielzeuge ist vorbei.“ Gemeint sind dabei offensichtlich Marken wie Bentley und Bugatti, die trotz Gewinnen im laufenden Geschäft auch in zehn Jahren kaum ihre gesamten Investitionskosten wieder einfahren dürften. So etwas dürfte es künftig kaum geben. Offen ist deshalb aber auch, ob das Oberklassemodell Phaeton, eines der Lieblingsvorhaben Piëchs, einen Nachfolger erhält. Das Auto ist technisch gut, wirtschaftlich aber ein Flop. Die Investitionen von rund einer Milliarde für das Auto und knapp 190 Millionen Euro für die Gläserne Manufaktur in Dresden kann es nie verdienen. Investitionen für einen Nachfolger

sollen erst freigegeben werden, wenn VWChef Winterkorn vorrechnet, dass das neue Modell auch Gewinne erwirtschaften kann. Ähnlich hart reagierten Wiedeking und Härter im VW-Aufsichtsrat auch, als über ein Hilfsprojekt für den notleidenden Karosseriebauer Karmann in Osnabrück diskutiert wurde: Volkswagen könne ein Sondermodell bei Karmann bauen lassen und dort die Arbeitsplätze sichern. Früher gingen solche Projekte im Kontrollgremium glatt durch. Die Vertreter des Landes Niedersachsen im VW-Aufsichtsrat waren froh, dass Jobs in ihrem Bundesland gesichert wurden, und der Vorstand hatte bei diesen Kontrolleuren wieder etwas gut. Nun aber blockierten die beiden Porsche-Vertreter. Solange die Fabriken von Volkswagen nicht ausgelastet seien, dürfe kein Auto bei einem anderen Unternehmen produziert werden. Zuerst gelte es, die Jobs in den deutschen VW-Fabriken zu sichern. Aus diesem Grund war der PorscheChef auch dafür, dass die VW-Fabrik in Brüssel geschlossen wird. Die Produktion sollte auf die deutschen Werke aufgeteilt werden. Doch in diesem Fall wurde der forsche Porsche-Boss von VW-Chef Winterkorn, Aufsichtsratschef Piëch und Betriebsrat Osterloh ausgebremst. Die Tochter Audi, bei der Wiedeking nicht im Aufsichtsrat sitzt, beschloss, den

VW-Produktion (in Wolfsburg): „Die Zeit der teuren

geplanten Kleinwagen A1 in Brüssel zu bauen. Die Fabrik kann dadurch erhalten bleiben. Sie wird nun offiziell zum AudiWerk umgerüstet. Ob dies sinnvoll ist, kann bezweifelt werden. Wenn Audi ein neues Werk braucht, dann in den USA. Eine Produktion dort könnte helfen, die Verluste wegen des schwachen Dollars zu verringern. Den A1 hätte Audi in einer seiner deutschen Fabriken fertigen und dafür den A3 teilweise in Wolfsburg bauen können.

PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF

Spielzeuge ist vorbei“

In Zukunft dürfte es schwieriger werden, an den VW-Kontrolleuren Wiedeking und Härter vorbei solche Entscheidungen durchzusetzen. Die beiden haben eine raffinierte Konzernstruktur vorbereitet, durch die VW künftig viel straffer zu kontrollieren und zu führen ist. Das neue Machtzentrum wird die Porsche Automobil Holding SE. Die Aktiengesellschaft nach europäischem Recht, die den Familienstämmen Porsche und Piëch gehört, hält alle Stammaktien an der Sport-

wagenfirma Porsche und die Anteile an VW. Vorstandsvorsitzender der Holding ist Wiedeking, Stellvertreter Härter. Für VWChef Winterkorn ist darin kein Platz vorgesehen. Wenn Porsche 51 Prozent der VW-Anteile besitzt, ist Volkswagen offiziell ein Teilkonzern der Holding. Wesentliche Entscheidungen für VW werden dann dort getroffen. Zustimmen muss der Aufsichtsrat der Porsche Holding. Und in diesem ist die Macht ganz anders verteilt als im Aufsichtsrat des VW-Konzerns. In der Öffentlichkeit gilt Ferdinand Piëch zwar als die alles beherrschende Figur der beiden Familienstämme. Er ist der Auto-Guru, der das Erbe des Käfer-Erfinders Ferdinand Porsche angetreten hat und im Scheinwerferlicht steht, wenn er über die IAA schlendert. Aber im Porsche-Aufsichtsrat ist er nur ein gewöhnliches Mitglied und hat neben sich nur seinen Bruder Hans Michel als Vertreter des PiëchStamms. Die Familie Porsche dagegen ist mit drei Mitgliedern präsent – und stellt mit Wolfgang Porsche sogar den Vorsitzenden des Kontrollgremiums. Diese Gewichtsverteilung spiegelt die Kapitalanteile wider: Die Porsches halten durchgerechnet 53,7 Prozent der Stammaktien, die Piëchs nur 46,8 Prozent. Hintergrund ist eine Geschichte aus dem Jahr 1983, die bislang wenig bekannt ist:

Damals hatte ein Piëch, Ernst, seine Anteile heimlich an einen Investor verkauft. Die beiden Familienzweige kauften sie anschließend gemeinsam wieder zurück. Und dadurch gelangte ein Teil der früheren Piëch-Aktien in die Hände der Porsches. Je stärker die Porsche-Holding nun wird, umso mehr muss Piëch um seine Macht fürchten. Er könnte Wiedeking nur bremsen, wenn Porsche-Vertreter ihm folgen. Doch die finden den Kurs des PorscheChefs bei der Beteiligung Volkswagen genau richtig. VW soll stärker nach wirtschaftlichen Kriterien geführt werden. Im Aufsichtsrat des VW-Konzerns hat Ferdinand Piëch es oft verstanden, mit Hilfe der Arbeitnehmer eine Stimmenmehrheit zu organisieren. Im Aufsichtsrat der Porsche-Holding dürfte dies kaum gelingen. Dort werden, wenn Porsche die Mehrheit an VW übernommen hat, nur drei Arbeitnehmer von Volkswagen vertreten sein, aber auch drei von Porsche, die geschlossen hinter Wiedeking stehen. Die Arbeitnehmervertreter in Wolfsburg sind wegen dieser Regelung sauer. Sie finden es undemokratisch, dass die mehr als 300 000 VW-Beschäftigten künftig nur durch drei Aufsichtsräte vertreten sind, während gut 10 000 Porsche-Arbeitnehmer ebenfalls von drei Aufsichtsräten repräsentiert werden. Vor allem stört sie, dass dieser Vertrag praktisch unkündbar ist und

Dietmar Hawranek

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Moderner Bioenergiepark: Den Ansprüchen der umweltbewussten Kunden gerecht werden ENERGIE

Ökologisch veredelt In die Gasbranche kommt Bewegung. Ein Hamburger Ökostromanbieter drängt überregional in den verkrusteten Markt, weitere Unternehmen wollen folgen.

H

arte Auseinandersetzungen mit den milliardenschweren Energieversorgern ist man bei Lichtblick gewöhnt. Als einer der ersten Wettbewerber auf dem Strommarkt hat das kleine Hamburger Unternehmen in der Vergangenheit bereits so manchen Strauß mit E.on, RWE und Co. ausgefochten. Mal ging es vor dem Bundeskartellamt um überhöhte Durchleitungsgebühren, dann wieder vor ordentlichen Gerichten um die Einschüchterung wechselwilliger Kunden oder völlig überhöhte Abrechnungen der großen Stromversorger. „Fair und einfach“, erinnert sich Lichtblick-Manager Gero Lücking, „ging eigentlich gar nichts in den vergangenen Jahren.“ Um jeden einzelnen Kunden haben Energiemultis und Stadtwerke mit äußerst harten Bandagen gekämpft – und ein Ende des zermürbenden Kleinkriegs ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Von Montag dieser Woche an dürften Energieversorger und Stadtwerke sogar noch etwas genauer hinsehen, was der unliebsame Störenfried aus Hamburg treibt. Dann nämlich wollen Lichtblick-Geschäftsführer Heiko von Tschischwitz und sein Partner Wilfried Gillrath in eine weitere hartumkämpfte Domäne der etablierten Energieversorger vorstoßen. In fünf Bundesländern will Lichtblick ein flächendeckendes Gasversorgungsand e r

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gebot vorlegen. „In Hamburg, Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein werden Millionen Kunden und kleinere Haushalte erstmals die Möglichkeit erhalten, zu einem unabhängigen Gasanbieter zu wechseln“, verspricht Tschischwitz. Bis Mitte nächsten Jahres, so die interne Unternehmensplanung, soll das Angebot sogar auf die gesamte Republik ausgedehnt werden. Spätestens dann sollen die Kunden in Scharen wechseln und nicht nur Ökostrom, sondern auch Gas

INGO RÖHRBEIN / ULLSTEIN BILD

abgeschlossen wurde, als sie selbst noch nicht mitverhandeln durften. VW-Betriebsratschef Osterloh prüft deshalb, ob er Klage gegen die Mitbestimmungsvereinbarung einreicht. Letztlich hätten Hück und Wiedeking einen Vertrag zu Lasten Dritter, der Belegschaft des VWKonzerns, abgeschlossen. Osterloh ist wohl auch deshalb so kampfeswillig, weil er schon bewiesen hat, dass er einen Reformkurs bei VW keineswegs blockiert. So hat er im vergangenen Jahr einem neuen Tarifvertrag zugestimmt, durch den die Arbeitszeit von 28,8 auf 33 Stunden ohne Lohnausgleich erhöht wird, und muss sich dafür noch immer von Teilen der Belegschaft kritisieren lassen. Wiedeking muss aufpassen, dass er nicht überzieht. Wenn bei der VW-Belegschaft der Eindruck entsteht, Porsche sei ein feindlicher Eroberer, wird es schwer, den Konzern erfolgreich zu führen. „Ich will doch der VW-Belegschaft nicht an den Lohn“, versicherte er deshalb einem Gewerkschafter, „und ich will auch nicht an die Arbeitsplätze.“ Im Gegenteil: Er wolle VW nur so erfolgreich machen, dass die Arbeitsplätze in Deutschland dauerhaft gesichert seien, wie er es bei Porsche schon erreicht habe. Den drohenden Konflikt mit der Belegschaft will Wiedeking schnell beilegen. Einen Vielfrontenkrieg kann auch er sich nicht leisten. Denn er muss damit rechnen, dass VW-Aufsichtsratschef Piëch sich noch etwas einfallen lässt, um seine schleichende Entmachtung aufzuhalten. Vorsichtig agieren muss Wiedeking auch bei Winterkorn. Er sagt, dass er den VWChef schätze. Aber dann darf er nicht den Eindruck vermitteln, die wichtigen Entscheidungen würden in Stuttgart getroffen. Schließlich ist Winterkorn in pausenlosem Einsatz dabei, die Schwachstellen des VWKonzerns zu beseitigen. Der Techniker, der in früheren Jahren locker die Budgets überzog, um aufwendigste Technik in die Modelle einzubauen, achtet jetzt eisern auf die Kosten. Einen deutlich geringeren Entscheidungsspielraum aber werden die bislang starken Chefs der einzelnen Marken, von Seat, μkoda und Audi etwa, bekommen. Sie sollen nicht mehr gegeneinander antreten wie bislang, sondern gemeinsam gegen Toyota. Das ist Wiedekings oberstes Ziel: VW soll so erfolgreich werden wie der japanische Autokonzern. Es ist ein eher langfristiges Projekt. Kurzfristig aber ist noch mit Störfeuer zu rechnen. Sein direkter Führungsstil – „dann geht es bum, bum, bum“ – stößt manchem in Wolfsburg übel auf. „So kann man ein Unternehmen führen, das 100000 Autos einer Marke produziert“, sagt ein hochrangiger VW-Manager, „aber keinen Konzern mit acht Marken und sechs Millionen Fahrzeugen.“

Strommanager Tschischwitz, Gillrath

„Fair und einfach ging eigentlich nichts“

PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF

Wirtschaft

von dem kleinen Hamburger Unternehmen beziehen. Zum Erstaunen vieler Konkurrenten konnte sich Lichtblick bei Energiemultis wie Shell und BP nicht nur mit langfristigen Lieferverträgen für Gas eindecken. Um die Ansprüche der zunehmend umweltbewussten Kunden zu befriedigen, wartet das Unternehmen auch noch mit einer echten Marktneuheit auf: Die von Lichtblick ins Netz eingestellte Gasmenge wird nämlich mindestens fünf Prozent Biogas enthalten. Dieses Gas wird in einer hochmodernen Biogasanlage in Brandenburg erzeugt, zu Erdgasqualität aufbereitet und dann in das allgemeine Netz eingespeist. Trotz dieser ökologischen Veredelung ist das Produkt mit einem monatlichen Grundpreis von 9,90 Euro und 6,25 Cent pro Kilowattstunde durchaus konkurrenzfähig. Der überraschende Coup von Lichtblick ist für das mittelständische Unternehmen mit seinen rund 250 Angestellten eine gewaltige Herausforderung, für die verkrustete Branche markiert er eine Zäsur: den langersehnten Durchbruch zu mehr Wettbewerb auf dem deutschen Gasmarkt. Offiziell wurde der Markt mit einem Umsatzvolumen von jährlich rund 40 Milliarden Euro bereits vor fast zehn Jahren für den Wettbewerb freigegeben. Geschehen ist seitdem jedoch herzlich wenig. In der Strombranche konnten sich inzwischen wenigstens einige kleine, unabhängige Wettbewerber wie Lichtblick oder Nuon neben den großen vier Versorgern etablieren, im Gasmarkt dagegen bewegte sich bis heute so gut wie nichts. Die wenigen Alternativangebote, die es gibt, sind wie in Hamburg oder Berlin entweder lokal begrenzt. Oder es handelt sich um nicht sehr ernst gemeinte Scheinangebote großer Multis, mit denen eigentlich nur kaschiert

werden soll, dass es auf dem Gasmarkt bis heute keinen Wettbewerb gibt. E.ons „E wie einfach“ etwa liegt immer nur minimal unter dem Standardangebot des regionalen Anbieters. Tatsächlich nämlich verteidigen Platzhirsche wie E.on Ruhrgas, große Regionalversorgungsgesellschaften oder Stadtwerke den seit Jahren untereinander fein säuberlich aufgeteilten Milliardenmarkt mit allen nur erdenklichen Mitteln. Jeder noch so kleine Eindringling wird verjagt. Gegen Anordnungen von Behörden oder Kartellämtern setzen sich die Unternehmen gerichtlich zur Wehr – wenn möglich durch alle Instanzen. Die fatale Folge: Während die Gewinne vieler Versorger Jahr für Jahr auf neue Rekordstände kletterten, ächzten die Verbraucher unter steigenden Gaspreisen. So betrug die Gasrechnung für einen durchschnittlichen Haushalt 1999 noch etwa 800 Euro, inzwischen sind rund 1800 Euro jährlich fällig. Zwar sind auch die Bezugspreise für die Gaskonzerne in diesem Zeitraum kräftig gestiegen – aber noch kräftiger langten diese bei ihren Kunden zu. Selbst die Politik schaute dem Treiben lange Zeit tatenlos zu. Sie wurde erst aktiv, als sich vor zwei Jahren, unterstützt von Verbraucherverbänden, sogar Bürgerinitiativen gründeten, um gerichtlich gegen Gasversorger vorzugehen. Damals beauftragte die Regierung die Bundesnetzagentur mit ihrem umtriebigen Chef Matthias Kurth, die veranschlagten Kosten der Gasbetreiber genauer unter die Lupe zu nehmen. Außerdem sollte die Behörde verbindliche Spielregeln festlegen, nach denen Wettbewerber künftig die Netze der Gebietsmonopolisten nutzen dürfen – mit ersten kleinen Erfolgen. So kürzte Kurth die beantragten Netzgebühren der Gasanbieter zum Teil drastisch zusammen. Außerdem entwickelte seine Behörde ein erstes, zumindest in Ansätzen brauchbares Netzzugangsmodell. Danach sind die örtlichen Versorger verpflichtet, Konkurrenten innerhalb von sieben Tagen konkrete Verträge und Konditionen für eine Netznutzung zu schicken, wenn die einen Kunden in ihrem Versorgungsgebiet beliefern wollen. Genau hier setzt Lichtblick nun an. „Von Quickborn bis Berlin“, so Lücking, „werden wir mit jedem Stadtwerk und jedem Versorger streiten, der uns dieses Recht verwehren sollte – notfalls auch vor Gericht.“ Erfahrungen mit dieser Art des Häuserkampfs hat Lichtblick in den vergangenen Jahren im Strommarkt in ausreichender Menge gesammelt. Rund 330 000 Kunden konnte das Unternehmen dort inzwischen zum Wechsel bewegen. Damit ist Lichtblick nach eigenen Angaben nicht nur Deutschlands erfolgreichster Ökostromd e r

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anbieter, sondern auch der größte unabhängige Anbieter von Stromprodukten überhaupt. Kein Wunder, dass die kleine Truppe optimistisch ist, genügend Interessenten für ihren Gastarif zu finden. Schon in der ersten Woche sollen in den fünf Startländern 130 000 Lichtblick-Stromkunden persönlich angeschrieben und zu einem Wechsel bewegt werden. Außerdem ist eine breite Kampagne geplant, mit der Tausende Kunden für das neue Angebot gewonnen werden sollen. Ein Erfolg von Lichtblick im Gasmarkt dürfte jedoch nicht nur die Manager und Mitarbeiter des Unternehmens freuen. Es wäre tatsächlich auch ein riesiger Schritt für mehr Wettbewerb, heißt es etwa bei der Bundesnetzagentur in Bonn. Denn nicht nur Lichtblick, weiß man dort, hat sich in den vergangenen Wochen gewissenhaft auf einen Markteintritt vor-

Deutscher Energiemix Anteil der Energieträger am Primärenergieverbrauch 2006 Veränderung* seit 1990:

erneuerbare Energien und sonstige + 4,5

5,9

Kernenergie + 1,3

12,5

Braunkohle – 10,7

10,8

%

Mineralöl

35,4

+ 0,4

Steinkohle – 2,6

12,9 Erdgas 22,5 + 100%

+ 7,1

Gaspreis** Veränderung gegenüber 1998

+ 50 % * in Prozentpunkten ** für Privathaushalte

1998

2000

02

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0%

Juli 2007

bereitet. Auch andere Unternehmen, wie etwa die deutsche Tochter des niederländischen Energieunternehmens Nuon, die EnBW-Tochter Yello oder die RWE-Vertriebstochter Eprimo, stehen in den Startlöchern. Sollte das Lichtblick-Angebot im Markt gut angenommen werden, dürften wohl auch die anderen Anbieter mit eigenen Angeboten kontern. Fast zehn Jahre nach der Öffnung des Marktes könnte sich der Wunsch vieler Verbraucher, ihren Gasanbieter zu wechseln, dann doch noch erfüllen. Frank Dohmen 105

MICHAEL DANNENMANN

Airline-Boss Hunold: „In manche Minenfelder bin ich vielleicht zu naiv reingerannt“ SPI EGEL-GESPRÄCH

„Der Spaß wird weniger“ Air-Berlin-Chef Joachim Hunold, 58, über das rasante Wachstum seiner Fluggesellschaft, neue Übernahmegerüchte und seine Ausrutscher auf dem glatten Börsenparkett SPIEGEL: Herr Hunold, die jüngsten Zahlen von Air Berlin wirken besorgniserregend: Die Prognosen wurden nach unten korrigiert, der Aktienkurs rutschte mal wieder in den Keller. Haben die Deutschen das Reisen verlernt oder Sie das Geschäft? Hunold: Schlechte Zahlen im zweiten Quartal musste nicht nur Air Berlin ertragen, sondern die gesamte Luftfahrtbranche. Gerade das Tourismusgeschäft, in dem wir ja immer noch stark vertreten sind, hatte Probleme. SPIEGEL: Ihre Passagierzahlen stiegen doch sogar leicht an. Nur der Gewinn brach ein. Das Gespräch führten die Redakteure Dinah Deckstein und Thomas Tuma.

Hunold: Wenn Sie investieren wie wir, können Sie nicht erwarten, dass auch noch die Gewinne üppig steigen. So ist das nun mal. Außerdem sind wir in einem ziemlich volatilen Geschäft unterwegs, das große saisonale Schwankungen ertragen muss. SPIEGEL: Das so wichtige Sommerferiengeschäft lief jedenfalls eher schleppend an. Hunold: Und auf einmal sprach niemand mehr über Erderwärmung, sondern nur über die kalten Regentage in den Zielgebieten. Da sehen Sie, wie schnell das geht. SPIEGEL: Air Berlin ist an der Börse gerade mal eine Milliarde Euro wert. Für Firmenjäger eigentlich ein Schnäppchen! Hunold: Jedenfalls völlig unterbewertet. Da gebe ich Ihnen recht.

SPIEGEL: Gerade tauchte wieder das Gerücht auf, Air France-KLM könnte bei Ihnen einsteigen. Dann erhöhte die Deutsche Bank ihr Aktienpaket auf über 16 Prozent. Ihr Unternehmen ist hinter der Lufthansa die zweitgrößte Airline des Landes – und schon ein Übernahmekandidat? Hunold: Jedes börsennotierte Unternehmen ist heute immer auch ein potentieller Übernahmekandidat, wenn nicht zum Beispiel eine Familie als Mehrheitsaktionär ihre schützende Hand darüberhält. Wir müssen damit leben, dass 80 Prozent unserer Aktien in Streubesitz sind. Dafür, dass ein Mitbewerber uns kaufen will, haben wir keine Indizien. Wir sehen auch keinen Grund, an der Aussage der Deutschen Bank zu zweifeln, dass es sich bei den Käufen um normale Handelspositionen handelt. Offensichtlich hoffen die Fondsgesellschaften der Bank auf Kurssteigerungen. SPIEGEL: Air Berlin ist zudem eine PLC, also eine Firma britischen Rechts. Das erspart Ihnen zwar die von Ihnen oft angeprangerte deutsche Mitbestimmung im Aufsichtsrat, aber Sie können sich auch weit weniger gegen Eroberer wehren. Hunold: Letztlich kann auch eine deutsche AG nichts dagegen ausrichten. Erinnern Sie sich nur an den Abwehrkampf von Mannesmann! Ich muss immer die Interessen meiner Aktionäre wahren und sie überzeugen, dass mein Weg der richtige ist. SPIEGEL: Ist er’s denn? Sie haben gerade DBA und LTU übernommen und ordern für mehrere Milliarden Euro neue Jets. Vielleicht sind Sie zu schnell gewachsen. Hunold: Im Gegenteil. Wenn man sieht, was im europäischen Luftverkehr sonst so passiert ist, hätten wir auf keinen Fall langsamer wachsen dürfen. Wir haben zur richtigen Zeit die richtigen Chancen genutzt. SPIEGEL: Als Sie vor 16 Jahren bei Air Berlin landeten, hatten Sie zwei Maschinen und rund 110 Mitarbeiter. Heute zählen wir 120 Flieger und eine Belegschaft von

Die größten Fluggesellschaften Europas Umsatz*

in Mrd. ¤

19,8

9,54

23,1

9,47

2,2 12,5

2,94 2,62 SEAN GALLUP / GETTY IMAGES

2,12 1,75

Börsenwert**

9,02 8,24

2,4 5,5 6,7 3,7

1,45

4,4

0,99

1,6

* jeweils letztes Geschäftsjahr, ** am 12. Sept. 2007 Quelle: Bloomberg, Unternehmensangaben

Air-Berlin-Jet (auf dem Flughafen Berlin-Tegel): „Wenn der Goliath Macht demonstriert, muss der David gucken, wie er ihn trotzdem schlägt“

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Wirtschaft über 7000 Leuten. Ist das immer noch die große Joachim-Hunold-Show? Hunold: Noch so ein Gerücht! Air Berlin war nie eine One-Man-Show. So ein Unternehmen könnten Sie gar nicht aufbauen, wenn Sie keine guten Mitarbeiter hätten. SPIEGEL: Man braucht Sie also gar nicht mehr? Hunold: Geben Sie sich keine Mühe: Ich habe noch nicht vor aufzuhören. Außerdem haben die Anteilseigner dabei ein gehöriges Wort mitzureden. SPIEGEL: Seit Air Berlin vergangenes Jahr an der Börse gestartet ist, erleben Sie und der Aktienkurs aber ein extremes Auf und vor allem Ab. Hunold: Ich will gar nicht ausschließen, dass wir in der ersten Phase an der Börse den einen oder anderen Kommunikationsfehler gemacht haben. Wir mussten uns an das neue Umfeld erst gewöhnen. Wenn die Karl-Schmitz-AG aus Paderborn an die Börse geht, kräht kein Hahn. Bei uns wird jedes Detail mit Geschrei quittiert … SPIEGEL: … woran Sie nicht ganz unschuldig sind: Mal haben Sie zu hohe Passagierzahlen gemeldet, dann gab es Kritik an Ihren Flugzeugkäufen. Nun prüft die Finanzaufsicht, ob Sie Ihre jüngste Gewinnwarnung rechtzeitig veröffentlicht haben. Hunold: Da wurde vieles zu Unrecht aufgebauscht. Aber am Kapitalmarkt gibt es eben Leute, die ein Interesse daran haben, ein Unternehmen auch mal schlechtzureden. In diesen Gerüchteküchen agieren Hedgefonds wie auch die Einflüsterer mancher Konkurrenten. Teils wurde ein ganz mieses Spiel mit uns getrieben. Wir haben Neider. Um uns zu diskreditieren, wird jeder vermeintliche Fehler ausgenutzt. SPIEGEL: Kurz vor der DBA-Übernahme haben Sie und Ihr Aufsichtsratschef für 1,5 Millionen Euro Air-Berlin-Aktien gekauft. Ganz sauber sah das nicht aus. Hunold: Hören Sie doch auf! Zwischen unseren Aktienkäufen und der Übernahme lagen über zwei Monate. Außerdem stand der DBA-Deal bis zur letzten Sekunde auf der Kippe. Das hatte also wirklich gar nichts miteinander zu tun. SPIEGEL: Immerhin ermittelt nun die Staatsanwaltschaft wegen Insider-Verdachts. Hunold: Der Kaufprozess wurde von Anwälten begleitet. Zu allem gab’s Gutachten. Sehe ich wirklich so blöd aus, als würde ich mich auf ein Insider-Geschäft einlassen? Viele Menschen haben auch im Vertrauen auf meine Person beim Börsengang Aktien gekauft. Mich hat es deshalb persönlich getroffen, als der Kurs abrutschte. Deshalb wollte ich ein Zeichen setzen, dass ich mein eigenes Geld in die Firma stecke, weil ich an sie glaube. Und drehen wir’s mal um: Wenn ich auf der Hauptversammlung sagen würde, dass ich keine Air-Berlin-Aktien mehr halte, hieße es sofort: Glauben Sie nicht mehr an Ihr Unternehmen? SPIEGEL: Haben Sie sich schon mal in die Vor-Börsen-Zeit zurückgewünscht?

Hunold: Für das Unternehmen war der Bör-

sengang richtig und wichtig. Ich persönlich sage Ihnen ehrlich: In manche Minenfelder bin ich mit meiner Offenheit vielleicht zu naiv reingerannt. Und ich habe mich manchmal schon ziemlich ausgeliefert gefühlt. Was da an gequirltem Mist über einem ausgekübelt wird mitunter … In meinem ganzen Leben habe ich nie etwas Unrechtes getan. Und dann so was! Wahnsinn! SPIEGEL: Sie haben sich ja auch immer wieder selbst widersprochen. Hunold: Wo, bitte schön? SPIEGEL: Früher wetterten Sie zum Beispiel gern gegen die LTU. Deren LangstreckenANZEIGE

geschäft passe gar nicht zu Air Berlin. Ein paar Monate später übernahmen Sie die Airline. Hunold: Moment! Erstens hätte ich die LTU nie genommen, wenn ich im ersten Schritt nicht die DBA mit ihrem Zubringergeschäft bekommen hätte. Und zweitens: Ich muss ja auch nicht jedem unter die Nase reiben, was ich in zwei Jahren vorhabe. SPIEGEL: Nun greifen Sie ab Düsseldorf auf der Langstrecke die Lufthansa an. Hunold: Das würde ich mir doch nie anmaßen. SPIEGEL: Die Lufthansa will aber schon mal drei Maschinen nach Düsseldorf stellen, d e r

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die demnächst zu Kampfpreisen von 333 Euro über den Atlantik fliegen sollen. Hunold: Wenn der Goliath Macht demonstriert, muss der David gucken, wie er ihn trotzdem schlägt. Aber es gibt auch noch eine Vielzahl anderer Airlines, mit denen wir konkurrieren. SPIEGEL: Sie wollen den Branchenprimus nicht reizen? Hunold: Bei Lufthansa-Leuten stößt man mitunter auf so ein komisches Es-kannnur-einen-geben-Bewusstsein. Das teile ich jedenfalls nicht. In der Economy-Class ist unser Service schon lange besser. Und auch in unserer künftigen Business-Class werden wir auf der Langstrecke ein wettbewerbsfähiges Produkt bieten. SPIEGEL: Sie haben 110 neue Flugzeuge bestellt für angeblich rund zehn Milliarden Euro. Wie wollen Sie die alle bezahlen? Hunold: Das ist ein Projekt, das Analysten und Börsenleute durchaus verstehen. Bis 2009 sind alle neuen Maschinen durchfinanziert. Zwei Drittel bezahlen wir selbst, ein Drittel verkaufen wir weiter und leasen sie zurück. Das ist kein Hexenwerk. Am Ende kommt es nicht auf die Zahl der Flugzeuge an, sondern darauf, dass sich jedes einzelne rechnet. SPIEGEL: Warum haben Sie eigentlich den neuen Boeing-Langstreckenjet 787 gekauft statt das Airbus-Konkurrenzmodell A350? Hunold: Der Airbus kommt fünf Jahre zu spät auf den Markt. Außerdem verbraucht die 787 bis zu 25 Prozent weniger Treibstoff und schont damit die Umwelt. Und der Jet wird zu fast 50 Prozent in Europa gebaut. Wir agieren also sogar patriotisch. SPIEGEL: Der günstige An- und teure Verkauf von Flugzeugen scheint ein lukratives Geschäft geworden zu sein. Hunold: Nicht nur für uns. Wenn man sich kostengünstig die Jets beschaffen kann, lassen sich dadurch stille Reserven aufbauen. SPIEGEL: Wie hoch sind die bei Ihnen? Hunold: Sage ich nicht. SPIEGEL: Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird die EU auch den Luftverkehr in den Emissionshandel einbeziehen. Was wird das für Ihre Branche bedeuten? Hunold: Ob das wirklich kommt, halte ich noch für fraglich. Ich hätte kein Problem damit, wenn so ein Gesetz dann weltweit gelten würde. Aber wenn nur die europäischen Airlines allein dazu verdonnert würden, wäre das eine klare Wettbewerbsverzerrung gegenüber den USA oder Asien. SPIEGEL: Es wäre ein Anfang. Hunold: Aber doch ein komplett ungerechter. Im Übrigen: Kaum eine Branche produziert so wenig Emissionen wie die Luftfahrt. Kaum eine investiert so viel Geld in neue, umweltschonende Technologien. SPIEGEL: Ja, ja. Und kaum eine offenbart auch solche Markt-Absurditäten. Heute fliegen Millionen von Menschen für weniger Geld in den Urlaub, als sie fürs Taxi zum Flughafen zahlen. Ökologisch ist das nicht. 107

Wirtschaft

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KARRIEREN

Herkunft schlägt Leistung Eine Studie entlarvt den Mythos von der Chancengleichheit. In den Chefetagen von Wirtschaft und Politik dominieren Sprösslinge der oberen Schichten.

W

enn der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann, 55, die besseren Kreise der Gesellschaft erforscht, fühlt er sich bisweilen wie zu Hause. Als Spross einer gutbürgerlichen Familie sind dem Professor der TU Darmstadt die Privilegien Hochwohlgeborener durchaus vertraut.

Elitenforscher das aktuelle schwarz-rote Regierungskabinett. Dass unter der Pfarrerstochter Angela Merkel der Generalinspekteurssohn Thomas de Maizière zum Kanzleramtschef aufstieg und die Ministerpräsidententochter Ursula von der Leyen zur Familienministerin, hält Hartmann für ein typisches Zeichen einer „Vergroßbürgerlichung der Politik“. Kleinbürgerkinder wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier – sein Vater arbeitete als Tischler – seien inzwischen die Ausnahme. Tatsächlich ergeben Hartmanns Untersuchungen der Lebensläufe, dass nur noch etwa ein Drittel des aktuellen politischen Spitzenpersonals in kleinbürgerlichen Verhältnissen oder der Arbeiterklasse aufgewachsen ist. Vor 40 Jahren lag deren Anteil noch bei zwei Dritteln. Eine solche Entwicklung schlägt sich nach Einschätzung des Wissenschaftlers auch im Regierungshandeln nieder. Die politische Klasse sei dabei, sich in Ge-

PEER GRIMM / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Hunold: Sie wollen also die Tickets wieder teurer machen? Wen würde das treffen? SPIEGEL: Alle, die unbedingt fliegen wollen. Hunold: Nein, vor allem die sozial Schwächeren. Denn dann wären Flugreisen wieder was Elitäres. Da spiele ich nicht mit. SPIEGEL: Als der Grüne Jürgen Trittin Umweltminister war, gab er Ihnen ein prima Feindbild. Ist sein SPD-Nachfolger Sigmar Gabriel Ihr neuer Lieblingsgegner? Hunold: Ich kenne ihn gar nicht persönlich. Aber für mich ist der Mann ein ausgewiesener Populist. Wäre der morgen Wirtschaftsminister, würde er genau die Gegenposition zu heute vertreten. SPIEGEL: Sie erreichen langsam Betriebstemperatur, auch wenn Sie uns in Ihrer früheren Rolle als Gewerkschaftsfresser mittlerweile enttäuschen: Erst haben Sie Air Berlin einen Tarifvertrag gegönnt und für Betriebsräte geöffnet. Dann haben Sie sich mit der Pilotenvereinigung Cockpit auf neue Tarifverträge für DBA und LTU geeinigt. Sind Sie im Grunde Ihres Herzens ein Arbeitnehmervertreter? Hunold: (lacht) Eines bin ich auf jeden Fall: noch immer für Überraschungen gut. Aber im Ernst: Das war eine Güterabwägung, bei der auch wieder der Kapitalmarkt eine Rolle spielt. Wenn’s mein Privatunternehmen wäre, hätte ich vielleicht anders agiert. SPIEGEL: Früher sagten Sie: „Ich mag alles … außer Schalentieren und Gewerkschaftsfunktionären.“ War das ein anderer Hunold? Hunold: Nein, ich mag immer noch keine … Schalentiere. Ich bin aber auch pragmatisch. Nicht meine Einstellungen haben sich geändert, sondern die Spielregeln, an die ich mich anpassen muss. SPIEGEL: Sie machen dabei nicht unbedingt den Eindruck, als würde Ihnen der Job noch genauso Spaß machen wie früher. Hunold: Vielleicht haben Sie sogar recht, der Spaß wird weniger. Aber das hat nichts mit Gewerkschaften zu tun. Wer – wie ich wegen des Insider-Vorwurfs – mal eine Hausdurchsuchung erlebt hat; wer dann seinem kleinsten Sohn ein großes Indianerehrenwort geben musste, dass er nicht ins Gefängnis kommt – also da dachte ich zum ersten Mal: Das muss ich mir nicht geben. Als Single wär’s mir egal. Aber mit Familie – das ist schon eine andere Dimension. SPIEGEL: Sie besitzen noch 3,2 Prozent der Air-Berlin-Aktien. Mit den Millionen könnten Sie Leben und Familie genießen. Hunold: Stimmt. Aber ich habe eben auch noch eine zweite Familie: die Firma. Dafür fühle ich mich auch verantwortlich. Deshalb höre ich da auch noch nicht auf. SPIEGEL: Warum gibt es ausgerechnet in der Luftfahrt so viele bunte Vögel wie Sie, Ryanair-Chef Michael O’Leary oder Virgin-Gründer Richard Branson? Hunold: Es gibt ja auch ganz andere – wie Lufthansa-Chef Wolfgang Mayrhuber. SPIEGEL: Herr Hunold, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Sitzung des Bundeskabinetts: Aus gutem Hause

„Herkunft schlägt Leistung“, analysierte Hartmann, nachdem er vor fünf Jahren die Lebensläufe von 6500 promovierten Juristen, Wirtschaftswissenschaftlern und Ingenieuren untersucht hatte. Die Chancen, einen Spitzenjob in der Wirtschaft zu ergattern, waren demnach für Angehörige gehobener Schichten etwa achtmal größer als die von Arbeiterkindern mit vergleichbaren Noten und Qualifikationen. Entsprechend freudig dürften in der High Society Hartmanns jüngste Forschungsresultate aufgenommen werden. Laut seiner neuen Studie ist es den Privilegierten nicht nur gelungen, ihre Dominanz in den Chefetagen der Unternehmen noch einmal kräftig auszubauen*. Auch in der Politik haben die besseren Kreise mehr und mehr die Oberhand gewonnen, während Arbeitermilieu und kleines Bürgertum beständig an Einfluss verlieren. Als plakatives Beispiel dient dem * Michael Hartmann: „Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Vergleich“. Campus Verlag, Frankfurt am Main; 268 Seiten; 19,90 Euro. d e r

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danken, Worten und Taten vom gemeinen Volk zu entfernen. Tatsächlich zeigt sein Vergleich europäischer Staaten, dass die Einkommens- und Vermögensunterschiede überall da besonders groß sind, wo die Politik traditionell von Angehörigen der oberen Schichten dominiert wird, etwa in Spanien und Großbritannien. In den skandinavischen Ländern hingegen, die lange von Politikern regiert wurden, die in eher einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, seien die sozialen Unterschiede in der Bevölkerung vergleichsweise gering. Hartmann arbeitet deshalb bereits an seiner nächsten Studie. Es geht um sein direktes Umfeld. Der Professor will untersuchen, ob sich das Kastenwesen auch im Universitätsbetrieb bemerkbar macht. Erste Recherchen haben ergeben: Während Nobelpreisträger offenbar aus allen Schichten kommen, werden die einflussreichen Funktionärsposten auch im Wissenschaftsbetrieb nicht zwingend an die Besten vergeben, sondern zumeist an Sprösslinge aus gutem Hause. Alexander Neubacher

JÖRG KOCH / DDP

Wirtschaft

Transrapid-Nachbildung auf dem Flughafen München: Symbolthema für Deutschlands Innovationskraft TRANSRAPID

Schallmauer erreicht Der Bund gibt mehr Geld für die Magnetbahn – doch ihre Finanzierung ist längst nicht gesichert. Die Beteiligten pokern weiter um die wahren Kosten des Projekts.

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ie Sitzung endete mit einem Handschlag, und der Jubel der Beteiligten fiel überschwenglich aus. Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee schwärmte vom „Vorantreiben der Transrapid-Technologie“, sein bayerischer Kollege Erwin Huber erkannte einen „entscheidenden Verhandlungsfortschritt“, und Kanzlerin Angela Merkel ließ sich abends im kleinen Kreis mit CDU-Abgeordneten zu einer besonders mutigen Prognose hinreißen. „Der Transrapid“, sagte sie voraus, „wird kommen.“ Tatsächlich haben sich die Chancen für die geplante Magnetbahnstrecke zum Münchner Flughafen verbessert, nachdem der Bund vergangene Woche weitere fast 400 Millionen Euro für das Projekt zugesagt hat. Doch von dem beschworenen Durchbruch kann keine Rede sein. Während die Regierungen in Berlin und München offiziell noch ihren jüngsten Deal bejubelten, rüsteten sie intern schon für die nächste Runde im Kostenpoker. Es ist wie immer in der schier unendlichen Geschichte um den Schwebezug. In ihren Sonntagsansprachen reden Politiker und Industrielle den Transrapid gern zum Symbolthema für Deutschlands Innovationskraft hoch. Doch wenn sie werktags über die Kosten des Projekts verhandeln, wird die Verantwortung wie eine heiße

Kartoffel von einem zum anderen gereicht. Schon heute ist klar, dass die Steuerzahler am Ende weit mehr für den Schwebezug ausgeben müssen als bislang bekannt. Noch immer beruht die Kalkulation des Münchner Magnetzugs auf einer sogenannten Machbarkeitsstudie aus dem Jahr 2002. Seither jedoch haben sich Streckenpläne, Betriebsvorschriften und Baukosten drastisch verändert. Und so fällt das Urteil der Experten eindeutig aus: Die bisherigen Kostenprognosen für die rund 37 Kilometer lange Schwebestrecke lassen sich nicht halten. Die Baupreise in Großstädten haben allein im vergangenen Jahr um rund 15 Prozent zugelegt. Immer mehr Geld muss auch für Rohstoffe wie Kupfer ausgegeben werden, das der Transrapid in großen Mengen für seine Tausende Elektromagnete benötigt. Allein die explodierenden Materialpreise werden die Kosten des Projekts so um mehrere hundert Millionen Euro nach oben treiben. Hinzu kommen veränderte Baupläne. Als die Münchner Strecke konzipiert wurde, sollte der Transrapid noch oberirdisch in den Münchner Hauptbahnhof einschweben. Mittlerweile jedoch plant die Landesregierung einen rund zwei Kilometer langen Tunnel, der mit der Zugstation verbunden werden muss. Wie viel das kostet? Die Transrapid-Planer wissen es nicht. Genauso wenig haben sie die Folgen verschärfter Sicherheitsauflagen einkalkuliert. Nach dem Transrapid-Unglück auf der Teststrecke im Emsland im vergangenen Jahr sowie den Zug- und U-Bahn-Anschlägen von Madrid und London sehen die Vorschriften zusätzliche Notausgänge, Fluchtwege und Rettungszufahrten vor. Entsprechend müssen die Ingenieure ihre Pläne ändern – mit unabsehbaren Folgen für die Kostenkalkulation. Das alles ist bekannt, doch die Schwebezug-Politiker tun lieber so, als wüssten sie von nichts. Zwar hat die Bahn, die den Transd e r

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rapid betreiben soll, die Kalkulation in einer internen Studie bereits vorsichtig aktualisiert. Danach würde das Projekt statt der bislang veranschlagten 1,85 Milliarden Euro mindestens 2,2 Milliarden Euro verschlingen. Doch so genau wollen es die beteiligten Regierungen gar nicht wissen – und folgen ihrer bewährten Doppelstrategie: Auf dem Papier halten sie an der veralteten Kostenkalkulation fest. Bei ihren Verhandlungen aber versuchen sie, die absehbaren Mehrausgaben anderen aufzudrücken. So machte Verkehrsminister Tiefensee vergangene Woche klar, dass mit der neuen Finanzspritze des Bundes nun „die absolute Obergrenze“ markiert sei. Würde das Projekt teurer, so der Ressortchef, müssten dafür die Bahn und die Transrapid-Hersteller, vor allem aber der Freistaat Bayern aufkommen. Kaum anders hört es sich an, wenn zum selben Thema die Regierung in München Stellung bezieht. „Mit einem Finanzbeitrag von 475 Millionen Euro ist für Bayern die Schallmauer erreicht“, sagt Huber. Über das Risiko steigender Kosten müsse nun mit Bahn und Industrie verhandelt werden. Nach einem Gespräch mit BahnChef Hartmut Mehdorn am vergangenen Freitag ist Huber zuversichtlich, dass der Staatskonzern seinen Anteil aufstockt. Ein ähnliches Entgegenkommen erhofft sich der Minister nun nächste Woche von den Transrapid-Herstellern Siemens und ThyssenKrupp. Sie sollen den Projektplanern feste Preise garantieren. Wenn auch das nicht reicht, um die absehbaren Finanzlücken zu schließen, wird das Finanzgeschacher zwischen Berlin und München wohl in die nächste Runde gehen. „Der Transrapid steht in gemeinsamer Verantwortung von Bund und Ländern“, sagt Huber vieldeutig. Kanzlerin Merkel dagegen drückte sich vergangene Woche weniger gewunden aus: „Jetzt“, so befand sie, „sind die Bayern dran.“ Michael Sauga 121

Medien

Trends JOURNALISTEN

Staatsanwälte ermitteln weiter

MARCO-URBAN.DE

ehrere Wochen nach der Aufregung über die Ermittlungen gegen 17 Journalisten wegen angeblicher Beihilfe zum Geheimnisverrat haben noch immer nicht alle Staatsanwaltschaften die Verfahren eingestellt. Gegen zehn Journalisten, darunter Redakteure des SPIEGEL, wird bis heute ermittelt. Nur die Staatsanwaltschaft München hat ihre Verfahren komplett abgeschlossen. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) gestattete die Aufnahme der Ermittlungen. Anlass Lammert waren Presseberichte mit vertraulichen Informationen aus dem BND-Untersuchungsausschuss zum Fall des nach Guantanamo verschleppten Murat Kurnaz. Das umstrittene Vorgehen gegen die Medien sorgt weiter für Streit im Untersuchungsausschuss. Der SPD-Obmann, Thomas Oppermann, verteidigte letzte Woche intern die Verfahren. Ein Antrag des Grünen Hans-Christian Ströbele, den Linke wie Liberale unterstützen, sich als Ausschuss für die Einstellung der Ermittlungen gegen Journalisten einzusetzen, wurde von der Mehrheit der SPD und CDU/CSU abgelehnt. Noch Anfang August, als die Verfahren bekannt wurden, hatten sich darüber auch Unions- und SPD-Politiker entsetzt gezeigt.

DPA

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Barschel bei Pressekonferenz (in Kiel, 1987 ) F E R N S E H D O K U M E N TAT I O N E N

„Riesige Tretmine“ Z

wanzig Jahre nach dem Tod Uwe Barschels wollte die ARD mit gleich zwei aufwendigen TV-Dokumentationen die Hintergründe des Falls aufbereiten. Doch während der NDR an diesem Montag im Ersten „Der Tod des Uwe Barschel – Skandal ohne Ende“ zeigt, geriet das WDR-Projekt zum Desaster. Grund dafür, so WDR-Kulturchef Helfried Spitra, sei „Streit“ unter den vier Autoren gewesen. Nach monatelangen Recherchen stoppte Spitra daher das Projekt. Das gescheiterte Vorhaben gilt beim Sender inzwischen als „riesige Tretmine“. Strittig ist etwa, wem welche Rechercheleistungen zuzurechnen sind. Zwischenzeitlich hatten sich NDR und WDR eigentlich schon auf einen gemeinsamen 90-Minuten-Film verständigt. Doch dieser Versuch scheiterte an unterschiedlichen Rechercheansätzen. Während der NDR mehrere Todestheorien nebeneinander präsentiert, verfolgten die WDR-Autoren hauptsächlich die „Südafrika-Spur“, die Barschels Verwicklung in ein gescheitertes U-Boot-Geschäft zeigen sollte. Doch diese Spur sei „nicht genügend belegt gewesen“, so Patricia Schlesinger, Chefin des NDR-Programmbereichs Kultur. Auch Spitra räumt ein, dass die Spur „noch nicht hart“ gewesen sei. Offenbar scheuten auch bestimmte Informanten einen TV-Auftritt. Nur scheinbar leichter war die Zusammenarbeit der vier Autoren bei einem Buch zum Thema, das Ende des Monats erscheint. Doch wie tief der Zwist auch hier geht, zeigte ein „Stern“-Artikel vergangene Woche: Zwei Autoren – beide frühere „Stern“Mitarbeiter – werden gefeiert, die anderen beiden im Text gar nicht erst erwähnt.

T V- U N T E R N E H M E N

Käufer für Tele München gesucht

CHRISTIAN STIEFLER / BABIRADPICTURE

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Kloiber (r.) mit Showstar Thomas Gottschalk d e r

er Münchner Medienunternehmer Herbert Kloiber nimmt einen neuen Anlauf, um seinen Film- und Fernsehkonzern Tele München Gruppe (TMG) zu verkaufen. Nach Informationen aus Finanzkreisen hat Kloiber diesmal die Investmentbank J. P. Morgan mit der Suche nach Interessenten beauftragt. TMG ist die wichtigste deutsche Filmrechtefirma, dem Unternehmen gehören zudem der Spielfilmsender Tele 5 sowie Beteiligungen an RTL II und der Kinokette Cinemaxx. Zum Verkauf stehen soll ein Minderheitsanteil an TMG, mit einer späteren Option auf die Mehrheit. Kloiber hatte schon 2005 versucht, einen Teil der Firma zu verkaufen, war laut Bankenkreisen aber an seinen hohen Preiserwartungen gescheitert. Auch diesmal gestaltet sich der Verkauf offenbar schwierig. Mit 700 Millionen Euro sei der Konzern weiter zu hoch bewertet, so Branchenkenner. Kloiber selbst will den Verkaufsprozess nicht bestätigen.

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Medien

Fernsehen

TV-Vorschau

Politik. Macht. Sucht.

JACQUELINE KRAUSE-BURBERG / ZDF

Montag, 20.15 Uhr, ZDF

Der Sex ist monoton und einfallslos. Ehe eben. Daher beschließen die befreundeten Paare Andreas (Bjarne Mädel) und Manu (Christina Große) sowie Olaf (Pierre Besson) und Doreen (Nadeshda Brennicke) nach einer feuchtfröhlichen Nacht, ihr Liebesleben mittels Partnertausch zu würzen – genau organisiert nach Stundenplan mit Spielzeug aus dem Sexshop, wo gerade Orientwochen stattfinden. Doch statt aufzuregen, versandet der Film schnell in Erwartbarem: Knatsch und Scheidung. Sehenswert allerdings ist der entwaffnende Charme des Schauspielers Mädel in der Rolle des Kuschelbären.

Passend zum Titel lässt sich über die Hauptdarstellerin Aglaia Szyszkowitz als Serienkommissarin sagen: Prüfung bestanden. Mit Auszeichnung. Stephan Wagner (Buch und Regie) hat Szyszkowitz eine zu ihrer vornehm-zerbrechlichen Ausstrahlung passende Rolle geschrieben. Sie verliebt sich in ihren ehemaligen Professor (Peter Simonischek). Der Fall von Prüfungsbetrug mit dem Jurastudenten Nils (Janek Rieke) scheint zu verblassen. Aber da Männer in der Liebe feige sind, kommt die verträumte Kommissarin dienstlich wieder zur Sache.

Kommissar Stolberg: Der Sonnenkönig Freitag, 20.15 Uhr, ZDF

Für drei weitere Folgen meldet sich Rudolf Kowalski als Düsseldorfer Kommissar zum Dienst zurück. Die Erfinder dieser Serie haben den Kommissar Stolberg als Mann ohne Unterleib konzipiert. Sie zeigen ihn nur im Dienst, nie privat. Schurkendarsteller Axel Milberg als allgewaltiger Modezar nimmt sich solchen Platz nur zu gern, und die Welt der schönen Klamotten platzt aus allen Fernsehnähten.

Rieke in „Einsatz in Hamburg“

TV-Rückblick Der 11. September 2001 – Mythos und Wahrheit

Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD

11. September, ZDF

Sie will das Glück erzwingen. Die Bibliothekarin Martina (Maren Eggert) nimmt nach einer Therapie ihre ungeliebte Arbeit in der Bücherhalle wieder auf, sie richtet das neue Reihenhaus ein, sie versucht, ihrem sympathischen Mann (Matthias Brandt) eine gute Frau zu sein, sie befreundet sich mit einer Nachbarin (Inga Busch), sie sorgt für den Sohn. Normalität ist ihre Endstation Sehnsucht. Doch sosehr sie kämpft, die Dämonen einer seelischen Erkrankung sind stärker. Das Buch (Thomas Schwank) und die Regie (Claudia Garde) schildern einen psychischen Zusammenbruch, der so grausam wirkt, weil niemandem die Schuld an dem Desaster gegeben wird. Was Maren Eggert, bekannt als Darstellerin der Polizeipsychologin im Kieler „Tatort“, hier leistet, geht dem Zuschauer ans Herz.

