Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.

November 17, 2016 | Author: Elly Auttenberg | Category: N/A
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1 Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. Raitelsbergstraße 49 * Stuttgart Telefon (0711) * Telefax (0711...

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Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. Raitelsbergstraße 49 * 70188 Stuttgart Telefon (0711) 16 65 90 * Telefax (0711) 2 86 44 13 E-mail: [email protected] * www.deutscheausrussland.de

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews (Februar 2003 bis Dezember 2009)

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Inhalt 2003

2005

So werden aus Opfern Täter gemacht! Sind Aussiedler eine Belastung 46 oder ein Gewinn für Deutschland? (Februar 2003) 6 (Januar 2005) Ohne erfolgreiche Integration Das Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen (Februar 2003) 9 gibt es keinen sozialverträglichen Zuzug! (Januar 2005) 47 Presseerklärung der Landsmannschaft zum Zuwanderungsgesetz (Februar 2003) 10 Welche Änderungen bringt das Zuwanderungsgesetz? Um jeden Einzelnen trauern wir (Januar 2005) 48 Rede zur Gedenkfeier der Landsmannschaft (August 2003) 11 Über den Meinungsverschiedenheiten nicht die Gemeinsamkeiten vergessen! Ausreisestopp durch Grundgesetzänderung!? (Februar 2005) 50 (September 2003) 13 Den kriminellen Aussiedler gibt es nicht! Sprachanforderungen (März 2005) 52 für Spätaussiedler neu geregelt? (Oktober 2003) 14 Stellungnahme Aussiedlerpolitik zwischen Ukasen und Gesetzen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Oktober 2003) 15 zu der allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VwV) des Bundesministeriums des Innern Bundesdelegiertenversammlung der Landsmannschaft (November 2003 18 gem. § 104 BVFG i.d.F. von Art. 6 Nr. 7 Zuwanderungsgesetz (April 2005) 55 Über den Unterschieden Was ist das Kulturgut der Russlanddeutschen? nicht die Gemeinsamkeiten vergessen! 59 (November 2003) 21 (April 2005) Aussiedlerfeindlichkeit darf niemals 2004 politisch korrekt werden! (Mai 2005) 61 “Miteinander, nicht gegeneinander!” “Die Integration der Spätaussiedler ist insgesamt Perspektiven landsmannschaftlicher Arbeit als erfolgreich zu betrachten.” (Mai 2005) 63 (Januar 2004) 24 “Ihre kulturelle Vielfalt und ihr starker Jeder ist zur Mitarbeit eingeladen Familiensinn haben mich beeindruckt.” (Februar 2004) 27 (August 2005) 65 Wir müssen uns gegen Vorurteile wehren! Rede zur Gedenkfeier der Landsmannschaft (März 2004) 30 der Deutschen aus Russland anlässlich des Jahrestages der Vertreibung Die Landsmannschaft 68 der Deutschen aus Russland e.V. ... (April 2004) 34 der Russlanddeutschen (August 2005) Landsmannschaft und djo Presseerklärung schließen Kooperationsabkommen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (September 2005 70 zu ihrem 28. Bundestreffen (Juni 2004) 35 Keine Härten beim Nachzug Zuwanderungsgesetz: der Kernfamilie von Spätaussiedlern! Ohne die Landsmannschaft wäre es (Oktober 2005 71 noch viel schlimmer gekommen! (August 2004) 37 Fragen des Zuwanderungsgesetzes Geschichte und Gegenwart der Landsmannschaft (November 2005) 73 (August 2004) 39 Vor 50 Jahren: Aufhebung der Sonderkommandantur (Dezember 2005) 76 Negative Berichterstattung über Deutsche aus Russland - wie lange noch? (September 2004) 43 Sozialpolitik im Zeichen Hilfswerk der gestiegener Schwierigkeiten Russlandeutschen gegründet (Dezember 2004) 45 (Dezember 2005) 77 2

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews 2006 2005: Spätaussiedlerzuzug weiter rückläufig (Januar 2006) Erstaunliches, Skandalöses... (April 2006) Wir sind Deutsche aus Russland! Der Kampf der Landsmannschaft gegen das Zuwanderungsgesetz geht weiter (April 2006) Beirat für Spätaussiedlerfragen konstituiert (April 2006)

Bundesdelegiertenversammlung 2006 Bericht des Bundesvorsitzenden und Vorsitzenden des Öffentlichkeitsausschusses, 78 Adolf Fetsch (Oktober 2006) 111 80 Bundesdelegiertenversammlung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (November 2006) 121 81

2007

Nur gemeinsam sind wir stark! (Mai 2006)

29. Bundestreffen der Deutschen aus Russland 82 eine Gelegenheit, die wir nutzen sollten! 122 83 (Februar 2007)

Unterstützung für die Arbeit der Landsmannschaft (Mai 2006)

“Chancen schaffen - Chancen nutzen!” 84 (Februar 2007)

Statistiken belegen keine höhere Kriminalität (Mai 2006)

Stellungnahme der Landsmannschaft zum 84 drastischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen (Februar 2007) 125

Die Zukunft der Landsmannschaft liegt in unserer Hand! (Mai 2006) Gegenwärtige Aufgaben und Ziele der Landsmannschaft (Mai 2006) „Arbeit der Landsmannschaft – Geleistetes, Geplantes, Problematisches“ (Mai 2006)

85 Die aktuelle Situation der Fremdrenten (Februar 2007)

123

126

Gesprächsthemenvorschläge zur Tagung 87 des Arbeitskreises „Integration der Aussiedler“ (Februar 2007) 127

91 Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Vorschläge der Landsmannschaft zur Änderung des Art. 16 im Entwurf der Deutschen aus Russland eines Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente zum Integrationsgipfel der Bundesregierung (Juli 2006) 95 an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen der gesetzlichen Rentenversicherung aus Russland zum Entwurf eines Siebten Gesetzes (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes (April 2007) 131 (Juli 2006) 98 Die Landsmannschaft Integrationsgipfel der Deutschen aus Russland e.V. fordert für die der Bundesregierung (Juli 2006) 101 Volksgruppe Gleichbehandlung und Gerechtigkeit (April 2007) 134 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zur Rentenfrage (Juli 2006) 103 Eine mehr als ärgerliche Studie! 135 Presseerklärung der Landsmannschaft der Deutschen (Mai 2007) aus Russland zum 8. Landestreffen Herzlich willkommen zum Bundestreffen der Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft! (Mai 2007) 136 (August 2006) 104 “Brückenpfeiler” – I. Internationale 8. Landestreffen der Landesgruppe Niedersachsen Partnerschaftskonferenz der russlanddeutschen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Dachverbände (Mai 2007) 136 Rede des Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch Hilfe für Unternehmer, (August 2006) 105 Selbständige und Freiberufler (Mai 2007) 137 Presseerklärung zur Gedenkfeier Voll daneben! (Mai 2007) 138 anlässlich des 65. Jahrestages der Vertreibung der Russlanddeutschen (August 2006) 108 „Chancen schaffen – Chancen nutzen“ 29. Bundestreffen Die Toten und Gequälten lasten schwer der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland auf den Seelen der Deutschen aus Russland! am 26. Mai 2007 in Wiesbaden – Presseerklärung (August 2006) 109 (Mai 2007) 139 3

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews “Sie sind Deutsche!” 6.000 Besucher beim 29. Bundestreffen in Wiesbaden Politiker bekennen sich zu den Deutschen aus Russland (Mai 2007)

Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland attraktiver - effizienter – transparenter (September 2007) 165

29. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Begrüßungsrede (Auszüge) Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender (Mai 2007)

140 Workshop der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 22./23. September 2007 in Würzburg Begrüßung Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender 142 (September 2007) 167

“Brückenpfeiler” – I. Internationale Partnerschaftskonferenz der russlanddeutschen Dachverbände (Mai 2007)

Workshop der Landsmannschaft Stichworte des einleitenden Vortrages 144 (September 2007)

Kritischer Dialog in sachlicher Atmosphäre Bundesvorstand der Landsmannschaft trifft sich mit Verfassern der IAB-Studie zur Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern (Juni 2007) 145 Kein Einsatz von russischen Polizisten gegen Spätaussiedler! (Juni 2007)

146

Verkaufen Sie Ihre Identität nicht unter Wert! Rede des Aussiedlerbeauftragten Dr. Christoph Bergner beim 29. Bundestreffen der Landsmannschaft (Juni 2007)

147

Ein skandalöser Vorgang! (Juli 2007) Gemeinsame Strategie in Rentenfragen (Juli 2007) Weiteres Vorgehen beim Fremdrentenrecht (Juli 2007) Bemühung um Klarheit Interview mit den Verfassern der IAB-Studie zur Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern (Juli 2007) Intensivierung der landsmannschaftlichen Kulturarbeit (Juli 2007)

Workshop der Landsmannschaft -Ergebnisse der Arbeitsgruppen (September 2007)

172

Aufruf zur Mitarbeit im Arbeitskreis für politische Integration der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. (Oktober 2007)

173

Zweimal zwei Tage konzentrierter Arbeit Ehrenamtliche Mitarbeiter der Landsmannschaft trafen sich in Nienburg und Würzburg (Oktober 2007) 174 Multiplikatorenschulung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Referat Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender (September 2007)

Ergebnisprotokoll - Gespräch von Vertretern der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland mit den Verfassern der IAB-Studie zur Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern (Juni 2007 150 Integration der Deutschen aus Russland eine Erfolgsgeschichte (Juli 2007)

169

Tagung in Würzburg DJR / Kulturrat der Deutschen aus Russland Rede: Adolf Fetsch (Oktober 2007) 153 Landsmannschaft unterzeichnete 154 Kooperationsabkommen mit regionalen Organisationen des IVDK (November 2007) 155 Eine Reise in das Wolgagebiet (November 2007) 156 Forum des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur (IVDK) in Moskau Rede Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender (November 2007) 157 Baden-Württemberg: Jugendverband gegründet (Dezember 2007)

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179

183 187

188 191

158

2008 Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Fehlentwicklungen in der Aussiedlerpolitik zum Integrationsgipfel der Bundesregierung am 12. Juli 2007 (Juli 2007) 160 der tragische Fall der Familie Genzel (Januar 2008) Bericht des Öffentlichkeitsausschusses der Landsmannschaft (August 2007) 162 Familie Genzel wieder vereint! (Februar 2008) Spätaussiedler besser in Arbeitsmarkt “Es ist nötig, daran zu erinnern, integriert als andere Zuwanderer wie tief das Leid war!” (September 2007) 164 (Januar 2008) 4

192 193 194

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Für eine gerechtere Fremdrentenregelung – eine Initiative der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (März 2009)

Beirat für Spätaussiedlerfragen stellt fest: Kriminalitätsauffälligkeit bei Aussiedlern nicht höher als bei einheimischen Deutschen (Februar 2008)

217 194 Allah Mikhel darf bleiben! Erfolgreiche Bemühungen der Landsmannschaft (April 2009) 219 Arbeitsschwerpunkte und Positionen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Vom schwierigen Weg in die Politik (April 2009) 221 (Februar 2008) 196 Rechtsaußen? Nein danke! Stellungnahme Landsmannschaft erster Ansprechpartner des Bundesvorstandes der Landsmannschaft (März 2008) 198 (April 2009) 224 Aufruf zur Bündelung der Kräfte (März 2008) 199 „Hilfe holen, bevor das Kind in den Brunnen Bundesvorstand beschließt gemeinsame Gedenkfeier in Berlin (März 2008 Bundesverband “Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russland” gegründet (März 2008)

gefallen ist“ Landesgruppe Niedersachsen 199 setzt sich erfolgreich für Spätaussiedlerfamilien ein (Mai 2009) 225 Presseerklärung zum 30. Bundestreffen 200 in Rheinberg (Auszüge) (Mai 2009)

227

„Die Deutschen aus Russland haben sich um unser 201 Land verdient gemacht.“ - Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble beim 30. Bundestreffen Erklärung der Landsmannschaft zu aktuellen der Landsmannschaft (Juni 2009) 228 Missständen bei der Aufnahme und Eingliederung von Deutschen aus Russland (Juni 2008) 202 30. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland - Begrüßungsrede Erfolg in Rentensachen: Sozialgerichte verbieten 230 Rentenbehörden Fiktivabzug (Juni 2008) 205 Adolf Fetsch (Auszüge) (Juni 2009) BdV-Bundesversammlung übernimmt Positionen der Landsmannschaft (April 2008)

Sie sind nicht vergessen! Gedenkfeiern der Deutschen aus Russland für die Opfer der Verfolgung und Vertreibung in der ehemaligen Sowjetunion (Juli 2008) Ein weiterer Erfolg in Sachen Rente: Landessozialgericht bestätigt Verbandsposition um rechtswidrigen Fiktivabzug (Juli 2008) Wir brauchen keine Geschichtsfälscher! Fehlerhafte Darstellung der Geschichte der Volksgruppe in nordrhein-westfälischem Schulbuch (September 2008)

Bundeskanzlerin Merkel: Historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Aussiedlern, Spätaussiedlern und deutschen Minderheiten 233 206 (August 2009) Respekt vor der Kultur des Anderen! (August 2009) 234 207 Prüfsteine der Landsmannschaft zur Bundestagswahl am 27. September 2009 (August 2009) 235 Bundestagswahl 2009 Höchste Zeit für eine echte Chance auf parlamentarische 208 Mitbestimmung (Oktober 2009)

238

Warum unsere Landsleute Deutsche aus Russland von Altersarmut bedroht so sensibel reagieren (Oktober 2009) 240 Stellungnahme der Landsmannschaft zur Fremdrentengesetzgebung (Oktober 2008) 211 Bundesdelegiertenversammlung: Kontinuität und Wechsel 14. Sitzung der Deutsch-Russischen Regierungskommission (November 2008) 212 Adolf Fetsch als Bundesvorsitzender wieder gewählt Vier neue Mitglieder im Bundesvorstand Ausbaufähige Beziehungen (November 2009) 241 Gesprächsrunde in der Botschaft der Republik Kasachstan in Berlin (Dezember 2008) Gemeinsam in ein erfolgreiches neues Jahr! (Dezember 2008)

214 Bundesdelegiertenversammlung am 14. und 15. November 2009 215 Bericht des Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch (gekürzt) (November 2009)

2009 Deutsche aus Russland hervorragend integriert Ergebnisse einer Studie des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung bestätigen Einschätzungen der Landsmannschaft (Jan. 2009) 216 5

243

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Sind Aussiedler eine Belastung oder ein Gewinn für Deutschland? iese Frage, die uns nicht selten vor den verschiedensten Auditorien gestellt wird, will ich aufgeschlüsselt nach den drei wichtigsten Faktoren beantworten. Es sind dies: 1. die Beschäftigungssituation der Aussiedler; 2. die Auswirkung der Aussiedlerzuwanderung auf die finanzielle Situation der Sozialversicherungen und der Haushalte in der Bundesrepublik; 3. die Altersstruktur der Aussiedler. Bevor wir jedoch zur 1. Frage kommen, möchte ich Ihnen kurz meine Untersuchungsmethode vorstellen. Um die unterschiedlichen Eingliederungsprobleme und Schwierigkeiten in verschiedenen sozialdemographischen Gruppen der Deutschen aus Russland, besonders der jugendlichen Spätaussiedler, die zu verschiedenen Zeiten nach Deutschland ausgesiedelt sind, möglichst differenziert untersuchen zu können, wurden die befragten Aussiedler in zwei Gruppen unterteilt:

D

1. Beschäftigungssituation der Aussiedler Entsprechend den Angaben zur Arbeitslosenmeldung und den Forschungsergebnissen der Jahre 1995 bis 2001 lag die Arbeitslosigkeitsquote derjenigen Aussiedler und Spätaussiedler, die zum Stichtag zwei Jahre und länger in Deutschland gelebt hatten, zwischen 0,3 und 1,8% unter dem Bundesdurchschnitt. Verursacht wird das durch die Bereitschaft der Aussiedler, auch Arbeiten anzunehmen, die evtl. weit unter ihrer Qualifikation liegen. Fast alle Befragten begannen ihre Berufstätigkeit in Deutschland mit Tätigkeiten wie Reinigungskraft oder Hilfsarbeiter. Nach vier bis sechs Jahren hatten jedoch die meisten "Berufseinsteiger" (unter 55 Jahre) ihren richtigen Weg gefunden. Und wie man in der Tabelle 1 sieht, gibt es immer weniger arbeitslose Spätaussiedler.

1. Gruppe - sozial aktive 2. Gruppe: sozial wenig aktive

Tabelle 1 Arbeitslose Spätaussiedler

Darüber hinaus wurde jede Gruppe in zwei Schichten (Untergruppen) unterteilt: - Untergruppe "A", deren Mitglieder die deutsche Sprache ganz normal oder gut beherrschten und sich überwiegend der deutschsprachigen Massenmedien bedienten; - Untergruppe "B", deren Mitglieder die deutsche Sprache mangelhaft oder schlecht beherrschten und sich überwiegend der russischsprachigen Massenmedien bedienten. Die Analyse der Ergebnisse einer solchen Untersuchung zeigt bestimmte Unterschiede, die es in den verschiedenen sozialdemographischen Gruppen und Schichten im Laufe der Integration gibt. Die Ergebnisse der Analyse bestätigen ganz deutlich, dass die Urteilslogik vom Grad der Beherrschung der deutschen Sprache und folglich von den genutzten Medien (überwiegend deutschsprachige oder russischsprachige) abhängt. Entsprechend den Hauptzielen und Aufgaben der Forschung, wurde von mir der Versuch unternommen, sowohl die allgemeine Problemlage der Deutschen aus Russland als auch ihren gegenwärtigen sozial-moralischen und psychischen Zustand, ihre Integrationsbereitschaft und ihren Eingliederungswillen in der neuen Heimat zu untersuchen und darzustellen.

Quelle: Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg, 2003 Unter den sozial aktiven Aussiedlern und Spätaussiedlern der Untergruppe "A" ist die Arbeitslosigkeit um 2 bis 3% niedriger als bei den sozial wenig aktiven, die zur Untergruppe "B" gehören. Spätaussiedler, die ein hohes Qualifikationsniveau und moderne Berufe aufweisen, haben ein deutlich überdurchschnittliches Beschäftigungsniveau. Bei Männern liegt der Arbeitslosenanteil um durchschnittlich 3 bis 5% unter dem der Frauen. In den alten Bundesländern sind die Arbeitslosenquoten der Aussiedler und Spätaussiedler niedriger als der Durchschnitt, in den neuen Bundesländern höher. In den alten Bundesländern sind sie fast zweimal niedriger als in den neuen. Am höchsten ist die Arbeitslosigkeit bei Aussiedlern und Spätaussiedlern in folgenden Gruppen: 6

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55- bis 65-jährige; weibliche Jugendliche und junge Erwachsene; die wichtigsten Ursachen dafür sind mangelhafte Sprachkenntnisse, kleine Kinder, keine oder keine abgeschlossene moderne Berufsausbildung; Frauen allgemein. Tabelle 2 zeigt uns einerseits den Stand der Dinge, andererseits erlaubt sie uns, einige Probleme und Tendenzen der Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern besser zu verstehen.

2. Aussiedler sind keine Belastung für die Sozialversicherungen und die Haushalte in der Bundesrepublik ganz im Gegenteil! Um die Auswirkung der Aussiedlerzuwanderung auf die finanzielle Situation der Sozialversicherungen und der Haushalte in der Bundesrepublik besser zu verstehen, wollen wir uns die beiden nachstehenden Tabellen aus einem Gutachten des "Institutes der Deutschen Wirtschaft" ansehen:

Tabelle 2 Arbeitslosenquoten

Tabelle 3 Auswirkung der Aussiedlerzuwanderung auf die finanzielle Situation der Sozialversicherung in der Bundesrepublik (Angaben in Milliarden DM. Bei einer maximalen Zuwanderung von 3,5 Millionen Menschen bis zum Jahr 2002)

Quellen: Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg, 2003 und eigene Forschungsergebnisse auf der Basis von 280 bis 330 jährlich befragten Spätaussiedlern und Aussiedlern, die zwei Jahre und länger in Deutschland sind. Das Hauptproblem aller Spätaussiedler besteht darin, so schnell wie möglich einen Arbeitsplatz zu finden und sich auf die neuen Arbeitsanforderungen einzustellen. Die absolute Mehrheit der Aussiedler strebt eine Beschäftigung in ihrem alten Beruf an. Eine reale Chance dazu erhielt jedoch nicht einmal jede achte Frau und nur etwa 14% der Männer. Noch die besten Aussichten haben Bauarbeiter, Schlosser, Elektriker und im Gesundheitsdienst Tätige. Alle anderen haben praktisch kaum eine Chance auf Beschäftigung in ihrem früheren Berufsfeld. Jeder sechste neuangekommene Respondent steuerte die Selbständigkeit oder Freiberuflichkeit an. Nach zwei Jahren in Deutschland hatten jedoch nur weniger als 8% von ihnen ihr Ziel erreicht, nach ein paar weiteren Jahren waren es noch weniger. Später wächst die Zahl der Unternehmer, allerdings auf einem anderen, an die hiesigen Verhältnisse angepassten Niveau. Bei allem Positiven des Ausbildungs-, Weiterbildungs- und Umschulungssystems in der Bundesrepublik Deutschland fehlen Mechanismen für einen gleitenden Übergang der Spätaussiedler in das Berufsleben unter Berücksichtigung ihrer Berufserfahrung.