Die seriöse Information gehört zum Grundversorgungsauftrag des öffentlichrechtlichen Rundfunks. Was sich am Dienstagabend zur besten Sendezeit im ZDF abspielte, war ein Informationsinfarkt. Unter dem pathetischen Titel „Mythos und Wahrheit“ hatten die Autoren Michael Renz und Guy Smith tausendundeine Verschwörungstheorie

PRESTON KERES / DPA

Die Frau am Ende der Straße

Feuerwehrmann in New York 2001 124

Samstag, 20.15 Uhr, ZDF

„Ich bin nicht weg.“ Das ist das letzte Wort in dieser Polit-Doku. Edmund Stoiber spricht es, der zwangspensionierte bayerische Polit-Star. Das Wort ist mehr als Trotz, es beweist die These des langjährigen SPIEGEL-Reporters Jürgen Leinemann, der zusammen mit Victor Grandits dieses TV-Denkstück gedreht hat, wonach Macht und Sucht, unterstützt vom Fernsehglanz, bei nicht wenigen Politikern eine unheilvolle Allianz eingehen. Neben Langgedienten outen sich auch jüngere Politiker als potentielle Machtjunkies.

CHRISTINE SCHRÖDER / ZDF

Partnertausch

Besson, Große in „Partnertausch“

Einsatz in Hamburg: Die letzte Prüfung

Mittwoch, 23.45 Uhr, ARD

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über die Hintergründe des 11. September zu einem unentwirrbaren Märchenteppich zusammengeknüpft. Die süffigen Bilder, in marktschreierischem Ton, wirkten letztlich wie eine fahrlässige Verhöhnung der Opfer. Als hätte es nicht vor vier Jahren vernichtende Verrisse über sein Buch gegeben („geballter Unfug“), durfte der Ex-Minister Andreas von Bülow seinen unbewiesenen Verschwörungsvermutungen freien Lauf vor der Kamera lassen – er passte ja so gut in den Gerüchteeintopf. Wo ein Schelm ist, werden gern anderthalb draufgesetzt: Auf seiner Internet-Plattform startete das ZDF zur Ausstrahlung eine Abstimmung (bis Donnerstag 5800 Teilnehmer): „Wer ist Drahtzieher?“ Zwischenergebnis: 26 Prozent halten Bush für den Bösewicht, 15 Prozent die Rüstungslobby, 24 die US-Behörden. Osama Bin Laden darf sich freuen: Nur 27 Prozent sehen im wahren Schuldigen den wahren Schuldigen. In dieser pseudojournalistischen Art schlägt der Mythos allemal die Wahrheit. Wie würden in solchen Umfragen wohl revisionistische Thesen zum Holocaust abschneiden?

ULI DECK / DPA

Medien

Erster Senat des Bundesverfassungsgerichts*: Privilegien für die Info-Elite von ARD und ZDF

FERNSEHURTEIL

Dreißig Jahre zurück In seiner Entscheidung über die Rundfunkgebühren hat das Bundesverfassungsgericht den öffentlich-rechtlichen Sendern einen weitgehenden Freibrief ausgestellt. Die Anstalten dürfen mit ihren Gebühren-Milliarden ungehemmt die digitale Welt erobern.

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ie unheimliche Bedrohung zeigte sich zuerst in Mannheim. Da machten sich ein paar Bauarbeiter 1979 daran, Straßen und Wege aufzugraben: „Hier baut die Deutsche Bundespost.“ Als der Bundeskanzler von den Bauarbeiten erfuhr, rief er sein Kabinett zusammen, das Unternehmen zu stoppen: Was da in deutschen Städten mit dem Segen der Ministerpräsidenten vor sich gehe, sei „akuter und gefährlicher als die Kernenergie“, schimpfte der Sozialdemokrat Helmut Schmidt – was hier geschehe, könne „die Substanz unseres demokratischen Lebens angreifen“. Manche Geschichten sind so alt, dass niemand sie mehr glauben mag. Waren die ersten Versuche, in deutschen Großstädten Fernsehkabel zu verlegen, nicht der Anfang des Informationszeitalters? Begann die neue Technik nicht alsbald, die Zwingburgen der öffentlich-rechtlichen Informationsverwaltung aufzumischen? Hat nicht die Verkabelung und Vernetzung der Welt die Grundlagen für eine globale Gesellschaft gelegt, deren Mit* Bei der Verkündung des Urteils zur Gebührenklage am 11. September; links: federführender Richter Wolfgang Hoffmann-Riem.

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mieren können als jemals zuvor? Geraten nicht sogar Diktaturen wie China in Verlegenheit, weil sie die zu ihnen hereindringende Informationsvielfalt nicht mehr kontrollieren können? Alles gar nicht wahr. Am Dienstag vergangener Woche hat das Bundesverfassungsgericht einen Rechtsstreit um 21 Cent zum Anlass für eine Zeitreise genommen. Mit dem Urteil zum Fernsehgebührenstreit ist die Republik um dreißig Jahre zurückgeworfen worden. Willkommen bei Helmut Schmidt. Im Streit um die Frage, ob die Länder den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ein paar Cent bei der Gebührenerhöhung streichen können, hat das Gericht der hoheitlichen Info-Elite von ARD und ZDF Privilegien und Vollmachten festgeschrieben, die in der Medienlandschaft 60 Jahre nach Erfindung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland anachronistisch wirken. Niemand dürfe die milliardenschweren Anstalten behindern, so das Urteil, weil nur sie Meinungsvielfalt und damit letztlich eine demokratische Gesellschaft gewährleisten könnten. „Wir haben Anlass, zufrieden zu sein“, freute sich am Tag der Urteilsverkündung der ZDF-Intendant Markus Schächter. Das d e r

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kann er nicht ernst meinen. Wenn sich ARD und ZDF auf diesem Urteil ausruhen, werden sie Sturm ernten. Schon die Vorgeschichte des Prozesses muss allen Beteiligten klargemacht haben, dass in Karlsruhe etwas ganz Grundsätzliches zur Sprache kam. Vier Jahre reicht der Streit zurück. 2003 tönte der damalige SPDMinisterpräsident von Nordrhein-Westfalen, der heutige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, man solle doch die nächste Fernseh-Gebührenerhöhung verschieben. Der Akt der Ministerpräsidenten und ihrer Parlamente, das Salär des öffentlich-rechtlichen Betriebs ein bisschen anzuheben, ist seit Jahrzehnten alle paar Jahre Routine. Auf diese Weise sind die deutschen Anstalten mittlerweile die teuersten der Welt. Doch diesmal sollte alles anders sein. Steinbrück orakelte etwas von „mehr Wettbewerb“. In einem Papier, das er zusammen mit dem sächsischen Kollegen Georg Milbradt (CDU) und dem Bayern Edmund Stoiber (CSU) verfasste, positionierten sich die Länder für eine vorsichtige Neuordnung im Miteinander von öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern: „Strukturreformen“ bei ARD und ZDF und deren Programmen sollten die aufgeblasenen Apparate besonders der neun ARD-Anstalten schlanker

Einnahmen durch Hörfunk- und Fernsehgebühren, in Milliarden Euro

Sichere Bank

7,29

Einnahmeverteilung 2006 in Millionen Euro

Landesmedien138 anstalten 182 Deutschlandradio

Z DF 1742

4,73

17,03

2,86 2,20

1,18

monatliche Gebühren in Euro*

14,44

17,50 15,00

12,17

12,50 10,00

8,31

7,50

5,37

5,00 * Grund- und Fernsehgebühr Quelle: GEZ; Media Perspektiven

1974

1979

1983

1988 1990 1992

1997

2001

2,50

05 2006

machen und teure Wettrennen um Showstars oder Sportrechte begrenzen. Der Ehrgeiz der Anstalten beschränkte sich ja nicht darauf, es bei Sport und Show der privaten Konkurrenz gleichzutun. Obendrein schmückten sich die gebührenfinanzierten Unternehmen mit immer attraktiveren Online-Auftritten. Damit gerieten die Fernseh-Oberen in Konflikt mit privaten Medien, die ihrerseits mit Millio-

nenaufwand Angebote im Netz aufbauten und dabei nicht auf die staatliche Förderung durch zwangsweise beigetriebene Gebühren zurückgreifen konnten. Dass ARD und ZDF sich im Schutz ihres Versorgungsauftrags immer weiter in den Medienwettbewerb verbeißen, hat auch schon die EU-Kommission auf den Plan gerufen. Brüssel sieht eine wettbewerbsverzerrende staatliche Beihilfe, mühsam verbrämt durch die Umtriebe der GEZ, die den Sendern gehört. „Die bestehende FiUMFRAGE: ARD UND ZDF nanzierungsregelung“ in Deutschland enthalte „keine hinreichend klare und genaue „Halten Sie die Gebühr von Definition des öffentlichen Auftrags“ der 17,03 Euro zur Finanzierung der Anbieter, bemängelte die Kommission. Insöffentlich-rechtlichen Sendebesondere sei da kein Rahmen für „Onlineanstalten für angemessen?“ Dienste und digitale Zusatzkanäle“. Erst als die Deutschen versprachen, sie würden künftig in den Staatsverträgen den angemessen 40 % Rahmen für die ausufernden Aktivitäten der Anstalten klar begrenzen, gab Brüszu hoch 58 % sel Ruhe und stellte das Verfahren ein. So sahen sich die MinisterpräsidenAn 100 fehlende Prozent: „zu niedrig“/„weiß nicht“ ten auf der richtigen Seite, als sie die von den Rundfunkanstalten verlangte und von der Kommission zur Ermittlung des Fi„Sind für Sie die Fernseh- und nanzbedarfs schon vorab reduzierte GeHörfunkprogramme von ARD bührenerhöhung 2004 um 21 Cent kürzund ZDF unverzichtbar, oder ten. Sie hätten bei ihrer Entscheidung, formeinen Sie, dass diese Promulierten die Länderchefs übereinstimgramme und ihre Gebühren mend, „die aktuelle Gesamtentwicklung abgeschafft werden sollten?“ der Aufgaben im dualen Rundfunksystem und im Wettbewerb der Medien insberücksichtigt, da die Höhe unverzichtbar 63 % gesamt der Rundfunkgebühr auch in diesem Zusammenhang nicht außer Acht Befragte 18 – 29 30 – 44 45 – 59 60 und älter nach Alter: gelassen werden darf“. 45 70 74 54 Was auch immer das genau bedeuten sollte, es erwies sich als tödlich. Das Verfassungsgericht macht jetzt deutlich, dass abschaffen 34 % es jedenfalls eine „verfassungswidrige Zwecksetzung“ sei, auf dem Wege der GeTNS Forschung für den SPIEGEL vom 12. und 13. September; 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: bührenaufsicht den Sendern vorzuschrei„weiß nicht“/keine Angabe ben, wofür sie ihr Geld ausgeben. d e r

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JESSICA KASSNER / FACE TO FACE

ARD 5224

6,65

ZDF-Intendant Schächter

„Anlass, zufrieden zu sein“

Natürlich, darauf weist das Gericht auch hin, gibt es andere Wege, den ÖffentlichRechtlichen ihre Rolle in der modernen Medienlandschaft zuzuweisen. Wenn sich alle Parlamente aller Bundesländer einig würden, gemeinsam einen neuen Staatsvertrag auszuformulieren, der die Rolle ihrer Anstalten definiert und begrenzt, wäre dies im Sinne des Gerichts. Dass aber die Länderfürsten, eifersüchtig ihre schönen Sender bewachend, für so etwas nicht zu haben sind, versteht sich von selbst. Für die Autonomie des Fernsehens, so die Karlsruher Lehre, ist ein Preis zu bezahlen. Was die Sender mit ihrem Geld genau anfangen, entzieht sich der Kontrolle – ein Preis der Freiheit, zum Wohle der Demokratie. Tatsächlich hat sich die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zum Schutz des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wiederholt als segensreich erwiesen. Als 1960 Konrad Adenauer versuchte, mit der „Deutschland-Fernsehen GmbH“ einen von ihm kontrollierten Staatskanal aufzubauen, griffen die Richter ein und zementierten das einst nach dem Vorbild der BBC errichtete öffentlich-rechtliche System. Als sich 25 Jahre später trotz Helmut Schmidts Warnung das private Fernsehen nicht mehr aufhalten ließ, heckten die Karlsruher einen waghalsigen Kompromiss aus: Das werbefinanzierte private Fernsehen könne geduldet werden, „solange und soweit“ das öffentlich-rechtliche seinen Auftrag, die „Grundversorgung“ der Bürger, ungehindert wahrnehmen könne. Eine Existenzgarantie für die Anstalten – und eine Drohung: Sollten die Privaten so viel Erfolg haben, dass sie die Öffentlich-Rechtlichen massiv ins Abseits drängen, würden sie sich selbst um ihre verfassungsrechtliche Legitimation bringen. Diese heikle Koexistenz konnte in der alten Welt funktionieren. Doch seit Fern127

sehen und Internet immer schwieriger auseinanderzuhalten sind, wankt die herkömmliche Medienordnung. Die Politiker gucken ratlos ins Grundgesetz und stellen fest: Von „öffentlich-rechtlichem Rundfunk“ steht da gar nichts. In 146 hehren Artikeln kein Wort. Verfassungsrang hat der öffentlich-rechliche Rundfunk dank der Urteile des Karlsruher Gerichts. Doch gelten die Prämissen noch, dass die teuren Anstalten um der Vielfalt der Meinungen willen unverzichtbar sind? Ist nicht das quirlige Internet viel demokratischer als Opas Öffentlich-Rechtliches? Fragen wird man ja dürfen. Karlsruhe lässt sich auf die Fragen nicht ein – es geht jetzt ja nur um 21 Cent Gebühren. Dass der alte Rundfunk notwendig sei, habe sich „im Grundsatz“ durch „die technologischen Neuerungen der letzten Jahre nicht geändert“, heißt es schlicht. Der beim Urteil federführende Richter Wolfgang Hoffmann-Riem, 67, hat immer schon deutlich gemacht, dass er sich das Öffentlich-Rechtliche als „eine Art Gegenmacht“ vorstellt, die nicht den Regeln des Markts unterworfen ist und schon darum besser sei für die Demokratie. Das mag gestimmt haben in den Zeiten, da das Fernsehen das Fernsehen war. Das Internet aber gebiert eine Informationswelt, die wesentlich auch von Medienunternehmen organisiert ist, die stets am Markt erfolgreich und vom Verfassungsgericht geschützte wie geschätzte Leuchttürme der Medienfreiheit waren. Der SPIEGEL mit SPIEGEL ONLINE ist ein Beispiel in Europa, die „New York Times“ mit „Nytimes.com“ ein Beispiel aus den USA. Die neue Welt der Medien, darauf können sich die Richter zurückziehen, war jetzt nicht das Thema. Doch umso gefährlicher ist der finanzielle Freibrief aus der alten Fernsehwelt. Die Richter billigten den Anstalten eine „entwicklungsoffene Finanzierung“ zu. Gebührenfinanziert ist damit nicht nur der Auftrag, für Vielfalt im TV zu sorgen, sondern auch die „Entwicklungsgarantie“, die Karlsruhe seinen Schützlingen zubilligt. Entwicklung – wohin? Egal. Beflügelt beschlossen die ARD-Intendanten, unter dem Protest der Privaten, noch am gleichen Tag, ihr Programm „EinsExtra“ zu einem umfassenden digitalen Informationsangebot auszubauen. Es müsse, so die bekannte Argumentation Hoffmann-Riems, jede Form des öffentlichen Auftretens möglich sein, die auch den Privaten möglich ist – im Internet ebenso wie in digitalen Kanälen. Denn wenn sich die Medienwelt weiterentwickle, warum solle das öffentlich-rechtliche Fernsehen zurückbleiben? Vielleicht weil man sonst gar nicht merkt, wenn man es eines Tages nicht Thomas Darnstädt, mehr braucht. Dietmar Hipp

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Medien sen, wenn man Schlechtes über jemanden schreibt. Was ist Tatsachenbehauptung und belegbar, was ist Meinungsäußerung und erlaubt, und was ist schlicht falsch, ganz oder in Teilen? „Emma“ und Flöttmann führen um diese Wahrheit einen erbitterten Kleinstkrieg: Darf „Emma“ den Eindruck erwecken, Anfang der Neunziger habe es Demonstrationen von Frauengruppen vor Vor Gericht streitet Alice Flöttmanns Psychopraxis gegeben – oder Schwarzer mit einem konservativen muss es nicht vielmehr „Demonstration“ „FAZ“-Gastautor darüber, heißen, im Singular, weil das Erinnerungsvermögen der Zeuginnen schwächelt und wie viel Schlechtes sie über einen nur eine Demonstration belegbar ist? Mann verbreiten darf. Oder, anderes Beispiel: „Emma“ schrieb, angeblich solle „Dr. Flöttmann PatientInnen auch schon mal aus der Praxis werfen, wenn sie das Auge des Arztes mit einem Piercing oder – als Mann – mit schulterlangen Haaren beleidigen“. Diese Behauptung ließ Flöttmann untersagen, Schwarzer wollte gern daran festhalten. Die Anwälte betrieben nun feinste TextExegese: Was bedeutet eigentlich „aus der Praxis werfen“? Jemanden mit Gewalt vor die Tür schubsen? Des Raumes verweisen? Oder reicht schon die Weigerung, jemanden mit einem Piercing zu behandeln? Vor zwei Wochen präsentierte das Gericht einen Vergleichsvorschlag: Dass ein Mann wegen seiner Frisur aus der Praxis geworfen wurde, ist demnach falsch und darf von „Emma“ nicht mehr behauptet werden, über die gepiercte Frau dürfe „Emma“ berichten. Wieso eine Formulierung erlaubt bleibt, die andere aber untersagt wird, können Laien kaum noch verstehen: Flöttmann habe von einer Patientin „weiblichere“ „Emma“-Chefredakteurin Schwarzer: „Wer ist eigentlich dieser Flöttmann?“ Kleidung verlangt, ist falsch und darf nicht verenn man sie fachmännisch be- reits 1992 saß Flöttmann in breitet werden. Der wohl trachtet, sind Karrierefrauen der RTL-Krawall-Talkshow härtere Vorwurf, nämlich schon ziemlich merkwürdige We- „Der heiße Stuhl“, damals dass Flöttmann schlüpfrisen. Frauen, die lernen, studieren, pro- ging es unter anderem darge „Komplimente“ machmovieren, die den Gedanken an Kinder um, ob eine Frau wirklich te, laut Vergleichsvorverdrängen, müssen sich, so lehrt der Ex- „Nein“ meint, wenn sie schlag aber wohl. perte, später den „Kinderwunsch mühsam „Nein“ sagt. Es gab einen Zeugen, der erarbeiten, weil sie ihren VerstandesappaEbenfalls nicht mehr beFlöttmanns Methoden als rat überentwickelt haben“. haupten darf „Emma“ Klingt nach aktuellem Eva-Herman- Neurologe und Psychothedemnach, Patientinnen Schwachsinn, ist aber schon zwei Jahre alt rapeut anzweifelte, es gab müssten sich „oben frei und stammt von einem Mann: Dr. Holger ehemalige Patientinnen, die machen“, um „Reflexe“ Bertrand Flöttmann, Facharzt für Neuro- sich über seine Umgangszu testen – jedenfalls sologie und Psychiatrie, Leiter des Wilhelm- formen beschwerten. weit der Eindruck entsteAnfang 2006 erschien „FAZ“-Autor Flöttmann Griesinger-Instituts in Kiel, Gastautor bei he, Flöttmann wolle nicht der „Frankfurter Allgemeinen“. Ein, das schließlich der „Emma“- „Feministische Fehlsteuerung“ tatsächlich medizinisch indarf man wohl sagen, umstrittener Mann Artikel „Wer ist Dr. Flöttdizierte Reflexuntersumann?“, er ging nicht sehr freundlich mit chungen vornehmen, sondern die barbusimit umstrittenen Thesen. Im Sommer 2005 verfasste Flöttmann ei- dem Mann um. Flöttmann wehrte sich mit gen Patientinnen betrachten. Wie man das nen „FAZ“-Artikel mit der Überschrift einer einstweiligen Verfügung, seitdem formulieren soll, sagte das Gericht nicht. „Der Wunsch nach einem Kind“, es ging darf „Emma“ eine Vielzahl von BehaupOb er den Vergleich akzeptiert, wollte ihm um die wahren Gründe für die Kin- tungen nicht mehr verbreiten – was Alice Flöttmann vergangene Woche nicht sagen, derarmut in Deutschland. Er fand die über- Schwarzer ziemlich ärgert. er verweist auf seinen Anwalt. Und Alice Damit begann eine Auseinandersetzung, Schwarzer ärgert sich, dass der Richter die entwickelten Verstandesapparate von Karrierefrauen („Der Leistungswille der Frau die jetzt vor dem Hamburger Landgericht Kosten des Verfahrens nicht 50:50 teilen lässt die Freude an Kindern in ihrer Seele ihren vorläufigen Höhepunkt fand – ein will, sondern 60:40 – zu Lasten von „Emvertrocknen“), er stieß auf „feministische Verfahren voller absurder Spitzfindigkeiten ma“. Für jeden, der sich nicht durch die Fehlsteuerung“, beklagte die „Selbstab- und doch exemplarisch für die Schwierig- Details wühlt, sieht es nun so aus, als habe wertung“ des deutschen Nationalgefühls keiten des deutschen Presserechts. Im Kern „Emma“ eine Schlacht im Geschlechter(„beeinträchtigt die Fruchtbarkeit der steht die Frage, wie gut die Belege sein müs- kampf verloren. Ansbert Kneip JUSTIZ

BETTINA FLITNER

Vertrocknete Seelen

Deutschen“) und schimpfte auf „die Sozialversteher, die antiautoritären Achtundsechziger, die Grünen, die Feministen“. Das war selbst vielen „FAZ“-Lesern zu dicke, es hagelte Leserbriefe. Und in Köln, im Kreise der „Emma“Redaktion, stellte Herausgeberin Alice Schwarzer, Urmutter der deutschen Feministinnen, die journalistisch sinnvolle Frage: „Wer ist eigentlich dieser Flöttmann?“ Sie schickte einen Reporter nach Kiel. Informationen waren leicht zu finden, Flöttmann hatte sein Frauenbild schon vor dem „FAZ“-Artikel öffentlich verbreitet: Be-

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Ausland FENSORE/SINTESI (L.); PICTURE-ALLIANCE/DPA (U.)

Panorama

Grillo-Show in Bologna, Berlusconi

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Virtueller Populismus G

ar nicht witzig findet das politische Establishment, was der Komiker Beppe Grillo im Land ausgelöst hat. In über 200 Städten hatten sich am 8. September Bürger zu einem „Vaffanculo Day“ versammelt, einem „Leckmich-Tag“ gegen die Selbstgefälligkeit und Arroganz der Macht. In Bologna jubelten 50 000 Menschen ihrem Beppe zu. Und gleich mehrere hunderttausend Bürger haben einen Gesetzesentwurf des Satirikers unterschrieben: Rechtskräftig verurteilte Parlamentarier sollten ihren Sitz abgeben, Abgeordnete nur zweimal gewählt werden dürfen. Zu den nächsten Kommunalwahlen will die Grillo-Bewegung kandidieren – als Leckmich-Liste. Grillo betreibt den meistangeklickten Internet-Blog des Landes. Seine Tourneen sind Polit-Happenings, auf denen der 59-Jährige gefeiert wird wie ein Messias. Regierung und Opposition werfen Grillo dagegen „Antipolitik“ vor. „Nichts Positives“ vermag

der linke Außenminister D’Alema auf den Grillo-Plätzen zu entdecken: „Die Parteien sind schon zerstört, sie wiederaufzubauen ist das Problem.“ Ausgerechnet Silvio Berlusconi knüpft Hoffnungen an die „Leckmich“-Bewegung: Das Ganze erinnere ihn an „den Geist von 1992/93“. Damals spülte eine Welle von Korruptionsverfahren den Medienmilliardär in die Politik. Der einflussreiche Kolumnist Eugenio Scalfari jedoch meint, dass in Italien Antipolitik immer den Boden für Diktatoren bereitet habe. Es drohe ein virtueller Populismus, in dem Blogs und Internet-Aufrufe die Rolle des Parlaments übernehmen könnten. Schon jetzt betreiben Minister eigene Websites, auf denen sie – bisweilen unter Pseudonym – ihre Kollegen und die eigene Regierung angreifen. Der „Leckmich-Tag“ aber macht Schule: Vergangenen Donnerstag wurde ein landesweiter Spaghetti-Boykott abgehalten, um gegen die Nudelpreise zu protestieren. Und ein ehemaliger Minister der Lega Nord rief zu einem „Schweinefleisch-Tag“ auf, als Protest gegen den Bau von Moscheen.

NAHOST

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och immer schweigt das offizielle Israel über einen Vorfall, der den Erzfeind Syrien in Alarmbereitschaft versetzt hat. Damaskus beschuldigt Jerusalem, in der Nacht zum Donnerstag vorvoriger Woche einen Luftangriff gegen den Norden Syriens geflogen zu haben – die dortige Luftabwehr soll die Attacke vereitelt haben. Die israelische Zensur versucht mit allen Mitteln, jegliche Berichterstattung darüber zu verhindern. Außenministerin Zipi Livni schnitt ihrem portugiesischen Amtskollegen bei einer gemeinsamen Pressekonferenz vor laufenden Kameras das Wort ab, als der auf eine entsprechende Frage antworten wollte. Was die Israelis jedoch bei ihrem Vertuschungsversuch nicht bedachten: Die vor der Küste des

Libanon stationierte Unifil-Flotte zeichnet bei ihrer routinemäßigen Überwachung des Luftraums sämtliche Flugbewegungen auf. So wurden die Blauhelme Zeugen des Zwischenfalls: Zwei israelische Kampfjets des Typs F-15 wurden bei ihrem Flug in den syrischen Luftraum auch vom Radar des Israelischer Kampfpilot deutschen Aufklärungsdoch überrascht gewesen, dass sie vom schiffes „Oker“ erfasst. Westliche MiRadar der syrischen Flugabwehr so litärs vermuten, die israelischen Piloten schnell geortet wurden, sagte ein Unifilhätten den Auftrag gehabt, eine WaffenOffizier. Um schneller flüchten zu könlieferung auf ihrem Weg von Syrien zur nen, hätten die Flugzeuge dann Zusatzradikal-islamischen Hisbollah im Libatanks abgeworfen. non zu zerstören. Die Israelis seien jed e r

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GIL COHEN MAGEN / REUTERS

Blauhelme bestätigen Attacke

Panorama T U R K M E N I S TA N

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SHEN BOHAN/XINHUA/WPN/AGENTUR FOCUS

richt nach dem Tod des Diktators Saparmurad Nijasow Tauwetter in der südlichsten aller ehemaligen Sowjetrepubliken an? Anderthalb Jahrzehnte hatte die „Sonne der turkmenischen Herzen“ das Land an der Grenze zu Iran und Afghanistan von der Außenwelt isoliert und mit einem bizarren Personenkult überzogen, bevor eine Herzattacke im Dezember 2006 den Staatschef hinwegraffte. Nachfolger Gurbanguly Berdymuchammedow, Nijasows Zahnarzt, scheint nun viele Entscheidungen seines früheren Patienten rückgängig zu machen. Als Erstes tat er zwar, was in despotisch geführten Staaten üblich ist: Er steckte die engsten Vertrauten seines Vorgängers ins Gefängnis, darunter den einstigen Chefleibwächter, die graue Eminenz Berdymuchammedow Präsidentenpalast in Aschgabad des Landes. Im Gegenzug ließ der Neue aber elf Männer frei, die wegen eines angeblichen Attentats auf gemeldet: Berdymuchammedow verkündete dem verblüfften den „Vater aller Turkmenen“ verurteilt worden waren – darun- Volk die „Wiedergeburt Turkmenistans“ und den Übergang zur ter den ehemaligen obersten Mufti des Landes. Anders als Marktwirtschaft; Löhne und Renten sollen angehoben werden. der „Turkmenbaschi“ zeigt der neue Staatschef auch keine Die USA haben auf die Neuigkeiten aus dem unterentwickelten, Berührungsängste beim Umgang mit dem Ausland. Nach Besu- aber erdgasreichen Wüstenstaat schnell reagiert. Ein Emissär chen in China, Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten des Washingtoner State Departments erreichte bei einem Besuch will er Ende September vor der Uno-Vollversammlung in New in der Hauptstadt Aschgabad, dass Turkmenistan sich am Bau York auftreten; es folgen Visiten in den Hauptquartieren von EU einer Gaspipeline durch das Kaspische Meer beteiligen wird – eiund Nato. Revolutionäres wird zudem aus dem Landesinneren ner Transportader, die Russland umgeht. Moskau muss das be-

FRANKREICH

Gefängnis statt Luxusbleibe?

EYEVINE / INTERTOPICS

ür einen schönen Lebensabend in Paris war alles vorbereitet. Dort hatte sich Manuel Antonio Noriega, dem Präsident François Mitterrand 1987 den Orden der Ehrenlegion verlieh, eine Reihe teurer Domizile zugelegt und dazu einige Millionen gebunkert. Doch auf den Einzug in die Rue de l’Université oder am Quai de Grenelle muss der frühere Diktator Panamas und Liebhaber teuren Whiskeys wohl verzichten. Nach der Verbüßung von 17 Jahren Haft in einer komfortablen Gefängnissuite in Miami – mit Telefon, Faxanschluss und kleinem Wohnzimmer – betreibt Frankreich seine Auslieferung. In Paris wurde Noriega 1999 in Abwesenheit wegen Geldwäsche zu zehn Jahren Haft und einer Geldstrafe von umgerechnet 11,2 Millionen Euro verurteilt. Der General hatte seine Karriere als Chef des militärischen Geheimdienstes begonnen, er dealte dann mit Kokainhändlern und pflegte Beziehungen zu Fidel Castro. In den achtziger Jahren war Noriega in die „Irangate“-Affäre verwickelt, als im Auftrag der CIA Waffen nach Iran geliefert wurden, die Erlöse des Deals aber den antisandinistischen Contras in Nicaragua zugute kamen. Da war er schon Diktator der Republik Panama. Präsident George Bush senior schickte 1989 Truppen ins Land, ließ Noriega verhaften und nach Miami bringen, wo man ihn wegen Drogenhandels verurteilte. Nun ist Noriega Anfang 70, die USA wollen ihn nach Frankreich ausliefern, seine Anwälte haben dagegen Berufung eingelegt. In Paris käme der Ex-Diktator hinter Gitter, in seiner Heimat wohl nur in Hausarrest – aus Altersgründen. Noriega (1990) 132

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KHALIL MAZRAAWI / AFP

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Prinz Talal SAU DI - A R A B I E N

Rebellischer Prinz

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ffentliche Kritik an den konservativen Verhältnissen im Königreich ist im Allgemeinen gefährlich – es sei denn, man scheut die drakonischen Strafen nicht oder ist selber Mitglied des Königshauses. Nun hat Prinz Talal Ibn Abd al-Asis, 76, ein Halbbruder des saudi-arabischen Königs Abdullah, 83, einen solchen Vorstoß gewagt und die

Ausland

unruhigen: Es war bislang auf das Gros des turkmenischen Gasexports abonniert und hatte diesen Monat selber einen Deal mit den Turkmenen geplant. Am 12. September wollte Präsident Putin in Aschgabad einen Vertrag über den Bau einer Pipeline unterschreiben, die 20 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich nach Russland pumpen soll – doch dazu kam es nun nicht.

Gründung einer weltlichen Partei angekündigt. Um die Gesellschaft aus dem „gefährlichen Tiefschlaf“ zu reißen, so Talal, müsse das Monopol „selbstgefälliger Machthaber in hohen Positionen“ gebrochen werden. Die Tiraden des Prinzen richten sich allerdings weniger gegen den König, der selbst als reformorientiert gilt, sondern gegen Innenminister Naïf Ibn Abd al-Asis und dessen reaktionäre Anhängerschaft. Talal hatte bereits in der Vergangenheit das Fahrverbot für Frauen und die allzu enge Auslegung islamischer Schriften verurteilt und damit den Hass der Religionsgelehrten auf sich gezogen. Parteien und Gewerkschaften sind in Saudi-Arabien verboten, als Verfassungsgrundlage dient allein das strengausgelegte Scharia-Recht; politische Posten werden meist innerhalb der Herrscherfamilie aufgeteilt. Dass König Abdullah die lokale Presse angewiesen hat, den Entschluss seines Halbbruders „nicht negativ“ zu kommentieren, werten Beobachter allerdings als hoffnungsvolles Zeichen. „Er will seine Reformen verwirklicht sehen, solange er noch lebt“, so ein Berater des Monarchen.

europäischer Musterschüler aufs Spiel – und das im Vorfeld der ersten EU-Ratspräsidentschaft ab Januar 2008. Die Vorwürfe reichen von Zensur bis zur Absetzung regierungskritischer Journalisten auf Druck der Regierung des rechtskonservativen Ministerpräsidenten Janez JanΔa. Berichte über mehrere Geheimdienstaffären, in die auch Politiker verstrickt waren, seien immer wieder zensiert worden, behauptet etwa Bla¢ Zgaga von der renommierten Tageszeitung „Ve‡er“. Auch der südosteuropäische Journalistenverband SEEMO in Wien ist alarmiert. Nach dem „vorbildlichen Verhalten“ zur Erfüllung der Kriterien für den EU-Beitritt scheine

S K A N D I N AV I E N

Angst vor dem Bären innlands Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn Russland ist seit JahrF zehnten von einer alten Volksweisheit geprägt: „Man darf den Bären nicht necken“, lautet die überlieferte Maxime. Umso ungewöhnlicher ist es, wenn Politiker, Diplomaten oder Militärs doch in überraschend offener Form gegen Moskau mobil machen wie jetzt Helsinkis Verteidigungsminister Jyri Häkämies. Die „drei größten sicherheitspolitischen Herausforderungen für Finnland heute sind Russland, Russland und Russland“, sagte der konservative Politiker bei einem Vortrag in Washington. Häkämies verwies auf Moskaus zunehmende Bedeutung als Weltmacht, „militärische Stärke“ spiele dabei eine „Schlüsselrolle“. Der Nordpol und die unerschlossenen Energieressourcen in

JanΔa

den Gewässern der Region, strategische Interessen im hohen Norden sowie die wichtigen Transportrouten durch die Ostsee – dies alles werde „Russlands militärische Interessen neu erwecken“, orakelte der Finne. Zwar gingen Präsidentin Tarja Halonen und Premier Matti Vanhanen sofort auf Distanz. Doch Häkämies Attacke trifft auf eine neuerdings durchaus verbreitete Stimmung unter den Nordländern. Auch sein gerade ausgeschiedener Stockholmer Kollege Mikael Odenberg hatte gewarnt, die geplante Gaspipeline durch die Ostsee gefährde nicht nur deren Öko-Haushalt, sondern auch „die Sicherheit unseres Landes“. Die Röhre, die später von Soldaten überwacht werden soll, verläuft rund 500 Kilometer durch schwedische Hoheitsgewässer. Selbst die sonst zurückhaltenden Norweger sind alarmiert. So bezeichnet die militärische Forschungsanstalt in Oslo Russland inzwischen als „militärische Bedrohung“. Russische Marine

KONSTANTIN ZAVRAZHIN / GAMMA / LAIF

JOBARD / SIPA PRESS

Druck auf die Presse ie Regierung in Ljubljana setzt durch massive Eingriffe in die D Pressefreiheit den Ruf des Landes als

sich die Regierung nun „wieder größere Freiheiten herauszunehmen“, sagt SEEMO-Generalsekretär Vujoviƒ. So dränge die politische Führung immer wieder auf die Einsetzung regierungstreuer Chefredakteure, die sich der Politik, nicht aber einer unabhängigen Berichterstattung verpflichtet fühlten.

DANIEL NOVAKOVIC / STA

SLOWEN I EN

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PER-ANDERS PETTERSSON / DPA (R.)

Titel

Aufständische im Grenzgebiet zu Afghanistan, Koranschüler in einer Madrasa von Rawalpindi, antiwestliche Demonstranten in Quetta,

Wo der Terror wohnt B

erlin-Moabit, verspiegelter Bürobau, zehnter Stock, Blick auf die Spree: das Lagezentrum des Bundesinnenministeriums. Jeden Morgen um 8.45 Uhr kommen die Experten von Wolfgang Schäuble zusammen und präsentieren dem Minister die Sicherheitslage der Nation. In ruhigen Tagen wird hier die Beschlagnahme von geschmuggelten Zigaretten vorgetragen oder die Festnahme einer Gruppe von Internet-Betrügern. In diesen Tagen aber ist das Lagezentrum vor allem eine Art „War Room“, in dem die neuesten Nachrichten aus einem unheimlichen Land eintreffen – aus Pakistan. Am Kopfende des Raumes hängt eine Leinwand, ein Beamer projiziert die Topografie des Terrors. Es ist eine Landkarte der Region in Südasien, auf der mit 134

roten Punkten die Orte vermerkt sind, an denen Anschläge stattgefunden haben, und jene Landstriche, in denen Trainingslager von Terroristen vermutet werden. Die Karte hat sehr viele rote Punkte. Einer davon markiert einen Ort namens Mir Ali im paschtunischen Stammesgebiet Waziristan. Glaubt man Nihad C., 27, dann ist Mir Ali so etwas wie die deutsche Exklave in Nordpakistan, ein Treffpunkt für junge Dschihadisten aus der Bundesrepublik, die sich fit machen wollen für den „Heiligen Krieg“. Das Lager, so hat es der gebürtige Bosnier aus Pforzheim geschildert, besteht aus vier Toyota-Pick-ups und ein paar Zelten, es geht um Beweglichkeit und um Tarnung, es ist eine ebenso moderne wie kaum aufzuspürende Version terroristid e r

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ULI DECK / DPA

Armenhaus und Atommacht, Verbündeter der USA und Brutstätte islamistischer Gewalt, Empfänger deutscher Entwicklungshilfe und Ausbildungsstätte deutscher Möchtegernterroristen: Das Pakistan des Militärherrschers Musharraf ist ein Land der Gegensätze – und eine Gefahr für die Welt.

Deutscher Terrorverdächtiger Daniel S.

Teuflischer Plan

AHMED FAYYAZ / DPA (L.); REUTERS (R.)

Militärherrscher Musharraf: „Wenn es eine zentrale Front im Kampf gegen den Terror gibt, dann ist es nicht der Irak, sondern Pakistan“

scher Logistik. Vornehmlich üben die Rekruten in Mir Ali das Mischen von Sprengstoff und den Umgang mit Waffen. Der Pforzheimer Nihad, der Ende Januar vom pakistanischen Geheimdienst ISI festgenommen wurde und umfassend über die deutsche Pakistan-Connection ausgepackt hat, gehört zu jenem guten Dutzend deutscher Islamisten, die in Pakistan eine militärische Ausbildung suchen und als potentielle Attentäter in die Bundesrepublik zurückkehren – so wie Fritz Gelowicz und Daniel S., die beiden Konvertiten aus Süddeutschland, die vorvergangene Woche zusammen mit Adem Y. festgenommen wurden. Das Trio Infernale war offenbar gerade dabei, die Bundesrepublik im großen Stil zu attackieren, drei Autobomben mit insgesamt rund 500 Kilogramm Sprengstoff sollten detonieren. Am Dienstag vergangener Woche bekannte sich eine obskure usbekisch-pakistanische Terrortruppe namens „Islamische Dschihad Union“ zu dem teuflischen Plan. Die „Brüder“ in Deutschland hätten einen Anschlag auf die US-Luftwaffenbasis Ramstein geplant. Wieder einmal, wie schon kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001, steht nun eine ganze Region unter Verdacht, den Terror in die Welt zu tragen, und wieder sind es Gebiete in Südasien. Nur das Land ist ein anderes. Diesmal geht es nicht um

Afghanistan, diesmal geht es um Pakistan. Bei keinem Staat dieser Welt reagiert die Bundesregierung mit so drakonischen Maßnahmen wie derzeit: Wer aus Pakistan nach Deutschland einreist, muss künftig damit rechnen, behandelt zu werden, als käme er aus einem Seuchengebiet. Schäubles Staatssekretär August Hanning hatte schon im Juni die Spitzen von Polizei und Geheimdiensten im Innenministerium versammelt. Es ging um die Frage, wie man der Gefahr vorbeugen kann, um das wohl umfassendste Abwehrprogramm, das eine Region seit vielen Jahren erfahren hat. Künftig sollen die Verfassungsschutzbehörden an deutschen Flughäfen Verbindungsbeamte plazieren, um verdächtige Personen, die aus Pakistan kommen, gezielt befragen zu können. Eine flächendeckende Überwachung des Telefonverkehrs aus Nordwestpakistan nach Europa steht auf der Wunschliste von Schäubles Ministerialen, scheitert derzeit aber an den gesetzlichen Möglichkeiten. Mindestens genauso besorgt ist London. Der britische Geheimdienst schätzt, dass schon 4000 islamistische Extremisten, die in pakistanischen Terrorcamps ausgebildet wurden, nach Großbritannien gekommen sind, präziser gesagt: zurückgekommen, denn die meisten von ihnen sind britische Staatsbürger. d e r

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Aber es sind nicht nur die deutschen und britischen Möchtegernterroristen, die Pakistan jetzt in das Zentrum des Interesses rücken, auch die Lage dort wird vor den Präsidentenwahlen immer dramatischer. Im Nordwesten des Landes riss ein junger Selbstmordattentäter am Montag vergangener Woche 18 Menschen in den Tod, am Donnerstag starben bei einem Attentat in einem Militärgebäude nahe Islamabad 15 Soldaten einer Spezialeinheit – Fortsetzung einer unheimlichen Mordserie, die über das Land schwappt. Gleich mit zwei Botschaften meldete sich der von manchen schon verstorben geglaubte Osama Bin Laden, 50, zurück – nach Meinung der allermeisten Experten tat er das von pakistanischem Boden aus, aus einem Versteck in den Bergen nahe der Grenze zur afghanischen Provinz Kunar. Eine schmerzliche Erinnerung gerade jetzt, zum sechsten Jahrestag des TwinTower-Terrors. Und eine Mahnung, dass der Krake al-Qaida sich trotz zahlreicher abgeschlagener Tentakel neu formiert hat. Einer aktuellen Einschätzung der amerikanischen Geheimdienste zufolge hat sich „al-Qaida in Pakistans gesetzlosen Gegenden gut eingenistet und ist besser positioniert, um den Westen anzugreifen“. Dass die politische Atmosphäre in Pakistan zum Zerreißen gespannt ist, 135

Brutstätte des Terrors Kabul

NORDWESTGRENZPROVINZ

Jalalabad Jalalabad Khyber-Pass

KASCHMIR

BAJAUR Peschawar Srinagar

Islamabad

AFGHANISTAN

Rawalpindi

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Bannu Mir Ali

Miram Shah

WAZIRISTAN

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CHINA

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Nachrichtenmagazin „Newsweek“ geLahore schrieben. „Wenn es denn eine zentrale PA K I S TA N Front im Kampf geNeu-Delhi PUNJAB gen den Terror gibt, BELUTSCHISTAN dann ist es nicht der IRAN Irak, sondern PaLarkana INDIEN kistan“, meint der Nahost- und IslamSINDH spezialist Fareed Za300 km karia. Karatschi Es ist ein Land der explosiven Gezeigt ein bizarres Schauspiel vom ver- gensätze: Armenhaus und Atommacht, gangenen Montag: Pakistans Ex-Premier Verbündeter der USA und Brutstätte islaNawaz Sharif, 57, vor acht Jahren aus mistischer Gewalt, Bush-Country und Bindem Amt geputscht, wegen Korruption zu Laden-Land zugleich; beherrscht von eieiner langjährigen Haftstrafe verurteilt nem Militärdiktator, den die demokraund des Landes verwiesen, landete an tische Supermacht USA, die doch sonst Bord einer Linienmaschine in Islamabad – so gern ihre Ideale exportiert, mit der und wurde unter Androhung einer er- Lieferung modernster Waffen und Milliarneuten Verhaftung nach vierstündigem dengeschenken verwöhnt. Ein 160-MillioAufenthalt wieder Richtung Saudi-Arabien nen-Menschen-Reich mit einer der höchsabgeschoben. Wütende Proteste seiner ten Geburtenraten der Welt und einem AnAnhänger legten Teile des Landes lahm, alphabetenanteil von rund 50 Prozent. Aber wird Pakistan in einigen Jahren der geschwächte General Musharraf, von allen Seiten bedrängt und zwischen- überhaupt noch existieren? Wie lange zeitlich kurz davor, den Notstand auszu- kann es gelingen, die den Staat auseinrufen, hatte eine weitere Pandora-Büchse anderzerrenden Kräfte zu bändigen, den selbstzerstörerischen und in alle Welt geöffnet. Den „bedrohlichsten Staat für die exportierten Terror einzudämmen, die Zukunft der USA“ hat der langjährige immer tiefer werdenden sozialen Risse hochrangige Regierungsbeamte Robert zu kitten? Wird dieses Land im Chaos verGallucci dieses Pakistan genannt, vom sinken, zu einer Art Somalia mit Atom„gefährlichsten Land der Welt“ das US- waffen verkommen, paradiesische Ausbil-

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dungsstätte für immer neue Meister des Dschihad? Pakistan ist eines der faszinierendsten Länder der Welt, mit Wüsten und Wäldern, Tiefebenen und im ewigem Schnee gleißenden Achttausendern, geprägt von der buddhistischen Gandhara- wie der muslimischen Mogul-Hochkultur; von Dareios dem Perserkönig und Alexander dem Großen einst ebenso begehrt wie von britischen Kolonialherren. Heimat der Grand Trunk Road und von Rudyard Kiplings literarischem Meisterwerk „Kim“; eine der Stationen des Great Game, des großen Spiels der Weltmächte, mit Verkehrsschlagadern wie dem Khyber-Pass Richtung Afghanistan und dem Karakorum Highway Richtung China. Immer an der schmerzlichsten Schnittstelle zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Moderne: Spitzenklasse im distinguierten Kolonialsport Kricket, unerreicht beim archaischen Reiterspiel Buskaschi, bei dem es um eine tote Ziege geht. Und nicht zuletzt ist die Islamische Republik Pakistan auch dies: der einzige Staat der Welt, der seine Geburt – bei der blutigen Teilung des Subkontinents 1947 in ein hinduistisch geprägtes Indien und ein muslimisches „Land der Reinen“ – dem Islam verdankt. Wie umfassend die Religion den Staat, die Verfassung, die Rechtsprechung prägen soll – bis heute spaltet diese Frage die Nation und macht die Pakistaner zu einem Volk, das auch 60 Jahre nach der Staatsgründung noch nicht vollständig

JOHN MOORE / GETTY IMAGES

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US-Armeeposten an der afghanisch-pakistanischen Grenze

seine Identität, seinen Weg, seine Werteordnung gefunden hat. Vier Brennpunkte einer Reise durch das Land, vier unterschiedliche Welten.

Rawalpindi/Islamabad: Machtzentrum der Armee, des Geheimdienstes – und Basis des „Dr. Seltsam“.

NIEHUES / ADVANTAGE

„Alle Staaten besitzen Armeen, aber bei uns besitzt die Armee einen Staat“, hat der pakistanische Nuklearphysiker Pervez Hoodbhoy einmal gesagt. General Pervez Musharraf, Militärdiktator und selbsternannter Präsident Pakistans, mit diesem Zitat konfrontiert, mochte die Aussage nicht kommentieren. Widerlegen konnte er sie nicht. Während 33 Jahren der Landesgeschichte regierten die Generäle Pakistan direkt, 27 Jahre spielten sie Demokratie und übten

Bin-Laden-Video (vom September)

Schmerzliche Erinnerung

ihren Einfluss hinter den Kulissen aus. Je zweimal durften Benazir Bhutto (1988 bis 1990 und 1993 bis 1996) sowie Nawaz Sharif (1990 bis 1993 und 1997 bis 1999) in einer Art Bäumchen-wechsel-dich-Spiel als Ministerpräsidenten ran, die Gewählten wurden häufig durch Generäle des Amtes enthoben. Kaum jemand im Land war wirklich entsetzt, als die Armee putschte: Denn beide Zivilisten hatten im Amt versagt, sie hatten Vetternwirtschaft und Korruption Tür und Tor geöffnet. Wenn das Demokratie gewesen sein sollte, konnte da Militärherrschaft schlimmer sein? Das Militär mit seinen gut 600 000 Mann und einem Viertel des jährlichen Staatsbudgets gilt als eine professionelle, aber auch durch Privilegien verwöhnte Truppe. Vor allem die höheren Ränge haben viel zu verlieren, wenn sich Pakistan auflösen sollte: Es gibt kaum etwas im Land, das den Offizieren nicht gehört oder woran sie nicht beteiligt sind. Die Armee besitzt fünf große Industriekonglomerate, teilweise als Stiftungen ausgewiesen; deren größte, die Fauji Foundation, unterhält eine Bank, eine Versicherung, Chemiefabriken und Elektrizitätswerke, Jahresumsatz zwei Milliarden Dollar. Das Militär ist der größte Bauherr im Land, lässt Schuhe herstellen, Zement mischen und hat sich über paramilitärische Ranger Fischereirechte gesichert. Stiftungen müssen in Pakistan ihre Bücher nicht kontrollieren lassen. Kein Wunder, dass sich die Ehrgeizigsten und Klügsten im Land zu d e r

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einer Armeekarriere entschließen, die Offiziere sind die wahre nationale Elite. Rawalpindi, die frühere britische Garnison, ist ihre Bastion. Und Islamabad, die 16 Kilometer entfernte, 1959 aus dem Boden gestampfte neue Hauptstadt (sie löste Karatschi ab), erst recht. Mit seinen lieblos in die Landschaft geschnittenen Autobahnen, den gesichtslosen Apartments und Büroblöcken wirkt Islamabad wie auf dem Reißbrett eines Generals entworfen. Die Bezirke mit ihren genormten Adressen – „Haus 13, Straße 20, Zone G/3“ – verstärken diesen Eindruck noch. Architektonischer Einfallsreichtum: außer Dienst; Phantasie: weggetreten. Jeden Tag pendelt Pervez Musharraf, 64, zwischen Rawalpindi und Islamabad, zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Dienstwagen. Vorsicht ist angebracht, denn schon dreimal entging Pakistans Militärherrscher nur knapp einem Attentat. Seine Feinde haben offensichtlich Zugang zu geheimsten Informationen. Musharraf, in Delhi geboren, mit einem der letzten Züge zusammen mit seiner Familie bei der Teilung des Subkontinents ins neue Land aufgebrochen und nur knapp dem folgenden Blutbad entgangen, ist ein Karriereoffizier, ausgebildet unter anderem am britischen Royal College of Defense. Ein brillanter Feldkommandeur, als strategischer Kopf weniger aufgefallen, dem Feinddenken gegenüber Indien verhaftet. Manche im Militär nennen ihn „Cowboy“. In Kargil überquert Musharraf 1999 als Generalstabschef, unterstützt von radika137

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Totentanz in Miram Shah Das pakistanische Stammesgebiet Waziristan gerät außer Kontrolle.