Quelle: "Institut der Deutschen Wirtschaft", 1997 (siehe VadW, 11/97, S. 16.) Wie Tabelle 3 beweist, hat die Aussiedlerzuwanderung nur in den Jahren 1989-1990 die finanzielle Situation der Sozialversicherungen in der Bundesrepublik belastet. Dafür haben die Aussiedler in den Jahren 1991-1995 bereits 8,1 Milliarden DM und in den Jahren 1996-2000 sogar 49,6 Milliarden DM mehr in die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung einbezahlt, als sie in Anspruch nahmen. Allein an die Rentenversicherungen haben die Aussiedler von 1989-2000 einen Überschuss von 37,8 Milliarden DM abgeführt.

Tabelle 4 Finanzielle Auswirkung der Ausiedlerzuwanderung auf die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden (Angaben in Milliarden DM) Quelle: "Institut der Deutschen Wirtschaft", 1997 (siehe VadW, 11/97, S. 16.) 7

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews für die deutsche Wirtschaft, sondern langfristig gesehen ein Gewinn in jeder Hinsicht. Natürlich gibt es Probleme bei der Integration von Spätaussiedlern. Wenn man jedoch diese Probleme mit dem Nutzen vergleicht, den diese Menschen Deutschland bringen, dann ergibt sich ein deutlich positives Saldo - und das nicht nur in sozial-ökonomischer Hinsicht. Im Einzelnen werde ich mich in meinen nächsten Beiträgen damit befassen. Dr. Daniel Dorsch, Februar 2003

Tabelle 4 zeigt, dass auch die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden nur in den Jahren 19891992 durch die Aussiedlerzuwanderung belastet wurden. In den Jahren 1993-1996 kamen durch die Aussiedler 37,8 Milliarden DM mehr in die Kassen, und von 1997-2000 waren es sage und schreibe 104,3 Milliarden DM. Die statistischen Zahlen der Tabellen 3 und 4 des "Instituts der Deutschen Wirtschaft" beweisen, dass die Aussiedler in nicht unerheblichem Maße dazu beitragen, die angeschlagenen gesetzlichen Sozialversicherungen und die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden zu sanieren.

3. Altersstruktur der Aussiedler Tabelle 5 zeigt ganz deutlich, dass die Familien der Aussiedler und Spätaussiedler aufgrund ihrer demographischen Zusammensetzung von großem Vorteil für die soziale Absicherung Deutschlands sind. Eine deutliche Sprache spricht die nachstehende offizielle Statistik des Bundesverwaltungsamtes zur Altersstruktur der Aussiedler, die den Satz belegt: "Aussiedler sind im Schnitt doppelt so jung und halb so alt wie Einheimische."

Tabelle 5 Altersstruktur der Aussiedler (in Prozent)

Quelle: Bundesverwaltungsamt Köln, 2002 (siehe auch "Zwischen den Kulturen", 2002, S. 34). Die Aussiedler und Spätaussiedler, besser gesagt die Deutschen aus Russland sind also keine Belastung 8

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Das Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen hatten die Russlanddeutschen nicht mehr die Möglichkeit, Deutsch im Kindergarten oder in der Schule zu lernen und zu pflegen. Der Rückgang in der Beherrschung der deutschen Muttersprache ist durch die Volkszählungen in der UdSSR belegt. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland konnten sich bis Mitte der 1980er Jahre lediglich in Einzelfällen für die Zusammenführung von Familien einsetzen, die durch den Zweiten Weltkrieg getrennt worden waren. Die Regierung der DDR beschränkte sich auf die Lieferung von Literatur im Rahmen der Zusammenarbeit der sozialistischen "Bruderländer". Erst im letzten Jahrzehnt konnte die Bundesrepublik Deutschunterricht für die Russlanddeutschen in ihren Siedlungsgebieten in der GUS anbieten. Die Einbeziehung der Russlanddeutschen in das Zuwanderungsgesetz widerspricht dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Opfer des Zweiten Weltkrieges. Während die Bundesrepublik Deutschland Polen, Juden, Ostarbeitern und anderen Opfern der Politik des Dritten Reiches außer moralischer auch materielle Unterstützung geleistet hat, lehnt sie diese Verantwortung den Russlanddeutschen gegenüber ab. Sie werden als einzige Gruppe von der Wiedergutmachung ausgeschlossen.

as Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen steht außer Zweifel: Sie haben in Folge des deutsch-sowjetischen Krieges ihr gesamtes privates und kollektives Eigentum an Grund und Boden und Produktionsanlagen (Kolchosen und Sowchosen) sowie Bildungs- und Kultureinrichtungen (Schulen, Fachhochschulen und Hochschulen, Theater, Bibliotheken usw.) verloren und wurden aus ihren Siedlungsgebieten im europäischen Teil der Sowjetunion und in Transkaukasien nach Sibirien, Kasachstan und in die Republiken Mittelasiens deportiert. Die Rückgabe des privaten Eigentums wurde durch das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 Ziff. 2 ausgeschlossen. Auch nach der Aufhebung dieser Bestimmung durch den Beschluss des Obersten Sowjets der UdSSR vom 7. März 1991 wurde die Rückgabe des vom Staat 1941 konfiszierten Eigentums nicht geregelt. Das durch das Dekret vom 13. Dezember 1955 verhängte Verbot, in die Wohnorte der Vorkriegszeit zurückzukehren, wurde erst durch den Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR vom 9. Januar 1974 außer Kraft gesetzt, wobei Rückkehrwillige vielerorts daran weiterhin gehindert wurden. Nach der Auflösung der deutschen Landkreise in der Ukraine und der Deportation der Wolgadeutschen

D

Dr. Alfred Eisfeld, Februar 2003

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Presseerklärung der Landsmannschaft zum Zuwanderungsgesetz die Hürden für ihre Ausreise höher baut, ist unverantwortlich.

1. Das Zuwanderungsgesetz bezieht sich ausdrücklich auf die "Integration von Unionsbürgern und Ausländern". Russlanddeutsche gehören jedoch zu keiner dieser beiden Gruppen. Laut Grundgesetz (Art. 116) handelt es sich bei ihnen vielmehr um Deutsche. Diese Auffassung wird von allen Parteien des Deutschen Bundestages getragen, und es gibt keinen Grund, an dieser Auffassung zu rütteln. Daraus ergibt sich aber auch, dass es von Anfang an ein Fehler war, russlanddeutsche Spätaussiedler in das Zuwanderungsgesetz mit einzubeziehen. Dieser Fehler sollte nunmehr korrigiert werden. Schwierigkeiten bei der Integration der Spätaussiedler werden von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland keineswegs bestritten, sie im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes beseitigen zu wollen, ist jedoch bestimmt der falsche Weg.

3. Obwohl Sprachwissenschaftler längst nachgewiesen haben, dass die Behauptung "Deutscher ist nur, wer die deutsche Sprache beherrscht" unzutreffend ist, weist das Zuwanderungsgesetz deutschen Sprachkenntnissen erneut eine überragende Bedeutung im Anerkennungsverfahren zu. Wir haben es immer wieder betont und betonen es an dieser Stelle erneut: Nach dem II. Weltkrieg war es für Russlanddeutsche mit gravierenden Nachteilen verbunden, in der Sowjetunion öffentlich deutsch zu sprechen. Diesen Menschen jetzt vorzuwerfen, sie würden ihre Muttersprache nur ungenügend beherrschen, bestraft sie als Opfer ein weiteres Mal. 4. Wer die Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes durchsetzen will, nimmt Familientrennungen in Kauf oder verhindert bewusst die weitere Einreise von Russlanddeutschen. Dass Familienangehörige, die den Sprachtest nicht bestanden haben, nach dem Ausländerrecht einreisen dürfen, ist ein schwacher Trost und legt ihren Status zudem in unzulässiger Weise fest.

2. Das Zuwanderungsgesetz trägt in höchst ungenügender Weise dem besonderen Schicksal der russlanddeutschen Volksgruppe Rechnung. Dabei dürfte es dem Gesetzgeber durchaus bekannt gewesen sein, dass die Russlanddeutschen vor allem nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion jahrzehntelanger Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt waren. Es dürfte dem Gesetzgeber ebenfalls bekannt gewesen sein, dass so gut wie alle Russlanddeutschen bereits in den 50er und 60er Jahren nach Deutschland gekommen wären, wenn sie denn gedurft hätten (die minimalen Ausreisezahlen dieser Jahre belegen diese Behauptung; wenn überhaupt, war damals eine Ausreise nur im Rahmen der Familienzusammenführung möglich). Diese Menschen nach dem Verlust unzähliger Angehöriger, nach Repressionen und Unterdrückung ein weiteres Mal zu bestrafen, indem man

Fazit: Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist jederzeit bereit, mit allen, die es ernst meinen, über Schwierigkeiten bei der Integration von russlanddeutschen Spätaussiedlern zu sprechen. Sie kann es aber nicht zulassen, dass Menschen, die ein halbes Jahrhundert lang unschuldig gelitten haben, aufgrund falscher Prämissen an der Ausreise gehindert werden. Februar 2003

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Um jeden Einzelnen trauern wir Rede zur Gedenkfeier der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland anlässlich der Vertreibung der Russlanddeutschen nach dem Erlass des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 Adolf Fetsch (stellvertretender Bundesvorsitzender) Wie unsinnig und verbrecherisch die Vorwürfe in dem Erlass vom 28. August 1941 waren, beweist auch die Tatsache, dass die Sowjetunion selbst die gegen die Wolgadeutschen erhobenen Vorwürfe in einem Dekret vom 29. August 1964 für null und nichtig erklärte. Markiert der 28. August 1941 also den Beginn der schlimmsten Phase der Verfolgung der Russlanddeutschen, so darf keineswegs verschwiegen werden, dass die Leiden unserer Landsleute in der Sowjetunion bereits viel früher begonnen hatten. Erinnert sei an die schrecklichen Hungersnöte zu Beginn der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, von denen die deutschen Dörfer an der Wolga und in der Ukraine hat getroffen wurden. Kann man die erste Hungersnot als Folge von Revolution und Bürgerkrieg betrachten, so war die zweite nichts weiter als ein verheerendes Resultat der sozialistischen Zwangskollektivierung. Ebenfalls gedenken wollen wir aller Landsleute, die in den Jahren 1937 und 1938, als in der Sowjetunion die Propaganda gegen Deutschland ihren Höhepunkt erreicht hatte, zu Opfern des stalinistischen Unrechtsstaates wurden. Deutsche Männer wurden damals in noch viel größerem Umfang als Sowjetbürger anderer Nationalitäten unter fadenscheinigen Beschuldigungen verhaftet und zum größten Teil umgebracht. Ich will mich hier nicht an den Spekulationen darüber beteiligen, wie viele Russlanddeutsche damals einen viel zu frühen und grausamen Tod starben. Wir wissen, dass es mehrere hunderttausend waren. Um jeden einzelnen von ihnen trauern wir - was sollen da Zahlen! Wir wissen, dass viele Menschen angesichts der nicht enden wollenden Kriege im Irak, in Afghanistan, in Tschetschenien und an vielen anderen Schauplätzen, angesichts von Völkermord in Afrika und Asien und hungernden Kindern in der dritten Welt kaum noch aufnahmefähig sind für das Leid anderer. Sie hören weg und sie sehen weg. Viele von Ihnen, meine lieben Landsleute, konnten damals nicht weghören und nicht wegsehen, denn sie waren selber dabei und Teil der Geschichte. Vor allem für Sie, aber auch für die Jüngeren unter uns, die in glücklicheren Zeiten aufwachsen durften, wiederhole ich, was der

ir haben uns heute am Denkmal der Vertriebenen in Stuttgart-Bad Cannstatt versammelt, um unserer russlanddeutschen Landsleute zu gedenken, die im vorigen Jahrhundert den Schrecken des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion zum Opfer gefallen sind. Wie die meisten von Ihnen wissen, findet die Gedenkfeier nicht zufällig am heutigen Tag statt, markiert der 28. August doch das vermutlich tragischste Datum in der Geschichte der russlanddeutschen Volksgruppe. Am 28. August 1941 nämlich gab der Oberste Sowjet der Sowjetunion den Erlass "Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen" heraus, in dem die Wolgadeutschen ohne jeden Grund der Kollaboration mit Hitlerdeutschland bezichtigt wurden, das am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfallen hatte. Was dann geschah, haben viele von Ihnen am eigenen Leib verspürt, die anderen wissen es von Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern bzw. von landsmannschaftlichen oder anderen russlanddeutschen Publikationen: Vertreibung in die lebensfeindlichsten Gebiete im Osten und hohen Norden des sowjetischen Riesenreiches, Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen, mörderische Kälte, Hunger und Tod. Wohl waren in dem Erlass des Obersten Sowjets nur die Wolgadeutschen genannt, betroffen waren jedoch alle Russlanddeutschen, sieht man von denjenigen ab, die in dem Teil der Sowjetunion lebten, der damals von Hitlers Truppen besetzt war. Doch auch diese erlitten nach zwei Jahren relativer Ruhe das gleiche Schicksal wie ihre Landsleute. Und sie erlitten dieses Schicksal nur aus dem einen und einzigen Grund, weil sie Deutsche waren. Unabhängig davon, wo sie wohnten, an der Wolga, am Schwarzen Meer, am Dnjepr, im Kaukasus oder auf der Krim, unabhängig davon, ob sie gläubig waren oder nicht, unabhängig davon, ob sie einfache Bauern oder hoch gebildete Wissenschaftler waren, und auch unabhängig davon, was sie von den Errungenschaften des Kommunismus hielten. Es wurde nicht gefragt, was einer tatsächlich dachte oder getan hatte, dass er Deutscher war, genügte, um ihn Tod und Verderben auszusetzen.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews russlanddeutsche Schriftsteller Gottlieb Eirich im Heimatbuch 2001 der Landsmannschaft über den Tod seines Bruders in einem stalinistischen Zwangsarbeitslager geschrieben hat: "Es wurden schon keine Einzelgräber mehr ausgehoben, sondern lange Gräben, wie Schutzgräben. Sie wurden immer länger. Spät am Abend lud man die Leichen wie Baumstämme auf Schlitten und fuhr sie in ein Massengrab, jeweils bis 20 Tote. Die Leichen wurden nackt, ohne Namen, nur mit einem Brettchen mit ihrer Nummer an den Füßen wie ein verendetes Vieh eingescharrt. Die Menschen wurden zu Schatten. Auch mein Bruder Andrej. Er kam ins Lagerlazarett. Auf den Pritschen krümmten sich jämmerliche Geschöpfe. Der Hunger entzog den Menschen ihre Identität, verwandelte sie in nicht mehr unterscheidbare Skelette mit gelber Haut und nackten Schädeln. Andrej bat mich, ihn auf die andere Seite umzudrehen. Er lag auf der Pritsche, ohne Matratze, ohne Decke. Die Wattedecke, mit der er sich zudeckte, stank erbärmlich. Ich drehte seinen leichten, fast trockenen Körper um und erschrak: Durch die wund gelegenen Stellen sah ich seine weißen Knochen. Am Morgen darauf war mein Bruder Andrej tot. Für mich hatte die Welt von dieser Stunde an ein anderes Gesicht bekommen." Nicht nur für Gottlieb Eirich, sondern auch für alle seine Landsleute bekam die Welt damals in der Tat ein anderes Gesicht. Und nicht wenige, die die Gräuel dieser Jahre lebend überstanden haben, haben bis heute den Glauben an eine Gerechtigkeit auf dieser Welt verloren. Ich will den traurigen Anlass unserer heutigen Zusammenkunft nicht für politische Stellungnahmen

missbrauchen, ein Appell jedoch sei mir gestattet: Ich bitte alle in unserem Land, die politische Verantwortung tragen, nicht an der pauschalen Anerkennung des Kriegsfolgenschicksals der Russlanddeutschen zu rütteln. Ohne eigene Schuld zu Opfern der kriegerischen Auseinandersetzung zweier Terrorsysteme geworden, haben sie einen immens hohen Blutzoll bezahlt und leiden bis heute an den seelischen und körperlichen Wunden, die man ihnen und ihren Familienangehörigen im überreichen Maße zugefügt hat. Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Tod Stalins waren die Deutschen in der Sowjetunion Diskriminierungen ausgesetzt, durften nicht in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete zurück, waren in Ausbildung und Beruf benachteiligt, konnten ihre deutsche Muttersprache nur im engsten Familienkreis pflegen und mussten mit ansehen, wie ihre Kinder in der Schule angefeindet wurden. Andererseits ließ man sie aber auch nicht in das Land ihrer Vorfahren ausreisen, und wer es trotz allem wagte, einen Ausreiseantrag zu stellen, hatte über Jahrzehnte mit erheblichen Repressalien zu rechnen. Am kollektiven Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen kann es also nach wie vor nicht den geringsten Zweifel geben. Ebenso wenig daran, dass ein Deutscher, der trotz aller Benachteiligungen, die damit verbunden waren, an seiner Sprache und seinem Bekenntnis zu seiner Nationalität festgehalten hat, es mehr als verdient hat, endlich nach Deutschland kommen zu dürfen. Der Respekt vor den Opfern unserer Volksgruppe sollte jede Diskussion über die Berechtigung des Ausreiseanspruches ihrer Nachkommen verbieten! August 2003

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Ausreisestopp durch Grundgesetzänderung!? diesem Erlass wurden die Wolgadeutschen ohne jeden Grund der Kollaboration mit Deutschland bezichtigt, das am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen hatte). Die Unrechtmäßigkeit dieses Erlasses, in dessen Folge Hunderttausende von Russlanddeutschen auf grausame Weise ums Leben kamen, wurde von der Sowjetunion selbst mit einem weiteren Erlass vom 29. August 1964 zugegeben - allerdings ohne praktische Auswirkungen auf das Leben der Russlanddeutschen. Bis zum heutigen Tag ist es den Deutschen in Russland, Kasachstan und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion nur schwer möglich, gemäß ihrer nationalen Identität zu leben. Auf die Benutzung der deutschen Sprache haben sie gewiss nicht freiwillig verzichtet, bei der Vergabe von Ausbildungs- bzw. Arbeitsplätzen haben sie nach wie vor mit erheblichen Benachteiligungen zu rechnen, ihre Kinder werden auch heute noch mit beleidigenden Ausdrücken belegt usw. Wer zudem weiß, mit welchen Diskriminierungen und Schwierigkeiten der Kampf um die Ausreise nach Deutschland verbunden ist, kann die Äußerung Ihres innenpolitischen Sprechers Max Stadler, “14 Jahre nach der Grenzöffnung habe jeder genug Zeit gehabt, einen Übersiedlungsantrag zu stellen”, nur als zynisch empfinden. Wir betonen: Hätte man die Russlanddeutschen in den 50er und 60er Jahren nach Deutschland ausreisen lassen, wäre der Zuzug von Deutschen aus Russland, Kasachstan oder anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion längst abgeschlossen! Wir halten es deshalb für völlig abwegig, die Russlanddeutschen ein weiteres Mal zu bestrafen, indem man sie mit Zuzugstopp per Grundgesetzänderung bedroht, und fordern alle demokratischen Parteien auf, die pauschale Anerkennung des Kriegsfolgenschicksals der Russlanddeutschen nicht anzutasten und ihnen damit auch weiterhin die Einreise in das Land ihrer Vorfahren zu ermöglichen. Um über die in unserem Brief angesprochenen und andere Aspekte der Zuwanderung und Integration von Spätaussiedlern in einen fruchtbaren Gedankenaustausch treten zu können, wären wir Ihnen für einen Gesprächstermin sehr dankbar. September 2003

it deutlichen Worten nahm der Bundesvorstand der Landsmannschaft zu einem Vorstoß aus den Reihen der FDP Stellung, die Zuwanderung von Russlanddeutschen mittelfristig durch eine Grundgesetzänderung (!) zu beenden. Wir zitieren aus dem Brief an den Parteilvorsitzenden Dr. Guido Westerwelle: Mit Erstaunen und Bestürzung haben wir den Vorstoß Ihrer Partei zur Kenntnis genommen, den “Zuzug Deutschstämmiger aus Osteuropa” mittelfristig zu stoppen und dazu das Grundgesetz zu ändern. Auch wenn dieser Vorstoß inzwischen laut einer Presseerklärung des Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Jochen Welt (SPD), von allen übrigen Parteien zurückgewiesen wurde, halten wir es für notwendig, auf ihn einzugehen. Wir wollen uns nicht lange bei fehlerhafter Wortwahl (Spätaussiedler, die nach §4 BVFG nach Deutschland kommen, sind keine “Deutschstämmigen”, sondern Deutsche - als solche weist sie die Eintragung in ihrem russischen bzw. kasachischen Pass aus) aufhalten und werden auch nicht weiter fragen, woher Ihre Partei die Zahl von “zwei bis drei Millionen Menschen vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion”, die noch einen Anspruch auf Übersiedlung nach Deutschland haben, nimmt, legen aber großen Wert auf die Feststellung, dass die FDP mit diesem Vorstoß die Anerkennung des pauschalen Kriegsfolgenschicksals der Russlanddeutschen beseitigen möchte und zudem die Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für Deutsche in Osteuropa, die unter den Folgen des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion in besonderem Maße zu leiden hatten, aufkündigt. Wer sich mit der Geschichte der Russlanddeutschen in der Sowjetunion bzw. deren Nachfolgestaaten beschäftigt, kann keinen Zweifel daran haben, dass die Diskriminierung der dort lebenden Deutschen bis in die Gegenwart anhält. Auch 58 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges lebt kaum ein Russlanddeutscher an der Wolga, am Schwarzen Meer, am Dnjepr, auf der Krim oder im Kaukasus, in den Gebieten also, aus denen man ihn bzw. seine Vorfahren nach dem skandalösen Erlass des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 vertrieben hat (in

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Sprachanforderungen für Spätaussiedler neu geregelt? aut einer Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. September sollen die geforderten deutschen Sprachkenntnisse im Anerkennungsverfahren von Spätaussiedlern modifiziert werden. Wir zitieren: “Das Bundesverwaltungsgericht hat ... in zwei Revisionsverfahren die Anforderungen an die Beherrschung der deutschen Sprache durch Spätaussiedler als Voraussetzung für ihre Aufnahme in die Bundesrepublik Deutschland näher geklärt. Nach dem Bundesvertriebenengesetz kann ein Aufnahmebescheid nur erteilt werden, wenn der Betreffende im Zeitpunkt der Ausreise aufgrund familiärer Vermittlung der deutschen Sprache zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen kann. Inhaltlich muss der Aufnahmebewerber sich daher über einfache Lebenssachverhalte aus dem familiären Bereich (z.B. Kindheit, Schule, Sitten und Gebräuche), über alltägliche Situationen und Bedürfnisse (Wohnverhältnisse, Einkauf, Freizeit, Reisen, Wetter u.ä.) oder die Berufsausübung - ohne dass es dabei auf exakte Fachtermini ankommt - äußern können. In formeller Hinsicht ist die Fähigkeit zu einem einigermaßen flüssigen, in ganzen Sätzen erfolgenden Austausch in Rede und Gegenrede erforderlich, wobei weder bereits ein Suchen nach Worten oder stockendes Sprechen, also ein langsameres Verstehen und Reden als zwischen in Deutschland aufgewachsenen Personen, noch Fehler in Satzbau, Wortwahl und Aussprache schädlich sind, welche nach Art oder Zahl eine Verständigung nicht hindern. Nicht ausreichend sind dagegen u.a. das Aneinanderreihen einzelner Worte ohne Satzstruktur oder insgesamt nur stockende Äußerungen. Nicht erforderlich ist die vom Berufungsgericht verlangte grammatikalische Korrektheit der Äußerungen. Ebenso wenig durfte die Vorinstanz die Sprachfähigkeit deshalb verneinen, weil einige Fragen erst nach deren Wiederholung oder Umformulierung verstanden wurden. Da auch die Modalitäten der Beantragung und Erteilung eines Inlandspasses im Herkunftsland und eine auf das Verfahren bezogene Befragung durch das Gericht keinen einfachen Gesprächsinhalt darstellen, wurden die Sachen zur erneuten Prüfung des Sprachvermögens der Klägerinnen anhand des vorstehenden Maßstabs zurückverwiesen.” Da wir aus der Vergangenheit nur zu gut wissen, dass für Spätaussiedler günstige Urteile in der Praxis nicht oder kaum beachtet werden, halten

wir uns vorläufig mit einer Stellungnahme zurück, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Zumal sich der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Jochen Welt, in einer Pressemitteilung zu der Entscheidung in einer Weise geäußert hat, die bezweifeln lässt, ob sich überhaupt etwas ändern wird: “Zu den beiden Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts, die sich mit den Sprachanforderungen an Spätaussiedler befassen, ist eine abschließende Äußerung noch nicht möglich, solange die schriftlichen Urteilsgründe nicht vorliegen. Die vom Bundesverwaltungsgericht herausgegebene Pressemitteilung lässt aber den Schluss zu, dass kein Anlass zur Änderung der Verwaltungspraxis des Bundesverwaltungsamtes besteht. Auch das Bundesverwaltungsamt hält die Fähigkeit zu einem einigermaßen flüssigen, in ganzen Sätzen erfolgenden Austausch in Rede und Gegenrede für erforderlich, wobei Fehler in Satzbau, Wortwahl und Aussprache unschädlich sind, soweit sie eine Verständigung nicht hindern. Dem tragen die Sprachtests des BVA seit jeher Rechnung. In einer Arbeitsanweisung für die Mitarbeiter ist festgelegt, dass es für das Ergebnis des Sprachtests unbeachtlich ist, wenn der Satzbau nicht korrekt ist oder der Antragsteller teilweise zu Umschreibungen oder unkorrekten Vokabeln greifen muss. Selbst die gelegentliche Hilfe eines Sprachvermittlers ist zugelassen. Aus den dem BMI in einer Vielzahl von Einzelfällen vorgelegten Protokollen der Sprachtests ergibt sich, dass der Betroffene die Fragen der Tester in ein bis zwei Sätzen beantworten kann, um zu einem ausreichenden Testergebnis zu gelangen. Auch die Lebenssachverhalte, die das Bundesverwaltungsgericht anspricht und die Gegenstand eines einfachen Gesprächs sein können, decken sich mit den Anforderungen, die das Bundesverwaltungsamt aufstellt. Das Gericht rügt insoweit wohl den Gegenstand der Anhörung vor dem Berufungsgericht. Wenn somit nach dem Inhalt der Pressemitteilung zu urteilen die Praxis des Bundesverwaltungsamtes den Anforderungen des Gerichts voll gerecht wird, müssen die Urteile nach Vorliegen der Leitsätze und der ausführlichen schriftlichen Urteilsbegründungen des Bundesverwaltungsgerichts noch einer eingehenden Überprüfung unterzogen werden.” Oktober 2003

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Aussiedlerpolitik zwischen Ukasen und Gesetzen Der damalige Vorsitzende der Landsmannschaft, Franz Usselmann, umschrieb das im Januar 1991 mit den Worten: “Mit dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs haben wir viele Freunde verloren.” Tatsache ist in diesem Zusammenhang, dass beim Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 3. Oktober 1990 die Vertriebenen “vergessen” wurden. Deutsche aus der Sowjetunion, die in der DDR lebten, traf das doppelt. Dass 1991 die Ausgaben für die Integration der Aussiedler von 3,91 auf 3,27 Mio. DM zurückgingen, sahen viele Russlanddeutsche übrigens auch als Folge der Wiedervereinigung, ebenso wie die späteren Kürzungen im Fremdrentenbereich. Die folgenden Gesetze waren offen oder verdeckt restriktiv. Usselmanns Nachfolger im Amt des Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Alois Reiss, sagte das am 11. April 1992 in Würzburg unverblümt: “Die Aussiedlerzahlen gehen nicht zurück, weil in der GUS für Deutsche bessere Bedingungen geschaffen wurden, sondern weil das Aussiedleraufnahmegesetz restriktiv gehandhabt wird.” Dabei war 1990/1991 die Zahl der Aussiedler aus der Sowjetunion nahezu konstant geblieben. Es ging vornehmlich um die Deutschen aus Polen, deren Zahl von 250.000 im Jahr 1989 auf 140.000 im Jahr 1990 und 40.000 im Jahr 1991 abgesackt war. Und bei den Rumäniendeutschen war es ähnlich. 1989: 23.000, 1990: 111.000, 1991: 32.000. In den Jahren 1991 und 1992 kamen auch neue Töne hinsichtlich der Zukunft der Russlanddeutschen in den Nachfolgerepubliken der UdSSR und in Deutschland auf, und das nicht nur vom Oppositionsführer im Bundestag, Oskar Lafontaine (SPD). Zwar sagte Alfred Dregger (CDU) zu Beginn des Jahres 1992: “Auch das vereinte Deutschland bleibt der Anwalt aller Deutschen und die Heimstatt aller verfolgten Deutschen.” Aber andere erklärte Freunde der Aussiedler aus den Reihen der CDU folgten bei vielen Gelegenheiten den Berichten von Polittouristen, dass die Deutschen in der Ex-Sowjetunion durchaus eine Chance hätten. So Dr. Wolfgang Schäuble Mitte 1991: “Nach der Herstellung der deutschen Einheit darf die Ausreise nach Deutschland nicht die einzige Perspektive sein.” Bundesinnenminister Seiters bekräftigte das ein Jahr später: “Die Ausreise ist nicht mehr die einzige Alternative.” Der damalige Aussiedlerbeauftragte Dr. Horst Waffenschmitt, an den sich Russlanddeutsche in Ost und West über viele Jahre klammerten, verteidigte das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, das am 1. Januar 1993 in Kraft trat, mit den Sätzen: “Das Tor

ls Wendepunkt der Aussiedlerpolitik diesseits und jenseits von Polen muss das “Dekret des Obersten Sowjets der UdSSR über die Genehmigung von Ausreisen sowjetischer Bürger” vom 28. August 1986 gesehen werden. Auf den Tag genau 45 Jahre nach dem folgenschweren Ukas über die Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen vom 28. August 1941 lockerte Michael Gorbatschow im Vorfeld der Glasnost-und-Perestrojka-Euphorie die Daumenschrauben gegenüber Sowjetbürgern, wovon vor allem “seine Deutschen” profitierten. Die meisten Menschen im Westen glaubten dem neuen Machthaber im Kreml nicht sofort, zumal noch Monate verstrichen, ehe dem Dekret Taten folgten. Damals, 1941, war alles viel, viel schneller gegangen. Bei den Wolgadeutschen vergingen zwischen Ukas und Deportation nur wenige Tage; andere deutsche Sowjetbürger waren schon im Vorgriff auf den 28. August zwangsumgesiedelt worden, so die Krimdeutschen und die Deutschen aus den östlichen Gebieten der Ukraine im Juli/August 1941. Diesmal, 1986, vergingen noch Jahre, bis Deutsche in Russland in gleichem Umfang wie Deutsche aus Polen, Rumänien usw. ausreisen konnten. Die folgende Tabelle belegt das:

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Jahr

Aussiedler insgesamt

Aussiedler a.d.UdSSR/GUS

1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002

42.729 78.498 202.645 377.042 397.067 221.995 230.565 218.888 222.591 217.898 177.751 134.419 103.080 104.916 95.615 98.484 91.416

753 14.488 47.572 98.134 147.950 147.320 195.576 207.347 213.214 209.409 172.181 131.895 101.550 103.599 94.558 97.434 90.587

Der Anteil russlanddeutscher Aussiedler an allen Aussiedlern stieg nach wenigen Prozentpunkten vor 1986 in dem Jahrzehnt nach 1987 von 18 auf 98% und mehr. Dabei ist es bis heute geblieben. Die deutsche Politik sah sich gezwungen zu handeln. Zusätzliche Abstriche für Aussiedler gab es durch die Wiedervereinigung, die natürlich wichtiger war. 15

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews nach Deutschland bleibt offen. Der Zuzug wird verstetigt.” (Dass sich das Wort “Verstetigung” zu einem Synonym für Zuzugsbegrenzung entwickelte, steht auf einem anderen Blatt.) Tatsächlich aber wurde das Aussiedleraufnahmegesetz schon so gehandhabt, wie es später im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz festgeschrieben wurde. Zum Aussiedleraufnahmegesetz stellte Jahre später die Zuwanderungskommission fest: “Als Reaktion auf den 1987 einsetzenden sprunghaften Zuzug wurde am 28. Juni 1990 eine Grundlage geschaffen, um steuernd in das Einreiseverhalten einzugreifen.” Man fand alle möglichen Formulierungen, um das Wort “Quote” zu vermeiden... Mit dem Aussiedleraufnahmegesetz wurde das Bundesvertriebenengesetz zum ersten Mal zu Ungunsten der Aussiedler geändert. Mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz wurde diese Tendenz fortgesetzt. Der Begriff Spätaussiedler wurde festgeschrieben, die Paragraphen 4, 7 und 8 eingeführt, nichtdeutsche Familienangehörige konnten nicht mehr Spätaussiedler werden. Aus Aussiedlern wurden Spätäussiedler, Ehegatten und Abkömmlinge. Ehepartner und Abkömmlinge von Russlanddeutschen sahen und sehen darin eine Abwertung. Die Kontingentierung wurde allerdings auf dem hohen Niveau von 225.000 pro Jahr festgeschrieben. Dafür waren Spätaussiedler dankbar, konnten jedoch nichts gegen massive finanzielle Einbußen machen. Ehegatten und Abkömmlinge fielen aus dem Fremdrentengesetz heraus, und statt der bisherigen Entschädigung für Aussiedler nach dem Kriegsgefangenen- oder Häftlingshilfegesetz gab es für Spätaussiedler nur noch die Eingliederungshilfe, die weitaus niedriger war. Die schlimmste Folge des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes aber war die Ausgrenzung der Kinder: Wer nach dem 1. Januar 1993 geboren wurde, galt nicht mehr als Spätaussiedler. Die Familientrennung war vorprogrammiert. Scheibchenweise wurden in den Jahren 1991, 1992 und 1993 die Hilfen für Spätaussiedler vermindert. Und das, obwohl informierte Kreise immer wieder betonten, dass sich die Zuwanderung spätestens seit 1991 auch finanziell für Deutschland lohnen würde. Aber wer nahm das hierzulande schon zur Kenntnis? Am 1. Juli 1993 kam für die meisten Russlanddeutschen die Streichung der Ersatzzeiten in der Rentenversicherung hinzu, auch wenn nur von Ersatzzeiten nach 1956 die Rede war. Zu Beginn der 90er Jahre häuften sich auch die Ablehnungen von Aufnahmeanträgen mit fadenscheinigen Begründungen. Die einen Aufnahmebewerber sprachen zu schlecht Deutsch, die anderen zu gut. Auf die Frage, warum es so weit gekommen ist, wurde so gut wie überhaupt nicht eingegangen.

Dreh- und Angelpunkt aller Ablehnungen waren die deutschen Sprachkenntnisse. Bis heute sind sich alle darin einig, dass ohne Deutsch keine ordentliche Eingliederung und Akzeptanz möglich ist. Die Bedeutung der Sprachkenntnisse für die Anerkennung wurde und wird jedoch sehr unterschiedlich bewertet. “Kann man ohne Deutsch deutsche Kultur vermitteln?”, lautet die Gretchenfrage. Und: “Was ist überhaupt Integration?” 1995/96 setzten die Befürworter einer großzügigeren Behandlung des Sprachdefizits der Deutschen aus Russland Hoffnungen auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Juni 1995, das besagte, dass deutsche Sprachkenntnisse nur eines von mehreren Indizien für die Anerkennung seien. Spätaussiedler und ihre Vertreter innerhalb und außerhalb der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland frohlockten. Die Annahmebehörden machten jedoch nicht mit, sondern verlangten: Ihr müsst die deutsche Sprache beherrschen oder drüben bleiben. Diesen Standpunkt übernahm am 13. November 1996 der gleiche Bundesgerichtshof, der 1995 noch pro Spätaussiedler entschieden hatte. Obendrein lief zum 31. Dezember 1995 auch der Lastenausgleich aus, von dem allerdings ohnehin nur wenige Deutsche aus Russland etwas abbekommen hatten. Einen weiteren Rückschlag für die Deutschen aus Russland hatte das "Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz" vom 25. September 1996 im Gefolge. Nach ihm wurden die im Herkunftsland zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten um 40 Prozent gekürzt. Spätaussiedlern, die nach dem 6. Mai 1996 eingereist sind, wird seither der Fremdrentenanteil auf die Höhe der Eingliederungshilfe gestutzt. Das Arbeitsbuch aus der Sowjetunion wird nicht als Beweis anerkannt. Aussiedler sind im Allgemeinen schon dadurch benachteiligt, dass ihnen in vielen Fällen der lückenlose Nachweis ihrer Beitrags- und Beschäftigungszeiten nicht möglich ist. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland strengte damals zusammen mit den Landsmannschaften der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen eine Verfassungsklage an, die sich gegen die Kürzungen um 40 und 30 Prozent sowie gegen die 25-Entgeltpunkte-Kürzungen im Rentenbereich richtet. Auf dem langen Weg zum Bundesverfassungsgericht können diese Landsmannschaften bisher positive Gutachten sowie ein Urteil des Bundessozialgerichts vorweisen, laut dem die Kürzungen nicht in Ordnung sind. Das Argument, dass derjenige Staat, der die Rentenbeiträge kassiert, auch die Renten bezahlen muss, ist nicht stichhaltig, denn in der Rentenversicherung zählt immer noch der Generationenvertrag, laut dem die arbeitende (jüngere) Generation für die aus dem Berzufsleben ausgeschiedene (ältere) Generation bezahlt. Russlanddeutsche Rent16

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews getroffen. Die Zuwendungen gingen kontinuierlich zurück, nachdem Staatsminister Dr. Michael Naumann (SPD) 1999 erklärt hatte, dass aufgrund der angespannten Haushaltslage die Förderungen der Kulturmittel im Rahmen des §96 BVFG im bisherigen Umfang nicht fortgesetzt werden könnten. Für neue Spätaussiedler traten am 1. Januar 2000 mehrere finanzielle Verschlechterungen der Anreisebedingungen in Kraft. Es wurde eine Reisekostenpauschale von 200 DM eingeführt, die hinten und vorne nicht reicht. Kostenfreie Visakuriere und Freiflüge sowie der Versicherungsschutz fallen weg, Spätaussiedler müssen die Kosten für Umzugsgüter selbst bezahlen. Seit 2001 überdeckt die lästige Debatte um das Zuwanderungsgesetz andere wichtige Aussiedlerfragen. Wer daran schuld ist, dass Aussiedler in das Gesetz hineingezogen wurden, hört man immer nur vom parteipolitisch Andersdenkenden. Dabei wurde im Vorfeld der Debatte sowohl von rechts als auch von links beteuert, dass Aussiedler da nicht hineingehören, weil sie Deutsche sind. Aber wahrscheinlich eignete sich der Stoff zu gut für parteipolitische Auseinandersetzungen. Letztendlich werden Ehegatten und Abkömmlinge von Spätaussiedlern wohl auch Deutsch beherrschen müssen, bevor sie in Deutschland einreisen dürfen. Sie werden wohl nach aussländerrechtlichen Bestimmungen nachziehen dürfen, volljährlige Kinder überhaupt nicht, die Eltern müssen Deutsche sein, die Ehe muss mindestens drei Jahre bestehen, eine Höherstufung von §7 zu §4 oder von §8 zu §7 ist so gut wie unmöglich usw. usf. Das sind die Aussichten, die uns Politiker immer vernehmbarer erklären. Viele Russlanddeutsche sind irritiert, passen aber besser als früher auf, was ihnen Politiker vor Wahlen erzählen und nachher halten. Oktober 2003

ner aber haben normalerweise weit mehr Kinder, die arbeiten und in die deutsche Rentenversicherung einbezahlen, als einheimische Rentner und Pensionäre. 1997 sorgte die dritte Änderung des 1989 in Kraft getretenen Wohnortezuweisungsgesetzes für viel Aufregung unter den Spätausssiedlern, von denen es einige sogar in die Nähe der Wohnortebeschränkungen in der UdSSR rückten. Ältere Spätaussiedler, die noch die schlimmsten Erinnerungen an diese Zeiten hatten, konnten es nicht fassen, dass so etwas in Deutschland möglich war. Dabei gab es für das Gesetz tatsächlich auch plausible Gründe, von denen der wichtigste eine ausgeglichenere Verteilung der Spätaussiedler auf die einzelnen Bundesländer war. Die wichtigste Änderung des Jahres 1997 aber war die Einführung der Sprachtests, über den die Deutschen aus Russland eine ganz andere Meinung haben als die Masse der deutschen Politiker und Behörden: Nur ein Test und nur eine Person soll über das Schicksal einer ganzen Familie entscheiden - das ist zu hart! Der neue Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Jochen Welt (SPD), zeigte bei seinem Amtsantritt im Jahr 1999 großes Verständnis für den Standpunkt der Aussiedler, bezeichnete die Sprachtests als unsozial und heuchlerisch. Das gefiel den Russlanddeutschen. Es war übrigens ein Standpunkt, den auch bedeutende Politiker der CDU später gerne auf Wahlveranstaltungen vertraten, so die heutigen Ministerpräsidenten Christian Wulff und Roland Koch. Alle mussten jedoch feststellen, dass dieser Standpunkt weder in ihren Parteien noch im Deutschen Bundestag eine Mehrheit hatte. Hoffnungen machte der Landsmannschaft auch der Fraktionschef der SPD, Franz Müntefering, bei Gesprächen zu Rentenfragen mit dem Bundesvorstand: “Der Rentenanspruch der Spätaussiedler darf nicht in Frage gestellt werden.” Die Einschneidungen seit 1998 haben besonders schmerzlich den Kulturbereich der Landsmannschaft