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Der Spediteur stammt wie Iqbal aus den Stammesgebieten, den Federally Administered Tribal Areas, der Pufferzone zwischen Pakistan und Afghanistan. Die Region ist traditionell eine Hochburg des Schmuggels. Niemand zahlt Steuern auf Autos, Waffen und Edelsteine, die hier den Besitzer wechseln. Bis vor Jahren gingen die Geschäfte bestens. Doch inzwischen ist alles ganz anders. Seit sich Taliban und Qaida-Kämpfer zu Tausen-

KNUT MÜLLER (L.); REUTERS (R.)

m Tag vor Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan müssten die Bewohner von Miram Shah im Stammesgebiet von Nord-Waziristan eigentlich Schlange stehen vor den kleinen Läden des Basars. Doch die Straße der 10 000 Einwohner zählenden Stadt ist wie leergefegt. Müll türmt sich vor den Häusern, aus den Haufen steigt der süßlich-scharfe Geruch gärender Abfälle auf. Am Eingang des Hospitals hängt ein großes Schild: „Geschlossen“. In der Poststation stapeln sich die Sendungen, der Postbote wagt sich nicht mehr auf die Straße. Die Kinder gehen nicht zur Schule. An diesem Tag steigt eine Gruppe von Passagieren in einen Kleinbus: 15 Reisende, ausschließlich Männer, die ins sieben Autostunden entfernte Peschawar wollen, das Handels- und Verwaltungszentrum in West-Pakistan. Unter ihnen ist der Händler Ahmed Iqbal. Er ist 36 Jahre alt und ein schmaler, nicht sehr großer Mann mit wachen, braunen Augen und kurzem Vollbart. Das weist ihn als moderaten Stammesmann aus. Auf dem Kopf trägt Iqbal das traditionelle Käppchen der Paschtunen und am Leib ein einfaches Gewand, einen Shalwar Kameez aus Baumwolle. Seit Jahrzehnten ist die Familie im Holz- und Autogeschäft tätig. Iqbal will in Peschawar den Abtransport von zwei Tonnen Ahornbalken aus seinem Dorf bei Miram Shah organisieren und Autoersatzteile bestellen: Batterien, Keilriemen, Motoren. Vor allem aber sucht er einen sicheren Platz für seine Frau Sheba und die neun Kinder. In Miram Shah können sie nicht länger bleiben. Bevor Iqbal in den Bus steigt, geht er noch einmal in den Telefonladen auf der anderen Straßenseite und führt ein Gespräch mit seinem Geschäftsfreund in Peschawar. Der Partner ist Spediteur, er schickt Waren quer durch das Land, sein Büro liegt an einer östlichen Ausfallstraße der Provinzhauptstadt. Er ist ein Mann in den Sechzigern und die inoffizielle Nachrichtenbörse für die Transportbranche im Stammesgebiet: Bei ihm laufen Lageberichte aus fast allen Gebieten ein, die er an Lkw-Fahrer und Geschäftsfreunde weitergibt. Mit Namen möchte er lieber nicht genannt werden.

werde heftig geschossen. Die Kämpfer in Waziristan, das weiß der Spediteur, sind vermummt, sie wollen nicht erkannt werden. Denn die Fronten zwischen denen, die mit den Taliban und al-Qaida kooperieren, und jenen, welche die traditionellen, eher moderaten Stammesführer der Region unterstützen, verlaufen mitten durch die Clans. „Sie gehen viel hinaus zum Jagen“, spricht Iqbal ins Telefon. Der Geschäftspartner in Peschawar weiß auch diese Worte zu entschlüsseln: Sowohl Islamisten als auch die pakistanische Armee haben überall Checkpoints errichtet. Die Bewohner von Waziristan, die Wazirs und die Mahsuds, fühlen sich dadurch gleich von zwei Seiten bedroht. Das Militär verdächtigt sie, mit den Taliban gemeinsame Sache zu machen, und

Stammeskämpfer in Waziristan, Stadtzentrum von Wana: „Wer Bestien züchtet, den beißen

den in das Grenzgebiet flüchteten, gilt Waziristan als Drehkreuz des internationalen Terrors. Ein klares Lagebild aus den Tribal Areas zu gewinnen ist schwierig, selbst Ansässige geben aus Furcht nur spärlich Auskunft. Doch der Spediteur in Peschawar versteht die oft verschlüsselten Botschaften seiner Geschäftspartner zu deuten. „Es ist sehr, sehr ruhig in Miram Shah“, hört er von Iqbal am Telefon. Er meint: In der Stadt herrscht Totentanz. Niemand traut sich noch aus dem Haus. Wer konnte, ist weggezogen, viele haben Land und Eigentum verkauft. „Und es ist sehr staubig“, fügt Iqbal hinzu, „alle tragen Tücher gegen den Staub.“ Er meint, so sagt sein Freund, es

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auch die Extremisten bezweifeln ihre Loyalität. In dieser Woche, der Spediteur hat es sogar aus offiziellen Quellen gehört, ging es in Waziristan wieder besonders heftig zu. 250 Soldaten der pakistanischen Armee, Polizisten und staatstreue Stammesleute sind in die Hände der Militanten gefallen; 12 von ihnen wurden Mittwoch in der Nähe der Stadt Bannu als Geiseln genommen. Am selben Tag will das Militär in den Bergen von SüdWaziristan 25 Rebellen erschossen haben; bei Gefechten dort kamen auch 10 Soldaten um. Allem Anschein nach sind die Truppen, die Pakistans Präsident Pervez Musharraf entsandt hat, nicht sonderlich erfolgreich. Die Taliban patrouillieren in

ihren Toyota-Pick-ups inzwischen selbstbewusst durch die Städte und Dörfer von Waziristan. Die Verbündeten von der Qaida gehören mittlerweile fast ebenso selbstverständlich zum Straßenbild. Es sind Araber und Usbeken und immer öfter auch Weiße aus Europa, jüngst wurden gleich mehrere Briten gesehen. Eine der ersten Adressen für globale Gotteskrieger ist das Trainingslager im Siedlungsgebiet von Spin Kai Raghzai nahe Tank in der Nordwestgrenzprovinz. Freiwillige melden sich beim TalibanHauptquartier in Wana, einer von Berggipfeln umgebenen 5000-EinwohnerStadt, dem Verwaltungszentrum der Region. Von dort aus werden die Anwärter freundlich weiterbefördert. Potentielle Selbstmordattentäter rekrutieren die Taliban inzwischen nicht

Ein Taxi bringt Iqbal auf die andere Seite der Stadt, zum Büro des Spediteurs. Dort sprechen die beiden zunächst übers Geschäft, darüber, dass das Holz nächste Woche aus Miram Shah abgeholt wird – von einem Lkw-Fahrer, der gute Verbindungen pflegt zu den Taliban. Auch eine Unterkunft für die Familie von Ahmed Iqbal werde sich finden lassen, sagt der Freund. Am Abend treffen sich die beiden auf dem Schuba-Basar zum Essen. Pferdekutschen und knatternde Tuk-Tuks drängen sich in den schmalen Gassen, es riecht nach dem Leder der Schuhmacher, nach gebackenen Süßigkeiten und dem Feuer der Kebab-Buden. Ahmed Iqbal und der Spediteur hocken im Schneidersitz, sie trinken Tee und haben Hähnchen und Hammel bestellt. Die

sie irgendwann auch selbst“

mehr nur in Koranschulen, den sogenannten Madrassen, sondern auch an regulären Lehranstalten. Viele Jugendliche werden in den Stammesgebieten auf offener Straße angesprochen – sie verschwinden dann einfach. All dies wissen die Bewohner von Waziristan, doch nie würde Iqbal so etwas am Telefon erzählen. Schweigen ist die Lebensversicherung für jeden, der nicht unmittelbar mit den Taliban verbunden ist. „Wenn Osama Bin Laden vor meinen Augen über den Basar von Miram Shah ginge, ich würde schwören, ihn nie gesehen zu haben“, sagt der Händler, als er nach über sieben Stunden Fahrt durch die Gebirgslandschaft von Waziristan verschwitzt am Kohat Bus Terminal im Süden von Peschawar eintrifft.

Männer schimpfen auf Präsident Pervez Musharraf und das politische „Establishment“ in Islamabad. Die Regierung selbst hätte die Extremisten über die Jahre heimlich gefördert, um sie als verdeckte Spieler im KaschmirKonflikt einsetzen zu können und in Afghanistan an Einfluss zu gewinnen. Nun seien die Militanten außer Kontrolle, der Extremismus breite sich immer weiter aus. Womöglich werde bald die ganze Nordwestgrenzprovinz talibanisiert sein, fürchtet der Spediteur: „Wer Bestien züchtet, den beißen sie irgendwann auch selbst.“ Dann bringt der Kellner die Spieße mit dem gegrillten Fleisch. Die Männer essen schweigend. Für einen Moment ist alles andere Nebensache. Susanne Koelbl, Mitarbeit: Zulifiqar Ali

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len Kaschmir-Kämpfern, die Grenze nach Indien und hätte so fast den vierten erfolglosen Krieg gegen den Nachbarn ausgelöst. Später erklärt er, das erfolglose Abenteuer auf Premier Sharifs Befehl ausgeführt zu haben. Als Musharraf merkt, dass der Ministerpräsident ihn als Armeeführer entlassen will, aber wegen seiner katastrophalen Wirtschaftspolitik kaum Rückendeckung hat, kommt er dem Rivalen zuvor und übernimmt in einem unblutigen Coup die Macht. Ein Großteil der pakistanischen Bevölkerung empfindet diese Entwicklung als positiv, fast als befreiend. Musharrafs Vorgänger, vor allem General Zia ul-Haq, haben die Verfassung immer mehr den Forderungen strikt religiöser Kreise angepasst. 1985 wurden SchariaGerichtshöfe ins Leben gerufen, die längst abgeschaffte Strafen wie Auspeitschen und sogar Steinigen wieder einführten. Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften wurden gegenüber Muslimen schlechtergestellt. Der neue starke Mann kümmert sich zunächst nicht um die Radikalen. Mit den Thesen fundamentalistischer Eiferer, gar einer weitergehenden Islamisierung des Landes hat Musharraf wenig im Sinn. Nach eigenem Eingeständnis trinkt er abends gern einen Whiskey und spielt mit seinen – für Puristen als „unrein“ geltenden – Schoßhündchen. Er sieht sich als weltoffenen Vertreter eines gemäßigten Islam. In einem SPIEGEL-Gespräch hat Musharraf sich als Bewunderer des laizistischen türkischen Erneuerers Kemal Atatürk zu erkennen gegeben. Aber der Militärherrscher macht keine Anstalten, sich mit den einflussreichen Scharfmachern unter den Mullahs anzulegen oder gar deren Dschihad-verherrlichende Koranschulen zu schließen. Auch den Geheimdienst ISI, durchsetzt von Förderern der radikalislamischen Taliban – die ja einst aus Pakistan aufgebrochen waren, um Afghanistan zu „säubern“ – lässt er zunächst weiter gewähren. Dann kommt der 11. September 2001, der Terror von New York und Washington – die große Herausforderung, die große UMFRAGE: TERRORCAMPS

„Sind Sie dafür, dass der Aufenthalt in einem sogenannten Terrorcamp, beispielsweise in Pakistan, nach deutschem Recht bestraft werden sollte?“

66 %

JA NEIN

26 %

TNS Forschung für den SPIEGEL vom 12. und 13. September; 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe

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Chance für Musharraf. Das Gottesgeschenk der Gotteskrieger. Die US-Regierung braucht nun Pakistan dringend. Der Taliban-Staat Afghanistan, der den Qaida-Terroristen eine Basis für ihre Operationen gegeben hat, soll bombardiert, seine Regierung gestürzt werden. Es ist klar, dass viele Terroristen nach Pakistan fliehen werden und sich dort neu formieren könnten. Aus dem vom Westen lange vernachlässigten Land wird buchstäblich über Nacht das Objekt Nummer eins amerikanischer Begierden. Die Weltmacht arbeitet dabei mit Peitsche und Zuckerbrot. Führende US-Politiker der Bush-Regierung hätten ihm gedroht, sein Land „in die Steinzeit zurückzubomben“, wenn er sich nicht am Anti-Terror-Kampf beteilige, wird Musharraf später berichten. Andererseits winken ihm für Kooperation hohe Wirtschaftshilfen und neue Waffen. Pakistans Präsident schlägt sich auf die Seite der USA, und zumindest wirtschaftlich hat sich das gelohnt – zehn Milliarden Dollar flossen. Aber um seine Macht zu sichern, treibt Musharraf ein Doppelspiel: Für die Mäzene in den USA gibt er den Jäger der Extremisten, zu Hause paktiert er mit islamistischen Parteien und versucht, durch Umgehung der Gesetze seine Amtszeit zu verlängern. Jede demokratische Opposition will er schon im Ansatz ersticken. Zunächst scheint das gutzugehen: Als der Atomwissenschaftler Abdul Qadir

September 2007 DEUTSCHLAND Die Polizei vereitelt geplante Sprengstoffanschläge auf US-Einrichtungen. Der Anführer, ein zum Islam konvertierter Deutscher, stand in engem Kontakt zur Ulmer Islamistenszene. Alle drei Festgenommenen gehörten zur usbekisch-pakistanischen „Islamischen Dschihad Union“ und sollen in pakistanischen Terrorlagern ausgebildet worden sein.

Spuren nach Pakistan Islamistischer Terror und die Verbindungen nach Pakistan New York

PETR JOSEK / REUTERS

Titel

Ex-Premier Sharif

Gescheiterte Heimkehr

Khan im Februar 2004 auf internationalen Druck hin zugeben muss, über Jahre hochgeheimes wie hochgefährliches Knowhow weitergegeben zu haben, akzeptiert Washington eine offensichtliche Farce. Musharraf darf unwidersprochen behaupten, der mit höchsten Staatspreisen ausgezeichnete „Vater der pakistanischen Bombe“ habe auf eigene Faust und ohne Wissen von Politikern wie Generalität gehandelt. Als Musharraf den skrupellosen Händler des Todes dann gleich am Tag nach dessen Geständnis begnadigt, protestiert kein US-Regierungsmitglied. Khan mag auch auf eigene Rechnung Geheim-

Juli 2007 LONDON/GLASGOW Drei fehlgeschlagene Anschläge mit Autobomben. Einer der Attentäter wurde vermutlich in Pakistan geschult.

nisse verraten haben, aber er hat nachweislich hohe saudi-arabische Regierungsvertreter empfangen, dealte mit iranischen Mullahs, war allein mindestens ein Dutzend Mal in Nordkorea. Die Bombe ist für Khan eine „Friedenswaffe“, die man der gesamten islamischen Welt zugänglich machen sollte. Bis heute darf den unter Hausarrest stehenden Khan kein Uno-Inspekteur vernehmen – schriftliche Anfragen müssen eingereicht werden, die Antworten aus Pakistan bleiben zum großen Ärger der Experten um den Chef-Waffenkontrolleur Mohamed ElBaradei unvollständig. „Khan ist mein Held“, sagte Musharraf über den Mann mit dem Spitznamen „Doktor Seltsam“; welchen Schaden der Nuklearwissenschaftler bei der Weiterverbreitung der Atombombenkenntnisse angerichtet hat, lässt sich bis heute nicht abschätzen. Für die pakistanische Elite aber wird der Frauenheld mit dem Omar-SharifSchnurrbart immer der Mann bleiben, der – nur wenige Wochen nach den indischen Nukleartests 1998 – mit seinen erfolgreichen Atombombenversuchen die Ehre der Nation gerettet hat. Kurze Zeit nach Khans Enttarnung im Jahr 2004 macht Washington Pakistan zu einem privilegierten „Nicht-Nato-Alliierten“, ein Status, den so traditionelle USFreunde wie Israel, Japan und Südkorea genießen und der zum Kauf modernster

August 2006 LONDON Die britische Polizei vereitelt Anschläge, bei denen mehrere Flugzeuge auf dem Flug von Großbritannien in die USA in die Luft gesprengt werden sollten. Fast alle der 22 Verdächtigen sind britische Muslime pakistanischer Herkunft. Einer der Anführer wird dort festgenommen.

7. Juli 2005 LONDON Bei Bombenexplosionen in drei U-Bahnen und einem Bus sterben 52 Menschen. Hunderte werden verletzt. Drei der Attentäter waren vor dem Anschlag in Pakistan. Die pakistanischen Behörden nehmen in den folgenden Wochen über 150 Extremisten fest. Herbst 2004 BARCELONA Die Polizei verhaftet elf Pakistaner. Sie werden als spanische Zelle der Qaida angeklagt.

Hamburg

Glasgow London Ulm

Usbekistan

Barcelona

PAKISTAN

11. September 2001 NEW YORK/HAMBURG Terroristen lenken entführte VerRamzi Binalshibh, Mitorganisator kehrsflugzeuge in das World der Attentate, wird am 11. SeptemTrade Center und das Pentagon. ber 2002 in Karatschi festgenomEin Flugzeug stürzt ab, bevor es men. Der Drahtzieher der Anschläsein Ziel erreicht. Drei der Piloten ge, Chalid Scheich Mohammed, stammen aus einer Hamburger wird am 1. März 2003 in Pakistan Terrorzelle. verhaftet. 140

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22. Dezember 2001 PARIS Der zum Islam konvertierte Brite Richard Reid wird bei dem Versuch festgenommen, mit „Schuhbomben“ ein Flugzeug auf der Strecke Paris– Miami zum Absturz zu bringen. Er bekam Unterstützung aus Pakistan. 3 8 / 2 0 0 7

28. März 2002 FAIZALABAD, PAKISTAN Der Personalchef der Qaida und Vertrauter Osama Bin Ladens, Abu Subaida, wird mit 60 Helfern nach einer Schießerei festgenommen. 23. Januar 2002 KARATSCHI, PAKISTAN Der US-Journalist Daniel Pearl wird entführt und gut eine Woche später enthauptet. Der Hauptangeklagte Omar Sheikh wird im Juli 2002 in Pakistan zum Tode verurteilt.

JOHN MOORE / GETTY IMAGES

Stammesführer von Nord-Waziristan, Armee-Offizielle in Miram Shah (im Februar): „Sehr wenige Schulden bleiben unbeglichen“

Waffensysteme berechtigt. Im Gegenzug gibt Musharraf den Amerikanern weitgehend freie Hand beim Anti-Terror-Kampf. Militärberater aus Washington und die Spezialeinheit 121, die schon Saddam Hussein aufgespürt hat, operieren im Stammesgebiet an der pakistanisch-afghanischen Grenze. Sie versuchen die QaidaKämpfer über die Bergpässe zu treiben und in die Falle zu locken. „Hammer-undAmboss-Taktik“ nennen das die US-Militärs stolz. Und so vielversprechend erscheint der US-Regierung die Kooperation, dass sie den Militärdiktator Musharraf wie ein rohes Ei behandelt und ihn sogar für seine „Demokratisierungsschritte“ lobt. In Wirklichkeit bleiben gerade solche – dringend erforderlichen Schritte – völlig aus. „Keinem anderen Verbündeten würde George W. Bush so viel Undemokratie durchgehen lassen“, kommentierte in Islamabad die Sozialwissenschaftlerin Samina Ahmed von der International Crisis Group verbittert. Musharraf durfte unter den Augen der Amerikaner das Ergebnis eines Referendums über die Verlängerung seines Präsidentenmandats manipulieren. Mit den religiösen Ultras ging er einen faustischen Pakt ein: Sie akzeptierten seine Militärherrschaft. Dafür unterstützte er ein Blasphemiegesetz, das religiöser Willkür Tür und Tor öffnet, und die „Hudud“-Verordnung, nach der eine weibliche Aussage vor Gericht auch bei Sexualdelikten nur einen Bruchteil einer männlichen zählt (weshalb 80 Prozent der inhaftierten Frauen in Pakistan wegen „Unzucht“ einsitzen, obwohl sie nach Recherchen unabhängiger Anwälte missbraucht wurden).

Musharraf leitet dann im umstrittenen Kaschmir vorsichtige Entspannungsschritte ein, fährt zum Friedensgipfel nach NeuDelhi. Der Westen hätschelt ihn, George W. Bush lädt ihn ein ins Weiße Haus und nennt ihn seinen „Buddy“ („Kumpel“). Auch Deutschland nimmt die nach dem Militärputsch gestoppte Entwicklungshilfe wieder auf, erlässt 55 Millionen Euro Altschulden, sagt insgesamt Gelder in Höhe von 68 Millionen Euro zu. Aber das hält den Militärherrscher nicht davon ab, sein wichtigstes dem Westen gegebenes Versprechen zu brechen: den selbstproklamierten „Dschihad gegen den Extremismus“. Kaum eine der radikalen Koranschulen im Land wird registriert; nach wie vor legen viele der Madrassen, die 1,5 Millionen junge Männer ausbilden, ihre Lehrpläne nicht vor. Gewaltpredigende Extremisten-Organisationen arbeiten nach dem Verbot unter neuen Namen weiter. Und statt die Justiz nach Kräften zu unterstützen, entlässt ein zunehmend arroganter und schlecht beratener Musharraf im März dieses Jahres Iftikhar Chaudhry, den Obersten Richter des Landes. Es folgt eine Demonstration, wie man sie auf den Straßen der Hauptstadt noch nie gesehen hat: Hunderte Richter und Anwälte in schwarzen Anzügen, weißen Hemden und gesteiften Kragen marschieren in ordentlichen Dreierreihen zum Protest. Als die Polizei zuschlägt, treffen sich die Juristen immer wieder zu neuen Märschen. Ging es anfangs nur um die Wiedereinsetzung des Kollegen, sind die Forderungen nun weitergehend: „Ende der Militärdiktatur“ steht auf manchen Transparenten. d e r

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Und diesem Aufruf schließen sich bald viele aus einer ganz anderen ideologischen Ecke an – radikale Mullahs, denen das Amerika-Entgegenkommen des Präsidenten und seine neuen Feldzüge gegen die Stammesgebiete an der afghanischen Grenze ein Dorn im Auge sind. Die extremistischen Gespenster, mit denen er einst paktiert hat, holen den Zauberlehrling Musharraf jetzt ein, dringen vor bis ins Herz der Macht. Sie besetzen die Rote Moschee in Islamabad, wenige Kilometer vom Amtssitz des Präsidenten entfernt. Die Islamisten sind offensichtlich bestens mit Waffen versorgt und straff geführt, sie fordern den Rücktritt Musharrafs und provozieren die Staatsgewalt mit Schüssen und Geiselnahmen. Lange zögert der Militärherrscher, versucht zu verhandeln, dann entschließt er sich doch zum Sturm: Dutzende, womöglich Hunderte verlieren ihr Leben. Selbstmordattentäter rächen ihre „Märtyrer“, innerhalb einer Woche sterben im Juli mehr als 150 Menschen. „Tod dem Verräter Busharraf! Tod den Amerikanern!“, rufen die Demonstranten. Einer war schon immer davon überzeugt, dass Musharraf mit seiner Nähe zum US-Präsidenten sein eigenes Grab schaufeln würde: Ex-Geheimdienstchef Hamid Gul. Ein luxuriöser Bungalow in Rawalpindi, Wembley-Rasen, geschmackvolle Rattanmöbel – der immer noch sehr einflussreiche Pensionär empfängt gern in seiner Villa und zeigt stolz die Souvenirs aus alten Zeiten: den Gebetsteppich, den er von seinem damaligen saudi-arabischen Kollegen Prinz Turki Ibn al-Feisal („ein 141

MARC STROHFELDT / NACHELF.DE (L./R)

Laube der Familie Y., Wohnort Südliche Ringstraße in Langen, Terrorverdächtiger Adem Y.: „Niemand hätte geglaubt, dass so etwas bei

Die verschwundenen Söhne Der Terrorverdächtige Adem Y. soll diverse deutsche Islamisten nach Pakistan vermittelt haben.

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er Kioskverkäufer in Langen bei Frankfurt nahm die Sache nicht so ernst. Jeden Sonntag hatte Sadullah K. bei ihm die türkische Tageszeitung „Hürriyet“ gekauft, Woche für Woche war sein Bart etwas länger geworden. „Wirst du jetzt Taliban, oder was?“, habe er ihn deshalb halb im Scherz gefragt. K. habe nur schüchtern gelacht. Dann, im Januar, war der Stammkunde plötzlich weg – spurlos verschwunden. Ähnlich lief es bei Salih S. aus dem benachbarten Frankfurter Stadtteil Fechenheim. Er lebte mit seiner Frau und seiner Tochter in einem einfachen Mehrfamilienhaus über einem Supermarkt. Verkäuferinnen aus der benachbarten Bäckerei wunderten sich über sein Äußeres: langes arabisches Beinkleid, zunehmend zotteliger Bart. Auch S. verschwand, er reiste im März nach Antalya aus. Und so geht es weiter: Familie S. aus Dietzenbach sorgt sich um ihren Filius Omid, der Anfang Juni verschwand – wahrscheinlich nach Pakistan, dorthin, wohin es auch die Brüder Hüseyin und Bekir Ö. gezogen hatte. Der pakistanische Geheimdienst ISI hat die beiden Türken im Juni aufgegriffen, sie sitzen in Karatschi im Gefängnis. Die verschwundenen Söhne von Langen und Umgebung eint eins: Sie alle zählen zum Umfeld des potentiellen Terror-Trios Fritz Gelowicz, Daniel S. und Adem Y. Die drei waren vorvergangene Woche bei dem Versuch festgenommen worden, Wasserstoffperoxid zu einer sprengfähigen Masse anzureichern. 26 militärische Zünder aus Syrien hatte das Trio bereits beschafft. „Allenfalls Vorbereitungshandlungen“ seien seinem Mandanten bislang nachzuweisen, sagt

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der Anwalt von Adem Y., Michael Murat Sertsöz. Mit Hochdruck sucht die Bundesanwaltschaft derzeit nach Mitwissern und Unterstützern der „Islamischen Dschihad Union“ (IJU), die hinter dem Plan stecken soll; insgesamt sind acht namentlich bekannte Personen beschuldigt. In Nordpakistan haben Geheimdienste eine IJUKontaktperson ausgemacht, eine weitere im iranischen Zahedan. Als möglicher Hintermann gilt ein Mitglied der IJUFührung namens Nasmedin Zhalolov. Bei ihren Ermittlungen konzentrieren sich die Fahnder auf das engste Umfeld der drei Verhafteten: Gelowicz’ Bekannte in Ulm, die Freunde von Daniel S. im saarländischen Neunkirchen und die hessische Islamisten-Szene rund um Adem Y. Der in Deutschland aufgewachsene Türke gilt den Ermittlern als derjenige, der diverse junge Männer nach Pakistan vermittelt hat. Seine Familie lebt in einem Mehrfamilienhaus in der Langener Südlichen Ringstraße, im selben Wohnblock wie Bekir und Hüseyin Ö. Auch Sadullah K. kannte er gut. Seit vorletzter Woche wissen die Langener nun, dass es nicht mehr nur um vermisste Söhne geht. Inzwischen geht es um die Frage, wer aus der deutschen Provinz zur IJU abgetaucht ist und wo die Faszination für den Heiligen Krieg endet: im Terrorlager, im Gefängnis – oder im Tod? Als Langen kurz nach den Verhaftungen seinen „interkulturellen Tag“ feierte, habe es am Stand der Moscheegemeinde nur ein Thema gegeben, sagt Ömer Ok, der Vorsitzende des Ausländerbeirats: die mutmaßlichen Verbindungen aus der hessischen Provinzstadt in die Welt des internationalen Terrorismus. „Wir ha-

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ben hier 40 Jahre friedlich zusammengelebt, gemeinsame Veranstaltungen mit den christlichen Kirchen gemacht“, sagt Ok. „Niemand hätte geglaubt, dass so etwas bei uns möglich ist.“ Besonders gerätselt wird im Ort über Adem Y., der im hessischen Gefängnis Weiterstadt einsitzt. Alte Freunde und Bekannte schildern ihn als zurückhaltend, fast schüchtern. Der Vater, der wie die Mutter nur wenig Deutsch spricht, erzählte Besuchern, der Sohn sei am Sonntag vor der Festnahme noch zu Hause gewesen und habe bei der Installation einer Satellitenschüssel geholfen. Adem habe dabei Angst gehabt, es könne ihn ein Stromschlag treffen. Der älteste Sohn der Familie begann nach der Schule eine Ausbildung bei der Deutschen Bahn. Dort arbeitete er von 1997 bis 2002 – ausgerechnet bei der DB Sicherheit. In blauer Uniform und mit rotem Barett durchquerte er häufig auch den Bahnhof des Flughafens Frankfurt. Der Airport war laut einem mitgehörten Gespräch zwischen Gelowicz und Adem Y. eines der potentiellen Anschlagsziele. Vor fünf Jahren kündigte er, danach bezog er Arbeitslosengeld. An jenem Sonntag zwei Tage vor seiner Verhaftung erzählte Adem zu Hause von einem neuen Job in Ostdeutschland, deshalb müsse er weg, vielleicht für länger. Die Eltern freuten sich trotzdem: Endlich, glaubten sie, finde der Sohn wieder Arbeit. Die Ermittler zeichnen dagegen ein anderes Bild: „Aus unserer Sicht war er der Kristallisationspunkt der Gruppe für die Region Frankfurt und Hessen“, sagt Peter Raisch, der Präsident des Hessischen Landeskriminalamts. Aufgefallen war Y. erstmals 2002, als er in Frankfurt den radikalen Predigten des einschlägig bekannten Saudis Sharyoufi lauschte. Es folgten Reisen nach Syrien und, 2005, eine Pilgerfahrt nach Saudi-Arabien. Im März 2006, so die CIA, sollen Y. und Gelowicz eine Ausbildung in einem IJU-Lager in Pakistan absolviert haben. Danach muss Adem Y. auch sein Umfeld für diesen Weg begeistert haben.

ULI DECK / DPA

uns möglich ist“

Samstags spielte er gern auf einem Langener Bolzplatz Fußball, mit anderen türkischen Jugendlichen. „Da kickte die gesammelte Islamisten-Szene“, so ein Ermittler. Danach ging es oft in eine Gartenlaube am Leukertsweg zum Barbecue. Die Fahnder gehen inzwischen davon aus, dass in der Langener Laube Rekrutierungsgespräche stattfanden und Details über die Reisen nach Pakistan ausgetauscht wurden. Vermutlich war es auch Adem Y., der die Reise seines saarländischen Freundes Daniel S. organisierte, der im Herbst vorigen Jahres verschwand und wie verschiedene Islamisten aus Deutschland in den Fängen des Geheimdienstes ISI landete. Im Februar schickten die pakistanischen Behörden den abgemagerten Deutschen zurück ins Saarland. Danach kam es laut „Saarbrücker Zeitung“ im Haus der Mutter gar zu einem Zusammentreffen des Heimkehrers mit einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes – die besorgte Familie hatte von sich aus Kontakt zu der Behörde gesucht. Doch S. ließ sich offenbar nicht mehr abhalten, seinen perfiden Plan weiterzuverfolgen. Am Donnerstag vor der Festnahme schaute er abends zum Essen bei seiner Mutter vorbei, blieb über Nacht und schenkte ihr einen Koran mit handschriftlicher Widmung: „Dieses Buch soll Dir Trost spenden in schweren Zeiten.“ Zuvor hatte S. offenbar zusätzliche Freiwillige angeworben und auf den Weg nach Pakistan geschickt, den Konvertiten Jan S. etwa oder Eric B., der sich mit Daniel S. im Saarbrücker Ortsteil Herrensohr Bad und Küche teilte und derzeit als vermisst gilt. Akribisch fügen die Fahnder Puzzlestein an Puzzlestein. Dutzende Islamisten gelten als Verdächtige, weil sie Kontakte nach Pakistan unterhielten. Wer freilich außer dem inhaftierten Trio von dem Vorhaben wusste, Substanzen für mögliche Anschläge zu horten, ist unklar – und wird womöglich kaum aufzuklären sein. Denn mit Zafer S., 22, und Attila S., 22, befinden sich zwei Schlüsselfiguren im

Ausland. Ob sie jemals wieder nach Deutschland zurückkehren, ist offen: Zafer S., der nach Angaben seines Vater einen Sprachkurs absolviert, besorgte sich vorsorglich neben den deutschen Reisepapieren auch einen türkischen Pass. Die Ermittler konnten nachvollziehen, dass er Ende Juni von der Türkei nach Ägypten reiste. Dort verliert sich seine Spur. Attila S., ein Autohändler aus Ulm und einer der engsten Freunde von Fritz Gelowicz, hält sich momentan in der Türkei auf, wo er nach Angaben seines Anwalts Manfred Gnjidic geheiratet hat. Der Mann mit dem Spitznamen „Muaz“ gehörte zu der Gruppe von Islamisten um Gelowicz, die am Silvesterabend 2006 gesehen wurde, wie sie eine Hanauer US-Kaserne beobachtete. Wie sicher sich der mittlerweile in Stuttgart-Stammheim einsitzende Gelowicz gefühlt haben muss, zeigt eine Episode vom Jahresanfang. Nach einer Durchsuchung seiner Wohnung in Ulm äußerte sich Gelowicz am 6. Januar auf der Polizeiwache. „Ich bin unschuldig. Ich habe weder eine Straftat geplant oder verübt“, gab er dort in ungelenker Handschrift zu Protokoll. „Ich möchte des Weiteren sagen, dass ich nicht genau verstanden habe, was mir vorgeworfen wird.“ Matthias Bartsch, Simone Kaiser, Marcel Rosenbach

großer Freund der Taliban und Bin Ladens“) geschenkt bekommen hat oder die Plakette vom Bundesnachrichtendienst, mit einem aus der Berliner Mauer herausgebrochenen Stein und der Inschrift: „Unserem respektierten Bündnispartner, der sich große Verdienste erworben hat“. Natürlich habe er Bin Laden gut gekannt, diesen „bescheidenen und brillanten Kämpfer“, erzählt der Islamisten-Sympathisant Gul. Er sei Ehrengast der Taliban bei deren Regierungsfeier in Kabul gewesen – und sich immer treu geblieben. Nicht er habe die gemeinsame Linie im Kampf um Afghanistan verlassen, das hätten die Amerikaner getan. „Früher gehörte Dschihad zu den Washingtoner Lieblingsvokabeln“, sagt Gul. „In den Achtzigern, als es gegen die Sowjets in Afghanistan ging, konnten sie nicht genug Waffen an die Mudschahidin liefern, und auch später mit den Taliban haben sie wegen einer möglichen Ölleitung noch gedealt. Dann wurden aus den früheren Freiheitskämpfern Terroristen – diesen Schwenk verstehen die Menschen in den Grenzregionen nicht.“ Stimmt es, dass er früher seine TalibanFreunde rechtzeitig vor amerikanischen Angriffen gewarnt hat, dass er das heute noch tut? Gul schüttelt verärgert den Kopf. „Ich habe schon lange keine solchen Kenntnisse mehr.“ Dass er nach wie vor zu Geheimdienstkonferenzen und strategischen Besprechungen des ISI eingeladen werde – „alles ein Gerücht“. Apropos Gerüchte: Gul glaubt bis heute nicht an die „offizielle Version“ des 11. September. „Einige CIA-Kollegen, US-Militärs und der israelische Mossad müssen in die Anschläge eingeweiht gewesen sein. Warum sonst sind die Abfangjäger erst so spät aufgestiegen?“ Der pakistanische GeheimdienstVerschwörungsfanatiker weiß sich mit dem „Ausverkäufer des Landes namens Musharraf“ nur in zwei Punkten einig. Da ist einmal der Stolz auf die Atombombe, von der sie beide glauben, dass sie „im nationalen Notfall“ auch eingesetzt werden

Taliban-Trainingslager im Grenzgebiet

„Tod dem Verräter Busharraf“ d e r

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Dass das Pearl-Projekt kein rührseliges Terror-Melodram geworden ist (wie etwa Oliver Stones „World Trade Center“), sondern die subtile Chronik einer Höllenreise, liegt vor allem am GenreDer Kinofilm „Ein mutiger Weg“ rekonstruiert die Ermordung erfahrenen Regisseur: Der Brite Mides US-Reporters Daniel Pearl in Pakistan. chael Winterbottom, 46, hatte zuvor bereits zwei quasi-dokumentarische er bekannteste Film, der je in amerikanischen Helfer immer wieder Spielfilme in Pakistan gedreht. Für Pakistan gedreht wurde, ist ein antreibt und sich gegen Verzweiflung „The Road to Guantanamo“, eine sugHorrorvideo. Man sieht nicht und Bitterkeit wehrt, zeigt jetzt der gestive Arbeit über drei muslimische Engländer, die als vermeintliche Terviel von Pakistan darin, nur eine dunk- Kinofilm „Ein mutiger Weg“. Die packende pseudo-dokumentari- roristen im US-Lager auf Kuba landele Wand, aufgenommen irgendwo im Millionen-Moloch Karatschi. Vor der sche Mischung aus Thriller und Tragö- ten, gewann er bei den Berliner FilmWand hockt, gefesselt und gedemütigt, die ist eine Produktion von Hollywood- festspielen 2006 einen Silbernen Bären. Auch „Ein mutiger Weg“ wollte der unfreiwillige Held des Werks, der Star Brad Pitt, 43, der Mariane Pearl US-Journalist Daniel Pearl. Die Hand- die Filmrechte an ihrer Geschichte ab- Winterbottom wieder an Originallung des Films wird der Chefplaner der gekauft hat. Mariane wird gespielt von schauplätzen in Pakistan drehen. So Anschlage des 11. September, Chalid Pitts Lebensgefährtin, Oscar-Preisträ- filmte er mit seiner Crew zum Beispiel das Restaurant, in dem Pearl einen Scheich Mohammed, später so zu- gerin Angelina Jolie, 32. Die Wahl der Hauptdarstellerin Qaida-Kontaktmann treffen sollte – sammenfassen: Mit seiner „gesegneten rechten Hand“ habe er den Kopf „des sorgte im Vorfeld für hämische Kom- eine Falle, wie der Reporter zu spät amerikanischen Juden Daniel Pearl“ mentare. Zu bizarr erscheint die Wand- erkannte. Winterbottom und seine Mitarbeiter gerieten, trotz Drehgenehmigung, bald mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI aneinander. ISI-Leute belästigten die Crew und sorgten dafür, dass Karatschis Polizei ihre Zusammenarbeit mit dem Filmteam einstellte. Dabei hatte der ISI 2002 bei der Suche nach dem gekidnappten US-Journalisten geholfen; der örtliche Captain der Anti-TerrorEinheit habe gar „alles getan, was in seiner Macht stand“, sagte Mariane Pearl im SPIEGELTerroropfer Pearl (2002), „Ein mutiger Weg“-Darstellerin Jolie: Neue Eskalationsstufe Gespräch (5/2004). Der Captain und seine Kollegen waabgeschnitten, gab er seinen Verneh- lung, die die Schauspielerin mit den berühmtesten Lippen der Welt in den ren nicht zimperlich. Winterbottom mern in Guantanamo zu Protokoll. Das Video, das die Enthauptung von vergangenen Jahren vollzogen hat. zeigt, wie Verdächtige gefoltert werden; Daniel Pearl vor laufender Kamera Ausgerechnet Jolie, das einst üppig die Grenzen zwischen Gut und Böse zeigt, schockierte im Februar 2002 die tätowierte Glamour-Luder, die fleisch- verwischen. Böse sind aus Sicht der paWelt. Mit perfidem Stolz dokumen- gewordene Computerspielphantasie kistanischen Behörden von vornherein tierten die Täter eine ungeheuerliche („Lara Croft“), mittlerweile zur phil- alle Inder; ein pakistanischer Minister Barbarei, eine neue Eskalationsstufe anthropischen Übermutter mutiert, soll behauptete während der Entführung im Kampf islamistischer Terroristen glaubhaft die tapfere Mrs Pearl ver- gar, das Ganze sei eine Verschwörung des Erzfeindes Indien. körpern? gegen den Westen. Ironie der Geschichte: Am Ende Doch Angelina Jolie spielt ihre RolZugleich beendete der via Internet weltweit verbreitete Film jede Hoff- le ausgezeichnet, nämlich zurückhal- musste Winterbottom tatsächlich die nung, den Wochen zuvor bei Recher- tend, wohl wissend, dass „Schauspie- meisten Szenen in Indien drehen. Sochen in Karatschi entführten 38-jähri- lerei und Politik ja manchmal eine ganz gar die Rolle des pakistanischen Capgen Reporter des „Wall Street Journal“ schlechte Verbindung eingehen“, wie tains übernahm ein Inder, der Bollydoch noch lebend zu finden. Pearls sie dem SPIEGEL (35/2007) sagte. Bei wood-Star Irfan Khan. Regisseur Winterbottom arbeitet französische Ehefrau und Kollegin Ma- der Premiere von „Ein mutiger Weg“ riane, damals 34 und im sechsten Mo- beim Filmfestival in Cannes teilte die derweil am nächsten Projekt: „Mord nat schwanger, hatte mit unbändiger Diva das Rampenlicht mit der echten in Samarkand“ handelt von Folter in Energie diese Suche vorangetrieben. Mariane Pearl, die gemeinsam mit Usbekistan. Es soll, verspricht WinWie sie vor Ort für ihren Mann kämpft, ihrem mittlerweile fünfjährigen Sohn terbottom, eine schwarze Komödie die pakistanischen Ermittler und ihre Adam über den roten Teppich schritt. werden. Martin Wolf

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Basarstraße in Peschawar: „Jeder Mann ist ein Krieger, ein Politiker, ein Theologe“

müsste. Der Präsident hat im Vorzimmer seines Büros eine Glasvitrine mit einem gelbglühenden Original-Stein vom Testgelände plaziert und dafür gesorgt, dass in allen größeren pakistanischen Städten an zentralen Stellen „Monumente des nuklearen Stolzes“ errichtet wurden. Und Musharraf wie Gul glauben, dass für die Zukunft Pakistans die Grenzregionen zu Afghanistan, das Terror-Stammesland, die entscheidende Rolle spielen werden.

Peschawar: Paschtunenhochburg, Wilder Westen, Islamistenparadies. Mag sein, dass in dieser Stadt mal das Wasser knapp geworden ist, dass es an Unterkünften fehlte, an Transportmöglichkeiten. Aber an einem herrschte hier garantiert nie ein Mangel: an Geschichten. In Peschawar, der letzten großen Station vor dem legendären Khyber-Pass, trafen sich immer Waffenverkäufer und OpiumDealer, Nachrichtenhändler und Spione aller Schattierungen und tauschten auf dem Qissa Khawani, dem Basar der Geschichtenerzähler, ihre Informationen aus. Immer noch hat die Hauptstadt der Nordwest-Grenzprovinz den Charakter einer Wildwest-Frontstadt, ein „zentralasiatisches Dodge City“ nannte der frühere örtliche CIA-Chef Peschawar. Doch seit dem Sieg der Islamisten bei den Provinzwahlen im Jahr 2002 fehlen in den Basaren manche Farben, manche Zwischentöne: Filmplakate sind verboten, Musikkassetten nur unter dem Ladentisch zu erhalten, statt Frauen mit bunten Tüchern und wehenden Haaren wie früher herrscht jetzt tiefverschleiertes Rabenschwarz. Neben Potenzmitteln aus Schlangengift und handgefertigten dritten Zähnen

sind in diesen Tagen Dschihad-Literatur und Mullah-Omar-Poster die Renner. Peschawar steht für eine KalaschnikowKultur: Fast jeder Mann trägt hier eine Waffe; im „Pearl Continental“, dem besten Hotel am Platz, wird der Gast auf einem Schild höflich aufgefordert, das Gewehr „bitte am Eingang abzugeben“; in den Teestuben und im traditionellen Qaida-Treff, dem unscheinbaren „Greens“-Hotel in Bahnhofsnähe, muss man sich solche Umstände nicht machen. Hier trafen und treffen sich Paschtunen von diesseits und jenseits der Grenze. Das stolze Volk mit seinen insgesamt gut 30 Millionen Menschen, die sowohl in Pakistan als auch in Afghanistan leben, hat von jeher großen Wert auf seine Unabhängigkeit gelegt. Selbst die waffentechnisch hochüberlegenen Briten konnten die Widerspenstigen nie besiegen. „Diese Stämme sind immer in öffentliche und private Kriege verwickelt“, schrieb der junge Kriegsreporter Winston Churchill 1898 in seinen Aufzeichnungen. „Jeder Mann ist ein Krieger, ein Politiker, ein Theologe. Jeder Clan pflegt seinen Rachefeldzug. Nichts wird jemals vergessen, und sehr wenige Schulden bleiben unbeglichen.“ Die willkürliche Grenzziehung der Briten haben die Paschtunen nie akzeptiert. Sie waren in der vordersten Linie beim Kampf gegen die sowjetischen Besatzer in Afghanistan, sie stellten später den Großteil der Taliban. Einige üben heute noch Terror aus, gegen westliche „Eindringlinge“, gegen pakistanische „Verräter“ in Armeeuniform. Um „Zan, Zar, Zamin“ („Frauen, Gold und Land“) drehe sich traditionell die Welt dieses unbezähmbaren Volksstamms, kond e r

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statiert die amerikanische Anthropologin Cherry Lindholm. „Bei dem permanenten Kampf um Macht werden nur zwei Typen unterschieden, die Starken und die Schwachen. Die Starken verschaffen sich Prestige durch Aggression, Mut und Selbstbezogenheit, sie müssen die Kunst der Intrige beherrschen.“ Bestimmt wird das Leben durch den Ehrenkodex des Paschtunwali, der das Recht auf Rache betont, aber auch zur bedingungslosen Gastfreundschaft gegenüber Fremden verpflichtet. Das nutzten „die Araber“, wie die Fremden meist pauschal genannt werden – Osama Bin Laden, Aiman al-Sawahiri und Co. –, die in den achtziger Jahren Peschawar zu ihrer Basis machten. Vom amerikanischen Geheimdienst mit Waffen und von Saudi-Arabien mit Millionengeldern gefördert, halfen sie mit, die sowjetischen Invasoren aus Afghanistan zu vertreiben. Aber sie hatten auch schon die anderen „Gottlosen“ im Auge, die Amerikaner – und als sich die Regierung in Riad während des ersten Irak-Kriegs mit Washington verbündete, propagierten sie auch den Sturz des Königshauses Saud. Doch die fremden Gäste waren nicht überall im PaschtunenGebiet wohlgelitten, obwohl Mullah Omar und seine Taliban der Qaida zunächst die Einrichtung von Terrorlagern gestatteten. Und sie sind auch heute nicht beliebt, da nach dem 11. September Tausende aus den bombardierten Afghanistan-Gebieten in die unzugänglichen „Tribal Areas“ auf die pakistanische Seite flohen: Usbeken, Tschetschenen, Uiguren und Kämpfer aus arabischen Ländern – unter ihnen wahrscheinlich auch die beiden meistgesuchten Terroristen der Welt. Aber mindestens genauso verhasst sind manchen Paschtunen 147

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Nuklearwissenschaftler Khan in Islamabad (1999), Atomtest in den Bergen von Belutschistan: Geständnis vom „Vater der Bombe“

offensichtlich andere Eindringlinge: die Militärs aus Islamabad. Rund 20 Kilometer von Peschawar entfernt beginnen die Stammesgebiete, die sieben „Agencies“, denen der pakistanische Staat schon gleich nach der Gründung weitgehende Autonomie zugesagt hat, ein rauhes, unzugängliches, zerklüftetes, sehr dünn besiedeltes Bergland. Gut 500 Kilometer lang ist die Grenze zwischen diesen Stammesgebieten und Afghanistan. Hat General Musharraf alles getan, um die Top-Terroristen aus den „Agencies“ zwischen Bajaur im Norden und Waziristan im Süden zu vertreiben, sie zu ergreifen oder zu töten? Sollte er besser mit den Stammesführern dealen, um sie mit Geld und guten Worten zur Aufgabe der Unterstützung zu bewegen? Lange hat er sich gegenüber den drängenden Amerikanern geweigert, eine nennenswerte Anzahl seiner Soldaten in das mörderische Grenzland zu schicken. Dann entsandte er schrittweise bis zu 100 000 Soldaten. Sie errangen kaum Erfolge, „ihnen fehlte die entsprechende Ausbildung zur Bekämpfung Aufständischer“, sagt Hank Crumpton, ehemaliger CIA-Mann und Regierungsberater in Washington.

Lahore: Stadt der Künstler, Stadt der Opposition. Vier Autostunden südlich von Islamabad, nahe der indischen Grenze: ein Zentrum der Hochkultur. Im 17. Jahrhundert, als die Mogul-Herrscher von hier fast über den gesamten Subkontinent und große Teile des heutigen Afghanistan herrschten, stellte diese Metropole London und Paris weit in den Schatten. 148

Im Nordwesten der Altstadt thront das mächtige Fort, eine Befestigungsanlage der besonderen Art, die den Spiegelpalast Shish Mahal beherbergt, die Perlmoschee Moti Masjid. Einheimische wie Besucher flanieren in den Shalimar-Gärten, sie besuchen das schlichte Mausoleum des Dichterphilosophen Muhammad Iqbal und die alte Kanone Zam-Zammah. Lahore ist Beleg dafür, dass es ein Reich jenseits von Terror und Armut gibt, ein lebenslustiges, aufgeschlossenes Pakistan. Auch wenn die einst berühmten Dichterstuben und Kurtisanenhöfe längst geschlossen sind, lässt sich die Weltoffenheit dieser Stadt schon in den ersten Stunden spüren. Und bedürfte es eines Beweises dafür, liefern ihn die überall in der Hauptstadt der Provinz Punjab aushängenden Plakate, die so in Rawalpindi oder gar in Peschawar undenkbar wären: Sie zeigen pakistanische Models in frivolen Posen, unverschleiert. Hier wurden kürzlich auch unter großem Publikumsandrang die „Vagina-Monologe“ aufgeführt, ein Theaterstück aus New York. Asma Jilani Jahangir, 55, ist ein Kind dieses Lahore, Menschenrechtsanwältin, liberale Vordenkerin einer demokratischen Entwicklung, die ein Leben lang die Militärs wie die Mullahs bekämpft hat. Sie ist den Machthabern unbequem, und sie hat schon viele direkte und indirekte „Mahnungen“ erhalten, aber sie auf Dauer ins Gefängnis zu stecken, das trauen sie sich offensichtlich nicht. Und so macht sie weiter, recherchiert Übergriffe der Militärs auf die Zivilbevölkerung, zerrt Unternehmer vors Gericht, die ihren Reichtum der Kinderarbeit verdanken, richtet Frauenhäuser für Vergewaltigte ein. d e r

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Sie hat schwere Zeiten hinter sich. In ihrem Büro wurde eine Frau aus Peschawar erschossen, die sich von ihrem gewalttätigen Mann scheiden lassen wollte. Die Mutter hatte wegen der „Familienschande“ den Killer bestellt – zur Verantwortung gezogen wurde sie deshalb nicht. Jahangir hat aber auch triumphale Siege erreicht. Beispielsweise die Aufhebung eines Todesurteils gegen einen 14-jährigen Jungen aus einer Christen-Familie, der wegen Blasphemie hingerichtet werden sollte. „Das Land ist im Umbruch“, sagt die Dame in ihrem Shalwar Kameez, dem traditionellen Kleidungsstück. „Musharraf verliert rasend schnell das Minimum an Respekt, das man braucht, um ein Land zu regieren.“ Eine wahre Demokratie kann sie sich mit den in Frage kommenden Déjàvu-Kandidaten zwar nicht vorstellen. „Aber wir müssen es versuchen“, sagt sie. Und will sich weiter um den Aufbau der Zivilgesellschaft kümmern, was sie für noch wichtiger hält als freie Wahlen.