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Bundesdelegiertenversammlung der Landsmannschaft:

Wir haben eine Menge geleistet, aber es bleibt noch viel zu tun! Adolf Fetsch neuer Bundesvorsitzender - Eingeschlagener Weg soll weitergegangen werden eutliche Worte, verhaltener Optimismus und Fortsetzung des erfolgreichen Weges der letzten drei Jahre mit der bewährten Mannschaft, aber neuer Führung - so könnte man den Verlauf und die Ergebnisse der Bundesdelegiertenversammlung der Landsmannschaft zusammenfassen, die am 11. und 12. Oktober im Mannheimer “Novotel” stattfand. Bereits zu Beginn wurde ein großer Teil der Spannung aus der Versammlung genommen, als der amtierende Bundesvorsitzende, Adolf Braun MdL, erklärte, er würde aus gesundheitlichen und persönlichen Gründen sowie wegen Arbeitsüber- Der neue Bundesvorstand der Landsmanschaft der Deutschen aus Russland (von lastung für eine Wiederwahl nicht links): Waldemar Neumann, Adolf Braun, Leontine Wacker, Adolf Fetsch, Nelli Kosszur Verfügung stehen. Er empfahl ko, Dr. Arthur Bechert und Dr. Waldemar Krieger. den Delegierten, seinen bisherigen Stellvertreter und Sprecher des Bundesvorstandes, gen um das geplante Zuwanderungsgesetz, das nach Adolf Fetsch, zu wählen, der sich dann auch bei der dem augenblicklichen Stand der Dinge von der rotWahl am Vormittag des zweiten Tages mit 104 zu 13 grünen Bundesregierung bis Jahresende noch einmal Stimmen bei einer Enthaltung deutlich gegen seinen in unveränderter Form eingebracht werden wird, aber angesichts der CDU/CSU-Mehrheit im BunKonkurrenten Andreas Maurer durchsetzte. Unter den zwölf Bewerbern für die übrigen sechs desrat kaum Chancen hat, realisiert zu werden. Er Posten im Bundesvorstand wurden folgende Kandi- schilderte, wie der Bundesvorstand in unzähligen daten gewählt: Adolf Braun (105 Stimmen), Leonti- Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern ne Wacker (103), Waldemar Neumann (101), Dr. auf Bundes- und Landesebene immer wieder den Arthur Bechert (92), Nelli Kossko (67) und Dr. Wal- Standpunkt der Landsmannschaft betont habe, wodemar Krieger (48). Adolf Braun, Leontine Wacker nach das Gesetz, das ausdrücklich für EU-Bürger und Waldemar Neumann wurden zu stellvertretenden und Ausländer entworfen worden sei, auf russlanddeutsche Spätaussiedler gar nicht angewendet werBundesvorsitzenden bestimmt. Unter der Versammlungsleitung von Dr. Egon Mert- den könne. ke standen die Stunden bis zur Wahl im Zeichen der Ein weiteres Standbein der landsmannschaftlichen Rechenschaftsberichte der Bundesvorstandsmitglie- Arbeit sei nach wie vor die Beratung und Betreuung der und des berufenen Bundesreferenten Waldemar der erst in den letzten Jahren nach Deutschland geAxt sowie engagierter Diskussionen über geplante kommenen Landsleute. 200 “offizielle” und noch weitaus mehr “inoffizielle” landsmannschaftliche Satzungsänderungen: Sozialberater leisten mit 40.000 bis 60.000 Beratungsstunden pro Jahr eine respektable Arbeit. ProbAdolf Braun: Kampf leme im Nachwuchsbereich der landsmannschaftligegen das Zuwanderungsgesetz bleibt chen Mitarbeiter habe man erkannt und werde darauf zentrale Aufgabe der Landsmannschaft in Zukunft verstärkt mit mehrtägigen Schulungen reagieren. Unter anderem werde man den LandesverDer scheidende Bundesvorsitzende stellte in den bänden mehr Finanzmittel zur Durchführung solcher Mittelpunkt seines Berichts die Auseinandersetzun- Schulungen zur Verfügung stellen.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews den Spätaussiedlern verloren haben. Und wir werden ihn weiter verlieren, wenn wir uns nicht gehörig umstellen. Wenn wir die Spätaussiedler nicht in unsere Arbeit einbinden, wenn wir nicht um jeden Einzelnen kämpfen, der unsere Organisation in den letzten Jahren verlassen hat, wenn wir nicht die Zusammenarbeit mit allen Vereinen suchen, die sich in den letzten Jahren von der Landsmannschaft abgespalten haben. Dazu gehören Vereine, die sich regional gebildet haben, ebenso wie die Funktionäre der "Wiedergeburt", die hier in Deutschland meiner Meinung nach orientierungslos agieren, oder Untergliederungen der Landsmannschaft wie der "Wolgadeutsche Arbeitskreis", der sich vor einiger Zeit unter dem Namen "Landsmannschaft der Wolgadeutschen" selbständig gemacht hat. 3. Bei dieser Zusammenarbeit müssen jedoch die Proportionen beachtet werden. Die Landsmannschaft ist nach wie vor die weitaus größte Organisation unserer Volksgruppe hier in Deutschland, und es kann daher nicht angehen, dass eine Gruppierung, die nur aus ein paar Dutzend Mitgliedern besteht, der Mehrheit die Vorgehensweise diktiert. 4. Der vielleicht gravierendste Missstand der letzten Jahre war die Sabotierung der landsmannschaftlichen Jugendarbeit durch die “Deutsche Jugend aus Russland”. Wie es momentan aussieht, ist eine Zusammenarbeit mit der DJR, besser gesagt mit ihrer Geschäftsführung, auf absehbare Zeit nicht möglich, weshalb wir uns von dieser Organisation, bei Fortdauer des jetzigen Zustandes, endgültig trennen und die Jugendarbeit unter dem Dach und zum Nutzen der Landsmannschaft mit allen Kräften vorantreiben sollten. 5. Das leidige Problem einer russischsprachigen bzw. russisch-deutschen Zeitung der Landsmannschaft: Es ist bestimmt nicht so, dass ich die Verwendung der russischen Sprache im alltäglichen Gebrauch für integrationsfördernd halte. Es ist aber bestimmt so, dass wir mit unseren deutschsprachigen Publikationen allein die Zielgruppe der Spätaussiedler nicht mehr erreichen. Die Diskussion sollte sich längst nicht mehr darum drehen, ob eine russischsprachige Zeitung in Ergänzung zu “Volk auf dem Weg” nötig ist, sondern nur noch darum, wie sie am besten realisiert werden kann. Wir wissen aus der Geschichte, dass vielen russlanddeutschen Zeitungen nur ein kurzes Dasein beschieden war, und wir sehen jetzt die Turbulenzen des russlanddeutschen Zeitungsmarktes. Und wir leben lange genug in Deutschland, um zu wissen, dass journalistischer Ehrgeiz und verlegerische Begeisterung nicht ausreichen, einer Zeitung das Überleben zu sichern. Unsere russischsprachige Zeitung, das kann ich Ihnen versichern, wird daher sorgfältig

Waldemar Neumann: Wir sind schuldenfrei! Mit der Erklärung “Wir sind schuldenfrei!” hatte der stellvertretende Bundesvorsitzende der Delegiertenversammlung die vermutlich erfreulichste Nachricht zu übermitteln. Nachdem sich vor gut zwei Jahren die Schulden der Landsmannschaft auf über 1 Million D-Mark angehäuft hatten, habe man das Überleben der Landsmannschaft nur mit der Zusage sichern können, diese Schulden binnen drei Jahren abzubauen. Trotz einiger Querschüsse habe man dieses Ziel in gemeinsamer Anstrengung bereits nach zwei Jahren erreicht. Solange dieser Erfolg jedoch nicht von einem deutlichen und konstanten Anstieg der Mitgliederzahlen begleitet werde, habe man das Ziel, die Landsmannschaft wieder auf Vordermann zu bringen, erst zur Hälfte erreicht. Der rapide Rückgang der Mitgliederzahlen sei zwar inzwischen gestoppt, von Zahlen, die dem Gewicht der Volksgruppe in Deutschland entsprechen, sei man jedoch noch weit entfernt. Fazit: Wir haben eine Menge geleistet, aber es bleibt noch viel zu tun.

Waldemar Axt: Konzepte einer Erfolg versprechenden landsmannschaftlichen Arbeit Der vom Bundesvorstand berufene Bundesreferent für Personal, Finanzen und Projekte stellte den Delegierten am Ende seines ausführlichen Referats, in dem er die Lage der Landsmannschaft vor drei Jahren und die bereits durchgeführten Maßnahmen zu ihrer Sanierung schilderte, Zukunftsperspektiven landsmannschaftlicher Arbeit vor, die er gemeinsam mit dem Bundesvorstand entwickelt hatte. Da diese Perspektiven in den nächsten Jahren bestimmend für unsere Arbeit sein werden, seien sie hier in größeren Auszügen aus seiner Rede zitiert: 1. Das Kernproblem, dessen Lösung wir noch keinen Schritt näher gekommen sind, ist die nicht wegzudiskutierende Spaltung unserer Volksgruppe in Altaussiedler und Spätaussiedler. Im Klartext heißt das: Die Altaussiedler müssen begreifen, dass die Spätaussiedler aus einem ganz anderen Lebensumfeld kommen als sie und es mit ganz anderen Problemen zu tun haben. Die Spätaussiedler dagegen sollten erkennen, dass Aussiedler, die vor zehn, 20 oder 30 Jahren nach Deutschland gekommen sind, sich in der hiesigen Gesellschaft erheblich besser auskennen als sie. 2. Wir Alten, die in der Landsmannschaft nach wie vor die Mehrheit bilden, müssen der Realität ins Auge sehen, die besagt, dass wir den Kontakt zu 19

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews geplant sein und für die Landsmannschaft nur mit Amtszeit für Vorsitzende auf allen landsmannschafteinem kalkulierbaren Risiko verbunden sein. lichen Ebenen zu begrenzen. Änderungen, die angenommen wurden, betrafen eher Randbereiche bzw. Fragen der Organisation. Satzungsänderungen:

Der große Umbruch blieb aus

Resümee:

Die im Vorfeld der Bundesdelegiertenversammlung angekündigten Änderungen der Satzung der Landsmannschaft in zentralen Punkten scheiterte am Willen der Delegierten. Insbesondere scheiterte der Vorschlag, andere Vereine der Deutschen aus Russland, deren Ziele und Zwecke nicht im Widerspruch zu denen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland stehen, als “korporative Mitglieder” aufzunehmen. Nicht durchsetzen konnten sich auch die Vorschläge, die Anzahl der Mitglieder des Bundesvorstandes von sieben auf neun zu erhöhen und die

Es war eine Bundesdelegiertenversammlung, in der eine Reihe von Problemen mit ungewöhnlicher Deutlichkeit angesprochen wurde und von der sich die Teilnehmer mit dem sicheren Gefühl verabschieden durften, dass es sich lohnt, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Damit die Landsmannschaft wieder zu dem wird, was sie einmal war, nämlich zur Heimat aller Deutschen aus Russland! November 2003

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Über den Unterschieden nicht die Gemeinsamkeiten vergessen! Rede des Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch bei der Delegiertenversammlung der Landsmannschaft im Oktober 2003 auf den Kopf. Mehr noch: Er entwertet, ob aus Unwissenheit oder mit Berechnung, sei dahingestellt, die ehrenamtliche Arbeit von Menschen, denen die Landsmannschaft mehr als das meiste andere am Herzen liegt. Ich möchte das Stichwort “ehrenamtliche Arbeit” benützen, um an dieser Stelle einiges zu korrigieren, was an Falschaussagen über die Arbeit des Bundesvorstandes in der gerade zu Ende gehenden Amtsperiode zu hören war. Es kann keine Rede davon sein, dass die Bundesvorstandsmitglieder heillos zerstritten waren - natürlich wurde kontrovers diskutiert, aber das ist doch selbstverständlicher Teil der Demokratie! -, es wurden vielmehr so gut wie alle Beschlüsse gemeinsam getragen und umgesetzt. Und wenn ich bei landsmannschaftlichen Veranstaltungen öfter zu sehen war als meine Bundesvorstandskollegen, so lag das nicht zuletzt auch daran, dass einige von ihnen, insbesondere auch der Bundesvorsitzende Adolf Braun zwischenzeitlich schwer und monatelang erkrankt waren. Trotzdem konnten wir unsere Aufgaben termingerecht und einwandfrei erledigen und waren dankbar, dass sich alle Vorstandsmitglieder nach ihrer Genesung wieder in vollem Umfang an der Arbeit beteiligten Doch kommen wir zurück zum damaligen Gang der Ereignisse. Nachdem die Innenministerien unseren Sanierungsplan akzeptiert hatten und die personellen Probleme in der Bundesgeschäftsstelle beseitigt waren, konnte die eigentliche landsmannschaftliche Arbeit beginnen. Noch waren jedoch unzählige Gespräche nötig, um das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen. Gespräche auf Bundes-, Landes- und Ortsebene, mit Vertretern aller im Bundestag vertretenen Parteien, mit unseren Freunden vom Bund der Vertriebenen - “Volk auf dem Weg” hat darüber ausführlich berichtet. Es waren schwierige Gespräche, die aber von Erfolg gekrönt waren. Ich nenne dazu einige Beispiele: - Das Bundesinnenministerium finanzierte die Neuauflage der landsmannschaftlichen Informationsbroschüre “Zwischen den Kulturen”, deren 100.000 Exemplare kostenlos verteilt werden und ihren Beitrag leisten, das schiefe Bild unserer Volksgruppe in der Öffentlichkeit gerade zu rücken. - Das Innenministerium Baden-Württemberg unterstützte uns bei der Herausgabe der beiden Broschüren “Arbeit mit jugendlichen Spätaussiedlern

Liebe Landsleute, wenn ich heute zu Ihnen spreche, kann ich guten Gewissens sagen, dass wir schwere Jahre hinter uns haben, in denen es uns aber in gemeinsamer Anstrengung gelungen ist, das Schlimmste abzuwenden und den Fortbestand der Landsmannschaft zu sichern. Es waren Jahre, die uns gezeigt haben, was möglich ist, wenn wir gemeinsam an einem Strick ziehen, und es waren Jahre, die uns deutlich vor Augen geführt haben, auf wen wir in unserer zukünftigen Arbeit nicht mehr setzen können und werden. Gehen wir in Gedanken zurück in das Jahr 2001, als die finanzielle und personelle Krise der Landsmannschaft, über die bereits davor die wildesten Gerüchte verbreitet worden waren, offen und unabstreitbar zu Tage trat. Wie mein Bundesvorstandskollege Waldemar Neumann und der von uns berufene Bundesreferent Waldemar Axt in ihren Referaten näher erläutern werden, ergab eine Kassenüberprüfung in der Bundesgeschäftsstelle letztendlich ein Minus von deutlich über einer Million D-Mark. Wir hatten gerade das Bundesinnenministerium und die Innenministerien der Bundesländer Baden-Württemberg und Hessen, öffentliche Einrichtungen also, die uns seit Jahren bei der Durchführung unserer Arbeit und unserer Projekte unterstützt hatten, über diese alarmierende Situation informiert, als uns die “Stuttgarter Zeitung” mit einem skandalösen Artikel in den Rücken fiel. Von zwei Millionen D-Mark Schulden war darin die Rede, von Projektmitteln, die nicht ordnungsgemäß verwendet worden seien, und davon, dass die Bundesregierung zugesagte Mittel nicht ausgezahlt hätte. Dass die “Stuttgarter Zeitung” sich in ihrem Artikel auf Aussagen führender Mitglieder der Landsmannschaft berief, machte die Sache bestimmt nicht besser. Um den sofortigen Finanzierungsstopp durch die genannten Ministerien zu verhindern, waren wir gezwungen, die in dem Artikel vorgebrachten Behauptungen zu widerlegen und einen Sanierungsplan der Landsmannschaft vorzutragen und einzureichen, der Hand und Fuß hatte. Kritikern, die heute noch behaupten, die damalige Situation sei gar nicht so bedrohlich gewesen, kann ich nur Blindheit und Unwissenheit vorwerfen. Und wer behauptet, der damalige Sanierungsplan habe der Landsmannschaft geschadet, stellt die Tatsachen 21

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews in Baden-Württemberg” und “200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet”, stellte uns für Feierlichkeiten immer wieder kostenlos den Weißen Saal des Neuen Schlosses in Stuttgart zur Verfügung und finanziert nach wie vor den alle zwei Jahre verliehenen Russlanddeutschen Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg. - Besonders wertvoll ist für uns aber die öffentliche Förderung von inzwischen 15 Projekten zur Unterstützung der landsmannschaftlichen Integrationsarbeit - vor allem in Bayern und Hessen, aber auch bundesweit sowie in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Insgesamt wurden dafür Mittel in Höhe von 600.000 Euro zur Verfügung gestellt. Gesondert sei hier das neu geschaffene Amt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - BaFl mit seinem Präsidenten Dr. Albert Schmidt genannt, das sich in sehr positiver Weise für uns eingesetzt hat. Um Projekte wie diese verwirklichen zu können, war es nötig, ohne politische oder ideologische Vorbehalte mit allen zu verhandeln, die uns bei unserer Arbeit behilflich sein konnten. Die Zeiten, da man der Landsmannschaft eine allzu einseitige und große Nähe zur CDU bzw. CSU vorwerfen konnte - ein Vorwurf, der meiner Meinung nach immer nur auf einzelne Personen zutraf -, sind endgültig vorbei und das sage ich als Mitglied der CSU! Zu dieser parteipolitischen Neutralität verpflichtet uns nicht nur die Satzung der Landsmannschaft, sondern auch die Erfahrung der letzten Jahre, die gezeigt hat, dass wir in allen Parteien sowohl Freunde als auch Gegner haben. Als Beleg für die parteipolitische Neutralität der Landsmannschaft darf ich die letzten Ausgaben unserer Verbandszeitung “Volk auf dem Weg” anführen, in denen wir nicht nur ausführliche Stellungnahmen gegen das von SPD und Grünen geplante Zuwanderungsgesetz veröffentlicht haben, sondern uns auch gegen Vorstöße aus den Reihen der CDU/ CSU und der FDP gewandt haben, die nicht mit unseren Interessen vereinbar waren. Auch wenn es um das Zuwanderungsgesetz augenblicklich ein wenig ruhiger geworden zu sein scheint, bleibt für uns der Kampf gegen die Passagen, die sich mit Spätaussiedlern befassen, zentral. Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass dieses Gesetz, das sich ja ausdrücklich mit der Zuwanderung von EU-Bürgern und Ausländern befasst, auf Aussiedler nicht angewendet werden darf. Schließlich ist ein Russlanddeutscher, der aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ausreisen möchte, weder EU-Bürger noch Ausländer, sondern Deutscher. Nach dem jetzigen Stand der Dinge wird das Gesetz bis Jahresende noch einmal vorgelegt werden, aber am Widerstand der Bundesrates, in dem die