Karatschi: ein Moloch für die Meister des Dschihad. Mehr als 15 Millionen Menschen drängen sich in der stickigen, stets von sozialen Explosionen und blutigen Demonstrationen bedrohten Metropole. Karatschi heißt Chaos, Schmutz, Krankheit, täglicher Überlebenskampf. Die Bevölkerungsexplosion und eine katastrophale Planung haben die Metropole in eine Vorhölle verwandelt, in der alle Geißeln der Megastädte vertreten sind, nur noch schlimmer, geballter als anderswo: Menschenhandel, Waffenschiebereien, Heroingeschäfte. Diese Stadt ist durch ihre ideale Lage am Arabischen

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Umkämpfte Koranschule bei der Roten Moschee in Islamabad (im Juli), Ex-Ministerpräsidentin Bhutto: „Musharraf wird euch auslöschen“

Meer, durch ihre internationalen Flugverbindungen die Geschäftsmetropole des Staates geworden, sein Handels-, Bankenund Industriezentrum. Seine heimliche, seine unheimliche Hauptstadt, deren Entwicklung in die Zukunft weist: das Barometer Pakistans. Wer Karatschi, die Kapitale der verhältnismäßig reichen Südprovinz Sindh, nicht kontrolliert, kann das Land nicht kontrollieren. Immer mehr haben hier jetzt die Terroristen das Sagen, in einige Stadtteile trauen sich Musharrafs Polizisten und Sicherheitskräfte kaum noch hinein. Dort fordern radikale Mullahs die Gläubigen bei feurigen Freitagspredigten zur Gewalt auf, abgeschirmt von ehemaligen Geheimdienstoffizieren mit besten Verbindungen zur jetzigen ISI-Führung. Hier, im undurchdringlichen Großstadtdschungel, soll sich nach Meinung eines nahöstlichen Geheimdiensts Aiman al-Sawahiri, 56, versteckt halten, nominell die Nummer zwei der Qaida hinter Osama Bin Laden, aber im operativen Terrorgeschäft wohl schon längst die Nummer eins. Die Beobachter haben mehrere Anhaltspunkte für ihre Vermutung, dass sich die beiden wichtigsten Männer des gefährlichsten Terrornetzwerks der Welt vor einigen Monaten trennten und dass der ägyptische Arzt seinen langjährigen Aufenthalt in der kargen Berglandschaft von Waziristan gegen ein Großstadtversteck in Pakistans größter Stadt getauscht hat. Einer der wichtigsten Hinweise ist Sawahiris verblüffende Flexibilität und Reaktionsmöglichkeit auf laufende Ereignisse. Und die unterschiedliche Rollenverteilung zwischen Nummer eins und Nummer zwei. Anders als Bin Laden, der erst gerade nach dreijähriger Video-Abstinenz mit zwei Botschaften auf sich aufmerksam ge150

macht hat und sich dabei als fast staatsmännischer, über den Alltagsfragen stehender Religionsführer gab, mischte sich Sawahiri öfters und sehr konkret ein. Er konnte in den vergangenen 24 Monaten über 30 Botschaften an seine Anhänger schicken. Dabei kommentierte er mehrmals politische Vorfälle, die erst Tage zurücklagen. Aus welchem „Safe House“ der Terrorist auch immer die Fäden zieht, eines ist nach Auffassung der Geheimdienstler sicher: Er führt einen erbitterten Feldzug gegen Musharraf. Die beiden knapp gescheiterten Attentate im Jahr 2003, so glaubt man heute zu wissen: ein Werk der Sawahiri-Truppe. Die im Juli in die Rote Moschee von Islamabad eingeschleusten ausländischen Terroristen mit ihren Munitionsdepots: Sawahiri-Leute, die einen weiteren Anschlag gegen den General planten. Den blutigen Sturm auf das Gotteshaus kommentierte der Ägypter dementsprechend verbittert. Er rief alle pakistanischen Muslime auf, gegen den Präsidenten zu „revoltieren“, es sei ein Kampf auf Leben und Tod. „Wenn ihr es nicht tut, wird Musharraf euch auslöschen.“ Der Qaida-Führer sucht die Entscheidung. Wie der SPIEGEL aus Geheimdienstkreisen erfuhr, hat Sawahiri auch Benazir Bhutto, 54, schon mit einem Todesurteil belegt, weil die Ex-Ministerpräsidentin Musharrafs Angriff auf die Rote Moschee in ihrem Exil in Dubai gutgeheißen hat. Möglichkeiten zu einem Attentat wird es in den nächsten Monaten viele geben, sollte die Politikerin wirklich – wie ihren Anhängern versprochen und mit Musharraf in einem geheimen Deal ausgehandelt – nach Pakistan zurückkehren. Ihr Ziel ist es, sich bei den kommenden Wahlen als Kandidatin für das Minisd e r

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terpräsidentenamt aufstellen zu lassen und mit dem General, weiter als Präsident im Amt, die Macht zu teilen. Die Provinz Sindh ist Bhuttos Stammland, ihre Familie besitzt große Ländereien in der Gartenstadt Larkana; in Karatschi und Umgebung hat sie ihre treuesten Wähler. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird Bhutto Karatschi zum Ausgangspunkt ihrer Kampagne machen und dabei öfter den hautnahen Kontakt mit dem Volk suchen: ein Alptraum für Sicherheitsleute, zumal, wenn sie sich zu allem entschlossenen Terroristen gegenübersehen. Ausgerechnet Bhutto gilt nun wieder vielen in Pakistan und im Westen als Hoffnungsträgerin Nummer eins. Ein Produkt westlicher Eliteerziehung und östlicher Feudalgesinnung, eine Instinktpolitikerin, die Massen faszinieren kann und gleichzeitig eine arrogante, beratungsresistente Egomanin: die Evita Perón Pakistans – mit dem IQ einer Hillary Clinton. Ihre reichen Eltern schickten Benazir an die besten Universitäten der USA und Großbritanniens. In Oxford wurde die „Unvergleichliche“ (so die Übersetzung ihres Namens) 1977 als erste Ausländerin Präsidentin des Studentenverbandes. Wenige Wochen später und kurz nach ihrer Rückkehr in die Heimat, stürzte das Militär ihren Vater, den Premier. General Zia ulHaq wurde der neue starke Mann – er ließ Zulfikar Bhutto verhaften, in manipulierten Gerichtsverfahren zum Tode verurteilen und dann exekutieren. Die Märtyrerrolle der Familie wird zum Ausgangspunkt von Benazir Bhuttos politischer Karriere. Als Staatschef Zia mit einem Flugzeug abstürzt, ergreift Frau Bhutto ihre Chance. Um den „Makel“ ihrer Verwestlichung in der Männergesellschaft abzuschwächen, gibt sie sich als

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Anhängerinnen des früheren Ministerpräsidenten Sharif in Rawalpindi: „Nieder mit der Militärdiktatur“

gottesfürchtige Muslimin. Sie erringt mit ihrer Pakistanischen Volkspartei (PPP) einen klaren Wahlsieg gegen den Konkurrenten Nawaz Sharif von der Islamischen Demokratischen Allianz. 1988 übernimmt mit Benazir Bhutto zum ersten Mal eine Frau das wichtigste Regierungsamt in einem islamischen Staat. Die anfänglichen positiven Ansätze sind bald verflogen, schnell treibt sie die Vetternwirtschaft so absurd voran, dass Pakistan von den internationalen Experten der „Transparency International“ zu den drei korruptesten Staaten der Welt gerechnet wird. Auch als Frontfrau im Anti-TerrorKampf, die Benazir Bhutto heute gern gegenüber ihren amerikanischen Förderern spielt, hat sie sich nicht hervorgetan, im Gegenteil: Während ihrer zweiten Amtszeit ließ sie ihrem Geheimdienst freie Hand bei der Förderung der Taliban. Abgesetzt und wiedergewählt, in ständigem Kampf mit dem Erzrivalen Sharif und unter dem Schatten übermächtiger Militärs, bleibt sie eine umstrittene und zutiefst widersprüchliche Persönlichkeit: ein Kind zweier Welten, Tochter des Westens und des Ostens. Brillante, weltoffene Talkshow-Diskutantin, die gleichzeitig einer arrangierten Hochzeit zustimmt – dazu noch mit einem Zementfabrikanten, der für seine dubiosen Geschäfte bekannt ist. Einem Korruptionsverfahren entzieht sich Bhutto und geht 1999 ins Exil. In der Schweiz wird sie 2003 wegen Geldwäsche zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Sie hält sich mal in London auf, mal in Dubai, finanzielle Sorgen sind ihr fremd. Und nie verliert sie ihr Ziel aus den Augen: Bhutto will, nun an152

geblich geläutert und als Politikerin gereift, wieder ein hohes Staatsamt in Pakistan übernehmen. Für den 18. Oktober hat sie jetzt ihre Rückkehr angekündigt. Die Bush-Regierung ist an einer Entwicklung interessiert, die Musharraf an der Macht hält und ihm einen Gegenpol an die Seite stellt. Dafür ist sie auch bereit, dem Militärdiktator bei Verfassungstricks zu helfen und zuzulassen, dass er seine Amtszeit verlängert und seinem Regime ein demokratisches Deckmäntelchen verschafft. Nichts fürchtet Washington mehr als landesweite Wahlen in Pakistan, bei denen – ohne einen überzeugenden „bürgerlichen“ Kandidaten – die Islamisten starken Zulauf bekommen könnten. Nachdem lange Zeit deren Wahlpotential bei wenig über zehn Prozent lag, könnte sich das nach der blutigen Konfrontation um die Rote Moschee grundlegend geändert haben. Nach einer Meinungsumfrage aus der vergangenen Woche liegen die Sympathiewerte des Terroristen Bin Laden bei 46 Prozent, Musharrafs bei 38 Prozent. Noch ist völlig unklar, ob Bhutto wie früher die Massen anzieht und ob sie wirklich gewählt werden wird. Nicht einmal intime Landeskenner können sich jedenfalls vorstellen, wie eine faire Machtverteilung zwischen einem Präsidenten Musharraf und einer Ministerpräsidentin Bhutto wirklich aussehen könnte – und was das für die Jagd auf al-Qaida-Terroristen und die ausländischen „Gäste“ in den Trainingslagern von Waziristan bedeuten könnte. „Ein Dreamteam sieht anders aus“, sagt der amerikanische Pakistan-Experte Steve Coll über die beiden – angesichts einer befürchteten Talibanisierung des gesamten d e r

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Landes. Noch ist auch völlig offen, ob nicht ein altbekannter Dritter beim Kampf um die Macht dazukommt, welche Rolle er für sich beansprucht. Nawaz Sharif, mit einer starken Machtbasis in seiner Punjab-Heimatstadt Lahore, weiß Pakistans Oberstes Gericht auf seiner Seite. Er wird seine Rückkehr einklagen und sich beim nächsten Einfliegen wohl nicht mehr durch die Gefängnis-Drohung einschüchtern lassen: Märtyrer haben Saison in der Politik dieses Landes. Wird also Pakistan doch zwangsläufig in Gewalt und Chaos und Hoffnungslosigkeit versinken, zum schlimmsten aller Terroristen-Krebsgeschwüre werden, ein sich auflösender, ganz und gar unberechenbarer Staat? Es existieren auch hoffnungsvolle Zeichen, dass es nicht so kommen muss – jenseits einer möglichen Rückkehr Bhuttos. Vom Beginn einer erstarkenden Zivilgesellschaft zeugen die vielen mutigen Journalisten, die sich eine erstaunliche, für eine Diktatur unübliche Freiheit erkämpft haben, oder die privaten Menschenrechtsgruppen. Es gibt, dank des robusten Wirtschaftswachstums der letzten Jahre, wieder eine Mittelschicht, die etwas zu verlieren hat und die für die Existenz eines Rechtsstaats zu kämpfen bereit sein könnte. Aber das „Land der Reinen“ ist in diesen Tagen zweifellos nur ein Attentat, nur einen Atemzug entfernt von der Anarchie. Von einem Chaos, das die Region in den Abgrund stürzen und Hunderte weitere deutsche Dschihadisten anlocken könnte – und so weite Teile auch unserer Welt mit in den Abgrund reißen würde. Erich Follath, Holger Stark

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Ausland

Medienrummel um die Familie McCann (in Rothley): Gerüchte, Spuren und eine Schlacht um die Gunst der Weltöffentlichkeit VERBRECHEN

Ein Herz aus rotem Karton Hat Kate McCann die kleine Maddie versehentlich getötet? Ein portugiesischer Generalstaatsanwalt entscheidet nun, ob die Indizien zur Anklage reichen – oder ob neu ermittelt werden muss.

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eit drei Tagen sind sie wieder daheim in Rothley, und am vergangenen Mittwochnachmittag beschließen die McCanns, eine ganz normale Familie zu sein. Die Zwillinge werden in den Kindersitzen im türkisfarbenen VW Touran verstaut, Mutter Kate setzt sich zwischen sie, Vater Gerry übernimmt das Steuer. Dann rollt der Minivan langsam hinaus aus dem großzügigen Anwesen „The Orchard“ (Obstgarten), das die Familie bewohnt, vorbei am Heer der Fotografen und TV-Teams hinüber zum Gemeindespielplatz. Die Polizei hat das Gelände abgesperrt, damit die McCanns das verbringen können, was in Großbritannien „Quality Time“ heißt – Zeit mit der Familie weit weg vom Alltagsstress. Für die gottesfürchtigen McCanns ist Rothley in der Grafschaft Leicestershire der perfekte Ort: Rund 3000 meist wohlhabende Einwohner haben sich hier niedergelassen, weil sie Abstand zu den Zumutungen der Moderne halten wollen und an diesem ländlichen Idyll hängen, samt Kriegerdenkmal, frischgestutzten grünen Hecken, Golfplatz und Cricket Club. An der Theke im Pub „Old Crown“ steht Julie Martin und bestellt ein Glas Rosé. Sie gehört zu denen, die Blumen und 154

Briefe vor das Kriegerdenkmal legten, Sympathiebekundungen für die kleine Madeleine McCann, die am 3. Mai aus dem Apartment im portugiesischen Praia da Luz verschwand und trotz einer fast beispiellosen Suchaktion unter Anteilnahme der Weltöffentlichkeit verschollen bleibt. „Ich hoffe immer noch auf ein Happy End“, sagt Mrs Martin. Aber sie hegt Zweifel daran, seitdem die McCanns nach Rothley zurückkehrt sind und die portugiesische Kriminalpolizei offenkundig beweisen möchte, dass die Kleine tot ist und die Eltern, womöglich mit Helfern, die Leiche verschwinden ließen. Die Ermittler haben ihre Erkenntnisse in einem mehrere tausend Seiten langen Bericht zusammengefasst, der nun dem Staatsanwalt José de Magalhães e Meneses und dem Richter Pedro dos Anjos Frias vorliegt. Den beiden bleibt bis Ende dieser Woche Zeit, das Konvolut durchzuarbeiten. Ihre Einschätzung des Falles müssen sie dann einem Generalstaatsanwalt namens Luís Bilro Verão im knapp 170 Kilometer entfernten Évora vorlegen, der darüber entscheiden soll, ob die Indizien zur Anklage gegen die McCanns ausreichen oder ob die Polizei neu ermitteln muss. d e r

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So lange dürften immer neue Gerüchte herumschwirren, die offensichtlich von der Polizei an die Boulevardpresse gestreut werden: Blutspuren hätten sich auf dem Fensterbrett und dem Fußboden des Apartments im „Ocean Club“ gefunden; Blut und große Mengen blonder Haare Maddies seien im Kofferraum des grauen Renault Scenic aufgetaucht, den die McCanns allerdings erst 25 Tage nach dem Verschwinden ihrer Tochter gemietet hatten, um aus der Ferienanlage in eine Villa am Ortsausgang von Praia da Luz zu ziehen. Was daran schiere Erfindung ist und was seriöse Spur, lässt sich kaum unterscheiden. Das portugiesische Justizwesen gibt sich offiziell noch abweisender, als es für solche Behörden anderswo üblich ist. Nun will die Polizei angeblich das Tagebuch der Mutter und auch das rosafarbene Lieblingsstofftier Maddies konfiszieren, das Kate McCann in der Öffentlichkeit oft wie einen Schutzschild an sich drückt. In der PR-Schlacht um die Gunst des Publikums ist die Familie aus Rothley nun im Nachteil. „Hast du Maddie ruhiggestellt?“, fragte die britische „Sun“, das Zentralorgan des Krawalljournalismus – das bezog sich auf die Spekulation, Mutter Kate, eine Ärztin, habe ihrer Tochter womöglich eine Überdosis eines Beruhigungsmittels verabreicht. Dieser Vorwurf, sagen die McCanns, sei „völlig absurd“. Vor allem auf die Spuren im Leihwagen scheint die Polizei ihren Verdacht zu gründen. Das sei aber wenig aufschlussreich, meint Alec Jeffreys, der britische Professor, der in den achtziger Jahren den genetischen Fingerabdruck entwickelte. „Wenn man nur ein unvollständiges DNA-Profil

SOLO SYNDICATION / ACTION PRESS

Eltern McCann vor der Kirche in Praia da Luz (am 30. August): „Frisierte Beweise“

oder das Beruhigungsmittel habe zum Tode geführt. Von der Angst getrieben, nun die Zwillinge und die Jobs als Ärzte zu verlieren und auf unabsehbare Zeit im Gefängnis zu sitzen, hätten die McCanns beschlossen, die Leiche des Kindes vorläufig zu verstecken. 25 Tage später hätten sie die Kleine dann verschwinden lassen. Anfang September hielten portugiesische Beamte Kate McCann diese Version der Ereignisse vor und versuchten, ihr ein Geständnis abzuringen. „Im Grunde sagten sie, wenn ich gestehe, dass Madeleine einen Unfall hatte und dass ich Panik bekam und den Körper einen Monat lang in

LUSA PAULO CUNHA / PICTURE-ALLIANCE/ DPA

gefunden hat, wird es Probleme geben“, sagt er. „Es wäre problematisch, dieses Profil mit Madeleine zu identifizieren, da Mitglieder der Familie mit ähnlicher DNA im Auto waren“ – die beiden Geschwister nämlich. Die Befunde sollte ein Speziallabor in Birmingham untersuchen. Es habe der portugiesischen Polizei allerdings erst einen Teil der Ergebnisse übermittelt, sagte Chefinspektor Olegário Sousa dem SPIEGEL. Der Polizei scheint auch verdächtig zu sein, dass die McCanns damals am 3. Mai ihre drei kleinen Kinder in einem ebenerdigen Apartment allein zurückließen, als sie in der etwa 80 Meter entfernten Bar „Tapas“ mit Freunden zu Abend aßen. Den kostenlosen Babysitter-Service lehnten die McCanns ab, sie wollten ihre Kinder nicht Fremden überlassen, sagten sie. Von der Bar war das Apartment im Erdgeschoss des dreistöckigen Hauses nicht zu sehen; man konnte also auch nicht sehen, ob jemand mit einem Kind auf dem Arm das Haus verließ. Eine Mauer verdeckt den Blick auf die Fenster und die beiden Eingänge. Wenn die McCanns nach den Kindern schauen wollten, mussten sie um den Swimmingpool herumlaufen und auf dem Plattenweg, vorbei an gepflegten Gärten, zur Wohnung Nummer 5A gehen. Die Polizei ist offenbar überzeugt davon, dass Madeleine im Apartment starb: zwischen 18 Uhr, als sie zuletzt beim Eisessen gesehen wurde, und 20.30 Uhr, dem Zeitpunkt, als die Eltern ins Restaurant kamen. Die britische Presse kolportiert, entweder habe Mutter Kate sie geohrfeigt, worauf das Kind mit dem Kopf aufgeschlagen und an den Folgen gestorben sei,

Solidaritätsaktion für Maddie (in Fátima)

Eine Überdosis des Beruhigungsmittels? d e r

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einer Tüte versteckt und ihn dann mit dem Mietwagen weggeschafft hätte, würde ich mit zwei oder drei Jahren Bewährungsstrafe davonkommen“, erzählte Kate McCann nach dem 16-stündigen Verhör dem „Sunday Mirror“. Aus der trauernden Mutter wurde so die Hauptverdächtige im Fall Maddie. Die McCanns durften dennoch nach Rothley ausreisen. Sie müssen aber auf Vorladung binnen fünf Tagen in Portugal sein. Nun leben sie wieder auf ihrem Anwesen und wirken, als seien sie auf der Flucht. Gerry McCann spricht von „frisierten Beweisen“ und gibt zu erkennen, dass er den Portugiesen vieles zutraut: „Wir hätten uns nie vorstellen können, in diese unerträgliche Situation zu geraten“, schreibt er auf der Website FindMadeleine.com. Er sehne die Anklage herbei, um seinen Namen reinigen zu können. Die McCanns hatten den Budget-Mietwagen mit den ominösen Spuren nicht am Flughafen Faro abgegeben, sondern an einem unbekannten Ort abgestellt. Notfalls, so sagten sie, ließen sie ihre eigenen forensischen Untersuchungen anstellen. Aber wo ist Maddie? In Praia da Luz führt eine frischgepflasterte Straße von der Ferienanlage, in der die McCanns Urlaub machten, hinunter zum Strand. Davor thront „Nossa Senhora da Luz“, eine weißgekalkte Kirche mit ockergelben Kanten. Der katholische Pater José Pacheco gab den McCanns wenige Tage nach dem Verschwinden ihrer Tochter den Schlüssel zum Gotteshaus; sie wollten Trost im Gebet suchen, sagten sie. Pacheco liest die Messe auf Portugiesisch am Abend, der Anglikaner-Pater Haynes Hubbard morgens auf Englisch. In der Kirche hängt das Foto der kleinen Maddie neben dem gotischen Bogen, der sich zu einem goldleuchtenden Altarbild öffnet, auf einem Herz aus rotem Karton. Das sieht aus, als hätten die blumengeschmückten Heiligenfiguren das Mädchen in ihren Reigen aufgenommen. Es gibt Gerüchte in Praia da Luz, die McCanns hätten Maddies Leiche in der Umgebung der Kirche verscharrt, möglicherweise sogar auf dem lange schon aufgelassenen Friedhof. Die Polizei will graben und auch den gepflasterten Weg aufstemmen. Als Maddie verschwand, war hier eine Baugrube. Im Ort wird die Kanalisation gelegt. Pater Hubbard hält den Verdacht gegen die Eltern für abwegig. „Ich habe einen Mann, Gerry, kennengelernt und eine Frau, Kate, die ihre Tochter zurücksehnen. Wir haben zusammen geweint und Gott um Hilfe angefleht.“ Hubbard schwitzt in einem kurzärmeligen Hemd, gegen die gleißende Sonne trägt er eine dunkle Brille. Sein Glaube sei fest, sagt er – der an Gott sowieso, aber auch der an die McCanns. Thomas Hüetlin, Helene Zuber

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Ausland RUSSLAND

Extrem verschwiegen

DMITRY ASTAKHOV / AP

KOMMERSANT PUBLISHING HOUSE / ACTION PRESS

Wladimir Putin hat seinen Finanzfahnder und früheren Datschennachbarn zum Premier ernannt und damit selbst Vertraute verblüfft. Ist der Neue der nächste Präsident?

Es war wieder einer dieser Taschenspielertricks, mit denen Wladimir Putin selbst die Seinen gern überrascht. Diesmal traf es vor allem die beiden Vizepremiers Sergej Iwanow und Dmitrij Medwedew – bislang hatten sie als Anwärter auf den Premiersposten gegolten, dem mutmaßlichen Sprungbrett für die Putin-Nachfolge. Medwedew, Aufsichtsratschef des Energiegiganten Gasprom, hatte noch am Tag vor Putins Entscheidung öffentlich gewarnt, jede Umorganisierung der Regierung wäre „gleichbedeutend mit mehreren Bränden und Überschwemmungen“.

Premier Subkow, Staatschef Putin: Ein Taschenspielertrick?

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iktor Subkow verströmt den strengen Charme der alten Zeit. Ohne vom Blatt aufzusehen, ohne jedes Lächeln und mit altsowjetischem Vokabular, liest der Neue den Abgeordneten der Staatsduma sein Regierungsprogramm vor. Stabilität durch mehr Subventionen für die Landwirtschaft wolle er schaffen, die Rüstungsindustrie ankurbeln und die Renten erhöhen – „durch mehr Steuereinnahmen“, wie er erklärt. Es ist Freitag vergangener Woche, als der Geheimdienstler Subkow Regierungschef des größten Flächenlands der Erde wird, einen Tag vor seinem 66. Geburtstag. Schwierigkeiten bereitet ihm die Duma selbstredend nicht, denn der Vorschlag stammt vom Präsidenten höchstselbst. Mit 381 gegen 47 Stimmen gibt sie ihr Plazet für einen Mann, den viele Abgeordnete zwei Tage zuvor noch nicht einmal gekannt hatten. Selbst Parlamentschef Boris Gryslow, Vorsitzender der Kreml-treuen Partei Einiges Russland, soll erst im Nachhinein von der Ernennung Subkows erfahren haben, dessen Kandidatur er dann binnen Stunden durchzudrücken hatte.

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Der Präsident, der laut Grundgesetz nächstes Frühjahr seinen Posten räumen muss, hielt offenbar etwas anderes für brandgefährlich. Fast täglich hatten die Auguren in den zurückliegenden Monaten darüber orakelt, ob sich die Waagschale eher auf die Seite Iwanows neige – der Symbolfigur von Geheimdienst und Militär – oder auf die Medwedews, eines Wirtschaftsliberalen ohne KGB-Hintergrund. Sich für einen von beiden zu entscheiden, so könnte Putins Überlegung gewesen sein, hieße womöglich, eine Spaltung der politischen Elite zu riskieren. Dass der Kreml-Chef als Kompromisskandidaten aber ausgerechnet Subkow erwählte, hat die letzten Wirtschaftsliberalen im Dunstkreis des Kreml entsetzt – neben Medwedew also Wirtschaftsminister German Gref und den Chef des Finanzressorts, Alexei Kudrin. Sie sind die Verlierer im Machtspiel des verschlossenen Autokraten Putin. Denn der neue Premier will die Rolle des Staats bei der „sozialen Frage“ verstärken und verspricht „Kaderveränderungen“ – gemeint ist wohl die Entlassung der liberalen Minister. d e r

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Subkow wird – wie Putin – den Saubermann geben: Er will ein „Gesetz gegen Korruption“ durchbringen und dazu eigens einen neuen Geheimdienst schaffen – das wäre dann der siebte im Putin-Staat. Seine Karriere begann Subkow im Leningrader Gebiet. In den sechziger Jahren war er Vizechef des Landwirtschaftsgutes Rote Slawin, 1985 stieg er zum Abteilungsleiter der KPdSU-Bezirksleitung auf. In die neue, die postsowjetische Zeit, startete er 1991 gemeinsam mit dem KGBAuslandsaufklärer a. D. und damaligen St. Petersburger Vizebürgermeister Wladimir Putin. Dem diente er im Komitee für Außenwirtschaft, und zwar so erfolgreich, dass der Chef mit ihm eine Datschen-Kooperative gründete. Bedienstete erlebten Subkow als „strengen, aber auch effektiven Leiter“ – und als extrem verschwiegen. Offenbar war das für Putin Grund genug, dem Getreuen 2001 die Leitung der Bundesbehörde zum Kampf gegen Geldwäsche anzuvertrauen. Schon die von ihm dann formierte „Finanzaufklärung“ baute Subkow als einflussreichen, wenn auch weithin unterschätzten Geheimdienst auf. Dessen Späher erkundeten heimliche Finanzierungswege tschetschenischer Untergrundkämpfer und nahmen Russlands Banken ins Visier, darunter auch getarnte Banditenkassen. Die Observierungsergebnisse durfte der Hardliner dem Präsidenten oftmals direkt vortragen. Mal lud ihn Putin zu einer Sitzung des Sicherheitsrats ein, mal empfing er ihn unter vier Augen in der Präsidentenresidenz Nowo-Ogarjowo. Dass Subkow das Ohr des Präsidenten besitzt, wurde deutlich, als Putin im Februar überraschend dessen Schwiegersohn Anatolij Serdjukow, einen früheren Möbelhändler und Steuerfahnder, zu Russlands Verteidigungsminister ernannte. Treu und effizient, doch alt und blass genug, um keinen krankhaften Ehrgeiz zu entwickeln – Subkow wäre genau der Mann, den Putin benötigt, sollte er ab Mai nächsten Jahres einen zeitweiligen Hausmeister für den Kreml brauchen. Einen, der ihm den Sessel freihält, bis er selbst wieder kandidieren darf. Der neue Premier war noch nicht im Amt, da hielt er es vorigen Donnerstag bereits für „möglich“, bei der Präsidentenwahl am 2. März zu kandidieren. Ein Mann wie Subkow hätte so etwas nie aus eigenem Antrieb gesagt. „Gut, dass nun auf der Kandidatenliste noch ein weiterer Mensch aufgetaucht ist“, bestärkte ihn Strippenzieher Putin einen Tag später. Dass Subkow tatsächlich der nächste Präsident sein könnte, diese Überzeugung hatte bis Freitagabend vergangener Woche viele aus der Kreml-Umgebung erfasst. Ob man das für gut oder schlecht halten müsse, tat ein staatsnaher Oligarch als nebensächlich ab: Es sei „nicht so wichtig, wie der neue Präsident heißt – interessanter ist, was Putin machen wird“. Uwe Klußmann

B. RÜBSAMEN / DANA PRESS

Königspaar Paola und Albert II. (r.)*: Bei den Flamen nicht sehr beliebt BELGIEN

Bröckelnder Zement Der bizarre Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen bläht sich zur Staatskrise auf: Der Norden plädiert auf Scheidung.

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chon der römische Imperator Julius Cäsar beschrieb die ausgeprägte Streitlust der Belgier. Dabei ist das kleine gallische Völkchen im Grunde lebensfroh, schlürft große Mengen Austern und Champagner, liebt Pommes frites und Pralinen. Seine Politik hingegen ist schwerverdaulich. Das zeigt sich seit der Parlamentswahl vom 10. Juni Tag für Tag. In Flandern, dem nördlichen Landesteil, in dem die Menschen Niederländisch reden, gewannen die Christdemokraten des Flamen-Führers Yves Leterme. Der hatte versprochen, wichtige Kompetenzen in der Steuer-, Gesundheits- und Sozialpolitik von der Brüsseler Zentralregierung in die Regionen zu verlagern. Aus dem Bundesstaat Belgien würde damit eine Art ZweiStaaten-Bund. Dazu braucht er laut Verfassung Partner bei den Wallonen. Die wohnen im Süden, sprechen Französisch und halten gar nichts von Letermes Plänen. Sie waren einst die Oberschicht des Landes, erst bei Hofe, später in der blühenden Kohle- und Stahlindustrie. Aber die ist längst perdu und Wallonien inzwischen Belgiens Armenhaus, abhängig von Transfers aus dem reichen Norden. Die Wallonen haben bei der Wahl die Liberalen auf Platz eins gesetzt. Die wollen den Staat so lassen, wie er ist, sind also gegen alles, was der Flame Leterme möchte. Seit dem Urnengang treffen sich die siegreichen Politiker aus Nord und Süd regel* Am 21. Juli, dem belgischen Nationalfeiertag, mit General Jes van den Put.

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mäßig – aber sie wissen nicht weiter. Geben sie in Brüssel nach, gehen sie zu Hause unter; bleiben sie hart, gibt es keine neue Regierung. Die abgewählte Mannschaft von Guy Verhofstadt führt die Amtsgeschäfte kommissarisch, alles Wichtige bleibt liegen. Seit langem schon teilt eine unsichtbare Mauer das Land: In der einen Hälfte sieht man französischsprachiges Fernsehen, liest französisch geschriebene Zeitungen, lernt Französisch in der Schule. In der anderen wird Niederländisch gesprochen und gelesen. Wer in Flandern auf Französisch nach dem Weg fragt, bekommt selten eine Antwort. Viele Flamen haben die Sprache des Südens zwar gelernt, wollen sie aber nicht sprechen. Die meisten Wallonen verstehen die „Bauernsprache“ der flämischen Nachbarn nicht einmal. Im Ministerrat, dem belgischen Kabinett, sorgen Dolmetscher für Verständigung untereinander. Lustvoll piesacken sich die belgischen Sprachstämme, wo sich nur Gelegenheit dazu bietet: Finanzämter in flämischen Randgemeinden Brüssels akzeptieren nur niederländisch gehaltene Briefe und Formulare, obwohl die Mehrheit der Steuerzahler französischsprachige Wallonen sind. Öffentliche Arbeitgeber lehnen Putzfrauen ab, weil sie nicht perfekt Niederländisch sprechen. Und der seit Jahren geführte Streit um die gerechte Verteilung des Fluglärms auf die flämischen, wallonischen und „bilingualen“ Kommunen rund um den Brüsseler Flughafen Zaventem zwingt NIEDERLANDE Nordsee

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Flandern

niederländischsprachig

Brüssel zweisprachig

deutschsprachig

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französischsprachig FRANKREICH

LUXEMBURG

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an- und abfliegende Piloten zu umständlichen Kurven und Schleifen. Für Buchautor René Swennen ist das nahe Ende Belgiens deswegen „unausweichlich“, das Auseinanderbrechen des Landes in zwei Hälften. Immerhin 43 Prozent aller Flamen votieren für ein unabhängiges Flandern. Selbst die führende Wallonen-Zeitung „Le Soir“ sieht nur eine Alternative: „Scheidung oder getrennte Schlafzimmer“. „Der Zement des Landes“ sind laut Historiker Vincent Dujardin nur noch „der König, die Fußballnationalmannschaft und das Bier“. Doch der Zement bröckelt. König Albert II. ist, vor allem im flämischen Norden, nicht sehr beliebt. Sein Niederländisch sei dürftig, sagen Kritiker. Auch die belgischen Ballkünstler machen schon lange keine gute Figur mehr. Nach einem enttäuschenden Unentschieden in Kasachstan Mittwoch voriger Woche werden die „Roten Teufel“ bei der nächsten Europameisterschaft wohl nicht mitkicken. Selbst das belgische Bier – über vierhundert Sorten gibt es immerhin – stiftet kaum noch nationale Identität, es wird zunehmend regionalisiert: Natürlich trinken flämische Politiker das gute schwere Bier aus ihrer Gegend und nicht das Gebräu aus dem Süden. Und Brüssel, einst flämische Metropole, inzwischen aber mehrheitlich von Frankophonen besiedelt, ist ihnen so verhasst wie manchen Europa-Kritikern die dort angesiedelte EU-Zentrale. Die Ignoranz belgischer Politiker ihrem Staat gegenüber führt gelegentlich zu grotesken Szenen – wie jüngst am 21. Juli, dem belgischen Nationalfeiertag. Von einem Fernsehreporter aufgefordert, die Nationalhymne zu singen, stimmte der Flame Yves Leterme das falsche Lied an: Statt der belgischen „Brabançonne“ schmetterte der mögliche nächste Regierungschef die französische „Marseillaise“. Ein ähnliches Missgeschick widerfuhr ihm noch am selben Tag. Was denn der historische Anlass für die Feiern samt Militärparade und Gottesdiensten sei, examinierte ihn ein anderer Journalist. „Die Proklamation der Verfassung“, antwortete Leterme – wieder falsch. Na und?, lachten seine Anhänger. Dass der Feiertag an den Amtseid des ersten belgischen Königs im Jahr 1831 erinnert, hätten schließlich auch der wallonische Gegenspieler des Flamen und der scheidende Premierminister nicht gewusst – ebenso wenig wie 98 Prozent aller Bürger. Was schert sie auch Hymne, Fahne und Nationalfeiertag? Es gibt Niederländisch sprechende Flamen, Französisch parlierende Wallonen und eine kleine deutschsprachige Minderheit rund um Eupen. Nur Belgier, das rief schon 1912 der wallonische Sozialist Jules Destrée dem damaligen König zu, als der gesamtnationale Gefühle wecken wollte, „Belgier gibt es nicht“. Hans-Jürgen Schlamp

AFP

Oppositionsführer Ozawa (M.) mit Parteifreunden: Dem politischen Lebensziel so nah wie lange nicht J A PA N

Wolf im Schafspelz Premier Abe hat kapituliert. Nun will ein trickreicher Überläufer die Liberaldemokraten endgültig von der Macht verdrängen – und verprellt dabei die Amerikaner.

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er Sieg war grandios, aber der Mann, der ihn errungen hatte, sagte zunächst erst mal gar nichts. Nach dem Triumph seiner oppositionellen Demokraten bei der jüngsten Oberhauswahl tauchte Ichiro Ozawa ab und gab Anlass zum Rätseln: War er nur müde vom Wahlkampf, wie er streuen ließ, oder fädelte er bereits den nächsten Coup ein? So kennen die Japaner den 65-jährigen Chef der Demokratischen Partei (DPJ): ein Schatten-Shogun, einer der sich ungern für die TV-Kameras verneigt und der am liebsten hinter den Kulissen wirkt. Wenn er denn unbedingt im Parlament weilen muss, sieht ihn das Fernsehpublikum die Arme verschränkt auf seinem Sitz, die Augen im groben, runden Gesicht zu Schlitzen verengt, undurchdringlich und unheimlich – eine Mischung aus Buddha und Bulldogge. Und deshalb hatten viele Ozawa auch längst abgeschrieben. Er sei ein Fossil, das nicht mehr ins neue Japan passe, hieß es, 160

in ein Land, das mit schmerzhaften Reformen seine Wirtschaft modernisiert und sich nach nationalen Rettern sehnt, die es wie Popstars bejubelt – so wie Ex-Premier Junichiro Koizumi und, anfangs zumindest, auch Nachfolger Shinzo Abe, 52. Doch jetzt ist der alte Haudegen wieder da, ohne ihn läuft kaum noch etwas in Japan. Selbst der glücklose Abe gestand das Mittwoch voriger Woche ein: Nervlich sichtlich am Ende, verkündete er seinen Rücktritt – nicht einmal ein Jahr nach Amtsantritt. Er begründete dies auch damit, dass Ozawa ihm ein Gipfeltreffen verweigert habe. Das reicht als Erklärung zwar nicht aus, denn Abe scheiterte vor allem an sich selbst und der Unfähigkeit seiner Minister, die sich einen Skandal nach dem anderen leisteten. Aber er fiel auch der neuen politischen Machtverteilung zum Opfer. Seit dem Erdrutschsieg der DPJ ist Ozawa seinem politischen Lebensziel so nahe gerückt wie lange nicht mehr: Er will den seit d e r

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1955 fast ständig regierenden Liberaldemokraten (LDP) die Macht entreißen und auch den Nachfolger von Abe so zermürben, dass dieser schließlich das Unterhaus – dort hält die Regierung zwei Drittel der Sitze – auflösen und Neuwahlen ausrufen muss. Ähnliches war Ozawa schon einmal gelungen. Einst Generalsekretär der LDP, hatte er sich 1993 mit Teilen der Opposition zusammengeschlossen und per Misstrauensvotum die eigene Regierung gestürzt. Die anschließende Neuwahl spülte eine bunte Parteienkoalition unter Ausschluss der Liberaldemokraten an die Macht – mit Ozawa als ebenso mächtigem wie geheimnisvollem Paten im Hintergrund. Jenem Mann, dem der Spitzname „Dampfwalze“ anhing, den die einen als „Wolf im Schafspelz“ und „Vatermörder“ verdammen, in dem andere aber einen begnadeten Reformer und eine Ausnahmeerscheinung der japanischen Politik sehen. Zehn aufregende Monate erlebte Japan damals, doch dann hangelte sich die unverwüstliche LDP zurück an die Macht. Für Ozawa folgten demütigende Jahre als Führer kleinerer Oppositionsparteien, zeitweilig schloss er sogar ein Bündnis mit der LDP. Seine Vorstellung, aus Japan ein „normales Land“ zu machen – eine stabile Zwei-Parteien-Demokratie, die Regierungswechsel nach westlichen Vorbildern ermöglicht –, schien gescheitert. Nun aber ist im weltweit zweitgrößten Industrieland wieder vieles denkbar. Der

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KYODO NEWS / ACTION PRESS

klägliche Abgang von Abe stürzt die Re- einmal für nötig, den Chef der größten Dass es dazu kommt, erscheint selbst gierungspartei in eine existentielle Krise, Oppositionspartei kennenzulernen. LDP-Veteranen inzwischen unvermeidlich. und nirgendwo ist ein überzeugender NachDie Audienz bei Ozawa holte er nach Denn angesichts des aufkommenden Patts folger in Sicht. Keiner der Kandidaten um der Oberhauswahl eilig nach. Schieffer bot zwischen Regierung und Opposition drifden früheren Kabinetts-Chefsekretär Yasuo Japans neuem starkem Mann Einsicht in tet Japan nicht nur in der Außenpolitik Fukuda, 71, vermag die Menschen mitzu- geheime Unterlagen über den Kampf orientierungslos umher; auch für die Fortreißen, nicht einmal die eigene Partei. gegen den Terror an. Doch der DPJ-Boss setzung der Wirtschaftsreformen, die der Gerade jetzt ist das ein schwerer Makel, beschied ihn schroff, er lehne eine Beteili- Modernisierer Koizumi anstieß, fehlt der denn selbst in den täglichen Fernseh-Talk- gung ab, denn Präsident George W. Bush Regierung nun das nötige Mandat – und shows für Hausfrauen wird Politik plötzlich habe den Krieg ohne ausreichendes Man- der Rückhalt der Japaner. als spannender Gesprächsstoff entdeckt. dat der Vereinten Nationen angezettelt. Denn die Reformen der letzten Jahre Ozawa kommt das zugute, er erscheint den So viel Standfestigkeit gegenüber den USA haben zwar die Firmengewinne wachsen Japanern plötzlich nicht mehr ganz so un- kommt bei Japanern gut an, die Insel- lassen, nicht aber Löhne und Gehälter. Vor sympathisch. Schafft er es, die LDP in die nation eint ein tiefes Misstrauen gegen die allem auf dem Land vermissen die MenOpposition zu drängen? Und schen die üppigen staatliwelche Taktik wird der Parchen Zuschüsse, mit denen teichef, der ein trickreicher die LDP jahrzehntelang alle Go-Spieler ist, verfolgen? möglichen Berufsgruppen Diese Frage beschäftigt an sich band – von den auch das ferne Washington. Bauunternehmern bis zu Denn um an die Macht zu den Landwirten. Ozawa dagelangen, hat sich der Oppogegen nahm sich der Entsitionsführer einen parlatäuschten an: Über Monate mentarischen Schlachtplan bereiste der Oppositionszurechtgelegt, der Japan in chef ländliche Hochburgen Konflikt mit dem amerikanider LDP und köderte mit schen Verbündeten treiben großzügigen Wahlversprekönnte: Ozawas Demokrachen die Anhänger der Reten drohen, das Anti-Terrorgierungspartei. Gesetz nicht zu verlängern, Für deren Einlösung fehlt das am 1. November auszwar das Geld – mit über läuft. Das aber ist die Grund160 Prozent des Bruttolage dafür, dass die japaniinlandsprodukts ist Japan sche Marine im Indischen Premier Abe (Fernsehübertragung der Rücktrittserklärung)*: Nervlich am Ende so hoch verschuldet wie Ozean die USA wie deren kein anderes Industrieland. Verbündete mit Treibstoff versorgt – für den amerikanische Supermacht. Als der US- Doch beim Volk kamen Ozawas Gesten Kampf gegen die afghanischen Taliban. Diplomat auch noch gereizt vor einer gut an. Zumal Anfang des Jahres auch herDie Gefahr, dass der japanische Tank- schweren Belastung der bilateralen Bezie- auskam, die staatliche Sozialversicherung wart den Zapfhahn zudreht, hat die Ame- hungen warnte, stand Ozawa bei seinen habe rund 50 Millionen Renten-Einzahrikaner alarmiert. Nun sieht Washington Landsleuten fast schon als Volksheld da. lungsbelege verschlampt. Weil Abe und die sich gezwungen, in Tokio für den Krieg Ob er das Anti-Terror-Gesetz tatsäch- LDP auf diese Enthüllung nur zögerlich gegen den Terror zu werben, dem die ja- lich scheitern lässt, ist nicht gewiss. Viel- reagierten, fühlen viele Japaner ihre ganz panische Regierung bisher besonders wil- leicht verzögert der gewiefte Taktiker es persönliche Lebensplanung bedroht. lig folgte. auch nur oder stimmt in letzter Minute für Eine längere politische Lähmung kann Auch für Thomas Schieffer, den US-Bot- einen Kompromiss. Doch bis dahin will er Japan sich daher gar nicht leisten. Doch schafter in Japan, ist das neu. Seit den Zei- die Liberaldemokraten als amerikahörig Ozawa, dem Angreifer, ist das vorerst egal. ten von Besatzungsgeneral Douglas Mac- vorführen und ihnen für sein mögliches „Das Drama der LDP kann unser Denken Arthur (1945 bis 1951) hielten Washingtons Einlenken einen hohen Preis abpressen: nicht ändern“, drohte er vorige Woche. Statthalter in Tokio fast wie Gouverneure vorgezogene Unterhauswahlen. Der DPJ-Boss will die Regierung weiter in Hof. Auch Schieffer war es gewohnt, dass die Enge treiben. Damit endlich er als Chef Wieland Wagner die Japaner ihm zuhörten, er hielt es nicht * Am 12. September in Tokio. auf der Brücke steht.

FOTOS: KURT HÖRBST / ANZENBERGER

Preisgekrönte „handgemachte“ Dorfschule in Bangladesch

ENTWICKLUNGSHILFE

Häuser der Hoffnung Karim Aga Khan IV., Führer der Ismailiten, hat den höchstdotierten Architekturpreis der Welt gestiftet. Ausgezeichnet wurden jetzt in Kuala Lumpur unterschiedliche, sozial relevante Bauten: eine Vorzeige-Universität, ein Markt und eine Dorfschule aus Bambus und Lehm. Von Erich Follath

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ie wirken wie ein Querschnitt durch die Weltbevölkerung, die Damen und Herren Preisträger, die im vornehmen Philharmoniesaal der Petronas-Zwillingstürme in der malaysischen Hauptstadt auf der Bühne Platz genommen haben. Zusammengewürfelt aus allen Weltregionen, aus allen sozialen Schichten, sämtlichen Altersklassen. Offensichtlich fühlen sich manche von ihnen nicht wohl in ihrer Haut, hier im Blitzlichtgewitter der Fotografen, auch wenn der Stolz auf ihrem Gesicht und die schweißnasse Aufgeregtheit sie verbinden. Da ist Salem Aswad Msawanaq, Spezialist für Lehmarchitektur aus dem Jemen, ausgezeichnet für seinen in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit geleisteten Beitrag zur Restaurierung der Wüsten-Wunderstadt Schibam – die Hochhäuser des „mittelalterlichen Manhattan“ schienen noch vor wenigen Jahren dem Verfall geweiht, nach der Renovierung ist ein Großteil wieder bewohnbar. Immer wieder rückt der Autodidakt nervös sein weißes Käppi zurecht und zieht an seinem traditionellen Festgewand. Da ist Vladimir Djuroviƒ, in Fachkreisen bekannter serbischer Landschaftsarchitekt, der seinen Preis für die Gestaltung eines kleinen, Frieden und Ruhe verheißenden Platzes im bürgerkriegszerrissenen Beirut bekommt. Seine Füße wippen nervös, immer wieder jagt er mit den fahrigen Händen eine imaginäre Fliege. Da ist Seydou Zagré, Bürgermeister des Städtchens Koudougou im afrikanischen 162

Schulkinder in Rudrapur

Erfolgsmodell aus Bambus und Lehm

Armenhaus Burkina Faso, der die Auszeichnung gemeinsam mit einem französischen Architekten für die Idee zur Restaurierung der alten Markthallen des Ortes entgegennimmt. Den dunkelblauen Anzug, seinen ersten, hat sich der Kommunalpolitiker ausschließlich für diesen Anlass gekauft; er sitzt ein bisschen zu stramm. Immer wieder kneift sich der korpulente Mann in den Oberarm, es drückt. Oder er will sich vergewissern, dass das, d e r

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was sich da gerade um ihn herum in der Festhalle abspielt, wirklich passiert. Da ist Lord Norman Foster, von der Queen wegen seiner Verdienste geadelter britischer Weltstar der Architektur, mit 72 der Älteste im Feld der Geehrten und erstaunlicherweise trotz seiner Rampenlichterfahrungen einer der Aufgeregtesten; er wird ausgezeichnet für die Gestaltung der wie durch die Landschaft schwebenden, lichten und luftigen Technischen Universität in Bandar Seri Iskandar, West-Malaysia, ein 50-Millionen-Dollar-Projekt. Und da ist die Jüngste unter den Gewinnern, die 29-jährige Deutsche Anna Heringer, Doktorandin an der Kunstuniversität Linz. Ihr Projekt ist das preiswerteste, gerade mal 20 000 Dollar hat es gekostet. Sie hat in Bangladesch gemeinsam mit einer lokalen Hilfsorganisation und unter Mitwirkung der einheimischen Bevölkerung in der Gemeinde Rudrapur eine zweigeschossige, besonders kinderfreundliche Schule gebaut und den Unterprivilegierten so eine Zukunftschance gegeben. Sie hat dabei fast nur Materialien aus der Umgebung verwendet, Lehm und Stroh, Bambus und Jute. Willkommen beim Aga-Khan-Preis für Architektur, dem mit 500 000 Dollar Preisgeldern höchstdotierten Architekten-Wettbewerb – und dem mit Sicherheit ungewöhnlichsten Wettstreit auf diesem Gebiet. Denn es geht zwar auch hier um die bauliche Exzellenz der Projekte, um „normale“ professionelle und ästhetische Kriterien. Aber eben nicht nur. Entscheidend

bei der Preisvergabe ist die soziale und kulturelle Relevanz. Sorgt das Werk für eine langfristige positive Beeinflussung der Lebensverhältnisse der Betroffenen? Steht es im Einklang mit den Wünschen der Planer, der ausführenden Handwerker, ist es eine gelungene Einheit? Einziges weiteres Kriterium des im Dreijahresrhythmus ausgelobten und jetzt im September zum zehnten Mal verliehenen Preises: Das bedachte Projekt muss in einem muslimisch geprägten Land stehen oder in einer Umgebung, in der es eine „nennenswerte Anzahl von Muslimen“ gibt. Theoretisch erfüllen somit viele deutsche Städte die Kriterien. Es könnte also auch eine Moschee in Köln oder ein Gemeindezentrum in Hamburg zu den Gewinnern gehören. Bei der Feier spricht zuerst der malaysische Ministerpräsident. Abdullah Badawi zeigt sich stolz, dass die Preisverleihung – traditionell immer an einem anderen Ort – diesmal in Kuala Lumpur stattfindet. Er verweist darauf, dass ja auch die 452 Meter hohen Petronas Towers im Jahr 2004 den Preis erhalten hätten. Großen Wert legt der Premier in seiner Rede auf die Toleranz zwischen Religionen und Volksgruppen in seinem Land. Fast beschwörend klingt das angesichts der Tatsache, dass in dem gerade 50 Jahre alt gewordenen, lange Zeit besonders friedlichen südostasiati-

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Preisträgerin Heringer, Stifter Aga Khan (r.)*

Zusammenprall der Welten

schen Land die Islamisierung besorgniserregend voranschreitet. Dann kommt der Preisstifter. Der 49. Imam Aga Khan, geistliches und weltliches Oberhaupt der in viele Regionen der Welt verstreuten Ismailiten, ist so etwas wie Allahs sanfter Revolutionär: weltoffen, tolerant, charismatisch. Seine knapp 20 Millionen Anhänger, die eine oft elitäre und wirtschaftlich besonders erfolgreiche Minderheitengruppierung innerhalb des schiitischen Islam sind, halten ihren Führer für einen direkten Nachkommen des Propheten Mohammed und treten traditionell zehn Prozent ihres Einkommens an ihn ab. * Mit Malaysias Premier Abdullah Badawi am 4. September in Kuala Lumpur.

Das von ihm gegründete Aga Khan Development Network ist mit einem Gesamtvermögen von über 500 Millionen Dollar die weltweit größte private Entwicklungshilfe-Organisation. Und sein Preis ist nach Meinung der „New York Times“ aufregender als alle anderen Ehrungen der Branche: „Der Aga Khan ist damit die wichtigste Figur in der Welt der Architektur von heute.“ Der Religionsführer, der in diesem Jahr das 50-jährige Jubiläum als Imam seiner Glaubensgemeinschaft feiert, wäre – so heißt es in seinem Umfeld – in einem „anderen Leben“ gern selbst Architekt geworden. Begeisterung für die von ihm an diesem Abend vorgestellten Projekte ist dem Aga Khan, 70, jedenfalls anzumerken. Er führt selbst das Komitee an, das die hochrangig besetzte internationale Jury – viele Architekten, aber auch Kulturkritiker und eine Künstlerin – ausgesucht hat. 343 Projekte wurden begutachtet, 27 kamen in die engere Auswahl. Sie alle sind von Teams des Komitees vor Ort kritisch unter die Lupe genommen worden, dann folgte ein monatelanges Diskussionsverfahren, bis sich das Gremium auf neun Preisgewinner einigen konnte. Die vielleicht überraschendste Wahl der Juroren war die Schule in Bangladesch: eine beispielhafte Erfolgsgeschichte aus einer Katastrophenregion, entstanden

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Prämiertes Projekt Schibam im Jemen: Restaurierung des „mittelalterlichen Manhattan“

Prämierter Bau der Technischen Universität in Malaysia: Lichte und luftige Lehrstätte

durch eine Aneinanderreihung glücklicher Umstände – und mutiger Entschlüsse. Die unternehmungslustige Anna Heringer aus Bayern hatte 1997 noch nicht so recht gewusst, was sie mit ihrem Leben machen sollte, als sie 19-jährig als freiwillige Entwicklungshelferin für neun Monate nach Südasien aufbrach und in einem 3000-Seelen-Dorf 150 Kilometer nördlich von Dhaka landete. Stunden entfernt von der nächsten größeren Stadt, war das Kaff nur auf Schlammwegen und mit Jeeps zu erreichen. Dementsprechend konservativ eingestellt und misstrauisch gegenüber fremden Einflüssen wirkten auf sie zunächst die örtlichen Bauern, die eine Hälfte Hindus, die andere Muslime. Die Bayerin begann anschließend in Linz ein Architekturstudium, doch sie hielt Kontakt mit der Bangladesch-Hilfsorganisation Dipshikha, die in dem Dorf Rudrapur mit ihr gearbeitet hatte. Und es zog sie immer wieder dorthin. So entstand ein Vertrauensverhältnis zu den Dorfbewohnern, die der Deutschen ihr wichtigstes Anliegen vortrugen: Eine neue 164

Schule sollte her, zu klein war die alte geworden, ein schäbiges Gebäude mit Wellblechdach, durch das es im Monsun hereinregnete. Die Dörfler wollten einen Backsteinneubau, ihre traditionell konstruierten Lehmhütten, dunkel und pilzanfällig, waren ihnen ein abschreckendes Beispiel. Doch nach und nach gelang es der Architekturstudentin, ihre zunächst ebenfalls sehr skeptischen NGO-Kollegen und auch die Bauern von einer Lehm-und-BambusKonstruktion zu überzeugen. Schließlich half das ganze Dorf mit, vier Monate lang dauerte der gemeinschaftliche Bauprozess der „handgemachten“ Schule. Das Gebäude besteht weitgehend aus den in der Dorfumgebung vorhandenen Materialien und nutzt die jahrhundertealten Kenntnisse der lokalen Baumeister. Aber an einigen entscheidenden Stellen modernisierte Heringer zusammen mit ihrem Kollegen Eike Roswag die überlieferten Konzepte. Die beiden sind keine blinden Puristen: Der nasse Lehm wird mit Stroh gemischt und in mehreren Etappen d e r

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aufgetragen. Das Dach ist aus drei Lagen von Bambusstäben gefertigt, die durch Lehm verstärkt sind. Bei den Tragwerken gibt es einen sinnvollen Kompromiss zwischen Naturmaterialien und kleineren, neuzeitlichen „Knoten“. Der Bambus wird mit Stahldübeln fixiert; neben traditioneller Jute kommt bei der Umbindung auch Nylon zum Einsatz. Da die Schüler gewohnt sind, auf dem Boden zu sitzen, braucht das Gebäude fast keine Einrichtung. Bunte Tücher hängen in den Türen und geben der Konstruktion einen besonders fröhlichen Charakter; das Licht fällt gedämpft in die Klassenräume. Die Kinder haben ihre neue Schule vom ersten Tag an geliebt. Als Nächstes plant Heringer einen Ausbau ihres Konzepts. Sie will jetzt nach dem neuen, verbesserten Naturbauprinzip einige Musterhäuser für die Bauern konstruieren und so auch die allgemeinen Lebensbedingungen im Dorf entscheidend verbessern. Strahlend nimmt die Jungarchitektin, die aus ihrem BangladeschProjekt eine Diplomarbeit gemacht hat, aus der Hand des Aga Khan und des malaysischen Ministerpräsidenten – und direkt nach dem „Großmeister“ Lord Foster – ihren Preis entgegen. Die 55 000 Dollar können sie und ihre Mitstreiter gut gebrauchen. „Das sind drei Rudrapur-Häuser“, sagt sie. Acht der neun ausgezeichneten Arbeiten haben ihren Standort in Asien und Afrika. Europa ist mit der Restaurierung der Altstadt von Nikosia vertreten: ein besonders sensibles Unternehmen, führt es doch die verfeindeten Griechen und Türken Zyperns an einer Schnittstelle der geteilten Stadt zusammen. Zwischen den ausgezeichneten Christlich-Orthodoxen und Muslimen von Nikosia erhält – wie um aufbrechende Streitigkeiten zu unterbinden – auch ein Vertreter der Uno den Preis. „Akzeptieren Sie nicht alles in Ihrem Umfeld, stellen Sie kritische Fragen! Kritik darf nicht, wie heute leider in so vielen islamischen Staaten üblich, als Illoyalität missverstanden werden. Sie ist für unsere Gesellschaft überlebensnotwendig“, ruft der Aga Khan bei einem Seminar am nächsten Tag den malaysischen Architekturstudenten zu, die als Gäste geladen sind. Dann fahren alle Preisträger wieder los, zurück in ihre jeweilige Welt: Burkina Faso, Libanon, Bangladesch. Der Aga Khan eilt zu einer Geburtstagsfeier in sein Schloss bei Paris. Auf Frau Heringer warten Hunderte lärmende, lustige Schulkinder, auf Bürgermeister Zagré warten die Marktfrauen und Budgetverhandlungen mit der Opposition, auf Lehmarchitekt Msawanaq wartet im Jemen Schlamm, sehr viel Schlamm. Bald werden sie alle zurück sein in ihren Hütten, in ihren Hochhäusern, in ihren Palästen. Mit alten Problemen, aber um eine Hoffnung reicher. ™

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Der Jackpot Global Village: Wie der Irak sein Öl internationalen Konzernen andient

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KARIM SAHIB / AFP

Im Wesentlichen geht es darum: Der die Hotelbar, es gibt eine Cocktailparty, die er Minister tritt ans Rednerpult und blinzelt in den Saal. Alle sind ge- Irak hat die drittgrößten Ölreserven der russische Firma Lukoil hat sie gesponsert. kommen. Die großen Ölfirmen, die Welt, 115 Milliarden Barrel. Viele Experten Ihr Vertreter schnappt sich ein Mikrofon, er kleinen Ölfirmen, die Sicherheitsfirmen, glauben, unter dem Wüstensand liege in wirkt ein wenig übermütig und ruft: „Wir die Investoren, die Leute aus dem Wa- Wahrheit doppelt so viel, womöglich so hoffen, dass das neue Gesetz die Tür für uns shingtoner Außenministerium, die Chine- viel wie in Saudi-Arabien mit seinen 264 aufstoßen wird. Wir haben so lange darauf Milliarden Barrel. Während Öl auf der gewartet!“ Dann fließt der Champagner. sen, die Inder. Der Minister lächelt. Hussein al-Schahristani, der Herr über ganzen Welt immer knapper und die NachAber so einfach ist es nicht. das Öl im Irak, ist ein kleiner, weißhaariger frage immer größer wird, lagert im Irak Das Gesetz, das der Ölminister so stolz Mann im schwarzen Anzug. „Danke“, sagt ein riesiger, ungehobener Schatz. vorgestellt hat, ist noch gar nicht in Kraft. In den Kaffeepausen und während des Es weiß auch niemand, wann und wie und er, „danke, meine Damen und Herren.“ Abendessens, draußen im Minigolf-Club, ob es überhaupt in Kraft treten wird. „Sehr Er redet mit sanfter Stimme. Es könnte alles ganz einfach sein. Er ist zu arabischer Musik, kann man mit den bald“, sagt der Minister, aber das Parlahier, um etwas zu verkaufen, und die Leu- Vertretern der großen internationalen ment streitet schon seit Monaten darüber. te im Saal möchten kaufen. Sie wollen Öl, Ölkonzerne sprechen. Alle sind sehr Die Nationalisten sind der Ansicht, die er hat Öl. Viel Öl. Aber wenn alles so ein- vorsichtig, alle wollen sich auf keinen Konzerne bekämen zu viele Rechte. Und fach wäre, wäre diese Konfedie Kurden möchten die Ölrenz überflüssig. felder im Norden am liebsten Der Minister erwähnt kurz für sich allein. Weil sie nicht die Angriffe auf irakische auf das Parlament in Bagdad Pipelines und Raffinerien, sie warten wollten, haben sie ein seien die Hauptziele der Tereigenes Gesetz verabschiedet roristen. Aber darum soll es und angefangen, selbst Verhier nicht gehen. Er ist geträge über Bohrrechte abzukommen, um das neue irakischließen – mit kleinen Firsche Ölgesetz vorzustellen. men, die das Risiko nicht Er möchte über Geschäftsscheuen. Am zweiten Konfemöglichkeiten für internatiorenztag wird bekannt, dass nale Konzerne sprechen. sie schon wieder einen unter Das Spiel, das hier heute Dach und Fach haben, mit gespielt wird, heißt: So tun der texanischen Hunt Oil. als ob. Als ob der Irak ein Wenn man den Ölminister normales Land wäre, in dem darauf anspricht, versteift man Geschäfte machen kann. sich sein Gesicht. Diese VerDie Konferenz findet in träge seien illegal, sagt er, sie Dubai statt, im Crystal Ballhätten keinen Bestand. room des Hyatt Regency Ho- Irak-Konferenzteilnehmer in Dubai: „Wir haben so lange gewartet!“ „Das ist total inakzeptatels, aber sie könnte irgendbel“, schimpft der kurdische wo und nirgendwo auf der Welt sein. Die Fall zitieren lassen, und alle drängen in Ölminister daraufhin über eine NachrichtenDelegierten sitzen an langen Tischreihen, den Irak. agentur, „Schahristani sollte zurücktreten!“ Unter Saddam hatten nur ein paar wekristallförmige Deckenleuchter spenden Und dann, am Ende der Konferenz, bekünstliches Licht. Es ist kalt wegen der Kli- nige Konzerne Zugang zum Land. Die tritt ein Berater des Ministerpräsidenten maanlage. Man merkt nichts von der Son- neue Regierung hingegen will sie am liebs- die Bühne. Er redet plötzlich davon, die alne, die draußen auf eine Landschaft aus ten alle holen, sie braucht Investoren für ten Verträge aus der Saddam-Zeit zu redie veralteten Anlagen, die beschädigten aktivieren. „Es gilt nur, was ich sage“, gibt Hochhäusern und Wüstensand brennt. Es ist ein Paralleluniversum, in dem der Felder. In einer Welt, in der immer mehr der Ölminister zurück. reale Irak mit seinem Bürgerkrieg und sei- Länder ihre Ressourcen verstaatlichen und Die Vertreter der Konzerne sind vernen täglich Dutzenden Toten nicht zu exis- internationale Ölfirmen vor die Tür setzen wirrt, als sie nach Hause fahren. Es ist nicht wie in Russland oder Venezuela, ist das leicht, Geschäfte zu machen mit einem tieren scheint. Die Konferenz heißt „Iraq Petroleum für die Firmen sehr verlockend. Land, das zwar Minister hat, Ölfelder und Der Irak ist der Jackpot. 2007“. Keine Regierung hat sie organisiert, Powerpoint-Präsentationen, aber trotzdem keine internationale Organisation, sondern Schon jetzt lassen die großen Konzerne nicht wirklich existiert. eine private Firma aus London namens Ölfelder untersuchen, vor allem die „SuperZwei Tage nach der Konferenz erreicht CWC. Es ist ein Business-Anlass, man giganten“ im Süden des Landes. Sie haben der Ölpreis vorige Woche ein Allzeithoch tauscht Visitenkarten, die Iraker zeigen der irakischen Regierung Projekte vorge- von über 80 Dollar. Powerpoint-Präsentationen. Es scheint stellt, Pipelines, neueste Bohrtechnik, auch Vier Tage danach meldet die „New York nicht um Politik zu gehen. Dabei geht es um während dieser Konferenz sprechen sie hin- Times“, das irakische Ölgesetz sei vermutnichts anderes. Das amerikanische Außen- ter verschlossener Tür mit dem Minister und lich gescheitert. ministerium hat vier Beamte geschickt, sie seiner Delegation. Am Abend des ersten Das große Geschäft muss warten. hören zwei Tage lang aufmerksam zu. Konferenztags strömen die Delegierten in Mathieu von Rohr 166

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Wissenschaft · Technik

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ARKTIS

Dorf ohne Jungen

BOEING

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„P-8A Poseidon“ (Computersimulation)

n vielen Industrienationen verändert sich das Geschlechterverhältnis: Immer mehr Mädchen werden geboren. Doch nirgends ist das Missverhältnis so eklatant wie in der Arktis. Dort kommen mittlerweile auf jeden Jungen zwei Mädchen. In einem grönländischen Dorf nahe der Stadt Qaanaaq kamen in der letzten Zeit sogar ausschließlich Mädchen zur Welt. „Das wird langsam zu einer drängenden Frage für das Überleben der Menschen hier“, warnt Aqqaluk Lynge, der ehemalige Vorsitzende der Inuit Circumpolar Conference. Die noch unveröffentlichten Zahlen einer Untersuchung wurden vergangene Woche von Wissenschaftlern des Arctic Monitoring and Assessment Programs vorgestellt. Unter Verdacht stehen bestimmte Zusatzstoffe etwa in Computern, Generatoren und Fernsehern, die wie menschliche Hormone wirken. Diese Umweltgifte finden sich in den hohen Breitengraden in extre-

M I L I TÄ R

Touristenbomber für den Krieg D

Putzen mit Keimen

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m große architektonische Meisterwerke wieder erstrahlen zu lassen, scheinen Mikroorganismen am geeignetsten zu sein. Wenn altehrwürdige Kirchen, Brücken oder Paläste Patina ansetzen, werden bisher zwei verschiedene Wege beschritten, um das Gemäuer von Schmutz und Staub zu reinigen: das Abbürsten mit einem Sandstrahler und der Einsatz von Mailänder Dom

Chemie. Beide Verfahren beschädigen jedoch die oberste Steinschicht. Eine weitaus schonendere Art sei der Einsatz von Mikroben der Art Desulfovibrio vulgaris, meint eine Forschergruppe um Francesca Cappitelli aus Mailand. In einer Studie hatten die Mikrobiologen am Marmor des Mailänder Doms Chemie gegen Biologie antreten lassen. Beide sollten um die Wette die dunkle, gipshaltige Kruste abtragen. Den Sieg trugen die Bakterien davon, die gleichmäßig und rückstandsfrei den Marmor reinigten. JTB / SUPERBILD / INCOLOR

ARCHITEKTUR

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DOMINIK ASBACH / BILDERBERG

ie Boeing 737 ist der meistverkaufte Passagierjet der Welt und dient Charterfluggesellschaften gern als engbestuhlter Touristenbomber. Nun soll der Flieger auch in der engeren Bedeutung dieses Wortes in die Lüfte starten: als Kampfflugzeug. Unter dem Namen „P-8A Poseidon“ hat die U. S. Navy das Projekt in Auftrag gegeben. Die Neuentwicklung auf Basis der 737 soll an den Tragflächen Raketen tragen und einen Waffenschacht im Rumpf haben. Aufgabe des zum Fighter gewandelten Zivilflugzeugs wird es vor allem sein, U-Boote zu bekämpfen. An Bord ist genügend Platz für die aufwendige Sensorik zum Aufspüren des abgetauchten Feindes. Boeing richtet derzeit die Produktionsstraße ein. Im März 2009 ist der Jungfernflug der bauchigen Kampfmaschine geplant. Wegen der Waffen und extremen Flugmanöver muss Boeing die Flügel und deren Aufhängung deutlich verstärken.

Inuit-Kinder (bei der Einschulung)

mer Konzentration, weil die Luftmassen auf der Erde von den warmen Regionen in die kalten Polgegenden ziehen. Die Chemikalien finden sich im Plankton und in anderen Kleinstlebewesen, werden von Fischen und Säugetieren gefressen, im Fettgewebe angereichert und am Ende der Nahrungskette von den Inuit verspeist. Die Forscher fürchten, diese Substanzen könnten Spermien mit dem männlichen Geschlechtschromosom schädigen oder die Entwicklung männlicher Föten behindern. 169

Wissenschaft · Technik

Prisma ARCHÄOLOGI E

Schlafende Mumien S

NATACHA PISARENKO / AP

ie sitzen im Schneidersitz, den Kopf auf der Brust, wie in einen kurzen Schlaf versunken – sind aber schon seit über 500 Jahren tot. Die drei Inka-Kinder, die nun im Höhenmuseum im argentinischen Salta ausgestellt werden, gelten als die am besten erhaltenen Mumien der Welt. Die inneren Organe sind erstaunlich unversehrt, Blut ist noch immer in ihren Lungen, und die Haut scheint fast unberührt. Vor acht Jahren wurden die drei Leichen in über 6000 Meter Höhe auf einem Andenvulkan gefunden. „Die Körper wirkten so echt wie schlafende Kinder, dass es mir schien, als würden wir sie kidnappen“, erinnert sich Museumsdirektor Gabriel Miremont. Die Ureinwohner hatten die beiden noch jungfräulichen Mädchen und einen Jungen in einem Ritual geopfert, indem sie sie in der Höhe ausgesetzt und mit Drogen in Schlaf versetzt hatten. Nun ist eines der so erfrorenen Mädchen, eine 15-Jährige, in einer eigens konzipierten Vitrine ausgestellt. Von dreiwandigem Glas geschützt, gleichen Druck, Temperatur und Luftfeuchtigkeit in der Vitrine jenen Bedingungen in der eisigen Gruft, in der die Kinder fünf Jahrhunderte überdauert haben. Mumie einer 15-Jährigen im Höhenmuseum von Salta

WA L D B R Ä N D E

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Wasserbeutel auf brennende Bäume

Kaugummi verliert die Bodenhaftung

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HORST RUDEL / IMAGO

origen Monat haben es die Waldbrände in Griechenland erneut offenbart: Es mangelt an Spezialflugzeugen, um das Feuer rechtzeitig zu stoppen. Daher hat der US-Holzkonzern Weyerhaeuser nun mit Löschmitteln gefüllte Plastiksäcke entwickelt, die aus der Ladeluke herkömmlicher Frachtflugzeuge abgeworfen werden können. Die PVCBeutel enthalten 900 Kilogramm eines Gemischs aus Wasser und Chemikalien und liegen in einer Box. Stürzt diese aus dem Flugzeug, öffnet sich ein Fallschirm. 70 Meter über dem Boden wird der Beutel per Reißleine zerstört und entlässt seinen rettenden Inhalt auf die lodernden Bäume. In Frage kommen Transportflugzeuge des Typs „Hercules“ C-130, die 16 solcher Wasserbomben laden könnten.

Beseitigung von Kaugummi (in Esslingen)

THEODORE VRANAS / IML / LAIF

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Feuerkatastrophe in Griechenland 170

in hartnäckiges Problem für Flaneure und Straßenreiniger steht davor, endlich gelöst zu werden: Britische Forscher haben ein Kaugummi entwickelt, das sich mühelos vom Trottoir entfernen lässt. Terence Cosgrove von der University of Bristol beschreibt die Vorteile seines Clean Gums: „Es hat einen großartigen Geschmack, wird von Regenwasser abgelöst und hat das Potential, sich selbst zu zersetzen.“ Der Trick besteht darin, die Oberfläche des Gummis so zu veränd e r

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dern, dass die misslichen Klebkräfte deutlich reduziert sind. Der findige Professor hat zur Vermarktung seiner Entwicklung eine Firma namens Revolymer gegründet und hofft für das kommende Jahr, das aus amphiphilen Polymeren hergestellte Genussmittel auf den Markt zu bringen. Er liefert sich allerdings ein Wettrennen mit einer irischen Forschergruppe. Diese hat ebenfalls einen Stoff hergestellt, der nach dem Ausspucken natürlich abgebaut wird.

Wissenschaft

ARTENSCHUTZ

Wege ins Katzenparadies

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IMAGEBROKER.NET / CKO / ULLSTEIN BILD

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en Empfänger umgehängt, die Handantenne erhoben, tastet sich Thomas Mölich durch den Bärlauchteppich. Das Signal kommt vom Waldboden: Hier, genau hier zu seinen Füßen kauert das Tier, sagt der wild ausschlagende Feldstärkenzeiger. Tiefe Enttäuschung überfällt den Biologen. Denn wohin Mölich auch guckt: nur niedrige Bärlauchstengel. Kein Dachsbau, kein Reisighaufen, nirgends ein Versteck. Hat das wilde Geschöpf, nach all den Mühen, es zu fangen und zu markieren, jetzt schon das Sender-Halsband abgestreift? Lustlos bückt sich der schmale Mann und tastet den Waldboden nach dem herrenlosen Halsband ab – da springt die Wildkatze plötzlich auf, vor seiner Nase, und schnürt davon. Wildkatzen sind praktisch unsichtbar. „Sie vertrauen auf ihr hervorragend tarnendes Fell“, sagt Mölich, 42, dem das Kunststück gelungen ist, neun der scheuen Lauerjäger in den 76 Quadratkilometern des thüringischen Nationalparks Hainich zu fangen, mit Sendern auszustatten und zweieinhalb Jahre zu beobachten. Die letzten Waldkatzen Deutschlands könnten für immer unsichtbar werden: In einigen Bundesländern sind sie schon lange verschwunden, in den anderen gelten sie als gefährdet oder vom Aussterben bedroht. Zurzeit wird der gesamte Bestand auf 3000 bis 5000 Tiere geschätzt. „Wir müssen ihre Lebensräume wieder miteinander verknüpfen, dann haben sie eine Chance“, sagt Mölich. Dafür kämpft er gemeinsam mit dem Biologen Burkhard Vogel, 42, vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) in Thüringen. Mölichs und Vogels großer Plan: 20 000 Kilometer buschiger, waldiger Korridore sollen ganz Deutschland durchziehen, den Hainich verbinden mit dem Thüringer Wald, die Lüneburger Heide mit dem Solling, den Hunsrück mit dem Pfälzer Wald. Durch diese grünen Öko-Tunnel sollen wilde Tiere schleichen und so von ihren Rückzugsstätten aus neue Biotope besiedeln (siehe Karte). Ein gigantisches grünes Wegenetz – laut BUND „eines der größten Naturschutzprojekte Mitteleuropas“. Dabei geht es Mölich und Vogel um weit mehr als nur die Wildkatze. Über die 50 Meter breiten, heckengesäumten Urwald-

AVATRA IMAGES (L.) PICTURE PRESS/TIPS (R.)

Biologen planen das größte Naturschutzprojekt Mitteleuropas: Sie wollen alle grünen Oasen Deutschlands durch Waldkorridore verbinden. Nur so lässt sich das Überleben bedrohter Waldtiere sichern. Das Wappentier der Öko-Offensive ist die Wildkatze.

Potentielle Trassennutzer Laubfrosch, Schwalbenschwanz, Dachs: Reisen durch den Öko-Tunnel

Wegeplan für wilde Tiere Waldgebiete sollen durch Korridore miteinander verbunden werden, um die Verbreitung von Wildkatzen und anderen Wildtieren zu ermöglichen Natürliche Wildkatzenvorkommen potentielle Zielgebiete/ Übergänge in Nachbarländer Korridore geeignete Lebensräume

Hamburg

Schorfheide

Lüneburger Heide

Berlin Hannover

Fläming

Quelle: BUND

Solling

Harz

Erstes eingerichtetes Leipzig Teilstück

Hainich

Köln

50 km

Thüringer Wald Eifel Frankfurt

Hunsrück

Spessart

Fränkische Schweiz

Pfälzer Wald

Bayerischer Wald Stuttgart

Schwarzwald

München

Alpen

Lausitz

ESSLER / IMAGO

Bedrohte Art Wildkatze: Ungeachtet ihrer Wildheit – sie lässt sich niemals zähmen –, sieht sie niedlich aus wie ein Stubentiger

trassen würden ihr Dachse folgen, Laufkäfer, Fledermäuse, Laubfrösche, Baummarder und Schmetterlinge. Gelingt es nicht, das Netz zu knüpfen, bleiben Fauna und Flora also beschränkt auf die Schutzgebiete, ist der Bestand von 60 bis 70 Prozent aller heimischen Arten bedroht. Denn das Kulturland des Menschen hat sich in die letzten Flecken Wildnis gefressen. Autobahnen, Bundesstraßen und Kanäle versperren den Wildtieren die Wege, Siedlungen und Gewerbeflächen versiegeln Wald und Wiese, Agrarland zerhackt Lebensraum in Inselchen, nicht groß genug zur Jungenaufzucht, zum Verstecken, zur Jagd. Und der Hunger des Menschen auf Wirtschaftsraum ist immer noch nicht gestillt: Gegenwärtig versiegelt er jeden Tag Dutzende Hektar mit Straßen, Bauland, Einkaufszentren. Die „Zerschneidung von Landschaften“, schreiben Forscher und Experten vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) in einer ökologischen Fachzeitschrift, „ist in Mitteleuropa zu einer der wesentlichen und nachhaltig wirksamen Ursachen der Gefährdung biologischer Vielfalt geworden“. Denn es braucht eine Mindestzahl von genetisch deutlich voneinander verschiedenen Tieren, um eine Population dauerhaft aufrechtzuerhalten. In vielen Schutzgebiet-Oasen inmitten der Agrarwüsten aber droht Inzucht – besonders unter Wildkatzen, die sehr große Streifgebiete brauchen: die Weibchen im Hainich etwa bis zu 600 Hektar, die Männchen bis zu 4000. Aber nicht nur deshalb eignet sich die Wildkatze, um die Idee vom Wegenetz für Waldtiere voranzubringen. Ungeachtet ihrer tatsächlichen Wildheit – sie lässt sich niemals zähmen – wirkt sie so niedlich wie ein schnurrender Stubentiger (tatsächlich stammt die Hauskatze von einer anderen

Unterart ab, der Nubischen Falbkatze). Vor allem aber machen ökologische Gründe Felis silvestris silvestris zu einer perfekten sogenannten Zielart für das Korridorkonzept. Das Waldgeschöpf mit dem Puschelschwanz braucht zum Überleben nämlich ein besonders vielseitiges Habitat: möglichst urige Wälder mit Bäumen unterschiedlichen Alters, viel Totholz und Gestrüpp, da es sich tagsüber verstecken will. Auch seine zwei bis fünf Jungen pro Frühjahrswurf verbirgt die Wildkatze gern in hohlen Stämmen oder alten Dachsbauen. Ebenso liebt sie besonnte Lichtungen, verbuschte Waldränder und Brombeerhecken, wo die Mäuse flitzen. Und Stille braucht der Lauerjäger, Wälder mithin, durch die nicht dauernd Mountainbiker brettern. Gerade die Vielseitigkeit des Wildkatzenreviers, hoffen die Forscher, führe dazu, dass eine Vielzahl von anderen Arten die grünen Wildnisbrücken nutzen wird. Die Wege und Lieblingsplätze der wilden Katze hat Biologe Mölich entdeckt, als er seine neun Testtiere im Hainich mit der Antenne verfolgte. Er fand heraus, dass die Korridore dem Raubtier nicht nur als nettes Wellness-Habitat dienten. Sie sind vielmehr notwendig zum Überleben. Denn selbst der mobilste Kater, von Mölich „Beckman“ getauft, legte zwar gern mal 25 Kilometer durch den Hainich zurück; auf die Äcker des Umlands jedoch weigerte er sich, auch nur eine Pfote zu setzen. „Bäume müssen schon da sein“, meint der Biologe, „wahrscheinlich als Fluchtziel.“ Bäume, Licht und viele Verstecke – das müssen die geplanten Katzenkorridore bieten. Sie ähneln damit typischem Waldrandbiotop: in der Mitte unterschiedlich hohe Bäume als Kernzone, unten Reisighaufen und Totholz, weiter außen Büsche d e r

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und dichte Dornenhecken, gesäumt wiederum von einem Streifen wilder Kräuter. Der Vernetzungsgedanke ist nicht neu; 2002 wurde er als Forderung sogar im Bundesnaturschutzgesetz verankert. Das BfN hat bereits Lebensraumkorridore für ganz Deutschland definiert. Allerdings ist Naturschutz Ländersache; was nach Vorgabe des Bundes riecht, weckt schnell Misstrauen und Widerstand, daher will sich das BfN-Konzept ganz schüchtern als „Initiativskizze“ verstanden wissen. Der BUND dagegen kann viel frecher als die Bundesbehörden bundesweite Pläne machen. Am Dienstag dieser Woche wird er das Rettungsnetz für die wilden Tiere dem Minister Eckhard Uhlenberg präsentieren, der als Vertreter Nordrhein-Westfalens der Umweltministerkonferenz der Länder vorsitzt. Und südlich des Hainichs rücken am 1. November sogar schon die Pflanztrupps an, mit Tausenden Bäumchen, um der Katze bald das Insel-Hopping zum Thüringer Wald zu ermöglichen. Rotbemalte Pfähle sind bereits gesetzt; sie markieren die Trasse. Nur etwa 20 Kilometer trennen den Hainich, Wildkatzenparadies, vom Thüringer Wald, in den höchstens mal ein Kätzchen, vermutlich von Hessen her, einwandert. Dazwischen erheben sich in der lieblichen Hügellandschaft die Hörselberge, ein Trittstein für die Katzen auf dem Weg in den Thüringer Wald. Indem geschickt jedes kleine Gehölz genutzt, der natürlich umsäumte Flusslauf der Nesse als Leitlinie genommen wird, bleiben nur 1200 Meter Ackerland, das den allerletzten Ausläufer des Hainichs mit der vorwitzigsten Waldspitze der Hörselberge verbindet. Ausgerechnet ein Autobahnbau, die Verlegung der A4 in den Norden der Hörsel173

Wissenschaft berge, bereitet in Thüringen den Wildkatzen den Weg – und liefert damit zugleich ein Modell für die Verwirklichung auch des restlichen Wegeplans durch Deutschland. Denn jeder, der Natur zerstört, etwa durch Straßenbau, muss an anderer Stelle im gleichen Maße Natur schaffen. Dies, so die Logik der BUND-Leute, kann er besser auf einem erfolgversprechenden Wildkatzenpfad tun, als dass er beispielsweise ziellos ein paar Bäume oder Hecken an Feldwegen pflanzt, die in Dörfer führen – Sackgassen für die Wildkatze wie für den Rest der heimischen Menagerie. Allerdings müssen die Landwirte diesen Ausgleichsmaßnahmen auf ihren Feldern zustimmen. „Aber die sind ja auch nicht blöd“, sagt Vogel. „Denen ist es ja auch lieber, bei etwas mitzumachen, das Erfolg verspricht.“ Und die Raumplanungsbehörden? „Wollen auch gern schon im Vorhin-

ein wissen, was sie an Naturschutz konkret einplanen sollen.“ Ebenso lassen sich Wildtiertunnel unter Bundesstraßen und Autobahnen anhand des Wegeplans gezielt mit den Korridoren verbinden – noch ein Vorteil. Am Hainich hat das Konzept geklappt; jetzt ist der Optimismus der Forscher kaum mehr zu erschüttern. Wer aber nachfragt, wie präzise die Wegenetzkarte den tatsächlichen Verlauf der geplanten Korridore wiedergibt, stößt auf Nervosität: Dann beeilen sich die Naturschützer vom BUND zu versichern, dass es durchaus „einige Kilometer Abweichung“ geben kann. Denn sie wissen genau, dass ihr Konzept den uralten Konflikt zwischen Naturschutz und Landnutzern nicht auflösen wird. Nicht alle Bauern werden sich überzeugen lassen, eine 50 Meter breite Schneise der Wildkatze zu opfern.

Zumal noch nicht bewiesen ist, dass Wildkater Beckman und die anderen tatsächlich über die mühsam bepflanzte Urwaldtrasse reisen werden. Davon aber hängt viel ab – der thüringische Bäumetunnel wird als Modell herhalten müssen für ganz Deutschland. Korridor-Visionär Mölich lauscht gedankenverloren dem tiefen Knarren eines Raben, schaut bergauf zu den Hörselbergen, an dem pfahlbegrenzten Streifen Niemandsland entlang. Seinem Streifen. In der wilden Brache leuchten violett die Acker-Kratzdistel und gelb der HerbstLöwenzahn, es sprießt die Hundskamille – kaum vorstellbar, dass hier bald Bäume wachsen sollen. „Ich wünschte, es wäre wie bei Asterix in der Trabantenstadt, wo die Gallier einfach Eicheln mit Zaubertrank behandeln, auf die Erde schmeißen, und zack, schießen die Eichen aus dem Rafaela von Bredow Boden.“

Psychologie kennen wir den Begriff des „Sensation Seeking“, die Suche nach dem Kick, um sich lebendiger zu fühlen. SPIEGEL: Steckt dahinter der Versuch, eigene versteckte Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren? Dammann: Ja, häufig auch durch Statussymbole oder Gesten der Überlegenheit. Und es geht um den tiefsitzenden Wunsch nach Anerkennung. Welche Ausmaße das annehmen kann, zeigt das Beispiel von Oracle-Gründer Larry Ellison. Der ist nach einem Regattasieg schleunigst zum Flughafen gefahren und hat dort seinen Kampfjet bestiegen. Mit dem ist er dann über die Köpfe der nachfolgenden Segler hinweggedonnert, um sie noch weiter zu demütigen. SPIEGEL: Gehört zum Chef-Sein immer eine gehörige Portion Misstrauen? Dammann: „Nur die Paranoiden überleben“, hat Ex-Intel-Chef Andrew Grove gesagt. Und in der Tat: In einem Haifischbecken kann Misstrauen durchaus hilfreich sein. Allerdings wirkt es sich desaströs aus, wenn man anfängt, Verbündete und Feinde nicht mehr unterscheiden zu können. SPIEGEL: Wie verhalten sich solche Menschen angesichts eigenen Scheiterns? Dammann: Das kann für Narzissten verhängnisvoll sein, wie im Fall Möllemann. Irgendwann wurde die Schere unerträglich groß zwischen dem, was er vorgab zu sein, und dem, wie er sich wirklich fühlte. SPIEGEL: Der Selbstmord war also Teil der narzisstischen Störung? Dammann: Wahrscheinlich schon, obwohl man mit Ferndiagnosen in der Medizin immer vorsichtig sein sollte. Besonders interessant in diesem Zusammenhang war die Art der Inszenierung: Man konnte denken, es sei Mord gewesen. SPIEGEL: Hätte ein Therapeut Möllemann noch helfen können?

PSYCHOLOGIE

„Ich bin größer als du“

Dammann, 43, ist Chefarzt der Psychatrischen Klinik Münsterlingen am Schweizer Ufer des Bodensees. In diesen Tagen erscheint sein Buch über Psychopathen in den Chefetagen*. SPIEGEL: Herr Dammann, gerade hat eine Studie ergeben, dass 58 Prozent aller Beschäftigten nie oder kaum Anerkennung durch ihren Chef erhalten. Hat Deutschland ein Führungsproblem? Dammann: Wahrscheinlich ist die Unzufriedenheit gar nicht neu. Die Öffentlichkeit und die Mitarbeiter sind heute nur bereit, offener zu kritisieren. Aber auch problematische Personalentscheidungen der letzten Jahre machen sich da bemerkbar. Eine Zeitlang wurden vielerorts „Blender“ in der Wirtschaft favorisiert. SPIEGEL: Also krankhafte Narzissten, wenn man Ihrem Buch glauben darf? Dammann: In der Tat. Der Narzissmus ist die Leitneurose der Gegenwart, so wie es zu Zeiten Sigmund Freuds die Hysterie war. Entsprechend haben in den letzten Jahren viele große, global geführte Unternehmen nach einer Art Messias gesucht, der von außen kommt und die Firma rettet. Das ändert sich allerdings gerade wieder. Jetzt werden viele Chefposten wieder mit Leuten aus den eigenen Reihen besetzt. Die haben dann zwar nicht den Nimbus des charismatischen Retters … SPIEGEL: … sind dafür aber umgänglicher? Dammann: Das meine ich. Narzissten bringen zwar viele Stärken mit: Engagement, Durchsetzungskraft, Belastbarkeit. Auf der anderen Seite der Waagschale jedoch befinden sich geringe Teamfähigkeit, Taubheit für Kritik und mangelhafte Einfühlung in die Mitarbeiter. * Gerhard Dammann: „Narzissten, Egomanen, Psychopathen in der Führungsetage. Fallbeispiele und Lösungswege für ein wirksames Management“. Verlag Haupt, Bern; 220 Seiten; 29,90 Euro.

SPIEGEL: Welcher der beiden Typen ist besser für ein Unternehmen? Dammann: Im Allgemeinen ist der narzisstische Typ dann am erfolgreichsten, wenn es gilt, ein Unternehmen, das in einer massiven Krise steckt, grundlegend umzugestalten. Andererseits besteht die Gefahr, dass der neue Chef dann nur ein Strohfeuer entzündet, das nicht von Dauer ist. Denken Sie zum Beispiel an den legendären Sanierer José Lopez, der erst bei General Motors, dann bei VW alles umkrempelte, von dem man aber seither nie wieder groß gehört hat. SPIEGEL: Die Strohfeuer, von denen Sie reden, können fatal für eine Firma sein. Dammann: Natürlich. Außerdem gebärden sich Narzissten häufig rücksichtslos gegen ihre Mitarbeiter. Sie betrachten ihre eigene Energie und ihre eigene Intelligenz als Maßstab und verachten alle, die schwächer sind. Das sind dann die Despoten, die ihre Mitarbeiter bis tief in die Nacht arbeiten lassen, immer kritisieren und nie loben. SPIEGEL: Gehört dazu auch die Demonstration von Härte gegenüber sich selbst? Dammann: Ein Chef eines Automobilkonzerns prahlt damit, nie Angst zu haben. Ein anderer rast gern über die Autobahn. Es geht darum, sich und anderen zu beweisen, dass man unverletzbar ist. Es ist auch ein Ankämpfen gegen das Alter, der Wunsch, ewig jung sein zu können. In der

PETER TURNLEY / CORBIS (L.); LAURENT GILLIERON / EPA / KEYSTONE / PICTURE-ALLIANCE / DPA (R.)

PIRMIN RÖSLI / AGENTUR FOCUS

Der Schweizer Psychologe Gerhard Dammann über narzisstische Chefs, die Untergebene quälen und um Zuneigung buhlen

Führungskräfte Lopez (um 1994), Ellison (2004): „Nur die Paranoiden überleben“ d e r

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WOLFGANG KLUGE / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Dammann: Wenn ein solcher Mensch sich Dammann: Alfred Herrhausen ist ein faszierst einmal im sogenannten suizidalen nierendes Beispiel. Der war sehr ehrgeizig Tunnel befindet, ist es meist zu spät. Da und elitebewusst. Gleichzeitig hat er sich kann man ihn praktisch nicht mehr er- viel früher als andere mit Themen wie Gloreichen – zumal es für einen Narzissten balisierung oder Umweltschutz befasst. Er äußerst schwierig ist, sich einzugestehen, hatte eine visionäre Kraft, wie man sie imdass er Hilfe braucht. Der Suizid ist, an- mer wieder bei Narzissten findet. dererseits, auch ein letzter narzisstischer SPIEGEL: Lässt sich denn herausfinden, ob ein künftiger Chef seine Eigenliebe krankTriumph über die anderen. SPIEGEL: Chefs sind also grundsätzlich nicht haft oder produktiv ausleben wird? therapierbar? Dammann: Das ist die entscheidende Frage, Dammann: Das kann man so nicht sagen. gerade bei der Besetzung für Top-PositioAber es gibt in diesen Fällen Schwierig- nen. Ich bin in meinem Buch möglichen keiten: Wer auf der Erfolgswelle reitet, Indikatoren nachgegangen. Wichtig ist zum hat meist keinen Zugang zu seinen Pro- Beispiel, ob einer schon einmal über länblemen. Außerdem wird ein schwer nar- gere Zeit hin eine Sache durchgehalten hat. zisstisch gestörter Mensch die Therapie Hat er Durststrecken überstanden oder sich als Machtkampf erleben. Er wird seinem bei Widerstand gleich gekränkt zurückTherapeuten zu verstehen geben: „Ich gezogen? Kann er sich über Erfolg freuen, bin eigentlich größer oder klüger als oder würde er sogar beim Nobelpreis noch du“. Der Therapeut ist deshalb zu einer neidvoll daran denken, dass andere ihn Gratwanderung gezwungen: Er darf sich zweimal erhalten haben? Ein Indiz kann weder auf einen Machtkampf einlassen, auch ein ständiger Wechsel im Habitus noch darf er sich dem Patienten unter- sein. Wenn einer zuerst in Turnschuhen werfen. Denn im einen Fall würde er zum auftritt und dann in teurem Tuch, erst 50 Feind, im anderen nicht ernst genommen. SPIEGEL: Wie wird einer zum krankhaften Narzissten? Dammann: Oft ist ein Mangel an echter Liebe oder an verfügbarer väterlicher Autorität die Ursache. Das kann einen unstillbaren Hunger nach Wertschätzung wecken. Der charismatische, zuletzt von starker Hoffnungslosigkeit gequälte Sänger der Rockband Nirvana, Kurt Cobain, hat es so ausgedrückt: „I tried hard to have a father, but instead I had a dad.“ SPIEGEL: Gerhard Schröder ist ohne Vater aufgewachsen … Dammann: … und Bill Clinton, Nicolas Sarkozy oder Barack Obama auch. Aus Sicht des Psychoanaly- Baulöwe Schneider (1993), Politiker Obama tikers geht es vaterlosen Menschen „Suche nach dem Kick“ darum, der Mutter früh zu zeigen: „Ich bin ein vollwertiger Mann“, was aber Kilo abspeckt und dann wieder 50 Kilo eine Überforderung ist. zulegt, zigmal heiratet, dann glaubt man SPIEGEL: Die beiden US-Psychologen Paul doch zu merken: Der ist mit sich nicht ganz Babiak und Robert Hare behaupten, bei- im Reinen. nahe jeder zehnte Spitzenmanager in den SPIEGEL: Haben Chefs häufig Probleme, ein USA sei ein Psychopath. Teilen Sie diese normales Familienleben zu führen? Dammann: Ja. Wir haben es in unserer KliEinschätzung? Dammann: Nein. Babiak und Hare beschäf- nik immer wieder mit hochgradig nartigen sich mit Persönlichkeiten, die täu- zisstischen Patienten zu tun, die keinerlei schen, manipulieren und alles tun, damit Kontakt mehr zu früheren Beziehungen man ihnen auf den Leim geht. Es gibt sol- pflegen, selbst wenn daraus Kinder hervorche Leute, man erinnere sich an den unver- gegangen sind. Sie erledigen das gekränkt frorenen Baulöwen Jürgen Schneider, aber mit Geldzahlungen oder nicht mal das. nicht so oft – und zudem möglicherweise in Das sind Menschen, die etwa wegen Entden USA häufiger als bei uns in Europa. behrungen und Vernachlässigungen innerNarzissten sind in der Regel keine Psycho- lich hart und lieblos geworden sind. Wenn pathen. Narzissmus ist ein Kontinuum. Die der andere dann nicht mehr das bietet, was Grenze ist fließend vom gestörten zum man sich von ihm verspricht, lässt man ihn durchaus produktiven und erfolgreichen fallen. Es schließt sich so ein Kreis: So wie man sich selbst behandelt fühlte, so beNarzissten. SPIEGEL: Wer zum Beispiel ist ein produk- handelt man die anderen. Interview: Frank Thadeusz tiver Narzisst?

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HANS DERYK / REUTERS

Wissenschaft

Wissenschaft • Nach dem italienischen Rauchverbot im Januar 2005 ist die Zahl der unter 60-Jährigen, die in der Region Piemont einen Herzinfarkt erlitten, ebenfalls um 11 Prozent gefallen. Zuvor war ihre Zahl seit Jahren stetig gestiegen. • In der Ortschaft Pueblo im US-Bundesstaat Colorado stockten nach dem Rauchverbot im vergangenen Jahr Seit dem Rauchverbot 27 Prozent weniger Herzen als zuvor. geht es den Herzen der Schotten • In der Kleinstadt Helena im US-Bunüberraschend gut. Wird desstaat Montana ist die Zahl der Herzinfarkte nach einem Rauchverbot im bald auch bis zu 50 000 Deutschen Jahr 2002 sogar um 40 Prozent geder Infarkt erspart bleiben? sunken. Als ein Richter die Qualmerei sechs Monate späie Schotten sind ein ter wieder zuließ, stiegen die chronisch kurzlebiges Myokard-Infarkte wieder auf Volk. Sie trinken eher das Ausgangsniveau. viel, rauchen gern und essen „Der Zusammenhang zwischlecht, und darum sterben sie schen Passivrauchen und Herzein paar Jahre früher als aninfarkt ist inzwischen hervordere Europäer. In der Hauptragend belegt“, urteilt Tobias stadt Glasgow etwa muss sich Raupach, wissenschaftlicher der Durchschnittsmann über die Leiter der RaucherentwöhGestaltung seines 71. Geburtsnungsambulanz an der Unitags keine Gedanken machen. versitätsklinik Göttingen. Das Millionenteure AufklärungsGespenstische daran sei, dass kampagnen der Mediziner habeim Rauchen, ob aktiv oder ben immerhin dazu geführt, passiv, eine minimale Dosis dass die Zahl der Herzinfarkte bereits einen maximalen Effekt seit einiger Zeit sinkt – um rund nach sich ziehen könne. Ähn3 Prozent pro Jahr. Doch jetzt ist lich wie bei einer Schneelaoffenbar ein Wunder geschehen: wine reicht schon ein kleiner Plötzlich hat die Zahl der HerzAnstoß zu einer Kaskade von infarkte in Schottland in einem Ereignissen. einzigen Jahr um ganze 17 ProDie Wahrscheinlichkeit eines zent abgenommen. Lungenkrebses steigt mit der Was ist geschehen? Essen Zahl der gerauchten Zigaretten. die Schotten kein rotes Fleisch Rauchfreie Kneipe (in Edinburgh): Wunder der guten Luft Beim qualmbedingten Herzmehr? Schlucken sie massenhaft infarkt jedoch gibt es diese „lineare Cholesterinsenker? Trainieren sie alle für Dosis-Wirkung-Beziehung“ nicht. Schon den Marathon? Nein: Sie sitzen nur nicht wenige Stunden des Passivrauchens fühmehr beim Bier, im Zug oder auf der Arbeit Mögliche Auswirkungen des Passivrauchens ren zu messbaren Veränderungen im im Zigarettenqualm der anderen. auf das menschliche Herz Blut. Seit April 2006 gilt in Schottland ein 1 Feinstaub aus Pas„Eine sehr geringe Menge von ToRauchverbot in der Öffentlichkeit, und Luftsivrauch kommt in der xinen kann bereits großen Schaden anseither, so berichteten Forscher der Uniröhre Lunge an und führt richten“, sagt Raupach. Und immer deutversität Glasgow vergangene Woche, geht dort zu entzündlichen licher werde, weshalb das so ist. Weil es in den Herzkliniken des Landes auf erProzessen. die Lunge auf den Rauch reagiert, werstaunliche Weise ruhiger zu. Während der den die Blutplättchen klebrig (siehe Grazehn Monate vor dem Rauchverbot wurLunge 2 Hormone wie zum fik). Für Menschen, die bereits einem den noch 3235 Menschen mit Herzinfarkt Beispiel Interleukin-6 Infarkt nahe sind, könnte diese Belaseingeliefert in neun ausgewählte schottiwerden verstärkt tung das Quentchen sein, das sie ins Grab sche Kliniken. Im gleichen Zeitraum nach ausgeschüttet. Im dem Ende des öffentlichen Rauchens waBlut führt Interleukin-6 reißt. dazu, dass die BlutHerz Der Herzinfarkt trifft jedes Jahr 275 000 ren es nur 2684. Entzünplättchen leichter dung Deutsche, rund 150 000 sterben daran. Jetzt staunen die Schotten und der Rest aneinanderkleben. Wenn deutsche Herzen auf Zigarettender Welt über 551 Herzinfarkte, die es rauch ebenso reagieren wie schottische, nicht gegeben hat – einfach nur wegen besdann müsste das Rauchverbot, sobald es serer Luft. Wie sollen schon vergleichs3 In einem bereits verengten Blutgefäß im bundesweit im Januar 2008 in Kraft tritt, weise niedrig konzentrierte Schadstoff- Herzen kann so ein Verschluss entstehen – auf einen Schlag bis zu 47 000 Herzinfarkpartikel, eingeatmet beim sporadischen und damit der Infarkt. te vermeiden helfen. Kneipenbesuch, einen so durchschlagenDas ist eine schwer vorstellbare Zahl. den Effekt haben? Einer Studie aus Schottland zufolge Auf den britischen Inseln reagierten vie- sank die Zahl der Herzinfarkte Selbst erbitterte Nikotingegner sind bisle Menschen vergangene Woche mit Unlang nicht davon ausgegangen, dass das glauben. Vielleicht war das Wetter schuld, in der Gesamtbevölkerung um 17 %, Passivrauchen in Deutschland so viele mutmaßten manche. „Gesunden Skeptizis- bei Nichtrauchern um 20 % Menschen so unmittelbar schädigt. mus“ empfahl auch die Londoner „Times“ seit dem Rauchverbot in der Öffentlichkeit. Marco Evers MEDIZIN

Lawine in der Lunge

angesichts dieser Ergebnisse, die Rauchverbote gleichsam als beste und billigste Gesundheitsmaßnahme seit Erfindung des Freizeitsports erscheinen lassen. Doch tatsächlich ist die schottische Studie für Mediziner gar nicht so überraschend, wie es scheint. Aus verschiedenen Ländern liegen bereits Untersuchungen mit sehr ähnlichen Ergebnissen vor: • In Irland, so erklärten irische Forscher auf einem Kardiologenkongress in Wien, hat die Zahl der Herzinfarkte seit dem Rauchverbot im März 2004 um 11 Prozent abgenommen.

GERRY MCCANN

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Schneller zum Infarkt

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ULLSTEIN BILD / SYLENT PRESS (L.); ANP / PICTURE-ALLIANCE / DPA (R.)

Wissenschaft

Warenangebot im Elektronikfachmarkt, Flugzeugkatastrophe von Teneriffa 1977: Schmaler Grat richtigen Entscheidens HIRNFORSCHUNG

Die Anatomie des Irrtums Immer wenn der Mensch eigene Fehler erkennt, zuckt eine rätselhafte Elektrowelle durch sein Hirn. Forscher sehen einen Mechanismus am Werk, der erklärt, warum Menschen zaudern, wie Neurosen entstehen und was Süchte sind. Liegt hier auch das Geheimnis der Intuition verborgen?

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tress ist für die 5500 Wissenschaftler und Techniker des Jet Propulsion Laboratory normal. Wenn sie Entscheidungen fällen, wissen sie: Jeder kleine Fehler kann fatale Wirkung haben. Genau das passierte im Jahr 1999: Als die Raumsonde „Mars Polar Lander“ in die Atmosphäre des Roten Planeten eintrat, riss plötzlich der Funkkontakt ab. Im Kontrollzentrum verschwand der Satellit von den Bildschirmen. Das war’s. 400 Millionen Dollar hatten sich in Stille aufgelöst. Nun warteten die beiden verantwortlichen Manager auf ihre fristlose Kündigung. „So gehen wir in unserer Kultur mit Fehlern um“, sagt Markus Ullsperger, der dieses Beispiel gern erzählt, weil es in diesem Fall genau anders gekommen ist. „Die beiden Manager wurden verschont“, so der Hirnforscher vom Kölner MaxPlanck-Institut für neurologische Forschung. „Und zwar mit der Begründung, man habe schließlich Millionen in ihre Ausbildung gesteckt.“ Vom Standpunkt der Neuropsychologie sei das eine vorbildliche Management-Entscheidung gewesen. Denn gerade eigene Irrtümer, so Ullspergers Überzeugung, sind eine der kostbarsten Quellen der Erkennt180

nis. „Fehler sind das Tor zu neuen Entdeckungen“, verkündete schon der irische Dichter James Joyce und nahm damit nur voraus, was die moderne Neurowissenschaft nun bestätigt. Ullsperger erkundet derzeit, ebenso wie ein Dutzend anderer Arbeitsgruppen in aller Welt, wie das Gehirn eigene Irrtümer aufspürt und verarbeitet. „Unser Gehirn besitzt die faszinierende Fähigkeit, Fehler aufzuspüren und, falls sie bereits passiert sind, aus den Erfahrungen zu lernen“, erklärt er. „Error-related Negativity“ (ERN) heißt der Begriff, der die Fachwelt elektrisiert. Er bezeichnet eine charakteristische Spannungswelle unter der Schädeldecke, die sich immer dann messen lässt, wenn das Hirn registriert, dass es einen Irrtum begangen hat. Besonders verblüffend: Das ERN-Signal flackert bereits auf, ehe der Mensch sich seines Fehlers überhaupt bewusst ist. Anfang der Neunziger hatte der Dortmunder Neurophysiologe Michael Falkenstein erstmals beobachtet, wie in einem bestimmten Ensemble von Nervenzellen die Spannung um gute zehn Millivolt abfällt – und zwar bereits 100 Millisekunden nachdem der Mensch einen Irrtum begangen hat. d e r

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Diese Entdeckung war der Startschuss zur systematischen Erforschung des fein ausgeklügelten Fehlerdetektors im Gehirn. Es eröffnen sich damit faszinierende neue Theorien unter anderem darüber, wie Zwangsstörungen entstehen oder warum manche Menschen zaudern, während andere tatkräftig entscheiden. Auch die Entstehung von Süchten erscheint in neuem Licht. Plötzlich wird klar, warum der Mensch oftmals aus einem Bauchgefühl heraus einen bestimmten Fehler vermeidet. „Die Erfahrungen des Fehlersystems liefern genau jenes unbewusste Wissen, auf das die Intuition dann zurückgreift“, erklärt Ullsperger. Auf zwei Weisen tritt das Fehlersystem in Aktion: Zum einen greift es sofort korrigierend ein, wenn dem Menschen ein Fehler unterlaufen ist. Es kann aber auch warnen: Wenn es erkennt, dass ein Vorhaben nicht den erwünschten Erfolg zu haben droht, äußert sich dies im Gefühl von unbestimmtem Unbehagen. Wie das genau funktioniert, wollen Ullsperger und seine Mitstreiter am funktionellen Kernspintomografen herausfinden. Sie unterziehen dabei Probanden in der Tomografenröhre einfachen Tests, so sollen sie die unter Neuroforschern wohlbekann-

ERN-Welle

Rettende Geistesblitze Wie das menschliche Gehirn Fehler erkennt Schaltstelle des Kortex Fehlerkorrektur

limbisches System

Mittelhirn

Über den Sehnerv oder andere Sinnesorgane registriert der Mensch potentiell gefährliche Veränderungen, beispielsweise beim Autofahren das Abweichen von der Fahrbahn.