CDU/CSU-geführten Länder die Mehrheit haben, scheitern. Aktuell wie eh und je ist auch der Kampf der landsmannschaftlichen Interessengemeinschaft um eine gerechte Rente für Spätaussiedler. Ohne auf juristische Einzelheiten eingehen zu wollen - das wird eines der Themen der nächsten Sozialreferententagungen der Landsmannschaft sein -, kann ich nur wiederholen, was ich in meinem Bericht, der Ihnen schriftlich vorliegt, gesagt habe: Die Behandlung unserer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zieht sich auf unerträgliche Weise in die Länge, und es ist leider so, dass die Gerichte für uns günstige Entscheidungen in Sachen Witwenrente nicht zur Kenntnis nehmen. Ich will meinen Bericht nicht beenden, ohne Ihnen in kurzen Worten skizziert zu haben, was meiner Meinung nach getan werden muss, um den erfolgreichen Weg, auf den wir die Landsmannschaft in den letzten beiden Jahren gebracht haben, in die richtige Richtung fortzusetzen: 1. Wir müssen begreifen, dass diejenigen Landsleute, die bereits seit längerem hier in Deutschland sind, und diejenigen, die erst jetzt zu uns kommen, Teile derselben Volksgruppe sind. Teile, die in der Landsmannschaft gleichberechtigt vertreten sein müssen und nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten sollten. 2. Wir müssen den Dialog mit allen russlanddeutschen Organisationen, die sich außerhalb der Landsmannschaft gebildet haben, suchen und fortsetzen. Wir müssen einsehen, dass jede Spaltung der Volksgruppe, die wir vertreten, schadet. Und wir müssen lernen, mit fairer Kritik umzugehen und sie in positive Aktionen zu verwandeln. 3. Ziel unseres Handelns muss sein, die Landsmannschaft für möglichst viele Landsleute attraktiv zu machen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass wir mit Sozialberatung zwar eine gesellschaftlich und moralisch wertvolle Arbeit leisten, aber kaum einen Landsmann dazu bewegen, in die Landsmannschaft einzutreten. Vielmehr gilt in den meisten Fällen: Man lässt sich beraten, sagt vielleicht danke und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Attraktiv aber wird unsere Landsmannschaft und werden vor allem unsere Ortsgruppen nur dann, wenn wir den Mitgliedern neben Sozialberatung mehr als nur Nachmittage mit Kaffee und Kuchen zu bieten haben. Wir haben diese Notwendigkeit inzwischen erkannt und sind dabei, die Kulturarbeit auf allen Ebenen zu forcieren. Unsere Aktivitäten anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Auswanderung von Deutschen ins Schwarzmeergebiet sind sichtbarer Ausdruck dieser 22

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews der Landsmannschaft machen. 5. Wir sollten uns verstärkt an die Wurzeln der Landsmannschaft erinnern, die vor über 50 Jahren nicht zuletzt von Vertretern der Religionsgemeinschaften, die in unserer Satzung verankert sind - Protestanten, Katholiken, Mennoniten und Baptisten -, gegründet wurde. Die Religion war es, die dem Leben unserer Vorfahren einen festen Rahmen gegeben hat, und sie sollte auch heute dazu beitragen, Deutsche aus Russland, die angesichts der Unterschiede allzu oft die Gemeinsamkeiten vergessen, zu vereinen. Oktober 2003

Bemühungen. Wegen der gewaltig gestiegenen Anforderungen im sozialen Bereich haben wir auf diesem Gebiet in den letzten Jahrzehnten einiges versäumt, doch ist es meiner Meinung nach noch nicht zu spät, vom Rückwärtsgang wieder in den Vorwärtsgang zu schalten. 4. Ohne organisierte Jugendarbeit sehe ich für die Zukunft der Landsmannschaft schwarz. Sollte eine Zusammenarbeit mit der DJR, der deutschen Jugend aus Russland, nicht möglich sein, müssen wir uns ernsthafte Gedanken über die Schaffung einer russlanddeutschen Jugendorganisation unter dem Dach

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

“Miteinander, nicht gegeneinander!” Perspektiven landsmannschaftlicher Arbeit darf nicht sein, dass in den Medien vor allem negative, die Wirklichkeit verzerrende Berichte über unsere Volksgruppe erscheinen. Um diese Ziele zu erreichen, brauchen wir eine Lobby, die der Größe unserer Volksgruppe hier in Deutschland entspricht. Zu diesem Zweck sollten wir unsere Kräfte bündeln und weder Zeit noch Energie mit internen Streitereien verschwenden. Oder glaubt einer wirklich, wir werden von den Einheimischen gehört, wenn wir uns als zerstrittene Gruppe präsentieren? Statt uns gegenseitig zu bekämpfen und unsere “Wahrheit” für die allgemeine zu halten, sollten wir uns gegenseitig respektieren und voneinander lernen. Denn nur wenn wir geschlossen und selbstbewusst auftreten, werden wir etwas erreichen. Bereits in den letzten Monaten und Jahren haben wir versucht, zwischenzeitlich gestörte Kontakte zu Organisationen wieder herzustellen bzw. zu aktivieren. Die Beziehung zur Landsmannschaft der Wolgadeutschen hat sich bereits normalisiert, und wir sind zuversichtlich, dass dies beispielsweise auch mit der “Deutschen Jugend aus Russland” bald wieder der Fall sein wird. Verstärkt werden wir uns auch um eine Zusammenarbeit mit den Kirchen bemühen. Zum einen, weil wir wissen, welche Bedeutung Kirche und Religion im Leben vieler unserer Landsleute gespielt haben und spielen, und zum anderen, weil wir nicht vergessen haben, dass die Landsmannschaft im Wesentlichen von Vertretern der evangelisch-lutherischen, katholischen, mennonitischen und bapistischen Glaubensgemeinschaften gegründet wurde. Wie Sie als Leser von Volk auf dem Weg in den letzten beiden Jahren sicherlich bemerkt haben, sind wir in unseren politischen Äußerungen aktiver und deutlicher geworden. Ohne Ansehen von Parteien und Personen wenden wir uns mit Stellungnahmen gegen politische Aussagen, die unserer Volksgruppe Schaden zufügen. Darüber hinaus werden wir alle Landsleute auf ihrem Weg zur Übernahme von politischer Verantwortung unterstützen. Wir halten jedoch sehr wenig vom Engagement in bedeutungslosen Splitterparteien und davon, für Deutsche aus Russland einen “Sonderweg” in die Parlamente zu fordern. Sie müssen vielmehr den gleichen Weg wie alle anderen nehmen - und der ist nun einmal hart und steinig!

wei Monate nach Beginn seiner Amtszeit stellt der neue Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, die Perspektiven der landsmannschaftlichen Arbeit für das beginnende Jahr vor:

Z

Politik

Bestimmend für unsere Arbeit wird auch im Jahr 2004 der Kampf gegen das Zuwanderungsgesetz in den Passagen sein, die der Aussiedlung unserer Landsleute massive Hindernisse in den Weg stellen. An unserer grundsätzlichen Haltung, dass Deutsche aus Russland nicht in dieses Gesetz gehören, das ausdrücklich für Unionsbürger und Ausländer entworfen wurde, hat sich nichts geändert. Unsere konkreten Schritte werden davon abhängen, in welcher Gestalt das Gesetz letztendlich verabschiedet werden wird. In gleicher Weise werden wir uns auch weiterhin gegen die Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleranerkennungsverfahren wenden. Wir sind der Auffassung, dass diese Überbetonung den Lebensverhältnissen unserer Landsleute in der ehemaligen Sowjetunion in keiner Weise gerecht wird, und betonen erneut: Menschen, die von Staats wegen am Gebrauch der deutschen Sprache gehindert wurden, dürfen dafür heute nicht bestraft werden! Wir halten die augenblickliche Sprachtestregelung für jurristisch nicht haltbar und werden nofalls den Klageweg dagegen beschreiten. Genauso energisch wenden wir uns gegen die tendenziöse Verwendung statistischer Zahlen - laut denen angeblich nur noch rund 20 Prozent der zu uns kommenden Spätaussiedler Deutsche sind - und vor allem gegen jeden Versuch, das kollektive Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen in Frage zu stellen. Wir halten es für selbstverständlich, dass alles getan wird, um Familientrennungen zu verhindern. Ebenso selbstverständlich wird es für uns bleiben, das Gespräch mit allen demokratischen Parteien zu suchen, wobei es unser Ziel sein muss, in Entscheidungsprozesse in Fragen der Aufnahme und Eingliederung von Spätaussiedlern auf allen Ebenen einbezogen zu werden. Wir müssen alles daran setzen, den politisch Verantwortlichen, öffentlichen Institutionen und der Öffentlichkeit ein Bild unserer Volksgruppe zu vermitteln, Sozialberatung und -betreuung das der Realität entspricht. Es darf nicht sein, dass bei öffentlichen Diskussionen über uns gesprochen Bedingt durch den rapiden Anstieg der Spätaussiedwird, ohne dass wir selbst zu Wort kommen, und es lerzahlen und wachsende Integrationsprobleme, be24

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews len Ebenen nicht vernachlässigen, und die schönen Künste sollen mehr als nur ein Sahnehäubchen sein. Nach den Feierlichkeiten anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Auswanderung von Schwarzmeerdeutschen sind in diesem Jahr in erster Linie die Wolgadeutschen an der Reihe, die ihr 240-jähriges Jubiläum feiern. Um nicht wieder - wie im Jahr 2003 - unter enormen Zeitdruck zu geraten, haben wir mit der Vorbereitung und Organisation der Feierlichkeiten bereits jetzt begonnen. Bei allen Maßnahmen auf dem Kultursektor dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass wir nach der Streichung der Kulturmittel vor gut fünf Jahren fast ausschließlich auf ehrenamtliche Arbeit bauen müssen. Und ohne die nach wie vor großzügien Spenden unserer treuen Mitglieder ließe sich inzwischen kaum noch ein kulturelles Projekt realisieren. Das gilt für die Heimatbücher der Landsmannschaft ebenso wie für das geplante “Kulturelle Jahrbuch”, das wir Ihnen im Herbst dieses Jahres in ähnlicher Weise wie die Heimatbücher zuschicken wollen.

kam die Sozialarbeit innerhalb der Landsmannschaft einen immer größeren Stellenwert. Inzwischen sind sechs Bundessozialreferenten tätig, dazu kommen rund 150 offizielle und noch weitaus mehr “inoffizielle” Sozialbetreuer in den Orts- und Kreisgruppen. Wir schulen sie regelmäßig auf Bundes- und Landesebene, so dass wir Jahr für Jahr bis zu 60.000 Fälle kompetent behandeln können. Wir werden dafür sorgen, dass wir auch in diesem Jahr unseren Aufgaben auf dem Sozialsektor gerecht werden, von denen zusätzlich zu den bereits eingangs erwähnten die folgenden genannt seien: - Vertretung der Interessen unserer Landsleute, sowohl derjenigen, die noch nicht ausgereist sind, als auch derjenigen, die hier mit Schwierigkeiten bei der Integration zu kämpfen haben. - Kampf um eine gerechte Rente für Spätaussiedler. Die zu diesem Zweck gebildete Interessengemeinschaft der Landsmannschaft ist nach wie vor aktiv, hat aber so gut wie keinen Einfluss auf die Beschleunigung des gerichtlichen Entscheidungsverfahrens. Wir werden Sie in unserer nächsten Ausgabe ausführlich über den Stand der Dinge unterrichten, auch deshalb, damit Sie sich sicher sein können, dass wir mit Ihren Spendengeldern sorgsam umgehen. - Unterstützung in Sachen Ausbildung und Beruf. Bereits begonnene Aktionen wie etwa im Bereich der Akademiker und Selbständigen werden wir energisch vorantreiben. Um Ziele wie diese erreichen zu können, werden wir unsere Sozialreferentenschulungen intensivieren und - nach Möglichkeit! - die Schlagkraft unserer Bundesgeschäftsstelle erhöhen.

Bundesgeschäftsstelle, Organisation Wie oben angedeutet, ist das A und O der landsmannschaftlichen Arbeit eine funktionierende Bundesgeschäftsstelle. Mit Unterstützung unseres ehrenamtlich tätigen Bundesreferenten Waldemar Axt haben wir in den beiden letzen Jahren eine Reihe von Versäumnissen der Jahre davor nachgeholt und sind jetzt auf dem besten Weg zu einem modernen Dienstleistungsbetrieb. Auf lange Sicht war das Modell einer Geschäftsstelle ohne hauptamtlichen Geschäftsführer jedoch nicht zu realisieren, so dass wir Anfang 2004 einen neuen Mitarbeiter einstellen werden, der in den verantwortungsvollen Posten eingearbeitet werden soll. Ebenso haben wir uns vor allem im letzten Jahr verstärkt mit der Reform unserer Gruppen auf Landesund Ortsebene beschäftigt. So wurden die Landesgruppen Rheinland-Pfalz und Saarland reaktiviert bzw. neu gegründet, und säumige Ortsgruppen aufgefordert, überfällige Vorstandswahlen nachzuholen. Trotz angespannter eigener Finanzsituation haben wir die Beitragsrückerstattung an die Ortsgruppen erhöht, um sie zu verstärkter Mitarbeit zu motivieren.

Kulturarbeit Wie wir in den letzten Ausgaben unserer Vereinszeitschrift bereits mehrmals ausgeführt haben, hat die Landsmannschaft nach Jahren einer eindeutigen Dominanz des Sozialbereichs erkannt, dass ein Mitgliederzuwachs auf Dauer nur über eine Verstärkung der Kulturarbeit zu erreichen ist. Schließlich wollen vor allem unsere jüngeren Landsleute nach Überwindung der drückendsten Integrationsprobleme wissen, was ihnen die Landsmannschaft außer dem “täglichen Brot” der Sozialbetreuung zu bieten hat. Mitgliederstarke Ortsgruppen haben ihren Erfolg nicht zuletzt einem abwechslungsreichen Angebot an Kulturmaßnahmen zu verdanken, und andere Landsmannschaften haben Kulturarbeit längst in das Zentrum ihrer Bemühungen gerückt. Unter “Kulturarbeit” verstehen wir in erster Linie die Beschäftigung mit der Geschichte und Kulturgeschichte der Russlanddeutschen. Daneben werden wir natürlich auch die kulturelle Breitenarbeit auf al-

Projekte Vor allem in den Bundesländern Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen, aber auch in Baden-Württemberg konnten wir 2003 die Finanzierung einer Reihe von Projekten durchsetzen, die uns bei der Verwirklichung unserer Integrationsaufgaben unschätzbare Dienste leisten. Die jeweiligen Projektleiter werden 25

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews von uns ebenso wie die Mitarbeiter in der Bundesgeschäftsstelle regelmäßig geschult und arbeiten nach Möglichkeit in engem Kontakt mit den landsmannschaftlichen Ortsgruppen. Um Ihnen einen Eindruck von der Bandbreite der gegenwärtig laufenden Projekte zu vermitteln, seien diese kurz genannt: - Mit Sport gegen Frust und Isolation (Hessen), Leiter: Wassili Geier. - Tintenklecks & Tausendfüßler (Bayern), Leiterin: Dorothea Wagner. - Wanderausstellung “Volk auf dem Weg. Geschichte und Gegenwart der Deutschen aus Russland” (bundesweit), Leiter: Jakob Fischer und Peter Safreider. - Betreuung von Aussiedlerkindern und Jugendlichen in Wohnsiedlungen (Hessen), Leiterin: Eva Scherf. - Gesellschaftliche Integration von Kindern und Jugendlichen (Spätaussiedler/Migranten) im Ortenaukreis (Baden-Württemberg), Leiter: Georg Stößel. - Integrationsarbeit in Kassel und Bonn, Anleitung der Selbstinitiative der Aussiedler (Hessen, Nordrhein-Westfalen), Leiterinnen: Nelli Ritter und Lydia Süß. - Einbindung ehrenamtlicher Betreuer von Aussiedlern/Migranten in bestehende Netzwerke (Bayern), Leiter: Otto Werner. - Auf- und Ausbau eines Netzwerkes der Multiplikatoren zum Zwecke der Verstärkung der Integrationsarbeit mit russlanddeutschen Spätaussiedler (Hessen), Leiterin: Rosa Emich. - Integration junger Spätaussiedler in das Gemeinwesen von Heinsberg (Nordrhein-Westfalen), Leiter: Theodor Thyssen. - Integration junger Spätaussiedler in das Gemeinwesen des Landkreises Straubing (Bayern), Leiter: Eduard Neuberger. - Kampf der Sucht, Gewalt und Isolation in Rosenheim (Bayern), Leiter: Hermann Hoppe. - Aussiedler helfen Aussiedlern im Großraum München (Bayern), Leiter: Eugen Häußer. - Gesellschaftliche Integration von Kindern und Jugendlichen (Spätaussiedlern/Migranten) in Fürth (Bayern), Leiterin: Olga Bonet. Diese Projekte sind jeweils für einen Zeitraum von drei Jahren genehmigt und werden nach Ablauf dieser Zeit gegebenenfalls verlängert. Angesichts unserer Erfolge im Jahr 2003 sind wir zuversichtlich,

dass eine Reihe von Projekten, die wir für die kommenden Jahre beantragt haben, ebenfalls genehmigt werden.

Jugend Nach den Schwierigkeiten, die es in jüngster Zeit bei der Zusammenarbeit mit der “Deutschen Jugend aus Russland” (DJR) gegeben hatte, wandten wir uns Ende November 2003 mit einem Schreiben an deren Vorsitzenden Heinrich Funk, um diese Zusammenarbeit auf eine neue Basis zu stellen. Ich zitiere aus dem Schreiben: “Ich wende mich an Sie, da ich der festen Überzeugung bin, dass sich unsere beiden Organisationen, die Deutsche Jugend aus Russland und die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, endlich zu konstruktiven Gesprächen zusammensetzen sollten, um größeren Schaden für die von uns vertretene Volksgruppe der Deutschen aus Russland abzuwenden. Nach einer Phase des Gegeneinanders sollten wir über tatsächliche oder auch vermeintliche Unterschiede in unserer Verbandspolitik hinwegsehen und gemeinsam überlegen, wie wir unsere Kräfte am besten bündeln können. Ich will mich nicht länger bei den Streitereien der Vergangenheit aufhalten, vielmehr betonen, dass keine Rede davon sein kann, dass sich die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland von ihrer Jugendorganisation trennen will. Ich betone - will! Natürlich wissen wir, wie wichtig Jugendarbeit für unseren Verein ist, und wir wissen auch, dass in Ihrer Organisation eine ganze Reihe fähiger Köpfe mitwirken. Und auch wenn vereinzelt anderes behauptet wurde: Die Mitglieder des Bundesvorstandes der Landsmannschaft haben sich bei Gesprächen auf allen politischen Ebenen stets für die Deutsche Jugend aus Russland eingesetzt!”

Fazit Will die Landsmannschaft auch weiterhin erfolgreich für unsere Aussiedler und Spätaussiedler tätig sein, muss sie das Gespräch und die Zusammenarbeit mit allen suchen, die ernsthaft etwas für unsere Volksgruppe tun wollen. Das Motto unserer Arbeit muss also wie eh und je lauten: “Miteinander, nicht gegeneinander!” Januar 2004

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Jeder ist zur Mitarbeit eingeladen Rede des Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch anlässlich der Mitarbeitertagung der Landsmannschaft am 14. und 15. Februar 2004 in Würzburg ie Sie dem Tagungsplan bereits entnommen 1. Kann es sich die Landsmannschaft leisten, einfach so und auf Verdacht eine zweisprachige bzw. rushaben, wollen wir diesmal anders vorgehen sischsprachige Zeitung in die Welt zu setzen? Wir als gewohnt. Standen bisher bei derartigen alle kennen die Turbulenzen auf dem russischTagungen ausführliche Reden und spontane Diskussprachigen ebenso wie auf dem allgemeinen deutsionen im Mittelpunkt, werden wir dieses Mal den schen Zeitungsmarkt. Wer trägt die Kosten und Schwerpunkt auf die zielgerichtete und organisierte übernimmt die Verantwortung, wenn diese ZeiBehandlung von Problemen in Arbeitsgruppen legen. tung wie so viele andere in letzter Zeit SchiffNäheres dazu erfahren Sie anschließend von meinem bruch erleidet? Bundesvorstandskollegen Waldemar Neumann und von unserem Bundesreferenten Waldemar Axt. Ich 2. Wird die Landsmannschaft diese Spaltung in deutschsprachige und zwei- bzw. russischsprachiselbst will mich in der gebotenen Kürze darauf bege Mitglieder unbeschadet überleben? schränken, für Sie noch einmal die aktuellen Problemfelder der landsmannschaftlichen Arbeit zusam- 3. Wie stehen wir als Volksgruppe, die eine deutsche Volksgruppe sein will, in der Öffentlichkeit da, menzufassen. wenn wir unsere Mitglieder mit russischsprachigen Informationen versorgen? Punkt 1: Mitgliederentwicklung Sie dürfen sich sicher sein, dass wir Fragen wie diese Trotz aller Bemühungen ist es uns nicht gelungen, keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen, vielmehr den Mitgliederschwund der Landsmannschaft zum höchst verantwortungsvoll mit den Geldern unserer Stoppen zu bringen oder gar eine positive Entwick- Mitglieder umgehen und bei der Planung eines zweilung einzuleiten. Wir müssen leider konstatieren, sprachigen Organs das Risiko auf das absolute Minidass wir in weiten Teilen Ostdeutschlands so gut wie mum herunterschrauben. keine Mitglieder haben und dass wir auch in zahlrei- Auch in dieser Hinsicht erwarte ich mir von dieser chen Großstädten in den alten Bundesländern nicht Tagung Lösungsansätze, die nicht auf Meinungen oder nur schwach vertreten sind. Was aber nützen beruhen, sondern auf Wissen um die Problematik. uns die besten Konzepte, wenn die Landsmannschaft immer mehr ausblutet? Wollen wir unseren politi- Punkt 3: Jugendintegrationsarbeit schen und sozialpolitischen Einfluss vergrößern, Seit Jahren ein wunder Punkt, wie wir leider zugeben müssen wir uns also in erster Linie um eine ganz er- müssen - Stichpunkt: DJR - Deutsche Jugend aus hebliche Steigerung unserer Mitgliederzahlen bemü- Russland, mit der, und so realistisch sollten wir sein, hen. Was in mitgliederstarken Orts- und Kreisgrup- eine konstruktive Zusammenarbeit auf absehbare pen wie Pforzheim, Heilbronn, Heidelberg, Augs- Zeit nicht möglich sein wird. Der Versuch eines burg oder Nürnberg möglich ist - keine dieser Städte Schlichtungsgespräches zwischen dem Bundesvorgehört im Übrigen zu den größten in Deutschland -, stand der Landsmannschaft und Vertretern der Deutsollte und müsste doch auch in anderen Gegenden schen Jugend aus Russland vor einigen Wochen ist Deutschlands möglich sein. Gerade in dieser Hin- mehr oder minder fehlgeschlagen. Wollen wir also sicht erwarte ich mir von der Tagung an diesem Wo- verhindern, dass die Landsmannschaft auf Dauer chenende Vorschläge und zündende Ideen. ohne junge Mitglieder bleibt, müssen wir die Arbeit mit jungen Menschen wieder selbst in die Hand nehPunkt 2: Zweisprachigkeit men. Die Deutschen aus Russland repräsentieren eine Volksgruppe, die erheblich jünger ist als der Ich kann mir gut vorstellen, dass der eine oder ande- bundesdeutsche Durchschnitt, und so sollten sie auch re von Ihnen dieses Wort nicht mehr hören kann bzw. in der Landsmannschaft vertreten sein. Mut macht ungeduldig fragt, wann die Landsmannschaft zu die- uns, dass unsere Versuche, den Posten eines Jugendsem Thema endlich Klartext spricht. referenten bzw. einer Jugendreferentin innerhalb der Wenn es so einfach wäre, wie es sich der eine oder Landsmannschaft auf Bundesebene zu schaffen, allandere vorstellt, hätten wir längst gehandelt. Doch mählich konkrete Formen annehmen. Und es macht stellen Sie sich einmal selbst die folgenden Fragen uns auch Mut, dass es uns gelingt, immer mehr Pround bemühen Sie sich um eine faire und ehrliche jekte durchzusetzen, die sich vor allem mit der IntegAntwort: ration unserer Jugendlichen beschäftigen.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews allem in den Medien in den letzten Jahren immer schlechter geworden ist. Was sich in einigen Publikationen inzwischen abspielt, grenzt an Rufmord an unserer Volksgruppe. Wir wissen dass, wir reden und schreiben auch dagegen an, aber wir werden kaum gehört. Volk auf dem Weg wird nur von unseren Mitgliedern gelesen, russischsprachige Blätter werden von der einheimischen Bevölkerung nicht verstanden, und für die anderen Medien scheinen wir nur dann von Interesse zu sein, wenn einer unserer Jugendlichen etwas angestellt hat. Es nützt uns jedoch nichts, wenn wir diesen Zustand immer und immer wieder beklagen, denn wie gesagt: Wir werden kaum gehört. Um gehört zu werden, müssen wir uns aktiv Gehör verschaffen, und das bedeutet nicht nur, dass wir lauter werden müssen, sondern auch, dass wir uns direkt und in angemessener Weise an die Öffentlichkeit und die Medien wenden. Nicht indem wir klagen und beschimpfen, sondern indem wir sachlich korrekt informieren und mit einer Stimme sprechen. Wenn wir uns aber in aller Öffentlichkeit gegenseitig in die Pfanne hauen, müssen wir uns nicht wundern, wenn wir nicht ernst genommen werden.

Punkt 4: Sozialarbeit Angesichts der gestiegenen Integrationsprobleme wird auch in den nächsten Jahren die soziale Beratungs- und Betreuungsarbeit unserer Landsleute im Zentrum landsmannschaftlicher Bemühungen bleiben. Wir haben die moralische Pflicht, uns mit unserer ganzen Kraft um diejenigen zu kümmern, die nach Jahrzehnten der Unterdrückung erst jetzt nach Deutschland kommen dürfen. Wir mussten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass mit Sozialarbeit allein keine Mitglieder zu gewinnen sind. Sie alle kennen den normalen Verlauf: Allzu viele lassen sich beraten, und das nicht nur einmal, bedanken sich - hoffentlich! - und ver-schwinden dann auf Nimmerwiedersehen aus unserem Gesichtskreis. Da wir aufgrund unserer Satzung zur Beratung und Betreuung aller Landsleute verpflichtet sind, haben wir kaum die Möglichkeit, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.

Punkt 5: Kulturarbeit Um neue Mitglieder zu gewinnen, müssen wir unseren Landsleuten also etwas bieten, das sie nach Überwindung der drängendsten Eingliederungsprobleme an die Landsmannschaft bindet. Wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, sich mit uns zu identifizieren, ihnen eine Organisation anbieten, in der sie sich wiederfinden. Wie Sie bemerkt haben werden, haben wir zur Realisierung dieser Ziele in den letzten Monaten die landsmannschaftliche Kulturarbeit wieder zum Leben erweckt. Wir sind mit einer Reihe von Veranstaltungen und Maßnahmen auf den 200. Jahrestag der Auswanderung von Deutschen an das Schwarze Meer eingegangen, haben mit der Umgestaltung unserer Bundesgeschäftsstelle in Stuttgart in ein echtes Haus der Heimat begonnen und werden uns heuer mit vereinten Kräften den Jubiläen der Wolgadeutschen und der Krimdeutschen widmen. In gleicher Weise unterstützen wir kulturelle Aktivitäten auf Ortsgruppenebene und begrüßen die Gründung von Chören und Tanzgruppen, die Organisation von Heimatabenden, die Durchführung von Ausstellungen zur Geschichte der Russlanddeutschen und vieles mehr. Betont sei an dieser Stelle ein weiteres Mal, dass ein Großteil dieser Arbeit auf ehrenamtlicher Basis geschieht. Chancen, dass man uns in absehbarer Zeit die Stelle eines hauptamtlichen Kulturreferenten genehmigt, bestehen kaum.

Punkt 7: Politik

Lassen Sie mich zu diesem Punkt vorab eines klarstellen: Es ist völlig unsinnig, der Landsmannschaft politische Untätigkeit vorzuwerfen. Wer das behauptet, verwechselt Parteipolitik mit Politik. Es ist tatsächlich so, dass die Landsmannschaft aufgrund ihrer Satzung zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet ist. Als Vertreterin der Interessen ihrer Mitglieder und überhaupt aller Russlanddeutschen war die Landsmannschaft jedoch stets politisch aktiv. Aktuell sehen die Eckpunkte und Maßgaben landsmannschaftlicher Politik wie folgt aus: 1. Die Landsmannschaft sucht den Kontakt mit Vertretern aller Parteien, die im Aussiedlerbereich auf Bundes-, Landes- oder Ortsebene etwas zu sagen haben. Wir reden also mit der SPD und den Grünen ebenso wie mit der CDU/CSU und der FDP und wissen, dass wir in allen diesen Parteien Freunde und Gegner haben. 2. Wir unterstützen das politische Engagement unserer Landsleute in allen demokratischen Parteien, wenden uns aber gegen die Gründung von Splitterparteien zur Interessenvertretung unserer Volksgruppe und gegen einen Sonderweg der Deutschen aus Russland in die Parlamente. 3. Ohne Ansehen von Partei und Person wenden wir Punkt 6: Öffentlichkeitsuns gegen Bestrebungen, die unserer Volksgruppe und Medienarbeit schaden. Wer das Zuwanderungsgesetz in der gegenwärtigen Form durchsetzen will, muss also Ich brauche Ihnen wohl kaum zu erzählen, dass das ebenso mit unserem Widerstand rechnen wie eine Bild unserer Landsleute in der Öffentlichkeit und vor 28

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews schaft herangetragen wird. Wer die Landsmannschaft kritisiert, sollte wissen, dass er damit vor allem diejenigen ihrer Mitglieder kritisiert, die sich ehrenamtlich um das Wohl ihrer Landsleute bemühen. Wer in der Landsmannschaft etwas bewegen oder verändern will, ist herzlich eingeladen, ihr beizutreten und in ihr mitzuarbeiten. Und ich sage in aller Deutlichkeit: Wer jemals versucht hat, auch nur ein einziges Projekt im Spätaussiedlerbereich zu realisieren, weiß, mit wie viel Arbeit das gerade heutzutage verbunden ist. Da ist es doch viel einfacher, alles zu kritisieren, was die Landsmannschaft unternimmt, und mit phantastischen Vorschlägen aufzuwarten, die niemals einem Realitätstest unterzogen worden sind. Ideen und Vorschläge haben wir selber mehr als genug, was wir brauchen, sind fleißige und kreative Mitarbeiter, mit deren Hilfe wir sie umsetzen können!

Landesregierung, die Aussiedlergesetze besonders restriktiv handhabt. 4. Um politisch etwas zu erreichen, wird die Landsmannschaft auch in Zukunft in zähen Verhandlungen um Mehrheiten ringen. Wir wissen, dass diese Methode wenig spektakulär ist, wir wissen aber auch, dass sie in einer Demokratie der einzige Weg ist, etwas zu erreichen.

Punkt 8: Zusammenarbeit mit anderen Organisationen

In den letzten Jahren waren wir verstärkt bemüht, mit anderen russlanddeutschen Organisationen in Kontakt zu kommen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Mit einigen dieser Organisationen war die Kontaktaufnahme erfolgreich, bei anderen mussten wir einsehen, dass es keinen Sinn hat, sich um sie zu bemühen. Vor allem gilt das für Organisationen, die In diesem Sinne wünsche ich uns allen zwei ebenso sich selbst großartige Namen geben, aber außer lee- arbeitsreiche wie erfolgreiche Tage hier in Würzburg. ren Versprechungen nichts zu bieten haben. In ähnlicher Weise werden wir auch in Zukunft mit Februar 2004 Kritik umgehen, die von außen an die Landsmann-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Wir müssen uns gegen Vorurteile wehren! Rede des Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, anlässlich einer Tagung der kirchlichen Aussiedlerbeauftragten am 29. März 2004 "Klein-Moskau", "Russen-Getto", "Da leben ja nur die Russen". Wir alle haben Begriffe und Sprüche wie diese schon allzu oft gehört, wenn von russlanddeutschen Spätaussiedlern oder von Vierteln, in denen sie gehäuft wohnen, auf der Straße oder am Stammtisch die Rede ist. Und wir müssen leider zur Kenntnis nehmen, dass derartige Beleidigungen in den letzten Jahren zugenommen haben. Wer in dieser Weise über meine russlanddeutschen Landsleute redet, schlägt - ohne es vielleicht selbst zu merken - zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen beleidigt er die Mitglieder des russischen Volkes, indem er ihre Nationalitätenbezeichnung als Schimpfwort benutzt. Zum anderen beleidigt er die Deutschen aus Russland, indem er ihnen ihren verbrieften Status, Deutsche zu sein, abspricht. Vielleicht wissen es die genannten Damen und Herren auf der Straße und an den Stammtischen wirklich nicht besser - deshalb sollten wir auf sie zugehen und ihnen in aller Ruhe sagen: Wer als deutscher Spätaussiedler nach Paragraph 4 des Bundesvertriebenengesetzes aus den Nachfolgestaaten der UdSSR nach Deutschland kommt, war sein Leben lang Deutscher, und er wurde als solcher von der Bevölkerung des Landes wahrgenommen. Er war in seinem Pass als Deutscher eingetragen, er wurde wegen seiner Nationalität diskriminiert und als "Deutscher", als "Fritze" oder "Faschist" beschimpft. Und er wäre schon vor Jahrzehnten nach Deutschland gekommen, wenn er denn gedurft hätte. Und wir sollten die Leute mit den großen Sprüchen fragen: Glauben Sie wirklich, dass diese Menschen es verdient haben, hier erneut diskriminiert und beschimpft zu werden? Diesmal halt nicht als "Deutscher", sondern als "Russe". Um nicht missverstanden zu werden: Ich behaupte nicht, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung russlanddeutschen Aussiedlern und Spätaussiedlern mit Vorurteilen und einer negativen Einstellung begegnet. Es handelt sich jedoch um eine ausgesprochen lautstarke Minderheit, die gerade in der letzten Zeit durch einseitige Berichte über meine Landsleute in den Medien mit Munition versorgt wird. Ich gebe mich auch nicht der Illusion hin, dass früher alles besser war. Ich bin selbst als dreijähriges Kind aus der Ukraine nach Deutschland gekommen und hier aufgewachsen. Zu einer Zeit, als von Aussiedler-Ballungsgebieten noch keine Rede sein konnte.

Trotzdem wurde ich wegen meiner Herkunft mit ausgesprochen unfeinen Ausdrücken bedacht, und ich kenne eine Reihe von Landsleute, die damals ihre Herkunft verleugneten. Nicht nur, weil sie Angst vor dem langen Arm der Roten Armee hatten, sondern auch, weil sie für sich bessere Aufstiegschancen sahen, wenn sie sich beispielsweise als Ostpreußen bezeichneten. Trotzdem kann man die Situation der russlanddeutschen Aussiedler der 50er, 60er, 70er und auch 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts - damals nannte man sie in landsmannschaftlichen Kreisen bevorzugt Heimkehrer bzw. Spätheimkehrer - in keiner Weise mit derjenigen der Spätaussiedler der letzten zehn bis 15 Jahre vergleichen. Wie man im Verbandsorgan der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, "Volk auf dem Weg", nachlesen kann, konnte es in den 60er Jahren tatsächlich passieren, dass ein Landrat eine Aussiedlerfamilie als erste Deutsche aus Russland in seinem Kreis per Handschlag persönlich begrüßte! Zur verstärkten Ansiedlung von russlanddeutschen Aussiedlern kam es damals allenfalls in einigen Gebieten Baden-Württembergs, dem Hauptauswanderungsgebiet von Deutschen, die es vor 200 Jahren an das Schwarze Meer gezogen hatte. Dort wurde der deutsche Dialekt gesprochen, den sie auch nach zwei Jahrhunderten in der Fremde nicht verloren hatten, dort wohnten bereits ihre Verwandten, dort konnten sie sich problemlos integrieren und waren bereits nach wenigen Jahren nicht mehr von den so genannten Einheimischen zu unterscheiden. Ganz anders die Situation der Spätaussiedler, die mit dem rapiden Anstieg der Aussiedlerzahlen Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre nach Deutschland kamen. Nach Jahrzehnten des faktischen Verbotes der deutschen Sprache in der Sowjetunion ließen ihre deutschen Sprachkenntnisse in vielen Fällen zu wünschen übrig, und sie kamen viele Jahre nach den Sudetendeutschen und den anderen Altvertriebenen und zum großen Teil auch nach den Deutschen aus Polen und Rumänien in ein Land, das nach Jahren des wachsenden Wohlstands plötzlich mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten und zunehmender Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte. Getreu dem Sprichwort, laut dem die Letzten von den Hunden gebissen werden, wurden sie in bestimmten Kreisen der deutschen Öffentlichkeit zu 30

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews das Magazin, zu einer weit überdurchschnittlichen Kriminalität dieser Menschen führen. Es war die Rede davon, dass jeder fünfte Häftling im baden-württembergischen Jugendstrafvollzug Spätaussiedler ist, und von 1998 bis 2001 sollen die Straftaten bei Aussiedlern um 40 Prozent gestiegen sein. Als Gründe wurden unter anderem mangelnde deutsche Sprachkenntnisse genannt; außerdem sollen viele jugendliche Aussiedler von ihren Eltern gegen ihren Willen mit nach Deutschland genommen worden sein. So weit die für Sendungen dieser Art übliche, wenig differenzierte Analyse. Dabei soll durchaus nicht verschwiegen werden, dass sich der Verfasser des Beitrages um Verständnis für die jungen Spätaussiedler bemüht und die Schuld an Integrationsprobleme auch bei den Einheimischen gesucht hat. Zitat: "In Deutschland fand der Spätaussiedler Andreas nur wenige Freunde, erst recht keine Anerkennung. Schon bald hatte er Heimweh nach Kasachstan. Von Integration konnte keine Rede sein, schon gar nicht in der Schule. Andreas: 'Ich bin zweimal zurückgelaufen nach Hause, weil ich nicht in die Schule wollte, weil ich da nichts verstanden habe, und die haben mir auch nicht geholfen. Den Kindern ist das egal, die lachen dich noch aus. Einmal bin ich zur Toilette gegangen, und da waren zwei Deutsche, und die haben mich angespuckt, so von hinten, und ich war klein und bin dann sofort zu Mutter zurückgelaufen, zur Notwohnung, und wollte nicht zur Schule zurück.' " Absolut indiskutabel dagegen der Titel, den die Redakteure der Sendung gegeben hatten, nämlich: "Die kriminellen Kinder der Spätaussiedler." Eine Verallgemeinerung sondergleichen, nicht weit entfernt von Rufmord. Da jedoch von Spätaussiedlern die Rede war, wurde der verantwortliche Redakteur nicht zur Rechenschaft gezogen. Man stelle sich vor, eine Sendung hätte diesen Titel gehabt: "Die kriminellen Kinder der Ausländer." Der Redakteur eines jeden seriösen Presseorgans hätte danach eine Abmahnung erhalten. Man kann sich gegenwärtig nicht des Eindrucks erwehren, Spätaussiedler seien eine Volksgruppe, zu der sich so recht keiner in der Öffentlichkeit bekennen will. Parteien, Öffentlichkeit und Presse scheinen sich vielmehr gegenwärtig darin einig zu sein, dass Spätaussiedler nur dann in Deutschland willkommen sind, wenn sie sich sofort und ohne Schwierigkeiten integrieren. Den Eindruck, dass Spätaussiedler keine geschützte Volksgruppe sind, bekam man leider auch im letzten Bundestagswahlkampf. Quer durch alle Parteien waren Spätaussiedler kaum einem Politiker eine Erwähnung wert - eine positive schon gar nicht, denn das hätte vermutlich die Wahlchancen beeinträchtigt.