Im Mittelhirn setzt schlagartig die Produktion des Neurotransmitters Dopamin aus. Das alarmierende Signal gelangt in die Basalganglien, ins limbische System und zugleich in die Großhirnrinde (Kortex).

te Eriksen-Flanker-Aufgabe lösen. Dabei flimmern Buchstabenreihen wie diese vor ihren Augen: SSHSS, SSSSS oder HHSHH. Zwei Knöpfe sollen die Testpersonen drücken: den linken, wenn der mittlere Buchstabe ein S ist, den rechten hingegen, wenn in der Mitte ein H steht. Ganz so einfach, wie es scheint, ist diese Aufgabe nicht, denn die Buchstaben rechts und links neben dem Hauptbuchstaben verwirren den Betrachter. Besonders unter hohem Zeitdruck passiert es häufig, dass sich die Probanden einige Augenblicke später korrigieren. „Es geht ihnen, wie wenn uns ein falsches Wort herausrutscht, wir das später bemerken und den Satz noch schnell korrigieren“, so Ullsperger. Dass währenddessen die typische ERNWelle durchs Gehirn flackert, messen Elektroden in einer Gummikappe auf dem Kopf. Zusätzlich beobachtet der Kernspintomograf, in welchen Hirnarealen die Nervenzellen besonders aktiv sind. Im Detail lässt sich so die Anatomie der Fehlersuche nachvollziehen: Unmittelbar

Angeregt von einer kleinen Region des Kortex, die offenbar als zentrale Schaltstelle fungiert, reagieren die Pyramidenzellen der äußeren Großhirnrinde auf den Dopaminschock mit einer messbaren elektrischen Spannung. Diese ERN (error-related negativity) kann als Spannungskurve aufgezeichnet werden.

nach der ERN-Welle stellt das Mittelhirn schlagartig die Produktion von Dopamin ein. Dieses neurochemische Signal überträgt sich in die Basalganglien und damit auch in das limbische System, in dem Gefühle generiert werden. Und noch einen weiteren beteiligten Nervenstrang haben die Forscher entdeckt. Er führt in einen tiefliegenden Teil des Kortex, der das Signal dann breit in die Großhirnrinde streut (siehe Grafik). „Diese Kaskade signalisiert den Exekutivstellen: Halt, hier läuft etwas schief! Noch einmal kontrollieren, wenn nötig, sofort korrigieren“, erklärt Ullsperger. Der Kölner Neurologe kann auch nachweisen, dass sich die Probanden nach einem Fehler im Flanker-Test bei den nächsten Antworten länger Zeit lassen. „Die Menschen ändern ihre Entscheidungsstrategie“, sagt er, „sie beginnen, aus ihrem Fehler zu lernen.“ Was aber bewirkt den Dopaminabfall? Was löst die ganze Signalkette aus? Ullsperger erklärt es damit, dass das Gehirn, immer wenn es sich zu einer bestimmten

Nach der ERN-Schrecksekunde nimmt das Gehirn eine Neubewertung vor. So geben die für Steuerbewegungen zuständigen Hirnareale, teils unbewusst, den Befehl zur Korrektur – im Beispiel zum Gegenlenken.

Handlung entschließt, sogleich auch eine Vorstellung davon entwickelt, welche Folgen zu erwarten sind. Trifft das gewünschte Resultat ein, belohnt sich das Gehirn mit dem Glückshormon Dopamin. Passiert hingegen etwas Unerwartetes, bleibt die Belohnung aus. Auf den Organismus wirkt dies wie eine Bestrafung. Die Wahrnehmung des Menschen ist hochspezialisiert darauf, Widersprüche zwischen erwartetem und tatsächlich eintretendem Geschehen zu bemerken. Ein Ensemble von gut tausend Nervenzellen scheint dafür verantwortlich zu sein, Wunsch und Wirklichkeit miteinander zu vergleichen. „Es ist schon erstaunlich, aber diese schwierigen Kalkulationen bewältigt das Gehirn online, also permanent, während es sich gleichzeitig mit vielen anderen Dingen beschäftigt“, meint Richard Ridderinkhof von der Universität Amsterdam. Der Neurowissenschaftler vergleicht es mit einer Autofahrt, bei der das Fahrzeug langsam von der Spur abzukommen droht. „Ohne groß darüber nachzudenken, korrigiert der

MPI LEIPZIG

KARSTEN SCHÖNE

Wissenschaft

Neurologe Ullsperger, Fehlertest-Probandin an einem Elektroenzephalografen (in Leipzig): „Halt, hier läuft etwas schief!“

Autopilot im Kopf die Laufrichtung des Wagens.“ Ridderinkhof ist überzeugt, dass sich daraus auch Erkenntnisse für die Katastrophenforschung gewinnen lassen. Flugzeugunglücke zum Beispiel gehen meist auf den Fehler eines Menschen zurück. Die Kernschmelze des Atomkraftwerks in Tschernobyl offenbarte auf schreckliche Weise, wie anfällig das kognitive Netzwerk des Menschen ist. Und der Absturz der Raumfähre „Columbia“, das vielleicht bestuntersuchte Unglück der HightechÄra, resultierte sogar aus dem kollektiven Versagen einer ganzen Institution. Bislang wurden die Fehler von der Wissenschaft inventarisiert, kategorisiert, analysiert. Wer zu stark auf sich oder seine Technik vertraut, so haben die Forscher herausgefunden, der droht zu versagen. Als weitere Ursache haben sie die Kombination aus schlechter Vorbereitung und Stress ausgemacht. Und auch ungeklärte Organisationsfragen können, wie etwa auf der legendären Südpol-Expedition von Robert Falcon Scott, eine Mission ins Verderben stürzen. Häufig ist es nur ein schmaler Grat zwischen der Katastrophe und dem Entdecken eines Fehlers. Besonders eindrucksvoll lässt sich dies anhand des größten Unfalls der zivilen Luftfahrt rekonstruieren: Damals, im März 1977, krachten auf der Startbahn des Flughafens von Teneriffa zwei Jumbo-Jets ineinander. Präzise dokumentiert die Tonbandaufnahme aus dem Cockpit die Sekunden vor dem Crash. Eine Boeing 747 der niederländischen Fluggesellschaft KLM stand fertig zum Start auf der Bahn, während ein Jumbo der PanAm noch die Rollbahn versperrte. Dichter Nebel machte den Sichtkontakt unmöglich. Der Tower wies dem KLM-Flugzeug eine bestimmte Flugroute zu, der ungeduldige Kapitän jedoch deutete das als Startfreigabe. „Ist er also noch nicht weg, der PanAm?“, so hörten die Unfall182

ermittler später Willem Schreuder, den Bordingenieur des holländischen Jumbos, fragen. Eine böse Ahnung war offenbar in seinem Bewusstsein aufgeflackert. Doch der Kapitän wischte den zaghaft geäußerten Verdacht beiseite und legte die Starthebel um. Als er die andere Boeing im Nebel auftauchen sah, war es zu spät für eine Korrektur dieser fatalen Fehlentscheidung. Es starben 583 Menschen. Die innere Stimme des Bordingenieurs hätte ihnen das Leben retten können. Vollständig bewusst war ihm der Fehler wohl nicht, den sie im Begriff waren zu begehen. Jedenfalls konnte er seine Ahnung nicht klar genug artikulieren. „Dabei sollte man der Intuition häufig mehr Vertrauen schenken“, sagt Psychologe Ridderinkhof. Ein Versuch hat ihm das klargemacht. Er hatte ein Experiment aufgebaut, bei dem auf einem Monitor immer wieder ein helles Licht aufleuchtete, mal in der rechten Hälfte des Bildschirms, mal in der linken. Ridderinkhof forderte die Probanden auf, stets dorthin zu schauen, wo das Licht gerade nicht zu sehen war. Während des Versuchs maß er die Bewegung der Pupillen, um so genau feststellen zu können, ob die Testperson seiner Weisung folgte oder nicht. Die Neugier des menschlichen Hirns, das wusste der Forscher, ist viel zu groß, um ein solches Signal einfach unbeachtet zu lassen. Und tatsächlich: Die Probanden machten immer wieder Fehler, korrigierten diese auch und verbesserten sich im Verlauf des Experiments. Auch die typische ERN-Welle durchzuckte, wie erwartet, ihre Großhirnrinde. Und doch leugneten sie bei einer anschließenden Befragung, irgendwelche Fehler begangen zu haben. Ihr Bewusstsein war also mit deren Erkennung und Korrektur gar nicht behelligt worden. Für Ridderinkhof legt das den Schluss nahe, dass ein großer Teil der Fehlerverarbeitung im Unbewussten abläuft; wie Ullsd e r

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perger vermutet auch er, hier dem neuronalen Korrelat der Intuition, jener inneren Stimme, die den Menschen vor Fehlern bewahrt, auf die Schliche gekommen zu sein. Bei den Versuchen messen die Forscher auch regelmäßig, dass dieses Korrektursystem bei den Probanden unterschiedlich sensibel eingestellt ist. Könnte es sein, dass zauderhafte Menschen einfach große Angst vor Fehlern haben, während forsch auftretende Macher ein vergleichsweise abgestumpftes Fehlerwarnsystem in ihrer grauen Hirnmasse haben? Hinweise auf die Antwort bieten die krankhaften Extreme an den beiden Enden des menschlichen Entscheidungsverhaltens. Max-Planck-Forscher Ullsperger macht den Fehlertest auch mit Menschen, die sich zwanghaft waschen oder einen anderen Kontrollzwang haben. Der Befund: „Bei ihnen ist das Überwachungssystem so mächtig, dass sie sich mit kaum etwas anderem beschäftigen können, als sich dauernd zu überwachen.“ Am anderen Ende der Entschlossenheitsskala bietet sich ein entsprechendes Bild. Der Rotterdamer Neuropsychologe Ingmar Franken unterzog Kokain-Abhängige, die seit mindestens einem Monat clean waren, dem Eriksen-Flanker-Versuch. „Nicht nur, dass sie sich häufig falsch entschieden“, sagt der Forscher von der Erasmus-Universität, „sie bemerkten ihre Fehler auch nicht, und vor allem: Sie änderten ihre Strategie nicht.“ Damit glaubt Franken erklären zu können, warum Kokser so blind gegenüber den negativen Folgen der eigenen Sucht sind. „Außerdem könnte es gerade den Reiz des Kokains ausmachen, dass es die Entscheidungskraft steigert.“ Ähnliche Resultate beobachtete auch Frankens Kollege Ridderinkhof aus Amsterdam bei Experimenten mit Alkoholikern: „Hat der Alkohol erst einmal das Hirn vernebelt, fehlt die Fehlerwelle im Gehirn.“ Gerald Traufetter

Kultur

Szene S TA R S

„Bloß nicht noch eine von meiner Sorte“

Film treten Sie als vielfach geklonte Heldin gegen Untote an. Wie gefällt Ihnen der Gedanke an multiple Millas? Jovovich: Grauenhaft. Ich komme ja gerade so mit mir selbst klar. Bloß nicht noch eine von meiner Sorte. SPIEGEL: Kann das Kino Grauen und Gewalt unbegrenzt steigern, ohne dass es sich irgendwann nur noch wiederholt? Jovovich: Es gibt immer einen Platz für tolle Kampfszenen, solange die Drehbücher gut sind ... SPIEGEL: ... die Ihr Lebensgefährte Paul Anderson schreibt. Jovovich: Richtig. Es gab mal die Idee, Alice in ein richtig schauderhaftes, angsteinflößendes Monster zu verwandeln, so ein ekliges Vieh mit einem entstellten Gesicht. Das will ich nicht. Es ist eine Sache, die Heldin in einem Actionfilm zu sein. Aber ich will kein Horrormonster sein. Wenn ich ein Monster spiele, muss es ein Psychomonster sein, ein degenerierter Lügner, ein gewissenloser Killer, eine

BAU PRO J E K T E

Brückendrama, nächster Akt

F

ür den Bau der umstrittenen Waldschlösschenbrücke im Elbtal waren die Bagger schon startbereit. Und dann kam die Entscheidung: Das Dresdner Verwaltungsgericht stoppte vorläufig den Baubeginn, weil, wie Naturschützer behaupten, die Brücke die Kleine Hufeisennase, eine vom Aussterben bedrohte Fledermausart, gefährden könnte. Dies sei im Verwaltungsverfahren

bislang nicht ausreichend gewürdigt worden. Erwartungsgemäß hat das Regierungspräsidium Dresden Beschwerde eingelegt. Nun liegt die Sache bei der nächsten Instanz, dem sächsischen Oberverwaltungsgericht in Bautzen, das rasch entscheiden will. Geklärt ist

JÜRGEN LÖSEL

SPIEGEL: Frau Jovovich, in Ihrem neuen

Irre, ein normaler Mensch, dessen Psyche mutiert ist. SPIEGEL: Können Sie sich mit Alices Überlebensinstinkt identifizieren? Jovovich: Aber total! Ich komme aus einer Immigrantenfamilie. Wir kamen in den achtziger Jahren aus der Ukraine in die USA. Meine Tochter wird das erste in Amerika geborene Jovovich-Baby sein. Das ist eine große Sache für unsere Familie. Meine Eltern haben hier als Hausmeister angefangen. Ich sah meine Mutter, wie sie von einer glamourösen Schauspielerin zu einer Putzfrau wurde, die mich im klapprigen Chevy zum Vorsprechen fuhr. Sie musste ihren ganzen Stolz runterschlucken und kämpfen. Für mich war es das Wichtigste, ihr zu zeigen, dass sich das lohnt. Und dass ich alles tun werde, um meine Familie voranzubringen. SPIEGEL: Was heißt Überleben in der Glamourwelt für Sie? Jovovich: Sich seine Reinheit, seine Unschuld zu erhalten. Mit beiden Beinen in der Wirklichkeit zu stehen. Sich nicht von lauter Wichtigtuerei auffressen zu lassen. Zu erkennen, was nicht wirklich wichtig ist, wie Erster-Klasse-Tickets, die richtige Party, ein bestimmtes Outfit, lauter Statussymbole, die uns korrumpieren. Und zu wissen, was mich Jovovich in „Resident Evil: Extinction“ glücklich macht. Wenn auf meinem Grundstück das Tor hinter mir zufällt, bin Freunde, um mich für etwas Besonderes ich in meiner eigenen kleinen Welt. Da zu halten. Ich habe in Hollywood eine brauche ich keine Drogen, keine falschen Seifenblase für mich kreiert. CAROLINE TOREM CRAIG / LFI / PHOTOSELECTION (L.); CONSTANTIN FILM (R.)

Die Schauspielerin Milla Jovovich, 31, über ihr Faible für Actionfilme, den Überlebenskampf ihrer Familie und ihren dritten Auftritt als Zombie-Jägerin Alice in „Resident Evil: Extinction“

Dresdner Elbtal d e r

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der Fall dann aber noch lange nicht. Die aktuellen Beschlüsse in Sachen Baustopp ergehen im Zuge eines Eilverfahrens, haben also nur Gültigkeit, bis die Entscheidung im Hauptsacheverfahren gefällt wird. Dies kann sich noch lange hinziehen. Sollte es also im Laufe dieses Monats heißen, dass die Brücke doch gebaut werden darf, und sollten die Arbeiten beginnen, kann der peinliche Fall eintreten, dass die Brücke wieder abgerissen werden muss, wenn es am Ende des Hauptsacheverfahrens heißt, sie gefährde doch das scheue Tier. Geld ausgeben kann man auch anders. Zum Beispiel für einen Tunnel. 185

Szene L I T E R AT U R KUNST

Rede für einen Freund er falsche Anlass, die falsche Rede: „Liebe Freunde der PrzewalskiD pferdezucht“, schießt es Skarlet durch

Kathrin Aehnlich: „Alle sterben, auch die Löffelstöre“. Arche Literatur Verlag, Zürich; 256 Seiten; 19 Euro.

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in Film ohne Anfang und ohne Ende. Ein Computer zerlegt ihn in einzelne Bild- und Tonsequenzen und arrangiert diese immer wieder neu. Es dauert Stunden, Wochen oder Monate, ehe sich eine Kombination wiederholt. Der kanadische Douglas-Werk „Malecón“ Video- und Installationskünstler Stan Douglas, 46, bietet dem Zuschauer immer neue Variationen einer Erzählung. mit den verlassenen Ufa-Filmstudios und Entlang musikalischer, filmischer und li- den Potsdamer Schrebergärten vor und terarischer Vorlagen hinterfragt Douglas nach dem Mauerfall. „In meiner Arbeit die Traditionen der Moderne. In einer sei- spreche ich Dinge an, die ich anfangs selbst ner bekanntesten Arbeiten, „Der Sand- nicht verstehe“, so Douglas. In der weltweit mann“ (1995), verquickt er E. T. A. Hoff- ersten umfassenden Douglas-Werkschau manns gleichnamige Schauerroman-Figur „Past Imperfect – Werke 1986 bis 2007“

heißt es auch 30 Jahre später bei der Eröffnung der Spielzeit am Stuttgarter Staatstheater. Am Freitag startet das Projekt, ein Potpourri aus Bühnenstücken, Lesungen, Filmen, Ausstellungen und tuttgart im Herbst 1977: Andreas Diskussionen rund um das Thema RAF. Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Die Jubiläumsprozession mit über 30 Raspe begehen in ihren Gefängniszellen Veranstaltungen wird den Zuschauer den Selbstmord. „Endstation Stammheim“ ganzen Herbst über begleiten (21. bis 30. September, 6. bis 14. Oktober, 14. bis 18. November). Mehr RAF geht kaum: von der Bühnenfassung des Friedrich-Christian-DeliusRomans „Mogadischu Fensterplatz“ über Elfriede Jelineks Stück „Ulrike Maria Stuart“ bis zur Lesung des neuen Romans „Mein Freund Klaus“, in dem sich Peter O. Chotjewitz mit dem früheren RAF-Anwalt Klaus Croissant beschäftigt. Für die passende Begleitmusik sorgt Harald Schmidt mit seiner Show „Elvis lebt. Und Schmidt kann es beweisen“ – offenbar ist dem Entertainer aus dem Herbst 1977 vor allem das „Elvis-Presley-Memorial“ im Staatstheater in Erinnerung geblieben. Er präsentiert einen Liederabend mit dem King – „Ulrike Maria Stuart“ am Hamburger Thalia Theater (2006) möglichst fern der RAF. T H E AT E R

RAF-Potpourri

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ARNO DECLAIR

den Kopf. Aber sie ist gar nicht auf der Konferenz zu Ehren des asiatischen Wildpferdes im Zoo, in dem sie arbeitet, sondern auf der Beerdigung ihres ältesten und besten Freundes Paul. Mit knapp 40 Jahren ist er am vorletzten Tag des Jahres an Krebs gestorben, und in einem letzten Brief bittet er Skarlet um die Grabrede: „Ein bisschen Geschichtenerzählen ohne Pathos“. Menschen, die es gut miteinander haben, erzählen sich ihre gemeinsame Geschichte gern als Abfolge glücklicher Momente. Skarlet geht es nicht anders. In den Tagen nach Pauls Tod nehmen sich die Erinnerungen an ihre über fast vier Jahrzehnte andauernde, krisenfreie Freundschaft heiter und unbeschwert aus. Doch zwischen den Zeilen ist zu spüren, wie belastend die Erlebnisse für die beiden gewesen sein müssen, als sie noch Kinder waren: etwa das Aufwachsen in der DDR unter der Fuchtel einer tyrannischen Kindergartentante, die sie zwang, ihre Hosen auszuziehen und eine lächerliche Schürze zu tragen, und die Kleinen erst dann vom Tisch aufstehen und spielen ließ, wenn sie eine große Tasse warmer Milch vollständig ausgetrunken hatten. „Wir trinken auch die Haut, sagte Tante Edeltraut. Und ließ die hungernden Kinder der Welt aufmarschieren.“ Skarlets Erinnerungen an Paul und die Lebenswege der beiden hat die Leipziger Autorin Kathrin Aehnlich, 50, mit großem kompositorischen Geschick zu einem späten Debütroman arrangiert. Es ist ein humorvolles und zugleich trauriges, aber niemals rührseliges Buch über eine lebenslange Freundschaft und einen skandalös frühen Tod. Aehnlich entgeht den meisten Kitsch- und Pathosfallen ihres großen Themas und verschont die Leser mit tröstlich gemeinten Weisheiten. Über das Leben lässt sich unendlich viel erzählen, über den Tod aber kaum mehr sagen, als im Titel dieses gelungenen Romans steht: „Alle sterben, auch die Löffelstöre.“

Kopflastiger Kombinierer

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Kultur POP

Das neue Europa

STAN DOUGLAS

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osaune und Trompete schmettern zu Schlagzeug und Gitarre, vermischen sich mit elektronischen Beats zu einem energetischen Stilmix. Folklore trifft HipHop trifft Samba trifft Soul. Balkanpop verwirklicht, was in der Politik nur langsam vorangeht: Ost und West verschmelzen zu einer Einheit – in den kommenden Monaten auch in Deutschland. Denn der Sänger Stefan Hantel alias Shantel, ein Discjockey mit ukrainischen Wurzeln, der volltönende Blasmusik clubfähig gemacht hat, tourt bis zum 4. Oktober mit seiner Band

Staatsgalerie, die unter ihrem neuen Direktor, dem Briten Sean Rainbird, bisher nur wenig von sich reden gemacht hat, präsentiert mit „Ouverture“ (1986) und „Vidéo“ (2007) die älteste und neueste Arbeit des erfolgreichen kanadischen Künstlers.

zeigen der Württembergische Kunstverein und die Stuttgarter Staatsgalerie bis zum 6. Januar 14 Installationen des kopflastigen Kombinierers und mehr als 120 Fotografien wie das Panoramabild „Malecón“ von 2005. Das Gros der Film- und Fotocollagen ist im Kunstverein zu sehen. Die

„Hamburger Lektionen“ nennt der Regisseur Romuald Karmakar zwei Predigten des früheren Hamburger Imams Mohammed al-Fasasi, die den Zuschauer das Fürchten lehren. Basierend auf Videomitschnitten, die von einer unbekannten Person im Januar 2000 in der al-Kuds-Moschee von St. Georg angefertigt wurden, erstellte der Berliner Regisseur eine akribische Übersetzung der Ausführungen Fasasis sowie der Fragen der anwesenden Gläubigen und ließ sie von dem Schauspieler Manfred Zapatka vortragen. So entstand ein überaus beklemmendes nachinszeniertes Dokument. Da ist zunächst von Geboten und Ritualen die Rede, bevor sich dann der blanke Hass auf alle „Ungläubigen“ zeigt. Fasasis sophistische Argumentationspirouetten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er letztlich zu Diebstahl, Vergewaltigung und Mord aufruft. Wer sich in einem westlichen Land an Wahlen beteilige, müsse damit rechnen, seine Schutzwürdigkeit zu ver-

JACKIE CANCHOLA

Zapatka

lieren, sagte Fasasi. Es ist ein hartes Exerzitium, über 130 Minuten lang diese Texte zu hören, gesprochen von einem Schauspieler auf einer leeren Bühne, ins Bild gesetzt in starren, langen Einstellungen. Doch gerade die Nüchternheit, die Konzentration auf den Inhalt des Gesagten, lässt die menschenverachtende Haltung noch deutlicher hervortreten. 2003 wurde Fasasi, zu dem drei der vier Selbstmordpiloten vom 11. September 2001 Kontakt hatten, in Marokko zu 30 Jahren Haft verurteilt. Gogol-Bordello-Sänger Hütz „Disturbia“ ist ein etwas bemühtes Wort-

spiel mit den Begriffen „disturb“ für verstören und „suburbia“ für die Welt der Vorstädte. Der so betitelte Film ist zwar keine cineastische Sensation, aber D. J. Carusos schmissige TeenieVersion von Hitchcocks Thriller „Fenster zum Hof“ ist spannend genug, um wenigstens die Generation junger Zuschauer bei Laune zu halten, die das Original nicht kennen. Als coolsympathischer Kleinkrimineller, der unter Hausarrest steht und seinem womöglich mordlüsternen Nachbarn nachspioniert, brilliert Jungstar Shia LaBeouf. LaBeouf PARAMOUNT PICTURES

CONCORDE FILM

Kino in Kürze

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Bucovina Club Orkestar durch die Republik. Sein aktuelles Album „Disko Partizani!“ will in jeder Hinsicht grenzenlos sein. Darauf zu hören: eine türkisch singende Kanadierin, ein Klarinettist aus Bulgarien, ein Akkordeonspieler aus Frankreich. Einen ganz ähnlichen Clash der Kulturen und Sounds bietet ab 12. November auch die wilde Band Gogol Bordello um ihren Frontmann Eugene Hütz. International bekannt geworden ist der Ukrainer durch einen Auftritt mit Madonna beim diesjährigen Live-Earth-Konzert. Die PopDiva bat ihn zum Tanz und stellte sich selbst in seinen Schatten. Hütz nennt seinen Stil „Gypsy Punk Cabaret“: Inmitten von Akrobaten fegt er wie ein Derwisch über die Bühne, wild kreischen die Sänger Zigeunerweisen ins Mikro. So klingt es also, das neue Europa. 187

Mit Partnerin Gisela Stelly 1969

MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL (R.); DIGNE MELLER MARCOVICZ / BONTJES VAN BEEK (L.); DER SPIEGEL (L.0.)

Als Kind (2. v. l.) mit Eltern, Geschwistern, um 1927

SPIEGEL-Herausgeber 1996

Stationen aus Augsteins Leben: Ein Glückskind, dessen Karriere paradoxerweise auf dem tiefsten Unglück Deutschlands beruhte

BIOGRAFIEN

Der Mantel der Geschichte Rudolf Augstein war der einflussreichste Journalist der Nachkriegszeit. In seiner Biografie, die Peter Merseburger jetzt vorlegt, spiegelt sich die Entwicklung der Bundesrepublik von den kritisch begleiteten Anfängen bis zur ersehnten Wiedervereinigung. Von Hellmuth Karasek

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s war ein überbordendes Fest, das Rudolf Augstein sich, seinen Mitstreitern, seinen Freunden zum 50. Geburtstag im November 1973 gab. Hanseatisch standesgemäß fand es in seiner Elbvilla statt. Von dem reetgedeckten Haus überblickte man die Elbe, Hamburgs Lebensader, sah auf die Werften und die tuckernden Schiffe. Unter den Gästen, der Creme der bundesrepublikanischen Gesellschaft, waren Minister wie Hans-Dietrich Genscher und Werner Maihofer, mit denen der SPIEGEL-Boss sich mitten in der hochschäumenden Champagnerstimmung in eine Ecke zurückzog zum politischen Geschäft. Vor den hell erleuchteten Fenstern standen bewaffnete Sicherheitskräfte; die junge, schöne, rothaarige, hochgewachsene Gisela Stelly, Augsteins vierte Frau, selbst Journalistin und Filmemacherin, kümmerte sich um die Künstler wie Fassbinder, Schlöndorff oder Wicki, Verleger wie Ro188

wohlt und Unseld, Filmstars, Literaten wie Peter Handke und Peter Rühmkorf. Ein Shuttle-Dienst befreite die Gäste von allen Heimfahrtsorgen. Handke, damals mädchenhafter Popstar der Literatur, fuhr zwölf Stunden in einem solchen Taxi mit der weißblonden jungen Frau eines SPIEGEL-Reporters zum Sightseeing durch die Hansestadt, vom Morgendunkel bis zum nächsten Abend. Später, nach dem Scheitern der Beziehung zu Stelly, verwaiste die Villa, das Hallenbad stand leer, die Fenster waren verhangen, die Möbel unter Schonbezügen. Augstein zog in eine enge Mansarde, die an die Nachkriegswohnverhältnisse um 1947 im zerbombten Hannover erinnerten, als der Kriegsheimkehrer zum wichtigsten Nachrichtenjournalisten und Gründer des SPIEGEL werden sollte, des größten europäischen Magazins, der mächtigsten Opposition während der Adenauer-Restauration, des „Sturmgeschützes der Demokrad e r

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tie“, wie er es später nannte, wozu man sich durchaus einen höhnisch-spöttischen Zug mit typisch herabgezogenen Lippen bei ihm hinzudenken darf. Der zierliche, eher feingliedrige Reserveleutnant a. D., dessen klarer Blick paradoxerweise aus leicht schielenden Augen die Zeit, ihr Wesen und Unwesen, durchschaute, suchte sie durch seine vor polemischer Schärfe schneidenden Artikel zu beeinflussen, wenn nicht gar zu ändern. Noch in den Elbhöhen-Jahren saß er in dem übergroßen Haus in der engen Küche vor dem kleinen Fernseher, machte sich ein Käsebrot, trank ein Flaschenbier, manchmal auch (und später immer öfter) eines zu viel, und war als nach Geselligkeit, Gespräch und witziger Unterhaltung geradezu süchtiger Mann oft ziemlich allein. Einen seiner letzten Geburtstage feierte er in einem Lokal an der Außenalster; er war nur von Frauen umgeben, einem guten Dutzend, Männer waren nicht geladen.

Kultur

REINHOLD LESSMANN (L.); J. H. DARCHINGER (R.); TASS (R.0.)

SPIEGEL-Gespräch mit Sowjet-Chef Leonid Breschnew 1981 in Moskau

Mit Sekretärin Katja Kloos 1947 in Hannover

* Peter Merseburger: „Rudolf Augstein. Biographie“. Deutsche Verlags-Anstalt, München; 260 Seiten; 29,95 Euro.

mit immensem Ordnungssinn gegliederten Einzelereignissen nicht verlorengehen*. Im Gegenteil. Merseburger hat die Schule des SPIEGEL selbst erlebt und später, in den legendären „Panorama“-Jahren des NDR, die enthüllende, geschichtsbewusste Recherche auf das Fernsehen übertragen. Es war „SPIEGEL“ im TV, wie nachher im SPIEGEL TV. Eine der späten Tragödien des Glückskinds Augstein war es, dass er aufgrund seiner Krankheit als Person an diesem neuen Medium scheitern musste. Umso imposanter sein letzter großer TV-Auftritt im Februar 1990 in Zeiten der Wiedervereinigung, bei dem er einen vor verbohrtem Selbstbewusstsein strotzenden Günter Grass und dessen aberwitzige These, Auschwitz verbiete die Wiedervereinigung, als leidenschaftlicher Patriot buchstäblich wegwischte – mit der Einsicht in die geschichtliche Notwendigkeit: „Der Zug ist abgefahren!“ Da wiederholte sich der Impetus seiner Anfänge. Er erlebte die als Glück empfun-

TEUTOPRESS

Alle Frauen, auch solche, von denen er sich getrennt hatte oder die ihn verlassen hatten, liebten und bewunderten ihn; in dieser Hinsicht, auch in dieser, war er unwiderstehlich – ein Mann, der sich durch List, pure Eroberungslust und einen Charme, der sich bis zur bewusst ausgespielten Clownerie steigern konnte, alles nahm, was er wollte, es bekam, aber auch verlor. Wüsste man nicht, dass einer der größten Filme, der, den Orson Welles über einen macht-, frauen- und kulturversessenen Zeitungstycoon namens Citizen Kane gedreht hat, vom Vorbild des amerikanischen Pressezaren William Randolph Hearst mit Bewunderung und mit liebendem Abscheu bestimmt wurde – man könnte das gewaltige, von Orson Welles gespielte Leben mit einigen nationalen Änderungen als ein filmisches Psychogramm Augsteins sehen, so genau trifft er ihn. Augstein war ein Glückspilz, dessen Karriere- und Lebensglück paradoxerweise auf dem tiefsten Unglück seines Landes beruhte, der deutschen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der fast völligen Zerstörung und Zerstückelung seines Heimatlands. Jetzt hat Augstein, wenn man das so sehen will, auch posthum das Glück (exakter: nur die noch Lebenden haben es), dass er in Peter Merseburger einen Biografen gefunden hat, der mit Fleiß und Akribie ein Leben nachzeichnet, dessen große Linien in den

Fernsehsendung „Die Bonner Runde“ 1977

Buchcover, Autor Merseburger

Mit Fleiß und Akribie d e r

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dene Wiedervereinigung, auch gegen die Ratlosigkeit und den Widerstand seiner Redaktion, gegen den westdeutschen Wohlstandspartikularismus seines Chefredakteurs Erich Böhme beispielsweise. Er sah mit Respekt zu, wie Helmut Kohl (übrigens von seinem Gegenspieler Willy Brandt gegen den Willen der SPD unterstützt) beherzt und taktisch klug den Mantel der Geschichte ergriff – Kohl, dessen zweite Restauration Augstein energisch jahrelang bekämpft hatte. Aber als Geschichts-Freudianer, man kann auch sagen als eingreifender Fatalist (auch dies ein Paradox), wusste er, dass Glück als Dauerzustand auch in der Geschichte nicht vorgesehen ist. Sein Journalisten-Leben lang war sich Augstein der machiavellistischen politischen Natur des Menschen, seiner Machtgier, seiner Anfälligkeit für Korruption bewusst. Diese Einsicht war die Triebkraft. Sie machte den SPIEGEL zum Aufdeckungs- und Enthüllungsorgan des sich allmählich findenden deutschen Rechtsstaates Bundesrepublik. Als ich als Student und SPIEGEL-Leser in den fünfziger Jahren zum ersten Mal das große Vorbild des SPIEGEL, das amerikanische Magazin „Time“, in den Händen hatte, war ich enttäuscht, wie lammfromm-neutral und damit langweilig es sich im Vergleich zum SPIEGEL las. Es war eben das Magazin einer längst in sich gefestigten (US-)Gesellschaft, während sich das Nachkriegsdeutschland erst suchte, wobei ihm Augsteins Furor Beine machen 189

Kultur zurückdrängen wollten. Wie das Zeiten waren, die Augstein langweilten, so dass er in die Politik aktiv überzulaufen suchte. Diese Farce, auch sie, ist Geschichte der Bundesrepublik. Erst nach dem Seitenwechsel der Fronten, nach dem Einzug in den Bundestag 1972, erkannte der schneidige Generalstabsoffizier der SPIEGELNachrichtenkompanie (SPIEGEL-Chefredakteur Günter Gaus war es, der das Nachrichten-Magazin wegen seiner Zucht als „Strafbataillon des deutschen Journalismus“ erlebte), dass er in dem parlamentarischen Haufen der FDP als Schütze Arsch

geistströmungen, die ihm als gefährliche Irrwege erscheinen. Angepasst auf der einen, widerborstig auf der anderen Seite, hat er seine katholische Kindheit in der Diaspora Hannovers, seine Jungenrolle unter vielen Frauen (der Mutter und fünf Schwestern), die ihn verhätschelten und damit auch schurigelten, durchlebt. Sein Elternhaus hat er später liebevoll, ein wenig schönend, zu einem Hort von Nazi-Gegnern verklärt, wie auch seine Lehrer, denen er im Zweifel inneren Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft be-

DIGNE MELLER-MARCOVICZ (L.); DPA (R.)

wollte – auch er wie alle anderen vor Irrtümern nicht gefeit. Merseburger hat den Vorteil (und Nachteil) der historisch-abwägenden Distanz. Augstein war mitten im Getümmel. Er war es, der die Presse wesentlich zur vierten Macht gestaltete. Als in der schier endlosen Adenauer-Restauration die SPD zur Opposition nicht mehr fähig schien, wurde er als Jens Daniel und Moritz Pfeil in seinen Artikeln der „Jung-Türke“ der Opposition. Die Westbindung der Republik bekämpfte er heftig, oft schrill, weil er fürchtete, sie würde die Teilung zementieren.

Haftprüfungstermin nach der SPIEGEL-Affäre 1963 in Karlsruhe

MANFRED WITT (L.); EGON TESKE (R.)

Mit Günter Grass 1969 in Bonn

In der Redaktion mit Chefredakteur Günter Gaus (l.) 1970 in Hamburg

Hatte er nicht recht? Als Adenauer den Montan-Vertrag unterschrieb und britische Journalisten ihn 1952 fragten, wie lange er den Zeitraum bis zur Wiedervereinigung ansetze: 25 oder gar 100 Jahre? Da antwortete Adenauer: 5 bis 10 Jahre. Augstein schätzte damals 50 Jahre. Merseburger rechnet nach: Immerhin verrechnete sich Augstein nur um 12 Jahre, Kanzler Adenauer aber um ganze 28 Jahre. Die grundlegende Änderung, auf die Adenauer aufgrund der Westbindung hofft, wird erst 23 Jahre nach seinem Tod eintreten. Merseburgers Biografie zeigt, wie in beruhigten, weil saturierten Zeiten die Redakteure und Verantwortlichen den SPIEGEL auf das leidenschaftslose Vorbild „Time“ 190

Podiumsdiskussion in der Hamburger Universität 1967

in einem bürokratisch-papiernen Gesetzgebungsapparat mitmarschieren und mitgehorchen hätte müssen. Schon nach drei Monaten wagte er die zweite Fahnenflucht – zurück in die Angriffstruppe des SPIEGEL. Jeder große Journalist – und Augstein war wahrlich in seinen Jahren durch den historischen Glücks- und Unglücksfall einer der ganz Großen, wenn nicht der Größte: und das mit 1,69 Meter! – inhaliert und veratmet Zeitgeist, entweder indem er ihn befördert, wo er sich ihm hingibt, oder indem er sich ihm in den Weg stellt. Augstein ist ein Genie symbiotischer Verinnerlichung des Zeitgeists. Gleichzeitig entwickelt er Antikörper gegen Zeitd e r

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scheinigte. Im Krieg erkannte er blitzschnell, dass es Hitler durch den Krieg gelungen war, eine Zwangsehe zwischen sich und den Deutschen herzustellen. Eine Zeitlang glaubte auch er an den Sieg, er war schließlich Deutscher. Aus dem Krieg ist er als eine Art preußischer Schweijk heimgekehrt; die größte militärische Leistung nennt er pfiffig im „FAZ“-Fragebogen: „Meinen Rückzug aus der Ukraine.“ Das ihm von den britischen Besatzungsoffizieren gleichsam geschenkte Nachrichtenmagazin „Diese Woche“ macht er unter neuem Namen alsbald zur Stimme gegen den verordneten Zeitgeist der Besatzer. Es ist sein Glück, dass dies in der Britischen

und liberalen Rechtsempfindens, mit allen Fieberanfällen, Panikattacken und Weltuntergangsszenarien. Am Beginn des Titanenkampfs gegen den Verteidigungsminister Strauß steht das legendäre Zechgelage vom 10. auf den 11. März 1957, das Merseburger minutiös rekonstruiert. Die barock-autoritäre Natur von Strauß explodiert beim Alkoholgenuss in Augsteins Haus im Hamburger Maienweg, das Augstein von dem deutschen Boxidol Max Schmeling erworben hatte. Strauß, der unbedingt noch den Nachtzug nach Bonn erreichen will, nötigt Aug-

verrats für 103 Tage ins Untersuchungsgefängnis. Der SPIEGEL scheint am Ende, erledigt. Doch was wie ein Ende aussah, wendet sich zum glanzvollen Sieg. Wieder Glück im Unglück! Die Öffentlichkeit, von den Studenten bis zur internationalen Gesellschaftselite, schlägt sich auf die Seite Augsteins. Was als „Abgrund von Landesverrat“ (Adenauer) ausgerufen wurde, wird zur Bewährungsprobe und Feuertaufe des deutschen Rechtsstaates. Merseburger nennt es zu Recht das Ende des deutschen Obrigkeitsstaates, der zwar das Jahr 1945 überlebt

J. H. DARCHINGER (L.); MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL (R.)

Zone geschieht, denn hier kann er seine Lizenzgeber mit den ihnen entwendeten eigenen Waffen der britischen Pressefreiheitstradition schlagen. Andere Besatzungszonen, von der russischen zu schweigen, waren da rigider. Als der Kalte Krieg ausbricht, Deutschlands Unglück und Deutschlands Chance, nennt Augstein unbefangen angesichts der stalinistischen Bedrohung in einer Besprechung von Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ den lederknirschenden Kommissar Gletkin einen „asiatischen Zögling des bolschewistischen Regimes“.

Mit Martin Walser 1998 in St.-Tropez

MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL (L.); DIGNE MELLER-MARCOVICZ (R.)

Mit Willy Brandt 1974 im norwegischen Hamar

Besuch in der Volksrepublik China 1979

Damals auch nennt er die DDR unverschnörkelt „Ostzone“, „Sowjetzone“ oder „Pankow“, gar in Adenauerschem Singsang „Pankoff“; er setzt sie bis 1955 in Anführungsstriche oder nennt sie die „sogenannte“. Der Zeitgeist, auch der liberale, weht, wo er will. Dieser Zeitgeist wandelte sich erst mit Augsteins heftigem Widerstand gegen seinen Gottseibeiuns Franz Josef Strauß und dessen geplante atomare Aufrüstung Deutschlands, dann mit der Annäherungspolitik Brandts. An Augstein erfährt der Leser der Biografie noch einmal seinen eigenen biografischen Bildungs- und Erziehungsroman in Sachen demokratischen Verständnisses

Spaziergang mit Martin Heidegger 1966 in Todtnauberg im Schwarzwald

stein dazu, eine rote Ampel zu überfahren, oder er lässt beim Bahnhof anrufen, um mit ministerieller Gewalt den 22.10Uhr-Zug zu einer Verspätung zu zwingen. Nach diesem Abend sind sämtliche Alarmsignale des „Nordlichts“ Augstein und seiner Redakteure an: Ein solch haltloses Mannsbild wie Strauß soll Verteidigungsminister sein, über die Atombewaffnung Europas mitentscheiden dürfen? Aus allen Rohren schießt das Sturmgeschütz der Demokratie gegen Strauß. Das Ende ist bekannt. Die SPIEGELAffäre kommt ins Rollen. In einer Nachtund-Nebel-Aktion wird der SPIEGEL am 26. Oktober 1962 durchsucht, Augstein wandert wegen angeblichen Geheimnisd e r

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hatte, nicht aber die von Strauß angezettelte Polizeiaktion gegen den SPIEGEL. In dieser Zeit wurde Augstein eine lebende Legende. Später, durch Krankheit schon geschwächt, hat ihn der SPIEGEL in Krisenzeiten immer in der Schlacht gebraucht – wie in der spanischen Legende vom Cid, den man noch tot aufs Pferd band, weil allein sein Anblick die Feinde in Angst und Schrecken versetzte und in die Flucht schlug. Und das mit einem Mann, der eigentlich wenn nicht Künstler, Lyriker, Dramatiker, Musiker, dann Feuilletonist geworden wäre. Und sich lieber mit Frauen als mit hemdsärmeligen Politikern und Redakteuren umgeben hätte. ™ 191

MDR / UFA / STEFAN FALKE / ARD (L.); RTL (R.)

Darstellerin Ferres in „Checkpoint Charlie“*, „Prager Botschaft“-Star Sarnau (r.): Hochmoralische Stücke von der Courage des Einzelnen ZEITGESCHICHTE

Deutschland einig Mütterland Zwei Fernseh-Highlights über die untergehende DDR erzählen die deutsche Einheit aus der Frauenperspektive – mit Anneke Kim Sarnau und Veronica Ferres als Heldinnen der Geschichte.

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ie Wiedervereinigung war, jawohl, ein Segen. Niedergang und Ende der DDR haben auch das stets einfallsklamme Fernsehen mit den Rohstoffen versorgt, die ordentliche Bildschirmstücke brauchen: Tränen, Helden, klare Fronten. Es war eine einmalige Chance, die sich von 1990 an für die TV-Dramaturgie ergab. Hier der verrottende Arbeiter-undBauernstaat, dort die unterdrückten Menschen. Die Bösen standen fest. Die TVMacher brauchten nur noch zuzugreifen. Die Historie schrieb gleichsam die Stücke selbst. Es entwickelte sich, gern um den 3. Oktober herum, eine Art Wettstreit der Fernsehmacher zum Zwecke nationaler Erbauung, lauter meist hochmoralische Stücke von der Courage des Einzelnen und der Dummheit des todgeweihten Leviathans DDR. Anlass zum Ironisieren ist das ganz und gar nicht, denn die durchweg hervorragenden Werke beließen es nicht bei der historischen Beschreibung östlicher Missstände. Westlich inspirierte Suche nach den wahren Werten des Lebens spiegelte sich in den Filmen vom Leben jenseits der Mauer ebenso wider. „Nikolaikirche“ (1995) etwa beschwor nicht nur den historischen Widerstandsgeist der Montagsdemonstrationen in der 192

Heldenstadt Leipzig. Die Erich-LoestRomanverfilmung war zugleich eine protestantische Predigt über die Gewalt der Schwachen und die Macht der Kerzen, die Finsternis vertreiben konnten. Die Komödie „Deutschlandspiel“ (2000) zeigte nicht nur die Geschehnisse auf der großen Bühne der internationalen Politik in den Jahren 1989/1990, sondern auch die Ohnmacht der Mächtigen, wenn sich der Weltgeist Bahn bricht. Der „Tunnel“ (2001) war mehr als ein spannender Fluchthelfer-Thriller, er war die Feier jugendlicher Leidenschaft, die nicht auf Examenspunkte und Jobs gerichtet ist. Das Sinngebungs- und Moralkraftwerk deutsche Einheit arbeitet auch in diesem Herbst mit voller Kraft. Es sind zwei Highlights, die antreten: „Prager Botschaft“ heißt der Einteiler auf RTL, „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ der zweiteilige Beitrag der Öffentlich-Rechtlichen**. Sportsfreunde mögen gleich ein Duell wittern. Wer hat die bessere TV-Fiktion gemacht, das private oder das öffentlichrechtliche Fernsehen? Und auch das: Wer ist die größere Fernsehheldin: Anneke Kim * Mit Maria Ehrich, Elisa Schlott. ** „Prager Botschaft“: 23. September, 20.15 Uhr, RTL. „Die Frau vom Checkpoint Charlie“: 28. September, 20.40 Uhr, Teil I und II auf Arte; in der ARD: Teil I: 30. September, 20.15 Uhr; Teil II: 1. Oktober, 20.15 Uhr. d e r

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Sarnau in „Prager Botschaft“ oder Veronica Ferres in „Die Frau vom Checkpoint Charlie“? Dabei stehen die Sieger 2007 schon fest. Es sind – wer sonst? – die Frauen. Im populärhistorischen TV-Gewerbe vollzieht sich ein bemerkenswerter Umschwung: Heldin schlägt Helden. Männer machen vielleicht Geschichte, aber Frauen erleiden und durchschauen sie. Jetzt dürfen sie die Hauptrollen spielen. Der weibliche Blick entscheidet über Sinn und Unsinn der Geschichte. Die Frauen sind es, die den Irrsinn der DDR entlarven. Von „frauenaffinen“ Stoffen ist jahrelang bei den Machern im Fernsehen phantasiert worden. Mit den Filmen über die Prager Botschaft und über staatliche Kindesentziehung ist der Epochenbruch im zuvor männlich dominierten Heldenfach vollzogen. Um die Feminisierung des TV-Historienfilms zu sichern, beschwören „Prager Botschaft“ und „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ die Mutterschaft. Die kann den Frauen schließlich keiner nehmen, das Kindeswohl wird zum obersten Maßstab für alles Handeln. Deutschland einig Mütterland – es ist geradezu verblüffend, wie echt Sarnau und Ferres in zwei eigentlich unterschiedlichen Filmen ausdrücken, dass es für sie nur ein gelingendes Leben mit Kindern gibt. Mutterliebe als Kern allen Heldentums ist für das Genre des Publikumsfilms kein so vertrautes Gelände, wie es den Anschein hatte. Die Frau mit Kind passt nicht so leicht ins männliche Eroberungsschema. Und wenn, wie im Fall von „Die Frau vom Checkpoint Charlie“, die DDR der Löwin die Töchter entreißen will, dann ist nichts mit Techteln und Mechteln, dem sonst üblichen Triebstoff im Movie-Motor.

Kultur heiligen Zorn dar, als wäre nichts zwischen Persönlichkeit und schauspielerischer Professionalität. Dann schleudert sie DDR-Anwälten, die mit faulen Garantieversprechen die Flüchtlinge zur Rückkehr in den Honecker-Staat bewegen wollen, ihre Überzeugung ins Gesicht. Und wieder so ein großer szenischer Moment, in dem man sehen kann, wie die DDR im untrüglichen weiblichen Wahrheitssinn zerbricht. Auch Sarnau spielt eine Mutter. Sie hat nur wenige Szenen, die sie zusammen mit ihrem Sohn zeigen. Aber immer ist klar, dass es die feindliche oder abweisende Welt mit einer Mutter zu tun hat. Einer Mutter, deren politische Sinne durch das Kind besonders geschärft sind. Die nichts mehr mit sich machen lässt. Sie hatte einst eine Affäre, ausgerechnet mit dem westdeutschen Botschaftsmitarbeiter (mit einer Mischung aus Tatkraft und Trauer von Meyer eindrucksvoll gespielt), der ihr im Prager Botschaftspalais Lobkowitz nach Jahren unerwartet über den Weg läuft. Aber es gibt für sie kein erotisches Zurück – aus Verantwortung für den DDR-Mann und das gemeinsame Kind. Sarnau und Regisseur Konermann gelingt es, den Liebesverzicht nicht als hochverkrampften heldischen Opfergang zu zelebrieren, sondern als Folge der Logik der Gefühle. Movie in Heldinnenhand verliert wie von selbst alles Schwulstige und Aufgesetzte. Diese neue Bescheidenheit, die etwas Unwiderstehliches hat, vertreibt auch den Gedanken, es könnte sich bei der Feier der Mutterschaft um erotische Kompensation handeln, die Kinder als Ersatz für untreue Kerle. Aber wer hat nun gewonnen? Sarnau oder Ferres? Die Privaten oder die Öffentlich-Rechtlichen? Die es am meisten verdienen: die Zuschauer. Nikolaus von Festenberg

SVEN SIMON

ROLAND HOLSCHNEIDER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA

Dann bleiben Männerphantasien unbedient. Dann zeigt es sich, ob das Publikum mitzieht, auch ohne Sex. Die Macher des Checkpoint-CharlieZweiteilers dürfen hier optimistisch sein. Regisseur Miguel Alexandre und Annette Hess als Drehbuchautorin nach dem authentischen Fall der Jutta Gallus haben die Liebe der Mutter zu den beiden Töchtern (Maria Ehrich, Elisa Schlott) zum Funkeln gebracht. Was ist TV-Erotik zwischen Erwachsenen gegen den Charme, das Glück und die Verzweiflung der Töchter? Ferres ist in keinen Szenen entspannter und überzeugender als da, wo sie als Sara Bender den Kummer ihrer Mädchen lindert, wenn eine bornierte DDR-Obrigkeit die Kinder schikaniert. Nur mit einem Herz aus Stein bliebe der Zuschauer über die Szene ungerührt, in der die sensible ältere Bender-Tochter mit todernster Hingabe um die Aufnahme in

eine Ballettschule vortanzt und die von der Stasi instruierte Prüfungskommission sie ablehnt. Der Zuschauer begreift schneller und tiefer als durch tausend Informationen: Vor den großen, enttäuschten und wissenden Augen des betrogenen Mädchens gehen die letzten Reste der DDR unter. Die „Prager Botschaft“ (Regie: Lutz Konermann, Buch: Rodica Döhnert) ist eine geradezu wunderbare Auferstehung der Movie-Kunst bei den Privaten. Ausgerechnet RTL, das sich aus dem Genre zu verabschieden schien, hat diese Auftragsproduktion gestemmt. Die Rekonstruktion der Vorgänge in der Prager Botschaft, auf deren Gelände im Spätsommer 1989 Tausende DDRBürger geflohen waren und deren Transfer in den Westen der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher ausgehandelt und unter dem Jubel der Menschen vom Balkon der Botschaft verkündet hatte, ist erkennbar sorgfältig verfilmt worden. 45 Original-Trabis, 1800 DDR-mäßig eingekleidete Komparsen, zwei komplette Eisenbahnzüge, ein sich selbst spielender ehemaliger Kanzleramtsminister und heutiger DRK-Präsident Rudolf Seiters, dazu eine Riege guter Schauspieler (Christoph Bach, Hans-Werner Meyer, Dietrich Mattausch) – das alles hätte im Gewoge von Tränen und Jubel jegliche Kontur verlieren können. Aber da gibt es Anneke Kim Sarnau. Mit 35 Jahren spielt sie in einer Altersklasse wie Ferres, 42. Sarnau wirkt im Vergleich zu Ferres verschlossen. Wenn die Gefühle, meistens die der Verzweiflung, aus ihr herauskommen, beginnen die Lippen zu zucken. Dann stellt sie den

Demonstrantin Gallus (r.) in Berlin 1986, Botschaftsflüchtlinge in Prag 1989: Untrüglicher weiblicher Wahrheitssinn d e r

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CONCORDE FILM

Kultur

„Ein fliehendes Pferd“-Darsteller Tukur, Noethen, Schmidt-Schaller, Riemann: In seiner Liebesnot bleibt der Herr Lehrer schmählich allein KINO

Finsternis im Herzen Mit einer übergroßen Portion Klamauk verfilmt Rainer Kaufmann die populäre WalserNovelle „Ein fliehendes Pferd“.

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insamer nie als im August, in der schönsten Ferienzeit, blinzelt der Oberstudienrat in die Welt. Sympathisch verpennt und ein bisschen griesgrämig guckt der Lehrer Helmut Halm auf flatternde Vögel im Mittagsdunst überm Bodensee, auf kreischende Touristen und die schimmernden Leiber junger Menschen am Badestrand. Doch wehe, wenn ihn doch mal irgendwas wachrüttelt: Dann zeigen seine Augen ein jähes Erschrecken über die Schönheit und Schäbigkeit der großen Lebenssauerei. Gleich zu Beginn des Films „Ein fliehendes Pferd“ sieht man den Schauspieler und Halm-Darsteller Ulrich Noethen kurz starren und staunen beim Anblick eines hübschen Mädchens im Bikini. Und genau diese schöne Blonde lacht ihn einen Lidschlag später am Arm seines vergessenen Studienfreundes Klaus Buch (Ulrich Tukur) an – eines lärmenden Angebers mit strizzihaftem Oberlippenbart, Oldtimerschlitten und anscheinend fettem Geldbeutel. Einen „Separatisten“ nennt Martin Walser, 80, den Lehrer Halm, den er sich für sein bis heute populärstes (und vielleicht bestes, weil schnörkellosestes) Buch ausgedacht hat, die 1978 erschienene Novelle „Ein fliehendes Pferd“. Und als genau so 194

einer, als Eigenbrötler und stiller Frustknochen, tritt Ulrich Noethens Lehrer Halm im Kinofilm des Regisseurs Rainer Kaufmann zum Duell mit einem übermächtigen Gegner an. Der plötzlich am Urlaubsstrand aufgetauchte Ex-Kumpel Buch verhöhnt ihn, kaum dass er Halms Gattin Sabine (Katja Riemann) vorgestellt wird, bereits als trüben Schlappschwanz: Ob er, der gute Helmut, im Bett denn immer noch so eine Niete sei, „du hattest doch Probleme mit der Vorhaut?“ Das sind so die Kracher, auf die der Regisseur dramaturgisch setzt. Kaufmann, 48, ist mit lustigen Filmen wie „Stadtgespräch“ (1995) und dem Krimi „Die Apothekerin“ (1997) bekanntgeworden. Jetzt will er aus Walsers „Fliehendem Pferd“, das 1985 mit Vadim Glowna in der Halm-Rolle schon einmal (und ziemlich zappenduster) fürs Fernsehen verfilmt wurde, partout einen Komödienbrüller machen. Entsprechend tänzelt, tätschelt und schmeichelt Ulrich Tukur einen derart durchgeknallten Verführertyp ans Ufer des sommerlichen Bodensees und in die spießige Ferienwohnung des Ehepaars Halm, dass man sich wundert, warum es den Kerl nicht auf der Stelle zerreißt vor lauter Selbstbegeisterung. Eher schwer begreiflich bleibt hingegen, was die eigentlich ganz smarte Lehrersgattin Sabine auf diesen schamlosen Possenreißer hereinfallen lässt, mit dem sie bald in ehebrecherischer Mission durch grüne Wiesen hüpft. Andererseits und glücklicherweise spielt Noethen seinen Helmut Halm inmitten dieser Komödien-Umtriebigkeit als großartig zerknitterten Jämmerling. Wehleidig, rechthaberisch und anrührend komisch ruht dieser Held in selbstgewählter Isolation. Aus der erlöst ihn die Begeisterung für das Mädchen Helene, Buchs blonde d e r

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Gefährtin, leider nur scheinbar. Zwar landet er irgendwann mit Helene (Petra SchmidtSchaller, sanft und schön lässig) halbnackt auf dem Ferienhaus-Esstisch, aber dort knetet sie nur seine verspannten Schultern und lässt ihn mit seiner Liebesnot schmählich allein. Noethen, 48, gilt als Allzweckdarsteller im deutschen Fernseh- und Filmgeschäft, er war im „Untergang“ (2004) ebenso wie in der „Sams“-Reihe (ab 2001) dabei, aber auch in ein paar herausragenden Schauspielerkunststücken wie „Kammerflimmern“ (2004) oder „Silberhochzeit“ (2006). Umtost vom Krawall einer zwanghaft aufgekratzten Filmmusik und ein paar sexualneurotischen Regiescherzen verkörpert er hier einen Mann, dem seine Lebenskompromisse plötzlich unerträglich werden. Im Sturm mitten auf dem See, allein mit seinem Widersacher auf der Segelyacht, bricht der Zorn aus diesem Kerl heraus – aber letztlich ist es der reine Selbsthass, der ihn zum beinahe mörderischen Showdown treibt. „Es ist eine gnadenlose Entblößung“, sagt Noethen über seine Rolle, „man möchte um Himmels willen nicht sein wie dieser Mann.“ Aber gerade diese Gnadenlosigkeit ist es, die Walsers fast drei Jahrzehnte alte, in vielen Details schlau an die Gegenwart angepasste Geschichte auch wirklich ins Heute hinüberrettet. Schon die Kraft des Buchs speist sich aus der lebensmüden, vielleicht banalen, aber schwer verzweifelten Finsternis im Herzen des Helden. Am Ende wird der Einzelkämpfer Helmut Halm es natürlich noch mal mit seiner Ehefrau Sabine versuchen. „Ach du. Einziger Mensch“, jauchzt er bei Walser. Im Buch wie im Film aber gilt: Glückliche Menschen sehen anders in die Welt. Wolfgang Höbel

Kultur

L I T E R AT U R

Düstere Lichtgestalt Zwei Weltkriege, eine Frau, die an zwei Männern zerbricht und zur Rabenmutter wird: Davon handelt Julia Francks neuer Roman – der erstaunlichste Titel des Bücherherbstes.

* Julia Franck: „Die Mittagsfrau“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 432 Seiten; 19,90 Euro.

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gespenstisch-düstere Situation aus Verlegenheit, Ablehnung und Wahnsinn, die er wohl am allerwenigsten erwartet hatte. Ein stechender Realismus, der das Geisterhafte des Lebens immer wieder freisetzt; Situationen, die psychologisch genau beobachtet und zugleich exemplarisch für die Zeit sind, in der sie spielen – das gibt es reichlich in diesem vierten Roman der Berliner Autorin Franck. Es ist nicht nur ihr bisher bester Wurf; das erstaunlichste Erzählwerk dieses Bücherherbstes ist auch völlig zu Recht unter

JÜRGEN BAUER / ULLSTEIN BILD

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autzen 1920: Zwei Jahre nach dem Ende des großen Kriegs, an einem Novemberabend, kehrt der beinamputierte Druckereibesitzer Ernst Ludwig Würsich unangekündigt heim – der Pfleger, der ihn die letzten Kilometer im Leiterwagen befördert hat, klopft an die Haustür, und Mariechen, das sorbische Hausmädchen, öffnet. Sie erkennt den kranken Kriegshelden kaum wieder. Die Ehefrau, deren Nachttopf Mariechen alle paar Stunden leeren muss, liegt, wie schon seit Wochen, im Bett, sie befindet sich „in einem Zustand seelischer Dämmerung“. Die beiden Töchter fragen den Vater nach allem Möglichen, auch „nach Sieg und Niederlage“, doch der starrt fast nur ins Leere. Eine der Töchter, Helene, geht zur Schlafzimmertür, klopft und schiebt diese „ungeachtet der dahinter gestapelten Bücher und Kleider“ auf. Der Vater, sagt sie, sei heimgekehrt. Die Mutter: „Wer?“ Helene: „Unser Vater, dein Mann.“ Antwort: „Es ist nachts, ich schlafe schon.“ Wenig später hört Helene, wie die Mutter sich wälzt und zudeckt. Dieses von Helene herzlich gehasste „Nachttier“ denkt wohl wieder an die vier Söhne, die ihr bei der Geburt gestorben sind. Die beklemmende, auch groteske Szene stammt aus Julia Francks neuem Roman „Die Mittagsfrau“*. Sie erinnert an Rainer Kaufmanns großen Film „Kalt ist der Abendhauch“ (2000), nach dem Buch von Ingrid Noll. In diesem Film klopft der Heimkehrer aus einem anderen Krieg, der 1945 zu Ende ging, auch eines Abends im Spätherbst an die Haustür seiner Lieben, und auch er gerät in eine

Autorin Franck: „Ein hohes Fiepen“ d e r

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die letzten sechs des Deutschen Buchpreises 2007 geraten, auf die sogenannte Shortlist. Franck, 37, Tochter einer alleinerziehenden Schauspielerin, wechselte 1978 von Berlin-Ost nach Berlin-West und verbrachte damals fast ein Jahr im FlüchtlingsAufnahmelager Marienfelde. Davon handelte ihr Roman „Lagerfeuer“ (2003). Ein spannender Teil der jüngeren deutschen Zeitgeschichte war damit abgehandelt. So verwundert es kaum, dass die Autorin diesmal weiter ausholt. „Die Mittagsfrau“ erzählt sehr anschaulich die Vita der Krankenschwester Helene: über drei Generationen hinweg, vom wohlhabenden Elternhaus der Kaiserzeit über das schrille Leben bei einer Berliner Tante in den zwanziger Jahren, mit allerlei Tingeltangel und der Uraufführung von Brechts „Dreigroschenoper“, bis hin zur Nazi-Zeit, zu Chaos und Not nach 1945. Einige Ereignisse und Figuren sind aus Francks eigener Familiengeschichte, andere erfunden. Das Porträt eines halben Jahrhunderts, der furchtbarsten deutschen Epoche, wird verwoben mit jeder Menge Familienglanz und Freundeselend, Liebesglück und Seelentod, aber so, dass der Familienroman den Zeitroman trägt, nicht umgekehrt wie etwa in dem ähnlich ambitionierten Großroman über das vergangene Jahrhundert, den der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier jetzt unter dem leicht untergangssüchtig wirkenden Titel „Abendland“ vorgelegt hat (auch dieses Werk ist unter den letzten sechs des Buchpreises). Wie Julia Franck emotionale Tiefenschichten und Wechselwirkungen minutiös verwebt und dann fast lustvoll penibel wieder aufdröselt, ist großartig. So entstehen unvergessliche Passagen: Helenes schüchterne, oft skurrile Annäherung an den Philosophiestudenten Carl aus vornehmer jüdischer Familie, an den ersten Menschen, der mit ihr über ein Gedicht – es ist eins von Else Lasker-Schüler – und über den Philosophen Spinoza spricht, ist ein Liebesroman für sich. In ihrer ersten gemeinsamen Nacht diskutieren sie, nebeneinanderliegend und flüsternd, über die Begierde als Tugend, aber er schafft es nicht, die vor ihren Brüsten verschränkten Arme zu lösen. „Doch sein Keuchen fing sich zwischen seinen Lippen und ihren Wölbungen und Höhlen und trug ihren Atem in sein Ohr.“ Es wird Helenes einzige große Liebe. Als sie von dem Unfalltod des Geliebten erfährt – nachdem sie stundenlang vergebens auf den bis dahin absolut verlässlichen Mann gewartet hat –, „atmet“ Helene „tief ein, einst würde sie ausatmen müssen. Ja.“ Viel mehr als das Einatmen

und Ausatmen bringt sie lange Zeit nicht zustande. Sie wartet, aber auf nichts. Erst Wochen nach Carls Beerdigung wird sie von dessen Eltern zum Tee eingeladen, die möchten endlich das Mädchen kennenlernen, das ihr Sohn heiraten wollte. Der Professor und seine Frau im „orientalischen Gewand“ begegnen Helene mit einer eisigen Freundlichkeit, mit jenem Sinn für den „feinen Unterschied“, der andeutet: Du, Helene, bist zwar blond und schön, kannst jedoch „einen anderen Mann“ finden, unser Sohn aber war einzigartig, etwas zu gebildet und vornehm für dich, und wir können uns keinen „anderen Sohn suchen“. Helene und die Mutter „weinten um einen anderen Carl“. Später heiratet Helene, die lange danach nichts mehr mit Männern anfangen mag, doch noch: den „strotzenden“, nationalsozialistisch korrekten Tiefbau-Ingenieur Wilhelm, der den Bau einer Reichsautobahn leitet. Der ist nicht so zimperlich wie Carl. „Wie ein Hammer einen Nagel in die Wand“, so treibt er „sein Geschlecht Schlag um Schlag gleichförmig in sie“. Endlich „ein hohes Fiepen“, dann rollt er ab. Er treibt es mit ihr, so oft er kann, und er kann oft. Manchmal gefällt es ihr auch. Als er merkt, dass er keine Jungfrau ergattert hat, will er sie erst verstoßen; davon sieht er dann ab, als sie schwanger wird. Die Ehe zwischen Wilhelm und Helene scheitert, trotzdem treibt Helene ihr Kind nicht ab. Sohn Peter wird ihre letzte, sie selbst seine erste Liebe. Der Kampf des anhänglichen Kindes um die Zuwendung seiner spröden Mutter gehört zu den ergreifendsten Kapiteln des Buchs. Franck erzählt diesen Kampf – in Prolog und Epilog – nicht mit dem Blick Helenes auf die Welt, sondern aus der Perspektive des Jungen. Auch diese Liebesgeschichte endet düster: Im Gedränge auf einem Bahnsteig in Pasewalk 1945 verschwindet die Mutter plötzlich. Immerhin hat sie dafür gesorgt, dass man in Peters Koffer die Adresse eines Onkels finden kann, der auf dem Land wohnt. Als der Onkel eines Tages zu Peter sagt, „jetzt kommt die, was sich deine Mutter nennt“, greift sich Peter ein junges Ferkel und versteckt sich auf dem Heuboden. In diesen Kapiteln aus Peters Sicht gelingt der Autorin ein psychologisches Meisterstück: Helene, die sympathische Heldin so vieler Leiden und Freuden, ein Opfer der Umstände, verwandelt sich zur egoistischen, kaltherzigen Hexe, zur Täterin – und bleibt doch ein und dieselbe Person. Am Mittag neigt sich die vormittags immer heißer gewordene und höher gestiegene Sonne zur langsamen Abkühlung bis in den Untergang: in die Nacht. Die „Mittagsfrau“ Helene ist warm und kalt, hell und dunkel, eine Lichtgestalt mit schwarzer Seele. Mathias Schreiber

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Bestseller Belletristik 1

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Sachbücher

Andrea Maria Schenkel Kalteis

1

(1)

Hape Kerkeling Ich bin dann mal weg

2

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Roberto Saviano Gomorrha

3

(3)

Rhonda Byrne The Secret – Das Geheimnis Goldmann; 16,95 Euro

4

(5)

Rüdiger Safranski Romantik – Eine deutsche Affäre

Edition Nautilus; 12,90 Euro

2

(2)

Tommy Jaud Millionär

Hanser; 21,50 Euro

Scherz; 13,90 Euro

3

(3)

Andrea Maria Schenkel Tannöd Edition Nautilus; 12,90 Euro

4

(4)

Walter Moers Der Schrecksenmeister

Hanser; 24,90 Euro

Piper; 22,90 Euro

5

(5)

Rebecca Gablé Das Spiel der Könige Ehrenwirth; 24,95 Euro

6

(8)

Khaled Hosseini Tausend strahlende Sonnen

5

7

(6)

Henning Mankell Die italienischen Schuhe Zsolnay; 21,50 Euro

8

(7)

Joanne K. Rowling Harry Potter and the Deathly Hallows Bloomsbury; 28,90 Euro (unverbindl. Preisempfehlung)

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10

(9)

Kathy Reichs Knochen zu Asche

(–)

John Boyne Der Junge im gestreiften Pyjama S. Fischer; 13,90 Euro

12 (12) Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt Rowohlt; 19,90 Euro 13 (10) Simon Beckett Kalte Asche Wunderlich; 19,90 Euro

6

(–)

Lawrence Wright Der Tod wird euch finden DVA; 24,95 Euro

7

(8)

Kathrin Passig / Aleks Scholz Lexikon des Unwissens

8

(4)

Eva-Maria Zurhorst Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro

9

(9)

Alan Weisman Die Welt ohne uns

Rowohlt Berlin; 16,90 Euro

Piper; 19,90 Euro

10

(7)

15

(–)

Elizabeth George Am Ende war die Tat Blanvalet; 21,95 Euro

16 (14) Dieter Hildebrandt Nie wieder achtzig!

Benedikt XVI. Jesus von Nazareth Herder; 24 Euro

11

(6)

Tiziano Terzani Das Ende ist mein Anfang DVA; 19,95 Euro

12 (12) Karl Lauterbach Der Zweiklassenstaat Rowohlt Berlin; 14,90 Euro

14 (13) Ian McEwan Am Strand Diogenes; 18,90 Euro

Anselm Grün Anselm Grüns Buch der Antworten

Der Benediktinerpater schreibt vom Glück, wie man es sucht und wie man es findet

Isabel Allende Inés meines Herzens Suhrkamp; 19,80 Euro Blessing; 19,95 Euro

11

(–)

Herder; 16,90 Euro

Bloomsbury; 22 Euro

9

Malik; 19,90 Euro

13 (15) Bas Kast Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft S. Fischer; 17,90 Euro

14

(–)

15

(–)

Blessing; 19,95 Euro

Dieter Hildebrandt / Roger Willemsen / Traudl Bünger „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!“ S. Fischer; 17,90 Euro

17

(–)

Milena Agus Die Frau im Mond Hoffmann und Campe; 14,95 Euro

Campus; 24,90 Euro

16 (16) Veronika Peters Was in zwei Koffer passt – Klosterjahre Goldmann; 18 Euro

Liebeserklärung an das große Gefühl, an Sardinien und eine einzigartige Großmutter

17 (10) Susanne Fröhlich / Constanze Kleis Runzel-Ich – Wer schön sein will … W. Krüger; 14,90 Euro

18 (17) Joanne K. Rowling Harry Potter und der Halbblutprinz 19 (18) Håkan Nesser Mensch ohne Hund

BTB; 19,95 Euro

20 (16) Tess Gerritsen Blutmale

Droemer; 19,90 Euro (–)

Heinz Florian Oertel Gott sei Dank – Schluss mit der Schwatzgesellschaft Das Neue Berlin; 9,90 Euro

20 (–) Mark Benecke Mordspuren Lübbe; 19,95 Euro

Limes; 19,95 Euro

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18 (14) Tina Brown Diana – Die Biografie 19

Carlsen; 22,90 Euro

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John J. Mearsheimer / Stephen M. Walt Die Israel-Lobby

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Kultur

FOTOGRAFIE

Ein Schuss durchs Glas Niemand hat die kollektive Vorstellung von moderner Architektur so geprägt wie der Fotograf Julius Shulman. Ein Häuserspaziergang durch Hollywood. Von Philipp Oehmke

JÜRGEN NOGAI

Architektur-Fotograf Shulman*

Z

unächst scheint niemand da zu sein in dem Haus in den Hügeln über Hollywood, einem Flachbau von klarer Symmetrie aus Glas und Stahl, fast verschlungen von Redwood-Bäumen und Wucherpflanzen, die ihn umgeben. Auf leichten Druck hin schwingt die Haustür des Bungalows auf, ein Korridor öffnet sich. An den Wänden hängen links und rechts jeweils vier eingerahmte Fotos, es sind Fotos, die Julius Shulman gemacht hat, seine berühmtesten: die Dämmerungsansicht des „Kaufmann House“ in Palm Springs von 1947, John Lautners ufoförmiges „Chemosphere“, das Würfelhaus von Charles und Ray Eames oder, gegenüber auf der rechten Wand des Flurs, das „Case Study House Nr. 22“ von Pierre Koenig, die berühmte Nachtaufnahme mit den zwei jungen Frauen in weißen Kleidern, die in einem Glaskubus die Beine übereinanderschlagen. Dies ist das meistgedruckte Architekturfoto der Welt. Julius Shulman hat es 1960 aufgenommen, vor fast einem halben Jahrhundert, aber wer heute an die Moderne denkt – das wird in diesen Momenten beim Betreten des Shulman-Hauses * Auf der Terrasse des „Chemosphere“-Hauses in Los Angeles.

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noch einmal klar –, hat meist dieses Foto vor Augen, wie überhaupt einige von Shulmans Fotografien zu Sinnbildern geworden sind. Ein paar von ihnen hängen als Originale in diesem Korridor. Aber wo ist er? Heute ist Julius Shulman 96 Jahre alt, es heißt, er lebe allein in diesem Haus, das vor 57 Jahren sein Freund, der Architekt Raphael Soriano, für ihn entworfen hat. Eine Plakette neben der Eingangstür weist es als „City of Los Angeles Historic-Cultural Monument No. 325“ aus. Dann ertönt von irgendwoher vehement ein „Hier!“ Julius Shulman sitzt in einem angrenzenden Flachbau, seinem Studio. Da versinkt ein geschrumpfter Mann hinter einem massiven Schreibtisch, blau-weißgestreiftes Oberhemd, Hosenträger, den Schnurrbart präzise gestutzt. 1936 hat Julius Shulman seine ersten Architekturfotos gemacht, Aufnahmen eines Hauses des Architekten Richard Neutra. Seither war Shulman für Fotografien der Bauwerke von fast allen wichtigen Architekten des 20. Jahrhunderts zuständig, darunter Frank Lloyd Wright, Frank Gehry, Rudolph Schindler, Charles Eames, Mies van der Rohe. Mit vielen hat er sich angefreundet, Frank Gehry nannte Shulman seinen „großmütigen Lehrmeister“, und d e r

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Frank Lloyd Wright wollte von Shulman stets wissen, wie denn die anderen so arbeiten, Schindler etwa oder Neutra. Bald riefen die Architekten für jedes fertiggestellte Werk nach Shulman. Nur er verstehe ihre Kunst, sagten sie. Und Shulman erwiderte: „Die Größe der Menschheit spiegelt sich in ihren Kunstwerken und ihrer Architektur wider.“ Wenn den Bauten jener Architekten damals nach dem Krieg Botschaften von einer neuen Welt innewohnten – und das war ja so! –, dann war Shulman ihr Verkünder; wenn Architektur heute ein Allgemeingut ist wie Fußball, wo sich jeder ein bisschen auskennt; wenn inzwischen jeder durchschnittliche amerikanische Tourist seinen ganz normalen zweiwöchigen Urlaub in einem Designhotel verbringt; wenn kleine Architekturbüchlein für 14 Dollar am Flughafenkiosk verkauft werden – dann hat das alles mit Julius Shulman zu tun und seinen Fotografien, die er in den vergangenen 70 Jahren in die Welt gestellt hat. Es sind inzwischen 260 000, und es werden fast täglich mehr. Vor drei Jahren hat Shulman sein gesamtes Archiv dem Getty-Museum verkauft, und seitdem sind täglich zwei Angestellte damit beschäftigt, dieses Werk zu katalogisieren. Auf dem Schreibtisch, hinter dem Shulman kauert, ballt sich die Essenz eines fast 100-jährigen Lebens – ein Durcheinander aus Papieren der vergangenen 50, 60 Jahre, dazwischen Bilder, Zertifikate und Porzellanfiguren sowie ein großkopierter Brief von Frank Lloyd Wright, datiert vom 9. August 1950. In dem Schreiben äußert Wright seine Verblüffung über die schier unerhörte Qualität der Fotos, die Shulman von Taliesin West, Wrights spektakulärem Wohn- und Arbeitssitz in der Wüste Arizonas, gemacht hat. Zwölf Tage, berichtet Shulman nun, sei er damals bei Wright gewesen. Wright hat dort Schüler ausgebildet, sein Auftreten sei ihm bis heute gegenwärtig. Einmal war ein Schüler besonders stolz auf einen Entwurf, er sei beinahe so gelungen, als käme er vom Meister selbst. Wright aber habe dem Schüler über die Schulter gegriffen, das Blatt Papier zerknüllt und es weggeschmissen. Dann habe er gedonnert: „Ich bin noch nicht sehr alt. Wenn Leute ein Frank-Lloyd-Wright-Haus wollen, kommen Sie zu mir. Denn ich bin Frank Lloyd Wright, nicht Sie!“ Ein Telefon klingelt, es hat Tasten so groß wie Schachfelder. Es ist nicht so, dass Shulman sich zur Ruhe gesetzt hat. Er arbeitet noch, man kann ihn zusammen mit dem deutschen Fotografen Jürgen Nogai buchen. Jedes Mal, wenn Shulman den Hörer ans Ohr nimmt, fiept sein Hörgerät wie ein altes Radio, doch unverdrossen säuselt er in den Hörer: „Good morning, this is Julius Shulman.“ Es gehe ihm doch gesundheitlich gut, sagt er, nachdem er aufgelegt hat. Mit seinem Hautkrebs könne er leben. Aber man

FOTOS: JULIUS SHULMAN

Shulman-Fotografie „Case Study House Nr. 22“ (1960): „Es war alles so einfach“

Shulman-Fotografie „Kaufmann House“ (1947): Die Hausherrin als Blendschutz

sieht ihn an seinen Ohren, da lösen sich immer wieder ein paar Hautfetzen. Wie man so alt werde? Shulman denkt keine Sekunde nach. „Glücklich sein.“ Wie wird man glücklich? Die Antwort kommt prompt. „Versuchen Sie nicht, mehr zu tun, als Sie können oder sollten.“ Dass er mit 96 immer noch über den ganzen Kontinent fliegt, um Häuser zu fotografieren – ist das nicht mehr, als er sollte? „Nein“, sagt Shulman, „I love it.“ Und da jetzt sein Lebenswerk in drei gigantischen Bildbänden beim Taschen Verlag herauskommt, möchte er noch einmal „alle sechs Kontinente bereisen und das Buch

vorstellen“*. Es ist ihm egal, wie es nur sehr alten Männern egal sein kann, dass seine Tochter und auch sein Freund, der Fotograf Nogai, absolut dagegen sind. Auch für heute hat Julius Shulman sich einiges vorgenommen. Er hat sich bereit erklärt, einen Tag lang durch die Berge Hollywoods zu fahren und ein paar jener Häuser aufzusuchen, die er mit seinen Fotos zu Ikonen gemacht hat. Er ist schon in den Jeep geklettert, zieht die Beifahrertür mit dem Griff seines Spa* „Julius Shulman. Modernism Rediscovered“. Taschen Verlag, Köln; 3 Bände; 1008 Seiten; 250 Euro. d e r

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zierstocks zu, den er „Robert“ getauft hat. Er ist ungeduldig, der Fotograf Nogai packt noch Kameras, Objektive und Filme: „Brauchen wir ein Stativ, Julius?“ „Jetzt komm endlich! Mach nicht so lange rum!“, schimpft Shulman vom Beifahrersitz. „Life can be so easy!“ Shulman ist bekannt dafür, dass er gern damit kokettiert, wie leicht ihm seine Fotografien gefallen sind. Sein Verleger, der Kölner Benedikt Taschen, dem auf der anderen Seite des Hügels das Ufo-Haus „Chemosphere“ gehört, hat einmal vor ein paar Jahren den Fehler gemacht, seinen Freund „One-Shot-Shulman“ zu taufen, weil dieser angeblich selten mehr als eine Einstellung brauchte. Oft setzte Shulman sich dabei gegen die Architekten durch. Eins seiner berühmtesten Bilder ist die Abendansicht von Edgar Kaufmanns Haus in Palm Springs. Kaufmann, Besitzer einer Warenhauskette, hatte 1946, nachdem er schon ein Haus von Frank Lloyd Wright an der Ostküste hatte bauen lassen, für sein Westküstendomizil lieber Richard Neutra beauftragt. „Wright war tödlich beleidigt“, sagt Shulman, und man merkt ihm an, welches Vergnügen ihm die Geschichten von den Eitelkeiten der Architekten bereiten. Shulman sollte nun Neutras Haus für Kaufmann fotografieren. „Wir standen also im Schlafzimmer, drei Tage hatten Neutra und ich schon an den Aufnahmen gearbeitet, aber ich hatte das Gefühl, dass das Richtige noch nicht dabei war. Dann verschwand die Sonne hinter den Bergen Ich rannte aus dem Haus, Neutra versuchte vergebens, mich am Arm festhalten, ich solle das schöne Haus doch nicht im Zwielicht aufnehmen.“ Das schrumpelige Gesicht mit dem Schnurrbart grinst herausfordernd. Shulman machte das Foto. Wenig später erschien es in der Zeitschrift „Life“ und machte das „Kaufmann House“ als Sinnbild für das moderne kalifornische Leben weltberühmt. Die Frau am Poolrand, sagt Shulman, sei übrigens Mrs Kaufmann, die Gattin. „Ich brauchte sie, um das Gegenlicht vom Poolscheinwerfer abzudecken.“ Jetzt mit dem Jeep möchte Shulman eins der Häuser aus dem „Case Study House Program“ anfahren, jenem Experiment aus den Jahren 1945 bis 1966, als die Zeitschrift „Arts & Architecture“ 36 Wohnhäuser in Auftrag gab. Praktisch, bezahlbar und getragen von einer neuen Idee des Zusammenlebens – so sollten sie sein, und Shulman hatte den Auftrag, sie durch seine Fotografien unsterblich zu machen. Neutra entwarf mehrere Häuser, Charles Eames, Eero Saarinen oder Raphael Soriano waren auch dabei. Am bekanntesten aber wurde eins der Häuser von Pierre Koenig: „Case Study House Nr. 22“. Es liegt auf einem Felsvorsprung in den Hügeln Hollywoods, der radikalste Entwurf des Programms, eine auf ein Schwimmbecken ausgerichtete L-Form aus Stahlträgern, Stahlblech und Glas. Der 203

Kultur Bungalow öffnet sich komplett zum Hang, von der Straße sieht er aus wie eine Wellblechhütte. Es ist dieses Haus, das Shulman weltberühmt gemacht hat – und umgekehrt. Sein bekanntestes Foto ist bei Nacht aufgenommen. Es zeigt das gläserne, eckige Wohnzimmer von außen, vom Pool aus fotografiert. Innen unterhalten sich zwei junge Frauen in weißen Kleidern, es sieht aus, als schwebten sie in einem Raumschiff, und hinter und unter ihnen flimmert unendlich weit die Stadt Los Angeles. Wann immer jene Vorstellung plastisch werden sollte, die die Menschen vor 50 Jahren von der Moderne hatten, wird die-

ses Bild bemüht. Es hängt in Versicherungsbüros in Dortmund und in Bars in Stockholm, in Hotels in Tokio und in Bahnhofsläden in Australien. Und obwohl es ein Architekturfoto ist, bildet es mehr ab als bloß ein Haus. Es erzählt davon, wie Menschen künftig zusammenleben könnten oder sollten. 1960 hat Shulman es aufgenommen, und heute möchte er dort zum ersten Mal seit vielen Jahren klingeln. Er weiß, dass die Witwe Stahl, deren Mann das Haus vor 48 Jahren hatte bauen lassen, noch darin lebt. Kindergeschrei ist zu hören, es kommt vom Pool. Wie? In diesem Wahrzeichen dürfen Kinder spielen?

Nach mehrmaligem Rufen öffnet sich das Tor zur Terrasse, der berühmte Pool wird sichtbar, darin die Kinder, gelbe Gummienten auf dem Wasser, dahinter das San Fernando Valley, über dem dick die Luft wabert. Es sieht aus, als imitiere die Wirklichkeit eine Shulman-Inszenierung. Die Tochter der Familie erscheint, erkennt Shulman zunächst nicht und zögert, als der Fotograf um Einlass bittet. Das Haus sei eine „mess“, ein Saustall, sagt sie. Außerdem, wer fotografieren wolle, müsse erst schriftlich versichern, die Fotos nicht kommerziell zu nutzen. Das Haus sei eine Ikone, Fotos davon gebe es nicht mehr

umsonst. „Damals waren sie sehr wohl umsonst“, murmelt Shulman. Das sei doch ein halbes Jahrhundert her, sagt die Tochter Stahl, sie gehe geschwind ins Haus und hole das Formular. Shulman will die Situation nutzen und schnell verschwinden. Doch dann kommt Charlotta Stahl, die Witwe. Sie fällt Shulman in die Arme. „Ja“, ruft sie, „er, dieser Mann, hat die Botschaft unseres Hauses in der ganzen Welt verkündet.“ Ob sie eine der Frauen auf dem Foto ist? „Nein.“ Shulman kommt ihr zuvor. „Pierre Koenig hatte zwei Assistenten, denen habe ich gesagt, sie sollen am Abend ihre Freundinnen mitbringen,

und die sollen sich ein weißes Kleid anziehen. Es war doch alles so einfach.“ Als der Jeep wieder den Hügel hinabrollt, schüttelt Shulman den Kopf. „Ich glaube, Charlotta Stahl wird langsam merkwürdig. Aber sie ist ja auch schon alt“, sagt der 96-Jährige über die 20 Jahre Jüngere und zuckt mit den Achseln. Zu Hause setzt sich Shulman an seinen Küchentisch. Er hat ein Sixpack „Oktoberfest-Beer“ von Beck’s besorgt und würde nun gern zur Kaffeezeit ein, zwei Fläschchen davon trinken und dazu Essigchips essen. In der Küche gibt die 57 Jahre alte Glas-und-Stahlkonstruktion von So-

riano, die immer noch moderner wirkt als alles, was zurzeit im Zentrum Berlins oder der Hamburger Hafencity gebaut wird, den Blick in jenen Urwald frei, der Shulmans Garten ist. Morgens nach dem Aufstehen, sagt er, lese er die Tierspuren in der Erde. Die Koyoten kommen nachts, morgens Hirsche und Waschbären. Die Redwood Trees, die Shulman dort vor fast 60 Jahren gepflanzt hat, sind heute 30 Meter hoch. Alles verändere sich ständig, sagt Shulman – außer den Häusern von Koenig, Soriano, Neutra, Schindler oder Wright. Und seinen Bildern davon. ™

Kultur GEISTESGRÖSSEN (IX): Im „Jahr der Geisteswissenschaften“ stellt der SPIEGEL in einer Serie herausragende Wissenschaftler und deren Arbeit vor. Der Münchner Germanist

Karl Eibl, 67, erforscht die biologischen Grundlagen der Poesie und führt damit einen Feldzug gegen die vermeintliche Beliebigkeit literaturwissenschaftlicher Interpretationen.

EVOLUTION

Gene und Goethe Unweit der Prachtbauten von Münchens Ludwigstraße, in einem nüchternen Büro im vierten Stock der geisteswissenschaftlichen Fakultät, sitzt Karl Eibl und nimmt Abschied. Die Bücherwand ist halb ausgeräumt, auf dem Schreibtisch liegen ein paar Taschentücher, Computerkabel und ein Zollstock. Ein Semester bleibt Eibl noch, dann wird er emeritiert. Doch er schaut nach vorn, denn er hat noch etwas zu erledigen: eine kleine Revolution, gemeinsam mit Darwin, Schiller und einer Handvoll Biologen. Man sieht ihm seine Pläne nicht an. Eibl ist 67 Jahre alt, ein anerkannter GoetheKenner und Herausgeber wissenschaftlicher Editionen, preisgekrönt, ein Schrank von einem Mann, mit breitem Schädel und ruhiger Ausstrahlung. Über 30 Jahre hat er deutsche Literatur unterrichtet. Bevor er geht, will er es richtig krachen lassen. Am kommenden Sonntag hat er seinen großen Auftritt. Karl Eibl wird auf dem Deutschen Germanistentag in Marburg den Eröffnungsvortrag halten vor den rund 500 Wissenschaftlern, die aus aller Welt zu dem traditionsreichen Kongress anreisen werden. Was für ein Abschied. Die Fachwerkkulisse der Altstadt verspricht Idylle, das Thema lautet beschaulich: „Natur – Kultur“. Über dem Germanistengipfel ist Ruh, so schien es bislang. Doch nicht mit Eibl. Er will in seinem Vortrag Ungeheuerliches fordern: Wer Gedichte studiert, solle zunächst Darwin lesen, wer Goethe verstehen will, müsse Genetik büffeln. Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch – wenn Eibl derlei Verse hört, will er nicht gepflegt über Paarreime parlieren, sondern über Paarungskonkurrenz und „biologisch gestützte Grundstrukturen“. Als Gewährsmann nennt er ausgerechnet den Medizinstudenten Friedrich Schiller, der in seiner Dissertation schon 1780 forderte, den „merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele“ zu untersuchen, den „Einfluss des tierischen Empfindungsystemes auf das Geistige“. 206

PETER SCHINZLER

Der Darwinismus soll die Dichtung erklären

Germanist Eibl: Der Evoluzzer aus München d e r

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* Karl Eibl: „Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie“. Mentis-Verlag, Paderborn; 420 Seiten; 46 Euro.

Eibl sitzt in seinem kahlen Büro, das Experiment beginnt: Über allen Gipfeln / Ist Ruh,/In allen Wipfeln/Spürest du/ Kaum einen Hauch. Er überlegt kurz. Die idyllische Szene entlaste den „psychischen Apparat“ der Leser von „Leistungsanforderungen“, sagt er dann. Das ermögliche so die „Feinjustierung der Sinne“ auf minimale Wahrnehmungen wie das Rauschen des Windes. Die Endreime befriedigten außerdem die Lust an der Wiederholung. Durch derlei Mustererkennung werde das Gehirn trainiert. „Das Gehirn des modernen Menschen ist dreimal so groß wie das seiner Vorfahren“, sagt Eibl, „und

INTERFOTO

Karl Eibl hat eine diebische Freude dabei, diesen Vortrag zu verfassen, das merkt man ihm an. Es dürfte eine lebhafte Veranstaltung werden. Seit über 150 Jahren gibt es das Gipfeltreffen der Germanistik, und es war immer auch ein bisschen Gruppentherapie für die Vertreter einer „ungenauen Wissenschaft“, die schon Jacob Grimm auf dem ersten Germanistentag 1846 gegen die Naturwissenschaften in Schutz nahm. Seitdem ist die Germanistik durch alle Feuer von Marxismus, Dekonstruktion und anderen modischen Theorien gegangen. Dabei, so sagen manche, hat sich das Fach selbst dekonstruiert: Bei den Lehrstuhlkürzungen lagen die Germanisten in den vergangenen Jahren meist vorn, bei den Einstiegsgehältern hinten. Das Fach steckt gewaltig unter Rechtfertigungsdruck. Doch Eibl hat die „Saturnalien“ der „entfesselten, ‚post‘-wissenschaftlichen Subjektivität“ ohnehin satt. Der Evoluzzer aus München will die Germanistik zu einer exakten Wissenschaft machen, in der nicht einfach unterschiedliche Interpretationen nebeneinanderstehen, sondern wo sich sagen lässt: Diese Interpretation ist richtig – und jene falsch. Über allen Gipfeln ist Ruh – sicher lösen die schönen Goethe-Worte interesseloses Wohlgefallen aus. Aber worin genau besteht diese Lust am Schönen, woher kommt sie, wohin treibt sie den Menschen? Anders gesagt: Warum werden Literaten, die statt der Felder lieber ihren Geist kultivieren und die statt Häusern Theoriegebäude errichten, nicht von der Evolution gnadenlos für den Müßiggang abgestraft? Die Empirie scheint Eibl schon im Erbgut zu haben. Sein Vater war Tierarzt und ein Pionier der künstlichen Besamung beim Rind. Der Sohn schaffte den Sprung von der Begattungs- zur Gattungsforschung und wurde Germanist. Schon in den siebziger Jahren forderte Eibl, der Germanistik wieder Bodenhaftung zu geben. „Man soll Probleme nicht mästen wie die Gänse, sondern abmagern lassen, bis man ihr Skelett sieht.“ Wie die ideologische Abmagerungskur der Germanistik aussehen könnte, wusste er noch nicht. Er wusste nur eins: Marxisten oder Freudianern wollte er sich nicht anschließen. „Die Beliebigkeit, mit der man in diesen Zirkeln Erkennungsworte austauschte, das war nix für mich.“ Beharrlich suchte er weiter nach Alternativen und skizzierte 1991 in seiner Münchner Antrittsvorlesung eine „Biologie der Poesie“. Vor drei Jahren dann legte er sein Lebenswerk vor: „Animal Poeta“*. Nun endlich glaubte er, eine stimmige Theorie gefunden zu haben: Darwin könnte die Germanistik fit machen. Wie soll das gehen?

Zeichnender Affe (Stich aus dem 19. Jahrhundert)

„Probleme nicht mästen wie die Gänse, sondern abmagern lassen, bis man ihr Skelett sieht.“ daran dürften Sprache und Dichtung maßgeblich beteiligt sein.“ Das ästhetische Wohlgefallen an dem Gedicht habe „genuin evolutionäre Wurzeln“. Die „strukturierte Nichtwelt“ befriedige den Spieltrieb, führe zur Ausschüttung von Glückshormonen und stärke das Immunsystem. Nun ja. Für diese Interpretation dürfte ein Deutschschüler keine Eins erwarten. Dichtung und Darwin, Gene und Goethe – im Land der Dichter und Denker scheint derlei noch schwer zusammenzugehen. Ganz anders in den USA, wo schon seit Jahren eine hitzige Debatte über Sinn und Unsinn der evolutionären Literaturkritik geführt wird. Heftig wird dort ein Kulturkampf um die geheimnisvolle Schöpferkraft hinter der Literatur geführt: Steckt hinter einem Gedicht ein brillanter Autor, die Gesellschaft, die Tradition – oder doch eher die Biologie? d e r

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Was viele Literaturdarwinisten eint, ist die Lust an der Provokation gegen den herrschenden Konsens, dass Texte nur wenig oder gar nichts mit einer überprüfbaren Realität zu tun haben. Die Literaturdarwinisten dagegen glauben mit Aristoteles, dass Poesie das Allgemeinmenschliche besingt, Universalien, die auf Volkslieder auf Vanuatu genauso zutreffen wie auf Verse von Verlaine. Lautstark markieren Darwins Doggen unter den amerikanischen Literaturwissenschaftlern derzeit ihr Revier. Doch hinter dem Imponiergehabe versteckt sich möglicherweise auch Unsicherheit. Denn sogar in den USA ist das Thema ein heißes Eisen: „Wenn ich im Unterricht Begriffe wie ,Soziobiologie‘ oder ,Evolutionsbiologie‘ verwende“, sagte ein Verfechter der neuen Schule der „New York Times“, „dann verstanden meine Mitstudenten ,Eugenik‘ und ,Hitler‘.“ Derlei Einwände sind natürlich in Deutschland noch schneller zur Hand, das weiß Eibl. Seit Jahren schon verfolgt er die angelsächsische Debatte. Peinlich ist er bemüht, die Nähe zu Evolutionspsychologen wie David Buss zu meiden, die behaupten, dass alle Menschen die Nachkommen einer langen Reihe von Mördern seien. Solches Getöse lehnt Eibl als unkultiviert ab: „An manchen Stellen des amerikanischen Wissenschaftsbetriebs geht es ja laut zu wie im Wilden Westen.“ In Amerika ist die Auseinandersetzung um die evolutionäre Psychologie zur politischen Glaubensfrage geworden. Die Literaturwissenschaft gilt dort als Schlachtfeld, auf dem der Weltanschauungskampf zwischen konservativen Naturalisten und den eher linken Relativisten ausgetragen wird, die Welt, Geschlecht und Körper prinzipiell für soziale Konstrukte halten. Auch in Deutschland könnte den Nachfolgern Jacob Grimms das biologische Paradigma gerade recht kommen, um die „ungenaue Wissenschaft“ Germanistik als harte Disziplin herauszustellen und so für die Feuertaufen der Exzellenzinitiative zu stählen. Eine „große Erzählung“ wie die Darwinsche Evolutionstheorie, mit der man auf naturwissenschaftlichen Kongressen als gleichberechtigter Kollege Anschluss fände, käme da gelegen. Eine deutsche Konferenz über darwinistische Literaturwissenschaft hat Eibl schon in Planung für das Jahr 2008. Schließlich könnten die Amerikaner am Ende sogar noch vom alten Europa lernen, sagt Eibl versöhnlich. Zum Beispiel, wie wichtig die Kultur trotz aller biologischen Voraussetzungen sei: „Zwei Drittel unseres Gehirns haben sich vor langer Zeit als Anpassung an Kultur entwickelt.“ Der Mensch sei eben weder ein reines Dressur- noch ein reines Instinktwesen, sondern beides: das Animal Poeta – das dichtende Tier. Malte Herwig, Hilmar Schmundt 207

Kultur

Eros und Ramazzotti Nahaufnahme: Der Schriftsteller Bodo Kirchhoff und seine Frau Ulrike geben am Gardasee einen Kurs für literarisches Schreiben.

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Die alte Dame aus Klagenfurt, kopfschüttelnd über ihre Notizen gebeugt: „Es tut weh. Dass Erinnern so weh tun kann …“ Der Banker erklärt, was ihn am Schriftsteller Kirchhoff fasziniert: „So Schweinkram meets Hochkultur – finde ich gut.“ Ähnlich locker rausgetextet klingt dann auch seine Erzählung, die von einem Banker, kalt und effizienzgesteuert, handelt, der von seiner Freundin per SMS an seine Gefühle erinnert wird. Die Stoffe der Kirchhoff-Literaten: Frauen schildern gern quälendes Alleinsein. Die Sehnsucht geht in die Richtung, dass der Mann endlich seine Frau aufgibt und zur Geliebten nach Hause kommt. Die Männer sind dagegen immer in Gefahr, statt einer Handlung das Wort zum Sonntag zu schreiben. „Die Leute begreifen bei diesem Kurs, und das ist wichtig, was der Preis des Schreibens ist.“ Kirchhoff muss viel reden, in Gruppen- und Einzelgesprächen, wobei seine Frau dabei immer auch den Literaten, ihr Mann den Psychologen gibt. Was beide gut machen. Kirchhoff sagt gern Riesensätze wie: „Das Gefährdetsein ist das A und O der Schriftstellerei.“ Dann staunt die Gruppe, schreibt mit, probiert weiter. Bis zum Höhepunkt des Kurses, wenn die Schüler am Pool im Schein einer Leselampe ihre Erzählungen vorlesen, wird den Schriftsteller eine fiebrige Umtriebigkeit nicht verlassen: Er meint es ernst, er will denen wirklich was beibringen! Schau an, Literatur kann man lernen. Hat Kirchhoff als Guru einer Schreibgruppe keine Angst, seinen Halt, sein Geheimnis als Schriftsteller zu verlieren? Der Literat lacht: „Ob mein eigenes Schreiben gefährdet ist? Nein. Ich habe genug Abgründe in mir.“ Na, Gott sei Dank. Auf der Terrasse des Hotels „Gardesana“, am Hafen gelegen, liest Kirchhoff nun aus seinem jüngsten Roman „Eros und Asche“ vor. Ein Gläschen Ramazzotti dazu. Die sieben Zuhörer haben die Augen geschlossen, die Musikbox säuselt „O sole mio“. Und, wie schön und wie schauderhaft zugleich, hier am See ergeben die Musik und der virtuose Ton des Erzählers eine glückliche Einheit. Moritz von Uslar FOTOS: ULRIKE KIRCHHOFF

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er Blick, den man von der Terrasse gang, und – hoppla, keine Angst vor dem des Schriftstellers Bodo Kirchhoff großen Wort – mit der Literatur. Für die sechs Tage zahlt der Teilnehmer auf den Gardasee und den Kirchturm von Torri del Benaco hat, ist auch an einen Pauschalpreis von 1750 Euro, Verdiesem verhangenen Vormittag im Sep- pflegung, Bootsfahrt bei Mondschein, festliches Abendessen in einem Fischrestautember so schön, dass es fast weh tut. Simple Frage an den Gruppenleiter des rant und Lesung des Schriftstellers inklusieinwöchigen Seminars „Eros und Sprache ve. Wobei das Ehepaar Kirchhoff kein Hehl – Die Kunst des Erzählens“, der in Bade- daraus macht, dass ein Zweck der Übung, latschen immer rund um den Pool unter- der prosaische, darin besteht, den Unterwegs ist, wo die Teilnehmer des Kurses un- halt ihres Anwesens zu finanzieren. Vor ter Olivenbäumen, Bananenstauden oder zehn Jahren wurde das Haus nach den Pläam großen Esstisch in der Jasminlaube sit- nen Kirchhoffs erbaut; immerhin, ein Zelt zen und an ihren Geschichten feilen: Kann etwas so schön sein, dass einem die Worte ausgehen? Macht diese überwältigende Schönheit nicht auch ein klein bisschen dumm? Kirchhoff gesteht: „Einen Roman schreiben kann ich hier auch nicht. Da sitze ich besser in einem Hotelzimmer in Frankfurt mit Blick auf den Hauptbahnhof.“ Und dann holt der Gruppenleiter zu einer seiner ewigen Wahrheiten aus, die man sich – als Textprofi und Routinier, als einer der prominentesten Schriftsteller des Landes – erst einmal getrauen muss auszusprechen: „Naturbeschreibungen sind die Kirchhoff-Schreibgruppe: Erinnern kann weh tun Kunst des Erinnerns. Schaut genau hin! Vor zwei Minuten sah der See auf dem Dach, eine Außentreppe und eine Gartenmauer, die der Regen wegspülte, noch ganz anders aus.“ Seit nun sechs Jahren bringt der Schrift- hat der Schreibkurs schon finanziert. Am Sonntagabend haben die Teilnehsteller Bodo Kirchhoff, 59, bekannt durch Romane wie „Infanta“ (1990) und „Par- mer die Anfangsaufgabe zugeteilt bekomlando“ (2001), gemeinsam mit seiner Frau men: „Er oder sie, besser kein Ich, kommt Ulrike, einer nicht mehr praktizierenden in einer Gruppensituation an, wobei eine Psychologin, einer Gruppe von maximal mächtige Landschaft eine Rolle spielen acht Personen die Kunst des Erzählens bei. sollte.“ Heute geht es darum, dass die GeZu diesem Kurs angereist sind eine So- schichte, so Kirchhoff, „die horizontale ziologin aus Hamburg, eine Lehrerin aus Ebene verlässt und in die Vertikale, also in Basel, eine Journalistin aus München, ein den Kopf der Hauptperson, hineingeht“. Bankangestellter aus Frankfurt, ein Unter- Wie kann man Denken erzählen? Anspannung. Bis zum Mittwoch hat es nehmensberater aus Erfurt und ein reizendes älteres Ehepaar aus Klagenfurt. Die schon Tränen, auch Abreisen gegeben. GeTeilnehmer vereint, dass sie oft nicht mehr schrieben wird in bewundernswert lockerer ganz jung sind, also schon eine Karriere Haltung, gern im Schneidersitz, das Ringhinter sich haben, wobei sie das Schrei- buch im Schoß. Einige Frauen sehen schreiben, wenn überhaupt, bisher als sachbe- bend eher so aus, als ob sie Tuschzeichzogene Arbeit kennengelernt haben. Zum nungen anfertigten. Der UnternehmensSchriftsteller Kirchhoff kommen sie nun berater erklärt trotzig: „Ich glaube, ich bin mit der Sehnsucht, es noch einmal mit dem Reporter, kein Literat.“ Die Soziologin: anderen Schreiben zu versuchen, dem in- „Ich bin in einen Schreibrausch geraten, timen, dem persönlichen, poetischen Zu- alles schwimmt. Was tut man dagegen?“

Sport

Szene FORMEL 1

Der Österreicher Gerhard Berger, 48, ehemaliger Rennfahrer und Mitbesitzer des Toro-RossoTeams, über die Folgen des Urteils im Spionageskandal diese Saison alle Punkte in der Konstrukteurswertung aberkannt, außerdem muss das Team 100 Millionen Dollar Bußgeld bezahlen. Finden Sie das gerecht? Berger: Die Strafe ist hart, aber die Beweise scheinen eindeutig. Es hatte ja sogar zur Diskussion gestanden, ob das Team bis Ende 2008 gesperrt wird. Das wäre womöglich das Ende gewesen. Mit dem gefällten Urteil lebt McLaren weiter. SPIEGEL: Teamchef Ron Dennis hat einen Saisonetat von etwa 550 Millionen Dollar. Wie sehr wird die Konkurrenzfähigkeit seines Rennstalls leiden, wenn ein Batzen Geld in der Kasse fehlt? Berger: Auch mit 20 Prozent weniger hätte McLaren immer noch einen Spitzenetat. Sie werden auch kommende Saison vorn mitfahren. SPIEGEL: Worin liegt die Logik, das Team zu bestrafen, aber nicht McLarens Piloten, die vom illegal besorgten Wissen über Ferrari profitiert haben müssen? Berger: Die Fahrer haben sehr dazu beigetragen, den Fall aufzuklären, und ihre Leistung auf der Strecke steht für mich sowieso außer Zweifel. Es wäre falsch gewesen, auch sie büßen zu lassen. SPIEGEL: Was soll denn mit den 100 Millionen Ihrer Meinung nach passieren? Berger: Sie sollten an Toro Rosso gehen. Im Ernst: Es wäre gut, wenn das Geld an die Teams verteilt würde.