Sündenböcken für die wirtschaftliche Misere gemacht. Dass sie aufgrund ihrer ausgesprochen günstigen Altersstruktur - sie sind, um es vereinfacht auszudrücken, halb so alt und doppelt so jung wie die bundesdeutsche Gesamtbevölkerung - und ihrer Bereitschaft, auch Arbeiten anzunehmen, die weit unter ihrer mitgebrachten Qualifikation liegen, in Wirklichkeit auch in finanzieller Hinsicht ein Gewinn für unser Land sind und deutlich mehr in die Sozialkassen einbezahlen, als sie diesen entnehmen, scheint nur wenige zu interessieren. Vorurteile sind leider ausgesprochen zäh und können, da sie eine tragende Rolle im psychischen Apparat der Menschen spielen, durch Argumente, und seien sie auch noch so überzeugend und eindeutig, kaum beseitigt werden. Sollen wir uns deshalb wundern, wenn Menschen, die vielerorts auf Ressentiments oder auch offene Feindseligkeit stoßen, die Nähe ihrer Landsleute suchen und so ihren aktiven Beitrag zur Entstehung von Aussiedler-Ballungsgebieten leisten? Eher sollten wir uns darüber wundern, wie von einigen Vertretern der Politik und der Öffentlichkeit mit diesem Problem umgegangen wird. Beispielhaft, allerdings in negativer Weise, war die Reaktion des niedersächsischen Innenministeriums auf Probleme mit Spätaussiedlern, die man unter anderem in Cloppenburg und Umgebung nach dem Abzug der englischen Streitkräfte rasch in deren früheren Wohngebieten untergebracht hatte. Anstatt auf die auftauchenden und angesichts der Umstände leicht zu verstehenden Schwierigkeiten mit einem Ausbau der Integrationsmaßnahmen zu reagieren, forderte der damalige niedersächsische Innenminister, den weiteren Zuzug von russlanddeutschen Spätaussiedlern nach Deutschland zu stoppen bzw. zu begrenzen, indem man der Volksgruppe die Anerkennung des kollektiven Kriegsfolgeschicksals streicht. Als zu lobende Ausnahme sei der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Jochen Welt, erwähnt, der bei einer Integrationsveranstaltung in diesem Jahr in Essen betonte, dass trotz Schwierigkeiten in der Gruppe der 16- bis 30-jährigen männlichen Deutschen aus Russland generell nicht von einer überdurchschnittlichen Kriminalität unserer Landsleute gesprochen werden könne. Lassen Sie mich anhand eines Berichtes, den das Fernsehmagazin Frontal 21 vor einiger Zeit ausstrahlte, erläutern, weshalb es trotz des Fehlens von objektiven Fakten immer wieder zu negativen und diffamierenden Aussagen und Berichten über die Volksgruppe der Deutschen aus Russland kommt: Ausgehend von einem Einzelfall und - um es noch einmal zu betonen - und ohne jede objektive Grundlage, wurden darin Integrationsprobleme von Spätaussiedlern in Ballungsgebieten behandelt, die, so 31

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Diese Auffassung wurde offenbar bis hinauf zu den Spitzen der Parteien vertreten. So hat der Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Edmund Stoiber, Spätaussiedler kein einziges Mal erwähnt, während Gerhard Schröder im Fernsehduell in RTL und SAT1 auf dieses Thema folgendermaßen einging (ich zitiere wörtlich): "Wir haben ein großes Problem, und da müsste die Union einsichtiger werden. Wir haben jährlich immer noch etwa 90.000 Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Russland also, die als Deutsche mit allen Rechten kommen; inzwischen bedauerlicherweise, ohne auch nur ansatzweise Deutsch zu können. Da müsste man ran, denn diese Zuwanderer machen inzwischen in Brennpunkten viele, viele Probleme." In welch fahrlässiger Weise inzwischen über Spätaussiedler berichtet wird, sei anhand eines Artikels illustriert, der im letzten Jahr in der "Welt am Sonntag" über die Situation im baden-württembergischen Lahr erschienen ist. Zu Ihrer Information: Der Aussiedleranteil in Lahr beträgt 20 Prozent, was etwa 8.600 Einwohnern entspricht, bei den Kindern und Jugendlichen beträgt der Aussiedleranteil sogar 24,5 Prozent. Bundesweit liegt der Aussiedleranteil bei etwa drei Prozent. Unter der Überschrift "Neue Angst vor den Russen" wurde in dem Artikel der "Welt am Sonntag" über angeblich staatsgefährdende Zustände in dem badenwürttembergischen Städtchen Lahr berichtet. Der Verfasser fährt darin schwere Geschütze gegen Spätaussiedler auf. Von 58 Polizeibeamten ist die Rede, die nach einem Hilferuf des Gemeinderates zum Schutz gegen gewalttätige Aussiedler zusätzlich in Lahr stationiert wurden. Diese Aussiedler würden nämlich in dem einst idyllischen Lahr Angst und Schrecken verbreiten. Und ganz allgemein hätten sich Aussiedler zu einem bundesweiten Problem entwickelt. So weit der Bericht. Über das Ausmaß des Schadens, den er angerichtet hat, kann man nur spekulieren. Die Wirklichkeit sieht jedoch völlig anders aus: Nach offiziellen Angaben der Polizei belief sich der Aussiedleranteil an den ermittelten Kriminaldelikten in Lahr im Jahr 2001 auf 21,9 Prozent, im Jahr 2002 auf 17,9 Prozent und im ersten Halbjahr 2003 auf 16,8 Prozent. Und das bedeutet: Die Kriminalitätsquote der Aussiedler liegt in Lahr unter dem Durchschnitt! Außerdem: Der Lahrer Jugendgemeinderat besteht zu fast 50 Prozent aus Aussiedlerjugendlichen. Diese Jugendlichen demonstrieren eindeutig ihren Willen, sich am Leben der Stadt in konstruktiver Weise zu beteiligen, und verbreiten bestimmt weder Angst noch Schrecken in der Bevölkerung, wie in dem Artikel behauptet wird.

Wie weit es inzwischen in der Presselandschaft gekommen ist, zeigt eine Aussage von Bundespräsident Johannes Rau bei einem Besuch in Lahr Anfang diesen Jahres. Er forderte nämlich die anwesenden Journalisten bei einer Diskussion mit russlanddeutschen und einheimischen Jugendlichen auf, sachlich und korrekt über die Integrationsarbeit und ihre Probleme zu informieren. Dass es diese Probleme gibt, will ich gar nicht bestreiten. Natürlich werden die deutschen Sprachkenntnisse der russlanddeutschen Spätaussiedler nicht besser, wenn sie unter sich bleiben und sich fast ausschließlich der russischen Sprache bedienen. Natürlich fühlen sich viele russlanddeutsche Jugendliche desorientiert und viele erwachsene Deutsche aus Russland deklassiert, beruflich wie sozial, und nehmen sich selbst die Chance auf Besserung ihrer Lage, indem sie nicht auf die einheimische Bevölkerung zugehen und sich mit den Bedingungen des Lebens hier vertraut machen. Und natürlich werden russlanddeutsche Jugendliche, die ohne Ausbildung und ohne die Chance auf eine befriedigende Arbeit Zuflucht in russlanddeutschen Cliquen suchen, die von einem Wertesystem bestimmt sind, das von dem hierzulande üblichen abweicht, leichter kriminell und drogenabhängig als andere Jugendliche. Ich wehre mich jedoch vehement dagegen, diese Menschen pauschal zu verurteilen, und betone: Die große Mehrheit meiner russlanddeutschen Landsleute ist nach wie vor bemüht, sich hier so rasch wie möglich zu integrieren. Die anderen aber, die Angehörige einer Volksgruppe sind, die im Laufe ihrer Geschichte mehr als genug gelitten hat, haben es verdient, dass wir uns mit gemeinsamen Anstrengungen um sie kümmern. Damit es zu einer sinnvollen Betreuungsarbeit kommen kann, lenkt die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ihre Aktivitäten in folgende Richtungen: Um bessere Integrationsbedingungen für unsere Spätaussiedler zu schaffen, suchen wir das Gespräch mit allen demokratischen Parteien. Wir weisen in diesen Gesprächen immer wieder darauf hin, dass sich jeder Euro, der für Integrationsmaßnahmen ausgegeben wird, rentiert. Eine Einschätzung, die inzwischen übrigens auch durch empirische Untersuchungen untermauert werden kann. Für besonders effektiv halten wir das so genannte Huckepack-System, bei dem sich Einheimische und Deutsche aus Russland in der Betreuung und Beratung von Spätaussiedlern gegenseitig ergänzen. Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit ist der Einsatz von hauptamtlich tätigen Leitern von Integrationsprojekten in Gegenden mit hohem Aussiedleranteil. Diese Projekte werden vor allem aus Mitteln des Bundesinnenministeriums und des Bundes32

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews zeugen, was im Rahmen des Projektes in Zusammenarbeit von Landsmannschaft, Diakonischem Werk und anderen Organisationen binnen kurzer Zeit auf die Beine gestellt werden konnte. Angefangen vom Büro der Landsmannschaft über ein Computerzentrum und eine Jugendwerkstatt bis hin zum "Zentrum für Arbeit im Klepperpark" gab es für Jochen Welt bei einer Stadtrundfahrt einiges zu sehen. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Bemühungen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, bessere Integrationsbedingungen für die von ihr vertretene Volksgruppe zu erreichen, nicht aussichtslos sind. Letztendlich kann die Integration jedoch nur dann gelingen, wenn unsere Landsleute den Schritt aus der Isolation heraus schaffen und auf die Menschen hier zugehen. Wir werden alles tun, um sie zu diesem Schritt zu motivieren.

amtes für die Anerkennung ausländische Flüchtlinge finanziert und sollen die gesellschaftliche Integration von russlanddeutschen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch aufsuchende Betreuung in Übergangswohnheimen, Schulen, Kindergärten, Jugendclubs, Jugendtreffpunkten und ähnlichen Einrichtungen fördern. Gegenwärtig laufen unter der Regie der Landsmannschaft zwölf derartige Projekte, vor allem in Bayern, aber auch in Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Besonders aktiv sind wir in Rosenheim und seiner näheren und weiteren Umgebung, wo gleich drei landsmannschaftliche Projektleiter im Einsatz sind. Speziell auf die Verhältnisse der Stadt mit einem Aussiedleranteil von rund 11 Prozent zugeschnitten ist das Projekt "Kampf der Sucht, Gewalt und Isolation in Rosenheim". Erst vor zwei Wochen konnte sich der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung bei einem Besuch der oberbayerischen Stadt davon über-

März 2004

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. ... jektleiter um die Integration ihrer Landsleute kümmern.

... wurde 1950 in Stuttgart gegründet und versteht sich bis zum heutigen Tag als Interessenvertreterin, Hilfsorganisation und Kulturverein aller Russlanddeutschen. Als eingetragener Verein verfolgt die Landsmannschaft ausschließlich gemeinnützige Zwecke, sie ist überparteilich und überkonfessionell und offen für alle, die sich für das Wohl der Russlanddeutschen einsetzen wollen. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist organisatorisch unterteilt in Landes- sowie rund 150 Orts- und Kreisgruppen, deren Vertreter bei der alle drei Jahre stattfindenden Bundesdelegiertenversammlung den ehrenamtlich tätigen Bundesvorstand wählen. Koordiniert wird die Arbeit der Landsmannschaft durch die in Stuttgart ansässige Bundesgeschäftsstelle. Angesichts der gestiegenen Probleme bei der Integration von Spätaussiedlern und der sinkenden Akzeptanz der Deutschen aus Russland in der Bevölkerung ist die Arbeit der Landsmannschaft heute wichtiger als jemals zuvor. Sie setzt dabei gegenwärtig die folgenden Schwerpunkte:

- Öffentlichkeitsarbeit: Betreut von zwei landsmannschaftlichen Projektleitern, wird die Ausstellung “Volk auf dem Weg. Geschichte und Gegenwart der Deutschen aus Russland” in fünf identischen Fassungen im ganzen Bundesgebiet gezeigt. Besonderer Wert wird auf die Versorgung bundesdeutscher Medien mit Informationsmaterial gelegt. Außerdem ist die Landsmannschaft seit rund zwei Jahren mit einer Homepage im Internet präsent. - Kulturarbeit: Durch verstärkte Anstrengungen in den letzten Jahren hat die Landsmannschaft ihre Kulturarbeit auf eine breitere Basis gestellt: - jährlich erscheinende Heimatbücher, in denen Vertreter der Erlebnisgeneration und Wissenschaftler die Geschichte und die Kultur der Russlanddeutschen darstellen; - weitere Publikationen (Broschüren, Kataloge, CDs) zu dieser Thematik; - Feierlichkeiten anlässlich der Auswanderungsjubiläen der Schwarzmeer-, Wolga- und Krimdeutschen; - Reaktivierung der landsmannschaftlichen Arbeitskreise für Literatur, Musik und Bildende Künste; - Umbau der Bundesgeschäftsstelle in ein wirkliches “Haus der Heimat” der Russlanddeutschen.

- Politische Arbeit: In zahllosen Gesprächen mit Vertretern aller im Bundestag vertretenen Parteien, durch Eingaben und Presseerklärungen, aber auch durch Beschreiten des Rechtsweges kämpft die Landsmannschaft um die Schaffung von rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, die eine weitere Aufnahme von Spätaussiedlern im Bundesgebiet ermöglichen und ihre Eingliederung erleichtern. - Jugendarbeit: Durch die Einstellung einer Bundesreferentin für Jugendarbeit im Jahr 2004 hat die - Sozialberatung und -betreuung: In den Orts- Landsmannschaft den gestiegenen Anforderungen und Kreisgruppen, in weiteren landsmannschaftli- gerade im Jugendbereich Rechnung getragen. chen Beratungsstellen sowie in der Bundesgeschäfts- Um einen Apparat zu schaffen, der diesen Aufgaben stelle selbst werden jährlich rund 60.000 Problemfäl- gerecht werden kann, führt die Landsmannschaft rele abgewickelt, die meisten von Mitgliedern der gelmäßig Referenten- und MultiplikatorenschulunLandsmannschaft auf ehrenamtlicher Basis. gen durch und ist dabei, sich in einen modernen Dienstleistungsbetrieb zu verwandeln. - Integrationsprojekte: Mit Unterstützung des Bundesinnenministeriums und anderer Stellen hat Wer sich wirklich effektiv für die Interessen seiner die Landsmannschaft vor allem in den südlichen Landsleute einsetzen will, tritt der Landsmannschaft Bundesländern eine Reihe von Projekten realisiert, in der Deutschen aus Russland e.V. bei. denen sich hauptamtlich tätige russlanddeutsche ProApril 2004

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Presseerklärung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zu ihrem 28. Bundestreffen on nicht spätestens 1941 geschlossen wurden, würden die Spätaussiedler von heute mit weitaus besseren Deutschkenntnissen nach Deutschland kommen. Genauso wenig tragen unsere Landsleute die Verantwortung dafür, dass sie heute in ein Land kommen, das mit wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Sie plündern, wie bereits erwähnt, die Rentenkassen nicht, sie nehmen Arbeiten im Billiglohnbereich an, die kaum ein Einheimischer für zumutbar hält, sie haben mit ihrem unverbrauchten Arbeitswillen zur Rettung strukturschwacher Gebiete beigetragen, und ohne ihre zahlreichen Kinder hätten vielerorts Kindergärten, Schulen und Sportvereine längst schließen müssen. Noch weniger können wir die Art und Weise hinnehmen, in der in letzter Zeit in der Öffentlichkeit und in Teilen der Medien über Deutsche aus Russland gesprochen und berichtet wird. Es darf nicht sein, dass Vertreter einer Volksgruppe, die Hunderttausende von Opfern des Stalinismus zu beklagen hat, hier in Deutschland zu Opfern von Fehlinformationen und Vorurteilen und zu Sündenböcken für gesellschaftliche und politische Missstände gemacht werden. Dem negativen Bild, das von unserer Volksgruppe in der Öffentlichkeit entworfen wird, wollen wir positive Beispiele entgegenhalten: russlanddeutsche Wissenschaftler und Fachleute, die aufgrund ihres speziellen Knowhows und ihrer russischen Sprachkenntnisse eine bedeutende Rolle im sich entwickelnden Ost-West-Handel spielen könnten; Sozialarbeiter aus unseren Reihen, die in Kooperation mit einheimischen Kollegen Optimales in der Integrationsarbeit erreichen; unsere Sportler, die Erfolge bei nationalen und internationalen Meisterschafte feiern, und vieles mehr.

as 28. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, das unter dem Motto "Integration und Akzeptanz!" am 12. Juni in der "Neuen Messe" in KarlsruheRheinstetten stattfindet, soll die Einigkeit und Integrationsbereitschaft einer vom Schicksal schwer geprüften Volksgruppe demonstrieren, gegen immer stärker werdende Ressentiments und Vorurteile in der hiesigen Bevölkerung und den Medien ankämpfen und die Vertreter der politischen Parteien auffordern, sich in deutlicher Weise zu den letzten Heimkehrern aus dem Osten zu bekennen.

D

Insbesondere wird die Landsmannschaft als offizielle Vertreterin der über zweieinhalb Millionen Deutschen aus Russland, die inzwischen im Bundesgebiet leben, im Rahmen des Bundestreffens klarstellen, dass von einer besonderen Integrationsproblematik im Spätaussiedlerbereich nach wie vor keine Rede sein kann. Laut offiziellen Zahlen sind Deutsche aus Russland nicht krimineller als der Bundesdurchschnitt, ihre Arbeitslosigkeit liegt sogar darunter, und aufgrund ihrer ausgesprochen günstigen Altersstruktur ("Spätaussiedler sind halb so alt und doppelt so jung wie alteingesessene Bundesbürger") sind sie ein demographischer Gewinn für Deutschland und zahlen weitaus mehr in die Rentenkassen ein, als sie diesen entnehmen. Es ist nicht zulässig, gewisse Schwierigkeiten bei der Eingliederung junger männlicher Spätaussiedler der gesamten Volksgruppe zu unterstellen. Und noch weniger ist es zulässig, diese jungen Spätaussiedler zur verlorenen Generation werden zu lassen. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wird bei ihrem Treffen eine Reihe von geplanten bzw. bereits realisierten Maßnahmen vorstellen, die sich in Erfolg versprechender Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Weise mit dieser Thematik auseinander setzen. wird bei ihrem Bundestreffen außerdem ein weiteres Es kann nicht geleugnet werden, dass die Akzeptanz Mal aufzeigen, weshalb sie sich vehement gegen ein der Deutschen aus Russland in der hiesigen Bevölke- Zustandekommen des Zuwanderungsgesetzes in der rung in den letzten Jahren nachgelassen hat - eine gegenwärtigen Form wendet. Sie hält es nach wie Entwicklung, für die unsere Landsleute nicht verant- vor in den Passagen, die sich auf Spätaussiedler beziehen, für völlig unangemessen und behält sich im wortlich gemacht werden dürfen. Es kann ihnen gewiss nicht vorgehalten werden, dass Falle eines Zustandekommens rechtliche Schritte die Sowjetunion jahrzehntelang ihre Ausreise ge- vor. Die grundsätzlichen Positionen der Landsmannwaltsam verhindert hat. Hätten sie gedurft, wären un- schaft zum Zuwanderungsgesetz lauten wie folgt: sere Landsleute bereits vor 50 Jahren und mehr nach Deutschland ausgesiedelt und hier längst integriert. - Das Zuwanderungsgesetz bezieht sich ausdrücklich auf die "Integration von Unionsbürgern und Und wären die deutschen Schulen in der Sowjetuni35

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Ausländern". Deutsche aus Russland gehören je- - Nach dem II. Weltkrieg war es für unsere Landsdoch zu keiner dieser beiden Gruppen. Laut leute mit gravierenden Nachteilen verbunden, in Grundgesetz (Art. 116) handelt es sich bei ihnen der Sowjetunion öffentlich deutsch zu sprechen. vielmehr um Deutsche. Diese Auffassung wird Diesen Menschen jetzt vorzuwerfen, sie würden von allen Parteien des Deutschen Bundestages geihre Muttersprache nur ungenügend beherrschen, tragen, und es gibt keinen Grund, an dieser Aufbestraft sie als Opfer ein weiteres Mal. fassung zu rütteln. Daraus ergibt sich aber auch, dass es von Anfang an ein Fehler war, russland- - Wer die Bestimmungen des Zuwanderungsgesetdeutsche Spätaussiedler in das Zuwanderungsgezes durchsetzen will, nimmt Familientrennungen setz mit einzubeziehen. in Kauf oder verhindert bewusst die weitere Einreise von Deutschen aus den Staaten der GUS. - Das Zuwanderungsgesetz trägt in höchst ungenüDass Familienangehörige, die den Sprachtest nicht gender Weise dem besonderen Schicksal der russbestanden haben, nach dem Ausländerrecht einreilanddeutschen Volksgruppe Rechnung. Dabei sen dürfen, ist ein schwacher Trost und legt ihren dürfte es dem Gesetzgeber durchaus bekannt geStatus zudem in unzulässiger Weise fest. wesen sein, dass die Deutschen in der Sowjetunion vor allem nach dem Beginn des deutsch-sowjeti- Fazit: Die Landsmannschaft kann es nicht zulasschen Krieges jahrzehntelanger Verfolgung und sen, dass Deutsche aus Russland, die ein halbes Diskriminierung ausgesetzt waren. Diese Men- Jahrhundert lang unschuldig gelitten haben und schen nach dem Verlust unzähliger Angehöriger, wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, nach Repressionen und Unterdrückung ein weite- aufgrund falscher Prämissen an der Ausreise res Mal zu bestrafen, indem man die Hürden für nach Deutschland gehindert werden. ihre Ausreise höher baut, ist unverantwortlich. Juni 2004