Dunkerbeck

SURFEN

Harpune im Fuß B

jörn Dunkerbeck ist in Dänemark geboren, er wuchs auf Gran Canaria auf, er hat einen niederländischen Pass und gibt als Nationalität „Europäer“ an. In Deutschland ist der 38-jährige Globetrotter vor allem als Werbefigur von Nutella bekannt, aber wohl kaum jemand weiß, dass er einer der erfolgreichsten aktiven Sportler der Welt ist: 35 WM-Titel hat Dunkerbeck gewonnen. Ein Jahrzehnt lang dominierte er die Wettbewerbe im Windsurfen und im Wellenreiten. Nebenbei hat er die aufregendsten Surfspots der Welt erkundet. Was er vor Fidschi, Sumatra und Tahiti erlebt hat, erzählt er jetzt in seiner Biografie „The Search“, die kommende Woche auf Deutsch erscheint. Er schildert seinen von Mobbing und Neid begleiteten Aufstieg, das Verhältnis zu Surfguru Robby Naish und viele Abenteuer, die er auf der Suche nach der perfekten Welle erlebt hat: Begegnungen mit streitsüchtigen einheimischen Surfern und wie er sich vor Australien beim Fischfang eine Harpune durch den Fuß jagte und dann versuchte, schnell zurück am Boot zu sein, bevor das Blut Haie anlockt. Als Nächstes hat sich Dunkerbeck vorgenommen, den Tempoweltrekord im Windsurfen auf mehr als 50 Knoten (92,6 km/h) zu steigern. Ein Ende seiner Sportkarriere zeichnet sich langsam ab: Beim Weltcup, der von Freitag an auf Sylt Station macht, will er bis zu seinem 40. Geburtstag starten. Björn Dunkerbeck: „The Search. Die größten Erfolge, die stärksten Rennen, die besten Surfspots“. Riva Verlag, München; 240 Seiten; 24,90 Euro.

WETTEN

„Ein leichtes Ziel“

S

McLaren-Boss Dennis

eit der russische Tennisprofi Nikolai Dawydenko, Vierter der Weltrangliste, verdächtigt wird, ein Match absichtlich verloren zu haben (was er bestreitet), warnt die Spielerorganisation ATP ihre Mitglieder vor Manipulationen. In einem Rundbrief an alle Profis weist sie auf die Folgen eines Paktes mit Wettbetrügern hin: „Sie sind ein leichtes Ziel, wenn Sie häufig in Casinos, online usw. spielen; seien Sie vorsichtig, mit wem Sie sich einlassen. Tenniswetten und/ oder manipulierte Spiele werden den d e r

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Sport und Ihre Karriere ruinieren. Lassen Sie sich – unter keinen Umständen – in irgendeiner Weise auf Tenniswetten oder manipulierte Spiele ein.“ Wie bedroht sich die Branche wähnt, zeigte sich bereits im März: Beim Turnier in Miami verpflichtete die ATP die Profis, zu einem Vortrag zu gehen. Am Rednerpult stand Michael Franzese, in den Achtzigern einer der einflussreichsten Gangsterbosse New Yorks. Franzese berichtete, wie die Wettmafia Spieler ködert, umgarnt, einwickelt, anstiftet – um sie nach dem Sündenfall zu erpressen. Solche Termine soll es nun öfter geben, ein ATP-Sprecher sagt, es sei „angebracht, wachsam zu bleiben“. 211

JONO KNIGHT

SPIEGEL: McLaren-Mercedes werden für

FREDERIC NEBINGER / ABACA

R. KOSECKI/PICTURE-ALLIANCE/DPA

„McLaren lebt weiter“

LUCY NICHOLSON / REUTERS (L.); FRIEDEMANN VOGEL / GETTY IMAGES (O.R.); GERO BRELOER / PICTURE-ALLIANCE / DPA (U.R.)

Sport

US-Baseballstar Barry Bonds

Radprofi Ullrich (2006)

Epo-Mittel Recormon

Doping-Verdächtige, -Mittel, -Kontrollen: „So jemand muss in Beugehaft, bis er sagt, woher er das Zeug hat“

DOPING

Der Traum vom sauberen Sport Epo, Wachstumshormon, Bluttransfusionen – viel zu viele Athleten, die gewinnen wollen, greifen zu unerlaubten Mitteln und beichten erst, wenn sie erwischt werden. Sechs Ideen, wie man Betrügern das Handwerk legen könnte. Von Werner Franke und Udo Ludwig In ihrem Buch „Der verratene Sport. Die Machenschaften der Doping-Mafia“ (Verlag Zabert Sandmann, München), das in dieser Woche erscheint, beschreiben der Heidelberger Professor für Zell- und Molekularbiologie und Deutschlands bekanntester Doping-Experte Werner Franke, 67, und SPIEGEL-Redakteur Udo Ludwig, 49, ein weltweit operierendes Doping-Kartell aus Ärzten, Funktionären, Trainern und Sportlern. Das Resümee von Franke und Ludwig ist bitter: Es gibt keinen fairen Wettkampf mehr. Ihr Vorschlag: radikaler Umbau des Sportsystems.

1 Abschreckung durch harte Strafen Mitte Oktober wird der Münchner Triathlet Faris al-Sultan zum fünften Mal als Profi beim Ironman auf Hawaii antreten. Bei seinem Sieg vor zwei Jahren über die gigantische Strecke von 3,8 Kilometern Schwimmen, 180 Kilometern Radfahren 212

und 42 Kilometern Laufen brauchte er etwas mehr als 8 Stunden. Der Ironman ist so etwas wie die Königsveranstaltung im Ausdauersport, und es ist auch eine Disziplin, bei der sich dopende Athleten große Vorteile verschaffen können – so wie es die deutsche Triathletin Nina Kraft gemacht hat, die nach ihrem Sieg auf Hawaii im Jahr 2004 des Epo-Dopings überführt wurde. Sultan sagt, dass er den Triathlon ohne Doping bewältige, und er sagt auch, dass er es „als Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip empfinde, mich von Gedopten besiegen zu lassen“. Er ist dafür, dass auf dopende Sportler mehr Druck ausgeübt werden wird. „So jemand muss in Beugehaft, bis er sagt, woher er sein Zeug hat.“ Sultan ist einer der wenigen Sportler, die für radikale Maßnahmen plädieren. Der Sport nämlich macht es sich bisher sehr einfach: Wer auffliegt, wird beim ersten Mal nur zwei Jahre lang gesperrt. Es ist eine kommode Lösung, die wohl zwei Zwecken dient: Funktionäre können so d e r

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tun, als ob sie Doping bekämpften, und unter Athleten sorgen diese Strafen kaum für Abschreckung. Sperren aber wirken nur dann, wenn sie individuell ausgesprochen werden. Sportler, die ihr Wissen über Hintermänner nicht preisgeben, müssen lebenslang gesperrt werden können. Dagegen sollte die Strafe auf ein Jahr oder gar weniger reduziert werden, wenn ertappte Athleten umfassend aussagen und dadurch ihre Hintermänner enttarnen.

2 Berufsverbot für Doping-Trainer Als die DDR 1990 zum letzten Mal bei einer Leichtathletik-Europameisterschaft antrat, hatten fast alle Trainer aus Ostdeutschland doch etwas Angst um ihre Zukunft. Nur Thomas Springstein nicht. Zu seinen Athletinnen gehörten die Läuferinnen Katrin Krabbe und Grit Breuer, Sportlerinnen, wie sie das neue Deutschland suchte: junge, schnelle Mädchen,

OLIVIER MORIN / DPA (L.); ULMER / IMAGO (O.R.); MAXPPP CORSAN / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (U.R.)

US-Leichtathletin Marion Jones (2000)

die internationale Medaillen holten. Doch schon damals gab es Hinweise darauf, dass Springstein auch in der DDR Mädchen gedopt haben soll, aber sie wurden nie ernsthaft geprüft. Springstein war sakrosant. 1992 wurden Krabbe, Breuer und die Sprint-Weltmeisterin von 1987, Silke Möller, dabei erwischt, wie sie identische Urinproben ablieferten. Im gleichen Jahr geriet Krabbe erneut unter Doping-Verdacht, weil Springstein ihr Clenbuterol, einen Hustenkrampflöser, verabreicht hatte, der gleichzeitig auch muskelaufbauend und körperfettabbauend wirkt. Beide Affären hat Springstein letztlich unbeschadet überstanden. 2002 kürte der Deutsche Leichtathletik-Verband ihn zum „Trainer des Jahres“. Erst der Mut der Hürdensprinterin Anne-Kathrin Elbe, mehrfache Deutsche Jugendmeisterin, vor drei Jahren stoppte die Karriere Springsteins. Die Läuferin hatte Pillen, die sie von Springstein bekommen hatte, an den Bundestrainer gegeben, der sie untersuchen ließ. Springstein wurde verurteilt. Auf die Anklagebank hätte auch der Verband gehört, der die Gesundheit von Sportlerinnen aufs Spiel setzte, weil er Springstein seit 1998 wieder als Trainer akzeptiert hatte. Es gibt viele Trainer und Betreuer aus dem dopingverseuchten DDR-Sport, die noch heute im deutschen Sport oder im Ausland arbeiten. Es stellt sich auch die Frage, ob der Radsport jemals gesunden kann, wenn ehemalige Doper Rennställe leiten. Nur wenn es der Sport schafft, sich von diesem Personal zu trennen, von Trainern, Ärzten, Betreuern und Funktionären, die im Doping-System gearbei-

Fußball-Länderspiel (in Dortmund 2006)

Tour de France

tet haben, kann er hoffen, sauber zu werden. Auch Funktionäre, die Trainer wie Springstein gefördert haben, sollten ihre Ämter aufgeben müssen.

3 Kein Zirkussport bei ARD und ZDF Jahrelang hatten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten über die Schönheit der Tour de France berichtet. Die ARD wirkte sogar als eine Art Sponsor des deutschen Radrennstalls und bezahlte Jan Ullrich jährlich 195 000 Euro, damit er Reportern für Interviews zur Verfügung stand. ARD und ZDF wollten sich nicht einmal ihr Sommerspektakel vermiesen lassen, als die Blut-Affäre um den spanischen Arzt Eufemiano Fuentes 2006 belegte, dass die Tour de France in Wahrheit ein einziges Betrügerkartell ist. Erst nach den Enthüllungen des Radprofis Jörg Jaksche und der positiven Doping-Probe von Patrik Sinkewitz vom Team T-Mobile stiegen ARD und ZDF im Sommer dieses Jahres aus. Wirklich konsequent war auch dieser Schritt nicht. Denn einige Wochen später schon übertrugen die Sender die Kämpfe von Profiboxern, die sie exklusiv unter Vertrag haben. Immer noch weigert sich der Profi-Boxverband, bei positiven Doping-Befunden die Identität der Ertappten preiszugeben. Bis heute muss kein Boxer damit rechnen, dass ihn Kontrolleure beim Aufbautraining für den nächsten Millionen-Fight überraschen. Boxen ist Doping-Sport, und DopingSport ist Zirkussport. In solchen Sportarten wird sich die Kontrollpraxis erst dann d e r

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ändern, wenn sich die Sender von ihnen abwenden. ARD und ZDF müssen sich verpflichten, aus der Berichterstattung auszusteigen, sobald eine Sportart mehr als drei Doping-Fälle pro Jahr aufweist. Außerdem sollten sich die öffentlich-rechtlichen Medien nicht mehr an der Finanzierung oder Veranstaltung von Sportwettkämpfen beteiligen.

4 Totalumbau des Kontrollsystems Sportler wie der Radfahrer Jan Ullrich, die Läuferin Grit Breuer und die amerikanische Sprinterin Marion Jones behaupten, sie hätten nie gedopt, Dutzende DopingKontrollen bei Wettkämpfen und im Training würden beweisen, dass sie sauber seien. Das Kontrollsystem kann ihnen nichts anhaben, obwohl es Belege für eine Doping-Vergangenheit gibt. Zum Beispiel im Fall Jan Ullrich: Es ist bewiesen, dass im Kühlschrank des spanischen Arztes Eufemiano Fuentes Ullrichs Blut in abenteuerlich großen Mengen von neun Beuteln bereitlag. Es gibt die Zeugenaussage seines früheren belgischen Masseurs Jef D’hont, der behauptet hat, ihm Epo gespritzt zu haben. Es gibt eine Überweisung Ullrichs von 25 000 Euro auf ein Konto von Fuentes. Und es gibt die vielen Geständnisse ehemaliger Telekom-Kollegen, die von einem systematischen und allumfassenden Doping-System im Team erzählten. Das Kontrollsystem ist viel zu bieder, um Leute wie Ullrich zu überführen. Das Anti-Doping-System muss verbessert, erneuert und vor allem der Praxis an213

ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES

MARTIN ZITZLAFF (L.);

Hormon-Präparat Andriol

Läuferinnen

Mit Innenminister Schäuble (r.) Doping-Mittel, -Verdächtige, Sportfunktionär Bach,

gepasst werden. Weit mehr als ein Drittel aller Urin- und Bluttests sollten bei intelligenten Kontrollen genommen werden: Die Fahnder müssen exakt dann losgeschickt werden, wenn unter trainingswissenschaftlichen Gesichtspunkten die Wahrscheinlichkeit, dass gedopt wird, am höchsten ist. Zudem müssen Athleten, die sich mit auffälligen Leistungen verdächtig gemacht haben, mit einem Netz engmaschiger Zielkontrollen überzogen werden. Funktionäre wie Thomas Bach, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), kämpfen seit Jahren dafür, dass der Sport seine Autonomie und staatliche Förderung behält und ansonsten weiterhin selbst auf sich aufpassen darf. Funktionäre wie Bach können kein Interesse daran haben, dass unabhängige Gremien den Sport durchleuchten. Denn dann käme womöglich heraus, dass die Olympischen Spiele längst kein fairer Wettkampf der Jugend der Welt mehr sind. Denn bei einem strengen Kontrollsystem gäbe es nicht wie bisher durchschnittlich zehn Doping-Fälle pro Olympia, sondern womöglich einige hundert. Wer sauberen Sport will, der muss das Kontrollsystem von den Verbandsstrukturen trennen. Vor allem sollte niemand mit der Kontrolle von Sportlern befasst sein, der im Sport ein Amt innehat oder innehatte. Um die internationalen Kontrollen zu verbessern, muss es weltweit Eingreifteams geben, die ohne Vorankündigung in das jeweilige Land reisen dürfen. Länder, die sich sperren, werden konsequenterweise aus der Sportgemeinschaft ausgeschlossen. Die Geschichte des Dopings ist zudem eine Geschichte des Versagens der Kon214

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Box-WM (2004) ARD-Sportübertragung: Dumme Kontrollen

trollen und der Korruption bestimmter Laboratorien. Besonders wenn neue DopingMittel in den Sport gelangen: Auf Wachstumshormon, das Athleten seit den achtziger Jahren zum Muskelaufbau nehmen, wird bis heute nicht kontrolliert. Vor Epo, der Droge für Ausdauersportler, hatten Mediziner die Verbände schon 1990 gewarnt. Erst seit sieben Jahren gibt es aber Analysemethoden für Epo, die jedoch immer noch unzuverlässig sind. Statt weiterhin die staatliche Sportförderung fast ausschließlich für die Produktion von Spitzenleistungen zu verwenden, sollte künftig mindestens ein Viertel des im Bundeshaushalt vorgesehenen Etats von gut 100 Millionen Euro in den AntiDoping-Kampf umverteilt werden. Bekämen Labors und die wissenschaftliche Begleitforschung davon rund 25 Prozent, wären die Analytiker schon bald auf Augenhöhe mit den Doping-Kartellen.

5 Schärfere Anti-Doping-Gesetze Es war 1977, Kalter Krieg. Deutschland Ost kämpfte gegen Deutschland West, und es war den Fachleuten klar, dass die DDR mit unerlaubten Mitteln arbeitete. Ein Politiker namens Wolfgang Schäuble (CDU) sprach sich damals in einer Anhörung des Sportausschusses im Deutschen Bundestag fürs Dopen aus, „weil es offenbar Disziplinen gibt, in denen heute ohne den Einsatz dieser Mittel der leistungssportliche Wettbewerb in der Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden kann“. Das war der Geist jener Zeit, der aber auch damals schon gegen Gesetze verstieß. d e r

LORENZ BAADER

Möller, Breuer, Krabbe, Trainer Springstein

WENDE / ULLSTEIN BILD

Sport Doch als der Münchner Oberstaatsanwalt Dieter Hummel im gleichen Jahr eine Anzeige gegen einen dopenden Leichtathletik-Bundestrainer zu bearbeiten hatte, lehnte er sie mit der Begründung ab, das Strafrecht sei „kein geeignetes Mittel, sportliche oder sportpolitische Entscheidungen herbeizuführen“. 30 Jahre danach äußert sich niemand mehr in solcher Eindeutigkeit, doch für viele Funktionäre, Politiker, Staatsanwälte ist Doping heute allenfalls ein Sportdelikt – dementsprechend lau ist auch der Einsatz gegen die Medikamentenzirkel. Tatsächlich ist Doping schwere Körperverletzung. Das hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung gegen einen ehemaligen Sportarzt der DDR eindeutig festgestellt. An der Einstellung der Ermittler wird sich nur etwas ändern, wenn der politische Wille zum konsequenten Anti-DopingKurs da ist. Das nach jahrelangem Streit im Juli vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Besitzstrafbarkeit von Doping-Mitteln stellt nur größere Mengen unter Strafe, das reicht nicht aus. Ein Gesetz gegen Sportbetrug und Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften würden Ermittlern endlich eine effektivere Arbeitsbasis schaffen.

6 Prävention statt späte Beichten In ihrem Bemühen, der Öffentlichkeit zu zeigen, wie ernst sie den Doping-Kampf nehmen, setzen Funktionäre auf Symbolpolitik. Eine dieser Maßnahmen war es, Frank Busemann zum Anti-Doping-Vertrauensmann des DOSB zu küren. Der ehemalige Zehnkämpfer erscheint als die personalisierte Ehrlichkeit. Athleten mit Doping-Erfahrungen sollten ihm beichten. Doch schon ein Jahr nach Amtsantritt sieht sich Busemann gescheitert: Kein Sportler hat sich ihm bisher anvertraut. Es gebe „kein Unrechtsbewusstsein bei Dopern, solange sie nicht erwischt worden sind. Deshalb müssen wir eine Generation früher ansetzen“. Busemann weiß inzwischen, dass nur eines hilft: Prävention. Der Silbermedaillengewinner von Atlanta 1996 will nun in Schulen aufklären. Bisher gibt es nur das Konzept des Heidelberger Sportpädagogen Gerhard Treutlein zur Doping-Vorbeugung. Im Bundeshaushalt 2007 sind dafür gerade einmal 300 000 Euro angesetzt. Um Jungen und Mädchen zum dopingfreien Sport zu erziehen, müssen nicht nur ehemalige Athleten auf sie zugehen. Erfolgreiche Athleten sind Vorbilder, und deren Strahlkraft gilt es für die Erziehung zu nutzen. Wer dabei nicht mitmacht, darf keine öffentlichen Fördergelder mehr bekommen. Zudem müssten überführte Athleten in Schulen und Vereinen über ihre Erfahrungen sprechen. Aus der Sportförderung sollten mindestens zehn Millionen in diese Prävention fließen. ™

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Sport FUSSBALL

Namenlose Weltmeister In China verteidigen die Frauen derzeit ihren Titel, sie gehören zu den Besten der Welt. Doch für Spielerinnen wie Kerstin Garefrekes bleibt der Sport nur ein Hobby.

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den erfolgreichsten Frauenfußballclub in Deutschland. Sport mag ihr Hobby sein, aber Ehrgeiz hat die Westfälin trotzdem. Nun lässt sich Garefrekes ihr Hobby bezahlen und betreibt es „mit einem Aufwand wie für einen zweiten Beruf“. Keine Spielerin ist so fit wie „K. G.“, wie sie von den Mitspielerinnen gerufen wird. „Die hat eine Pferdelunge und läuft noch in der 93. Minute die Linie runter“, sagt ihre Mitspielerin Sandra Smisek. Garefrekes’ Wirkungsgebiet ist die rechte Außenbahn. Ulrike Ballweg, Assistenztrainerin der Nationalmannschaft, sagt, Garefrekes habe „eine gute Technik, Dynamik und Spielintelligenz. Sie erkennt defensiv wie offensiv die Situationen“. Und schießt zwischendurch gern selbst Tore. Wie im WM-Eröffnungsspiel gegen Argentinien, als sie sich wieder mit diesem irritierenden Gesichtsausdruck vorm Tor positionierte, um nach einem Freistoß Kerstin Stegemanns von jenseits der Mittellinie zuzuschlagen. Garefrekes, sagt ihre Mitspielerin Ariane Hingst, werde „auf dem Platz und außerhalb oft unterschätzt, weil sie so verträumt aussieht“. Garefrekes selbst nennt ihre Grundverfassung „entspannt“. Ein Star wird sie so nicht mehr. Aber wer ist das schon? Garefrekes zählt auf: „Birgit Prinz, Steffi Jones, Nia Künzer …“ Dann reißt ihr der Faden. Jones ist im Frühjahr aus der Nationalmannschaft zurückgetreten, Künzer spielt dort längst keine Rolle mehr. Bleibt Birgit Prinz Superstar. Doch auch die dreimalige Weltfußballerin übernimmt diesen Part nur auf dem Feld, jenseits davon tritt die Psychologiestudentin zwar oft nassforsch auf, eine öffentliche Person aber will sie nicht sein. So hat aus der Weltmeistermannschaft von 2003 nur eine Medienkarriere gemacht, der der Zufall half. Als Einwechselspielerin köpfte Nia Künzer im Finale gegen Schweden das Golden Goal und nutzte diesen Glücksfall. Sie mag das Rampenlicht – und sie ist hübsch. Heute ist sie Fernsehexpertin für die Nationalmannschaft. Für Garefrekes wäre das nichts. Auch wenn sie das System begreift: Mehr Stars würden mehr Aufmerksamkeit bedeuten, mehr fußballspielende Mädchen, ein höheres Niveau, größeres Medieninteresse. „Es ist ein Kreislauf.“ Hinein will sie nicht. Es sei denn, es ginge über einen Werbevertrag für etwas, das sie wirklich mag und das ihr tatsächlich ein breites Strahlen entlockt: Schokolade. SCHREYER / IMAGO

enn Kerstin Garefrekes durch die Halle des Hua Ting Hotels in Shanghai schlurft, die langen Haare mit Mittelscheitel und Zopf aus dem Gesicht gehalten, der Blick aus großen blauen Augen halb streng, halb abwesend, wirkt sie ziemlich fehl am Platz. Nicht wie

der öffentlichen Wahrnehmung namenlos geblieben. Gerade sind die Stegemanns und Smiseks und Garefrekes in China, um bei der fünften Frauenfußball-WM ihren Titel zu verteidigen. Am vergangenen Freitag schafften sie nur ein 0:0 gegen England, an diesem Montag spielen sie gegen Japan um den Gruppensieg in der Vorrunde. Der Triumph vor vier Jahren, der den Frauen inmitten einer ausgedehnten Schwächeperiode der Fußball-Männer einen großen Aufmerksamkeitsschub brachte, brachte auch für Garefrekes den Durchbruch. Damals im Halbfinale ahnten die favorisierten Gegnerinnen aus den USA keine Gefahr, als die Lange mit der lethargischen Miene bei einem Eckstoß im Strafraum auftauchte. Doch Garefrekes’ Blick steht ihrer Dynamik im Spiel diametral entgegen. Ihr Kopfballtor ebnete den Deutschen den Weg ins Endspiel. An den entschei-

Nationalspielerin Garefrekes: Halb streng, halb abwesend

der Gast eines Luxushotels in Chinas Wirtschaftsmetropole, eher wie eine Soziologiestudentin, die auf dem Weg in die Wohngemeinschaftsküche überlegt, ob sie die Vorlesung heute mal sausen lässt. 1,79 Meter groß, langbeinig und dünn, könnte sie in ihren Trainingsklamotten auch als Hochspringerin durchgehen. Tatsächlich ist sie Fußballspielerin. Nationalspielerin. Weltmeisterin. Berühmt ist sie deshalb nicht, und das ist ihr nur recht: „Ich spiele gerne Fußball. Aber ich reiße mich nicht darum, auf Werbetafeln zu sehen zu sein.“ So ist das bei fast allen deutschen Auswahlspielerinnen, sie haben wenig Drang zu Show und Selbstvermarktung. Und obwohl sie als Mannschaft zur Weltelite zählen, ist, außer der Stürmerin Birgit Prinz, jede für sich in 216

denden Moment erinnert sie sich so: „Wir hatten Standards ja trainiert.“ Und noch heute versteht sie nicht, dass damals ihre Reaktion auf diesen Treffer bemäkelt wurde: „Man hat mir den Vorwurf gemacht, dass ich mich gar nicht richtig gefreut habe. Aber ich war so konzentriert. Es war ja noch nicht Abpfiff.“ So ist Kerstin Garefrekes. Ganz und gar pragmatisch. Ganz und gar bei sich. Auch, was ihr Verhältnis zum Fußball betrifft: „Sport ist mein Hobby. Ich lege Wert darauf, dass das nicht mein Beruf ist.“ Im echten Leben ist die 28-Jährige beurlaubte Beamtin der Stadt Rheine. Dort bearbeitete sie Sozialhilfeanträge für Obdachlose, seit 2004 studiert sie Public Management und spielt für den 1. FFC Frankfurt, d e r

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Katrin Weber-Klüver

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Nachwuchs in Uniform – Mit Polizeischülern auf Streife, Teil 2

Bisher war Streifendienst für die Polizeianwärter nur graue Theorie aus dem Unterricht. Seit fünf Monaten stecken Sonja und Lasse mitten in ihrem Berufspraktikum im 4. Revier in Kiel. Gewalt, Drogendelikte und Diebstahl sind in dem Problemstadtteil an der Tagesordnung. FREITAG, 21. 9. 22.30 – 0.35 UHR VOX

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Willkommen im Leben! – Alltag in der Geburtsstation, Teil 2

In der Asklepios Klinik Hamburg-Altona wird jeden Tag Geburtstag gefeiert: Rund 2600 Babys kommen pro Jahr in der größten Entbindungsstation Norddeutschlands zur Welt. SPIEGEL TV dokumentiert die schönen und dramatischen Momente in der Geburtsstation, zeigt den turbulenten Alltag der Ärzte, Hebammen und Schwestern und begleitet Paare vor und nach der Geburt des Kindes. SAMSTAG, 22. 9. 22.20 – 0.25 UHR VOX

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SPECIAL

Jede Menge Kohle – Das Ruhrgebiet erfindet sich neu

Reise durch Deutschlands größte „Stadt“. Das Ruhrgebiet zwischen Tradition und Hightech. SPIEGEL TV über Pott-Romantik, Strukturwandel und Menschen, für die der Ruhrpott mehr ist als Heimat. SONNTAG, 23. 9. 23.20 – 0.05 UHR RTL

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Chronik S A M S TA G , 8 . 9 . VIRUSALARM Wegen des

Verdachts auf Vogelgrippe werden in zwei oberpfälzischen Entenmastbetrieben insgesamt 205 000 Tiere entsorgt. Es ist die bislang größte Keulungsaktion in Deutschland. ALGERIEN Ein 15-jähriger Schüler verübt einen Selbstmordanschlag auf eine Kaserne in der Hafenstadt Dellys. 30 Menschen kommen dabei ums Leben.

Sprayer und Tauben greifen Weltkulturerbe an; Die Mutter der Nation – Angelas Halbzeitbilanz.

Deutsche Soldaten auf dem Roten Platz in Moskau: Das Musikkorps der Bundeswehr probt Mittwochabend voriger Woche für Russlands erstes Militärmusikfestival.

S O N N TA G , 9 . 9 . MEDIEN Der NDR entlässt

die Moderatorin Eva Herman. Bei einer Buchvorstellung hatte sie erklärt, dass im „Dritten Reich“ zwar „vieles sehr schlecht gewesen“ sei, einiges aber auch gut, etwa „die Wertschätzung der Mutter“. M O N TA G , 1 0 . 9 . FINANZKRISE Als Reaktion auf die Turbulenzen auf den Finanzmärkten fordern Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Sarkozy bei ihrem Treffen in Meseberg gemeinsame Aktionen gegen Spekulanten. PAKISTAN Nur fünf Stunden nach seiner Rückkehr aus dem Exil wird der frühere Regierungschef Nawaz Sharif wieder nach Saudi-Arabien abgeschoben. WELTREKORD Zum Auftakt der Frauenfuß-

ball-Weltmeisterschaft in China gewinnt Deutschland gegen Argentinien mit 11:0 – der höchste Sieg in der WM-Geschichte.

MAGAZIN

„Haustyrannen-Mord“ – warum Frauen ihre Männer töten; Kölner Dom – Wildpinkler,

8. bis 14. September

TERRORISMUS I Sechs Jahre nach den Ter-

roranschlägen in den USA lobt al-QaidaChef Osama Bin Laden in einer neuen Videobotschaft die Attentäter. In New York findet die Gedenkfeier zum ersten Mal nicht am Ground Zero statt.

WERNER OTTO / PICTURE-ALLIANCE / OKAPIA

kennt sich die „Islamische Dschihad Union“ zu den in Deutschland geplanten Terroranschlägen. Sie sollten sich unter anderem gegen den US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein richten.

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MITTWOCH, 12. 9. PLAGIAT Michael Jacksons Welthit „You Are Not Alone“ ist geklaut. Nach mehr als zwölf Jahren Rechtsstreit bestätigt ein Berufungsgericht in Brüssel, dass der Song eigentlich das Werk zweier belgischer Komponisten ist. D O N N E R S TA G , 1 3 . 9 . ERDBEBEN In Südostasien wird erneut

Tsunami-Alarm ausgelöst. Mehrere Beben im Indischen Ozean erschüttern vor allem die Insel Sumatra.

D I E N S TA G , 1 1 . 9 .

TERRORISMUS II Auf einer Website be-

Kölner Dom

MIKHAIL METZEL / AP

SPIEGEL TV

NORDKOREA Amerikanische Atomexperten treffen in Pjöngjang ein, sie müssen prüfen, wie das Nuklearprogramm von Diktator Kim Jong Il beendet werden kann. Im Gegenzug sollen eingefrorene Gelder wieder freigegeben werden. d e r

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AUTOMESSE In Frankfurt am Main wird

die 62. Internationale Automobil-Ausstellung eröffnet. Das EU-Ziel, den CO2Ausstoß aller Neuwagen drastisch zu reduzieren, lehnen die Konzerne ab. F R E I TA G , 1 4 . 9 . PROTEST Der Kölner Erzbischof Kardinal

Joachim Meisner verurteilt bei einer Rede im Kölner Dom „entartete Kultur“, die nichts mehr mit Gottesverehrung zu tun habe. Mit der von den Nationalsozialisten verwendeten Formulierung löst er heftige Kritik aus. RUSSLAND Die Staatsduma bestätigt den

Finanzexperten Wiktor Subkow als neuen Ministerpräsidenten. Der PutinFreund will das Militär stärken.

Register

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Joe Zawinul, 75. Der hochbegabte Junge aus dem Wiener Arbeitermilieu hatte das Zeug zum klassischen Pianisten. Doch weil ihn improvisierte Musik mehr reizte, landete er beim Jazz. Zawinul kam als Stipendiat nach Amerika. Als einziger Weißer spielte er im Quintett von Cannonball Adderley und schrieb den Soul-Jazz-Hit „Mercy, Mercy, Mercy“. Miles Davis engagierte den Österreicher für seine Alben „In a Silent Way“ und „Bitches Brew“ als Komponisten und Keyboarder. Zawinul erkannte als erster Jazzer die neuen Möglichkeiten der Elektronik. Statt am Klavier saß er wie ein Pilot inmitten von Schaltknöpfen und Tasteninstrumenten.

FELIX HEYDER / DPA

SPIEGEL ONLINE

Anita Roddick, 64. Mit einer revolutionären Idee eröffnete die Tochter italienischer Einwanderer in Brighton 1976 ihr erstes Kosmetikgeschäft, das sie The Body Shop nannte: Die Rezepte für zunächst 25 Cremes und Wässerchen spiegeln die traditionelle Schönheitspflege verschiedenster Kulturen wider, die Roddick auf früheren Reisen besucht hatte. Verkauft wurde die ohne Tierversuche selbsthergestellte Kosmetik in schnörkellosen, nachfüllbaren Plastikflaschen. Damit traf die temperamentvolle Unternehmerin den Zeitgeist, sie wurde zu einer Pionierin der grünen Bewegung, und ihre zum Franchisesystem ausgebaute Naturkosmetik-Kette – der inzwischen mehr als 2000 Boutiquen in 54 Ländern angehören – machten Roddick zu einer der reichsten Frauen Englands. Sie wollte sich aber vor allem als Aktivistin für Menschenrechte und Umweltschutz verstanden sehen: „Ich wurde nicht geboren, um die Wirtschaft zum Pulsieren zu bringen. Ich wurde geboren, um eine gute Mutter zu sein, Ideen zu haben und etwas gegen die Armut zu tun.“ 1984 ging The Body Shop an die Börse, wofür Roddick von ihren Anhängern kritisiert wurde. Aus der Geschäftsführung zog sie sich 1998 zurück, und im vergangenen Jahr wurde das Unternehmen vom L’Oréal-Konzern übernommen. Anita Roddick, die an Hepatitis C litt, starb am 10. September an einer Hirnblutung im südenglischen Chichester.

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Jane Wyman, 90. Wenn sie litt, litten Millionen amerikanische Kinogängerinnen mit, als ginge es um ihr eigenes Leben. Die US-Schauspielerin war die Schmerzensfrau Hollywoods und zeigte bei den härtesten Schicksalsschlägen außerordentliche Nehmerqualitäten. Für die Darstellung einer taubstummen Frau in „Johnny Belinda“, die nach einer Vergewaltigung schwanger wird, gewann Wyman 1948 den Oscar. Der große Melodramatiker Douglas Sirk stilisierte sie in seinen Meisterwerken „Die wunderbare Macht“ (1953) und „Was der Himmel erlaubt“ (1955) zur Ikone der Pein, die mit stiller Demut Unglück und Ungerechtigkeit über sich ergehen lässt. Im wirklichen Leben war Wyman nicht bereit, sich alles gefallen zu lassen: Nach wenigen Jahren Ehe ließ sie sich von Ronald Reagan scheiden, dessen politisches Engagement ihr fremd blieb. Eine späte Genugtuung mag es für sie gewesen sein, ab 1981 in der TV-Serie „Falcon Crest“ als Matriarchin mit eiserner Faust über eine Winzer-Dynastie zu herrschen und andere leiden zu lassen. Jane Wyman starb am 10. September in Palm Springs. Kurt Oeser, 78. Bereits in den sechziger Jahren, als Willy Brandt vom „blauen Himmel über der Ruhr“ sprach, engagierte sich der Ingenieur und Pastor aus dem hessischen Mörfelden-Walldorf in Umweltgruppen und gehörte seitdem zu den prägendsten Gestaltern der grünen Bewegung. Er gründete die Interessengemeinschaft zur Bekämpfung des Fluglärms, die den Ausbau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens über Jahre zu verhindern versuchte. 1973 trat Oeser das Amt des Beauftragten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für Umweltfragen an, das er zwei Jahrzehnte ausfüllen sollte. Zudem setzte er sich als Vorsitzender der Jury für das Umweltzeichen Blauer Engel ein. Von der hessischen Landesregierung war Oeser 1998 als Mediator im Konflikt um den weiteren Flughafenausbau berufen worden. Von seinen Öko-Freunden musste er sich für seinen radikalen Kurs der Gewaltfreiheit und Deeskalation häufig Kritik anhören. Kurt Oeser starb am 8. September in Mörfelden.

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JOHN SPRINGER COLLECTION / CORBIS

Mit seiner Band Weather Report eroberte er das Rockpublikum, sein Stück „Birdland“ wurde ein Welterfolg. In den letzten Jahren tourte der Meister mit Wohnsitz in Los Angeles und Wien mit dem Zawinul Syndicate – mit Musikern, die seine Söhne oder Enkel hätten sein können. Joe Zawinul starb am 11. September in Wien an Krebs.

gestorben

scheinlich keine Blondinen gemeint, sondern Menschen, die etwas im Hirn haben. Und davon gibt es in Deutschland auch viele.“ Auf das Gelächter des Auditoriums reagierte sie wiederum mit dem Hinweis, den Zusammenhang zwischen hellen Köpfen und Blondinen soeben erst mit der Frau des Präsidenten der Helmholtz-Gemeinschaft, Dagmar Mlynek, erörtert zu haben – einer blonden Dame.

Krenz

Toftlund, um sich vor 130 überwiegend jungen Zuhörern über Deutschland auszulassen. Der wegen Mitverantwortung für den Schießbefehl an der Mauer zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilte Kommunist jammerte, er fühle sich heute wie ein Exilant in der eigenen Heimat: „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal einen Teil meines Lebens in einem anderen Land als der DDR

MELANIE FREY / FEDEPHOTO

Egon Krenz, 70, letzter Staatsratsvorsitzender der DDR, versucht das ramponierte Image seines ehemaligen Arbeiter-undBauern-Staates im Ausland aufzupolieren. Auf Einladung einer dänischen Volkshochschule reiste er kürzlich ins jütländische

BERLINER VERLAG

Personalien

Christine Lagarde, 51, seit Juni französische Finanzministerin, hat zum wiederholten Mal über die Arbeitsmoral ihrer Landsleute öffentlich gelästert. Nichtstun sei das „Mantra“ am Arbeitsplatz, amüsierte sich Lagarde, die in New York die renommierte Anwaltskanzlei Baker & McKenzie geleitet hatte; Frankreichs Arbeitnehmer zeigten mehr Interesse, „über ihren Urlaub und ihre langen Wochenenden zu quatschen“. Die einstige französische Vizemeisterin im Synchronschwimmen, die sich mit Yoga fit hält, will mit dem nationalen Schlendrian aufräumen. „Frankreich ist das Land des Denkens. Nun aber genug gedacht. Jetzt krempeln wir die Ärmel hoch!“, plädierte die Ministerin bereits im Parlament. Doch die Juristin, die ihre eleganten Kostüme gern mit einem Schal unterstreicht, stößt mit ihrer direkten Art an Grenzen in der französischen Politik. Als sie jetzt gar das Tabuwort „Sparplan“ im Zusammenhang mit dem in Frankreich ausufernden Beamtentum ins Spiel brachte, wurde sie barsch zurechtgewiesen. „Wie konnte ihr nur so ein Anfängerfehler passieren?“, schimpfte Präsident Nicolas Sarkozy über die Quereinsteigerin. Politik sei ein Metier, das man offensichtlich nicht in der Anwaltsschule lerne. Angela Merkel, 53, christdemokratische Kanzlerin mit überragenden Popularitätswerten, hat sich beim Scherzen über Blondinen verheddert. Als sie am vergangenen Mittwoch bei der Helmholtz-Gemeinschaft in Berlin zum Thema „Helle Köpfe für die Forschung“ referierte, eröffnete sie ihren Vortrag mit der launigen Bemerkung: „Mit dem Motto ‚Helle Köpfe‘ haben Sie wahr224

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Lagarde

Clooney (mit Filmpartnerin Catherine Zeta-Jones, 2003)

George Clooney, 46, Hollywood-Star, hält den Rummel um seine Person für nichts weiter als „Kino“, das „beherrschbar“ sei. Er könne nicht eine Sekunde lang das ertragen, was Promi-Kollege Brad Pitt neben Angelina Jolie durchmache, sagte der Schauspieler, der Anfang des Monats in Bonfleur in der Normandie den französischen Orden der Künste und der Literatur verliehen bekam. Eine Reise mit dem Paar sei für ihn „regelrecht ein Alptraum“ gewesen. Er selbst wisse genau, was die Leute von ihm wollten, versuche, es zu erfüllen und den Glamour ansonsten nicht ernst zu nehmen. Mit zwölf Jahren habe er schließlich auch mal einem Schauspieler, nämlich dem damaligen TV-Star Raymond Burr, hinterhergeschrien, als der in seiner Heimatstadt auf Dreh war. Wenn heute Menschen bei seinem Anblick kreischten und er Kommentare überhöre wie „Guck mal, der ist ja viel kleiner, als ich dachte“, dann erinnere er sich stets an sich als Kind, so der Frauenschwarm mit dem sonoren Bass. Vielleicht, sinnierte Clooney, der sich sowohl für Darfur-Flüchtlinge einsetzt, als auch die Präsidentschaftskandidatur des Demokraten Barack Obama unterstützt, solle er mal eine Celebrity-Schule aufmachen – um Kollegen den angemessenen Umgang mit dem Berühmtsein beizubringen. d e r

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Mariscal, Maskottchen „Cobi“

Javier Mariscal, 57, international erfolgreicher spanischer Designer und berühmter Maskottchen-Erfinder – „Cobi“ für die Olympischen Spiele 1992, „Twipsy“ für die Expo 2000 in Hannover – managt mit zwei von seinen elf Geschwistern sein Atelier in Barcelona zu beneidenswerten Arbeitsbedingungen. Keiner der 30 Mitarbeiter muss feste Uhrzeiten einhalten, zwei Monate Urlaub im Jahr sind willkommen, und wer immer Nachwuchs bekommt – egal ob Frau oder Mann –, darf gleich neun Monate zu Hause bleiben. Es ist normal, dass in dem lichten Großraumbüro Menschen mitten am Tag auf den Sofas Siesta halten, dass sie im Hofgarten Gemüse züchten oder Gelage veranstalten. Das Arbeitsmotto sei „trial and error“, sagt Mariscal, „denn die beste Art, um voranzukommen, ist es, Fehler zu machen“. Im Übrigen zeitige seine lockere Art der Personalführung überraschenden Erfolg: „Alle arbeiten mehr Stunden, als sie eigentlich müssten.“ Michel David-Weill, 74, französischer Banker, Kunstmäzen und Multimillionär, enthüllt in seinen Memoiren „L’esprit en fête“ („Der Geist feiert“) die Rezeptur seines Optimistengemüts. So habe er morgens nie den Aufzug zum Büro benutzt, verrät der Vater von vier erwachsenen Töchtern, bevor er nicht zuvor wenigstens eine ent-

Elena Shaftan, 36, Londoner Fondsmanagerin, fand sich als neue „City Superwoman“ wieder – als großformatige, kolorierte Heldin im „Sunday Telegraph“, die sich wie die Comic-Version einer der Heldinnen aus „Drei Engel für Charlie“ ausnimmt. Die Osteuropäerin – geboren im lettischen Riga, aufgewachsen in Sibirien, ausgebildet zur Elektroingenieurin – verdankt diese Ehre der Leistung, den Wert des von ihr vor fünf Jahren aufgelegten Fonds „Jupiter Emerging European Opportunities“ um 394 Prozent gesteigert zu haben. Der Fonds ist vorwiegend mit osteuropäischen Aktien bestückt, darunter Anteile von Gasprom, der russischen Sberbank und des Ölmultis Lukoil. Shaftan gilt damit als die derzeit bestagierende Anlegerin in der britischen Hauptstadt. Vermutlich hat die tüchtige Spekulantin, die vor zwei Jahren noch aus ihrem zweimonatigen SchwangerschaftsKurzurlaub heraus die Fäden im Hintergrund zog, auch die schönsten roten Haare aller Londoner Geldexperten.

MICHAEL HANSCHKE / DPA

zückende Frau gesehen habe. „Ein hübsches Knie, eine schöne Schulter genügten schon“, so der rüstige Senior der Bank Lazard. Niemals habe er die Stifterin seiner heimlichen Freude angesprochen, dafür sei er „zu schüchtern“. Auch habe er sich stets bemüht, seiner Frau Hélène „kein ganz schlechter Ehemann zu sein“ – bei dem Versuch habe er in den 51 gemeinsamen Jahren immer wieder völlig neue Seiten an seiner Frau entdeckt. „Um eine Ehe zu halten, muss man die Unabhängigkeit des anderen wahren“, rät der Umtriebige, der jeden Tag eine Ausstellung besucht oder in einem schöngeistigen Buch liest. Innere Freiheit, so der gereifte Millionär, erlange man nicht durch Geld, sondern durch Ehrlichkeit, Frohsinn und den „Geschmack fürs Glück“. „Vor allem muss man es versuchen, oder?“

Schneiderhan, Merkel

Wolfgang Schneiderhan, 61, Bundeswehr-Generalinspekteur und als solcher höchster militärischer Berater von Angela Merkel, 53, Bundeskanzlerin und im Verteidigungsfall Oberbefehlshaberin der Streitkräfte, ist durch seine Dienstherrin zu einem neuen Titel gekommen. In einer Rede beim Jahresempfang des Wehrbeauftragten des Bundestags Reinhold Robbe, 52, sprach Merkel Schneiderhan als „Generalbundesinspekteur“ an. Öffentlich korrigierte die Kanzlerin ihren Fauxpas nicht. Aber sie entschuldigte sich nach der Ansprache bei Schneiderhan für den Versprecher, dessen Ursache offenbar darin lag, dass auch Generalbundesanwältin Monika Harms, 60, im Blickfeld der Rednerin stand. In Gesprächen mit den wehrkundigen Partygästen – Politikern, Soldaten, Geistlichen, Beamten – musste der oberste Soldat die Verballhornung seiner Amtsbezeichnung danach allerdings gleich dutzendfach über sich ergehen lassen. Der auch von der Kanzlerin wegen seines Hangs zu feiner Selbstironie geschätzte Schwabe trug’s mit Humor: „Das Bonbon klebt jetzt halt.“

THE SUNDAY TELEGRAPH, 9. SEPTEMBER 2007

EFE/PICTURE-ALLIANCE/DPA (L.); CARLOS MONTENEGRO/COVER/LAIF (R.)

zubringen müsste.“ Die Wiedervereinigung sei gescheitert, mehr als die Hälfte der ostdeutschen Bevölkerung sei der Überzeugung, dass sich die Verhältnisse seit 1990 für sie verschlechtert hätten. Er, Egon Krenz, sei nun quasi als Anwalt seiner Landsleute unterwegs, um die Wahrheit über Deutschland zu verbreiten. Die DDR, enthüllte der ehemalige SED-Bonze den Dänen, sei noch längst nicht tot: „Man sagt, eine Leiche könne nicht ihren eigenen Obduktionsbericht anfechten, aber solange ich es noch kann, werde ich berichten, wie ich die Entwicklung sehe.“ Den Vorwurf, er sei ein sturer, unbelehrbarer Mensch, konterte Krenz: „Lieber ein Betonkopf als ein Weichei.“

Shaftan, -Karikatur als „Superwoman“ (Ausriss aus dem „Sunday Telegraph“) d e r

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Hohlspiegel

Rückspiegel

Zitate Aus der „Siegener Zeitung“ Aus der „Süddeutschen Zeitung“ über den Schriftsteller Lloyd Jones: „Geboren wurde er vor rund vier Jahrzehnten in der neuseeländischen Kleinstadt Lower Hutt, die er in einem seiner Bücher ‚die Stadt der bescheidenen Errungenschaften‘ nennt. Heute ist er 52 Jahre alt, sitzt in der Sonne Berlins und ist sicher, dass die Rolle des Fullback den Grundstein für seine Weltsicht als Schriftsteller legte.“

Aus den „Dürener Nachrichten“ Aus der „Westfalenpost“: „Über die Hälfte der Kaufkraft Deutschlands liegt in den Händen der Menschen im besten Alter, ein deutlicher Anreiz für die Wirtschaft umzudenken. Im Märkischen Kreis ist die Entwicklung besonders stark: Bis 2025 wird allein mit einer Verdopplung der Zahl der Hochbegabten gerechnet.“

Aus dem „Eppinger Stadtanzeiger“

Die „Frankfurter Allgemeine“ zum ARD-Zweiteiler „Die RAF“ von SPIEGEL-TV („Die Nacht von Stammheim“, SPIEGEL 37/2007): Es gibt Dokumentationen, die sind spannender als ein Krimi, und in diesem Fall handelt es sich um eine solche. Was der SPIEGEL-Chefredakteur Stefan Aust und sein Co-Autor Helmar Büchel für ihren Zweiteiler „Die RAF“ recherchiert haben, macht nicht nur den „Deutschen Herbst“ wieder lebendig. Ihr Film zeigt auch nicht nur, warum die Bundesrepublik im Jahr 1977 ihre härteste innenpolitische Prüfung zu bestehen hatte. Er deutet vielmehr aus, warum dieses Kapitel der Nachkriegsgeschichte nur scheinbar abgeschlossen ist – wichtige Fragen sind bis heute nicht beantwortet, vor allem nicht jene, wer konkret für welche Morde und Anschläge der RAF verantwortlich ist. Dazu geben Aust und Büchel mehr als interessante Hinweise, vor allem darauf, wer den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer ermordet hat. Die „Frankfurter Rundschau“ über die im Sauerland vereitelten Islamisten-Anschläge („Operation Alberich“, SPIEGEL 37/2007): Nach Recherchen des SPIEGEL, der über hervorragende Beziehungen zu Ermittlern und Ministeriellen verfügt ..., sitzen die Hintermänner der vereitelten Anschläge in Pakistan. Ein wichtiger Anhaltspunkt dafür ist ein Telefonat von Ende August, in dem ein Unbekannter von Nordpakistan aus die Attentäter zur Eile anhält. Laut den Recherchen setzte er der Terrorzelle um Fritz G. eine Frist bis 15. September, um die Anschläge in Deutschland zu verüben. Die „Zeit“ über die Updike-Biografie des SPIEGEL-Redakteurs Volker Hage („John Updike. Eine Biographie“, Rowohlt-Verlag 2007):

Aus der „Sächsischen Zeitung“ Aus der „Lingener Tagespost“: „Auch im aktuellen Fall führt eine Spur in die deutsch-bayerische Grenzregion.“

Aus der „Neuen Westfälischen“ 226

Als der Kritiker Volker Hage einmal in die USA flog, um ein Interview mit John Updike zu führen, saß dieser zufällig in derselben Maschine und reichte dem eine Reihe vor ihm sitzenden Hage, der naturgemäß ein Buch von Updike las, einen Zettel mit den Worten: „Ich wollte Sie wissen lassen, dass ich mit dem Gegenstand ihrer Lektüre herzlich einverstanden bin.“ Hages angenehme Biografie dieses bedeutenden Autors ist vor allem eine Werkbetrachtung, sie konzentriert sich auf die 20 Romane, wirft aber auch einen Blick auf die Gedichte und einige der 200 Erzählungen. Ein fleißiger Dichter, dieser Updike, ein Kritiker von Rang außerdem. d e r

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