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Zuwanderungsgesetz: Ohne die Landsmannschaft wäre es noch viel schlimmer gekommen! ihr erarbeiteten Bericht der Öffentlichkeit. Bereits am 3. August 2001 wurde, nachdem das Gesetz zur “Klarstellung des Spätaussiedlerstatus” noch nicht in Kraft war, von Bundesinnenminister Otto Schily der Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes vorgelegt. Das Besondere war die Tatsache, dass der Bereich über die Behandlung von Aussiedlern aus dem großen Komplex herausgegriffen und binnen kürzester Zeit der § 6 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes neu gefasst wurde und am 7. September 2001, unter Protest der Landsmannschaft, mit dem Spätaussiedlerstatusgesetz in Kraft trat. In Stellungnahmen krtisierte die Landsmannschaft die Vorgehensweise, die Begründung und die Härte der Regierung heftig. Eine Woche vor Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat wandte sich die Landsmannschaft mit einer weiteren Stellungnahme nicht nur an die Bundesregierung, sondern auch an den Bundespräsidenten, an die Ministerpräsidenten der Länder und an weitere führende Politiker. Erneut wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es keiner weiteren Verschärfung der bisherigen rechtlichen Rahmenbedingungen bedürfe und diese Vorgehensweise den von allen Parteien und Fraktionen beteuerten historischen, politischen und humanitären Verpflichtungen gegenüber den Spätaussiedlern und ihren Familienangehörigen widerspreche. Nach der Abstimmung im Bundesrat und der Unterzeichnung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten legten die unionsgeführten Länder Verfassungsbeschwerde ein. Schon am 18. Dezember 2002 stellte das Verfassungsgericht in einem Urteil fest, dass das Zustandekommen des Gesetzes mit den Grundgesetz nicht vereinbar und daher nichtig sei. Wer nunmehr glaubte, das Zuwanderungsgesetz wäre vom Tisch gewesen, sah sich einem großen Irrtum gegenüber. Am gleichen Tag kündigte die Regierung an, das Zuwanderungsgesetz erneut und unverändert in den Bundestag einzubringen. Einmal mehr reagierte die Landsmannschaft unverzüglich mit einer Stellungnahme und kündigte zugleich an, entsprechende Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Die gravierendste Forderung der Landsmannschaft in den Lösungvorschlägen war, den gesamten Artikel 6, der die Aussiedler betrifft, aus dem Zuwanderungsgesetz herauszunehmen, da dieses Gesetz zum einen den Zuzug von Unionsbürgern (EUStaaten) und Ausländern regeln soll und zum ande-

Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge müssen wir davon ausgehen, dass ein Inkraftreten des Zuwanderungsgesetzes auf politischem Wege nicht mehr zu verhindern sein wird. Regierung und Opposition haben sich geeinigt. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist mit den Passagen, die sich auf die Aufnahme von Spätaussiedlern beziehen, nicht einverstanden. Wir wollen Ihnen aber nachstehend zeigen, dass es ohne die beharrliche und sachliche Arbeit der Landsmannschaft noch viel schlimmer gekommen wäre: Am 12. September 2000 wurde die unabhängige Kommission “Zuwanderung” unter Vorsitz von Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth ins Leben gerufen. Auftrag der Kommission war, konkrete Empfehlungen für eine zukünftige Zuwanderungspolitik zu erarbeiten. Zunächst wurde der Landsmannschaft der Rat erteilt, sich aus der Diskussion herauszuhalten, um die Aufnahme- und Integrationssituation nicht weiter zu verschärfen. Eine Verschärfung hatte jedoch bereits durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12. November 1996 stattgefunden, das im Fall einer Person getroffen wurde, die weder deutscher Abstammung war noch die deutsche Sprache beherrschte. Diese Entscheidung zog die Einführung des Sprachtests nach sich. Mit den Urteilen vom 19. Oktober 2000 wurden die Leitsätze, insbesondere was die Sprachbeurteilung und die Sprachbewertung angeht, abgemildert und die Rechtsprechung von 1995 im Großen und Ganzen weitergeführt. Aufgrund dieser Urteile wurde nun plötzlich davon gesprochen, ein Einwanderungsgesetz zu schaffen und das bis dahin gesetzlich unterstellte Kriegsfolgenschicksal abzuschaffen. Diese Forderungen veranlassten nunmehr die Landsmannschaft, sich in die Diskussion einzuschalten. Bereits in den ersten Stellungnahmen und Gesprächen mit Politikern vertrat die Landsmannschaft energisch die Auffassung: “Spätaussiedler haben im Einwanderungsgesetz nichts verloren. Sie gehören nicht zum Personenkreis der echten Ausländer. Sie sind Deutsche nach Art 116 GG. Eine weitere Forderung der Landsmannschaft war, dass nach wie vor das Kriegsfolgen-schicksal gesetzlich unterstellt bleiben müsse. Diesen Standpunkt vertrat die Landsmannschaft auch in einem Gespräch mit der unabhängigen Zuwanderungskommission. Am 4. Juli 2001 übergab die Kommission den von 37

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews ren keine andere Zuwanderungsgruppe die scharfen Zuwanderungs- und eben auch schon Integrationsvoraussetzungen, die dieses Gesetz mit sich bringt, zu erfüllen hat. Nunmehr ist das Zuwanderungsgesetz trotz aller Bemühungen der Landsmannschaft Realität geworden. Von den Lösungsvorschlägen der Landsmannschaft wurden folgende Punkte übernommen:

siedlerbeauftragten der CDU/CSU, Jochen-Konrad Fromme MdB, zu zitieren: “Ich kann dem Ergebnis nicht zustimmen, weil die im Bereich der Veränderungen bei den Spätaussiedlern angestrebten Ziele auf dem im Gesetz vorgesehenen Weg nicht erreicht werden können. ... Auch werden nach dieser Konzeption Deutsche und ihre Angehörigen erheblich schlechter behandelt als nichtdeutsche Migrationswillige. Nichtdeutsche Migrationswillige und deren Angehörige können, ohne irgendeine Voraussetzung zu erfüllen, nach den entsprechenden Vorschriften des Ausländerrechts in Deutschland einen Aufenthaltsstatus erlangen, während die Angehörigen der Spätaussiedler einen Sprachtest absolvieren müssen. Im Übrigen ist es viel leichter, Integrationsvoraussetzungen erst im Inland zu schaffen, weil hier eine andere Infrastruktur und ein anderes Klima vorhanden ist, während es für die Angehörigen in der ehemaligen Sowjetunion erheblich schwerer ist, Deutschkenntnisse unter den dortigen Umständen zu erlangen." Liebe Landsleute, auch Sie sind nunmehr gefordert, die Arbeit der Landsmannschaft zu unterstützen. Werden Sie Mitglied und unterstützen Sie uns mit Ihren Mitgliedsbeiträgen, damit wir unseren Kampf gegen Ungerechtigkeit weiterführen zu können. Denken Sie auch an ihre in der ehemaligen Sowjetunion lebenden Angehörigen. Auch diese benötigen die Hilfe der Landsmannschaft. Wie im Text bereits erwähnt, prüft die Landsmannschaft zusammen mit Experten das Gesetz in den einzelnen Punkten auf seine Verfassungsmäßigkeit. Der Bundesvorstand der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland

1. Beim Führen des Abstammungsnachweises bleibt es bei der bisherigen gesetzlichen Regelung, wonach in besonders gelagerten Fällen auch auf die Generation der Großeltern beim Führen des Abstammungsnachweises zurückgegriffen werden kann. 2. Bei dem für die Familienangehörigen und Abkömmlinge des Spätaussiedlers vorgesehenen Sprachtest werden künftig Grundkenntnisse der deutschen Sprache verlangt werden. Der Sprachtest wird wiederholbar sein. 3. Per Ministererlass bleibt der Beirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Aussiedlerfragen erhalten. Sie sehen: Durch den Kampfgeist der Landsmannschaft wurde einiges geändert und die Realisierung des Gesetzes hinausgezögert. Wer nunmehr glaubt, wir nehmen alles andere als gegeben hin, irrt sich. Bezüglich der besonderen Herausstellung der deutschen Sprache sowie der Durchführung des Sprachtests für die Familienangehörigen beim Aufnahmeverfahren werden wir prüfen, inwieweit es möglich ist, dagegen anzugehen. Um diese harte Nuss zu knacken, sind Gespräche mit Experten vorgesehen. Zudem ist uns bekannt, dass einige Abgeordnete hinter uns stehen und das Gesetz, genauso wie die Landsmannschaft, ablehnen. Hierzu erlauben wir uns, aus einem Brief des Aus-

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Geschichte und Gegenwart der Landsmannschaft Referat des Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, in der Konrad-Adenauer-Stiftung am 20. Juni 2004 den, so wurde der Name selbst ab dem Bundestreffen im Jahr 1955, das in Frankfurt am Main stattfand, verwendet. Die Arbeit der Landsmannschaft in den Gründerjahren bis 1955 war geprägt von den folgenden Themen:

n seinem Referat in der Konrad-Adenauer-Stiftung am 20. Juni 2004 befasste sich der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Adolf Fetsch, mit zentralen Punkten der Geschichte und Gegenwart unseres Verbandes: Lassen Sie mich meinen Vortrag mit einem Rückblick auf die Geschichte der Landsmannschaft beginnen, aus dem hervorgehen wird, wie sich die Landsmannschaft zu dem entwickelt hat, was sie heute ist. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland zu verschiedenen Zeiten zehn russlanddeutsche Organisationen - den Ausschuss der deutschen Gruppen Altrusslands, den Verein der Wolgadeutschen, Vereine der Deutschen aus dem Schwarzmeergebiet und dem Kaukasus, die Mennonitische Flüchtlingsfürsorge und andere. 1933 gab es in Deutschland sogar bereits zwei Dachorganisationen der Deutschen aus Russland, das “Zentralkomitee der Deutschen aus Russland” und die “Arbeitsgemeinschaft der Deutschen aus Russland und Polen”. Im Zentrum der humanitären Aktionen dieser Organisationen stand die Hilfe für die in der Sowjetunion lebenden Landsleute, vor allem während der Hungersnöte zu Beginn der 20er und 30er Jahre und zur Zeit der Ausreisebemühungen vieler Deutscher in der Sowjetunion mit dem Beginn der Kollektivierung 1929. Als wichtigste Vorläuferorganisation der Landsmannschaft nach dem Krieg kann das “Hilfskomitee der evangelisch-lutherischen Ostumsiedler” angesehen werden, das sich 1947 konstituiert hatte. Drei Jahre später lud Pfarrer Heinrich Römmich russlanddeutsche Vertreter der Kirchen und bekannte Repräsentanten der Volksgruppe nach Stuttgart zur Gründung einer Organisation für alle Deutschen aus Russland ein, die in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin lebten. Zehn Männer der allerersten Stunde beschlossen die Gründung einer “Arbeitsgemeinschaft der Ostumsiedler”, womit, wie Pfarrer Römmich später schrieb, die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland unter einem anderen Namen Wirklichkeit geworden war. Im gleichen Jahr gehörte die Landsmannschaft zu den Mitunterzeichnern der “Charta der deutschen Heimatvertriebenen”, die seither von diesen als ihr “Grundgesetz” angesehen wird. Kann 1950 also als Gründungsjahr der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland angesehen wer-

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- Pflege der heimatlichen Kultur und der Verbundenheit der Landsleute; - Geltendmachung des Rechtes aus Heimat, Menschenwürde und Gerechtigkeit; - Wahrnehmung der sozialen und wirtschaftlichen Belange (Renten, Berufsausbildung, Jugendfragen usw.); - Mitwirkung in Fragen der Schadensfeststellung und des Lastenausgleichs; - wissenschaftliche Arbeit; - Suchdienst und Beschaffung von Dokumenten. Im Jahr 1955 versorgte die Landsmannschaft Bundeskanzler Konrad Adenauer vor seinen schicksalhaften Gesprächen in Moskau mit umfangreichen Daten über die in der Sowjetunion an der Ausreise nach Deutschland gehinderten Russlanddeutschen. Die darauf folgenden Jahre standen ganz im Zeichen des Kampfes um gleiche Rechte für die Deutschen aus Russland. Es war damals durchaus nicht selbstverständlich, dass unsere Landsleute in die allgemeine Vertriebenen- und Sozialgesetzgebung mit einbezogen wurden. Die Landsmannschaft war vielmehr gefordert und erreichte erst nach einer Reihe von Sozialprozessen in den Jahren 1957 bis 1959 die Einbeziehung der Deutschen aus Russland in das Fremdrentengesetz, das Lastenausgleichsgesetz und die Ausgleichsgesetzgebung. Besonders hart musste die Landsmannschaft um die Einbeziehung in das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz von 1954 ringen. Ein entsprechendes Urteil vor dem Bundesverwaltungsgericht konnte erst 1962 erstritten werden. Bis zur Einbeziehung der Deutschen aus Russland in das Häftlingshilfegesetz dauerte es sogar noch weitere vier Jahre. Bereits damals konnte also keine Rede davon sein, dass den Deutschen aus Russland irgendetwas in den Schoß fiel. Ohne das Wirken der Landsmannschaft hätten sie vermutlich niemals die Gleichstellung mit anderen Vertriebenen erreicht. Nicht zuletzt der Landsmannschaft haben wir es auch zu verdanken, dass sich Ende der 50er Jahre 39

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews maßgebende deutsche Politiker wie Theodor Heuss, Konrad Adenauer oder Willy Brandt in einem viel beachteten Appell für die Öffnung des Tores aus der Sowjetunion nach Deutschland einsetzten. Ohne diese politische Forderung wäre die Ausreise der Deutschen aus der Sowjetunion nicht möglich gewesen, und die meisten unserer Landsleute wären heute nicht hier. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Ausreise nach Deutschland für die in der Sowjetunion lebenden Deutschen praktisch nur im Rahmen der Familienzusammenführung möglich. Wer keine näheren Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland hatte, war chancenlos. Trotz aller Bemühungen der Landsmannschaft waren die Ausreisezahlen in manchen Jahren nur minimal und abhängig von der politischen Großwetterlage der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Ich nenne Ihnen dazu einige Zahlen: In den Jahren 1950 und 1953 durfte kein einziger Deutscher aus der Sowjetunion nach Deutschland ausreisen, 1954 waren es ganze 18, weitere Tiefpunkte gab es 1963 mit 209 Ausreisenden, 1969 mit 316 und 1985 - kurz vor Beginn der großen Ausreisewelle - mit 460. Die Phase der Stagnation der Ausreisezahlen benutzte die Landsmannschaft, um ihre Strukturen zu stärken und die Öffentlichkeit auf das Schicksal der in der Sowjetunion festgehaltenen Deutschen aufmerksam zu machen. 1968 erkämpfte sie vor Gericht eines der wichtigsten Urteile ihrer Geschichte: Die Kolchoszeit wurde endlich als Beschäftigungszeit nach dem Fremdrentengesetz anerkannt. Neue Möglichkeiten, ihre Arbeit auf eine solidere Basis zu stellen, eröffnete der Landsmannschaft die Übernahme der Patenschaft durch das Land BadenWürttemberg im Jahr 1979. Und sie erreichte 1983 mit ihren Appellen etwas, was ihr seither nicht mehr gelungen ist: Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl erwähnte unsere Volksgruppe in seiner Regierungserklärung mit den Worten: “Wir werden darauf drängen, dass wieder mehr Deutsche aus der Sowjetunion ausreisen dürfen.” Bereits bei meiner Rede im Rahmen der Feierstunde des 28. Bundestreffens der Landsmannschaft, das vor einer Woche in Karlsruhe stattgefunden hat, habe ich eine Passage aus einer Rede zitiert, die der ehemalige Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Franz Usselmann, beim Bundestreffen des Jahres 1983 gehalten hat. Aus ihr geht deutlich hervor, mit welchen Schwierigkeiten die landsmannschaftliche Arbeit bereits damals verbunden war. Ich zitiere: “Wohl ist es uns gelungen, die Anerkennung der Heimkehrer, die Gewährung von Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz, dem Bundesversorgungsgesetz sowie dem Lastenausgleichs- und dem Unterhaltshilfegesetz für die Angehörigen der Kriegsge-

fangenen durchzusetzen. Aber wie? Nach langen, mühevollen Auseinandersetzungen mit den entsprechenden Ämtern, schließlich durch Herbeiführung höchstrichterlicher Entscheidungen.” Eine entscheidende Wende in der Geschichte der Volksgruppe und auch der Landsmannschaft trat ein, als nach 1987 die Zahlen russlanddeutscher Aussiedler und Spätaussiedler sprunghaft anstiegen und in den Jahren 1993 bis 1995 sogar die Marke von 200.000 überschritten. In diesen Jahren wuchsen die Aufgaben der Landsmannschaft, die es bis dahin mit einer überschaubaren Anzahl von russlanddeutschen Heimkehrern zu tun gehabt hatte, ins Unermessliche. Natürlich war man über diesen Anstieg der Ausreisezahlen erfreut, andererseits war man mit einer relativ kleinen Schar ehrenamtlicher Helfer und noch viel weniger hauptamtlichen Mitarbeitern vor allem in den ersten Jahren kaum in der Lage, allen Aufgaben gerecht zu werden. Einige Kritiker der Landsmannschaft wollen das bis zum heutigen Tag nicht wahrhaben und vergessen dabei, dass andere Organisationen, die weitaus schlechtere Strukturen als die Landsmannschaft besitzen, dazu noch viel weniger in der Lage waren und sind. Gestatten Sie mir als Bundesvorsitzendem der Landsmannschaft an dieser Stelle einen Exkurs. Einen Exkurs, der sich mit dem allzu bekannten Spruch befasst, die Landsmannschaft würde nichts tun. Unabhängig davon, dass dieser Spruch ebenso dumm wie unhaltbar ist - so wurden in den letzten 15 Jahren von Mitarbeitern der Landsmannschaft, ehrenamtlichen wie hauptamtlichen, rund eine Million Beratungsfälle durchgeführt -, sollten all diejenigen, denen dieser Spruch so flott über die Lippen geht, bedenken, wen sie damit angreifen und beleidigen. Es sind nämlich in erster Linie unsere ehrenamtlichen Sozialberater und sonstigen Helfer, die große Teile ihrer Freizeit und ihrer Energie für ihre Landsleute opfern. Doch zurück zu meinem eigentlichen Thema: Unabhängig von der jeweiligen Regierung in Bonn bzw. Berlin bläst den Deutschen aus Russland und ihrer Landsmannschaft seit etwa 1993 ein steifer Wind ins Gesicht. So trat am 1. Januar 1993 das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz in Kraft, das für Deutsche aus Russland eine Reihe von Einschränkungen mit sich brachte. Die Landsmannschaft war in diesen Jahren durch ein noch stärkeres Engagement auf sozialem Sektor bemüht, Härten auszugleichen. In vielen Fällen ging das nicht ohne Einschaltung der Gerichte. Bis 1997 wurde die 1993 begonnene restriktive Aufnahmepolitik des Bundes mit massiven Rentenkürzungen für Deutsche aus Russland, dem Wohnortezuweisungsgesetz, dem Sprachtest im Spätaussied40

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Integration keinen Schritt näher bringen. Wie ich bereits angedeutet habe, spielt die Sozialberatung und -betreuung in den über 150 Orts- und Kreisgruppen der Landsmannschaft nach wie vor eine bedeutende Rolle. 60.000 Beratungsfälle pro Jahre sprechen für sich. Um das Niveau der landsmannschaftlichen Beratung zu gewährleisten, führen wir regelmäßig Sozialreferententagungen und Multiplikatorenschulungen auf Orts-, Landes- und Bundesebene durch. Bis zum heutigen Tag konnten wir jedoch das Problem nicht lösen, wie wir als gemeinnütziger Verein über diese Sozialberatungen eine Steigerung unserer Mitgliederzahlen erreichen können. Zur Unterstützung unserer Betreuungsarbeit haben wir in den letzten beiden Jahren die Finanzierung von rund 15 Integrationsprojekten durchgesetzt. Vor allem in Bayern, aber auch in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen. Die Projektleiter werden von der Landsmannschaft regelmäßig geschult und unterstützt und arbeiten in möglichst engem Kontakt mit den landsmannschaftlichen Ortsgruppen. Wer der Landsmannschaft vorwirft, sie habe im letzten Jahrzehnt die Kulturarbeit vernachlässigt, vergisst zwei wesentliche Punkte:

leraufnahmeverfahren und Streichungen bei den Sprachkursen fortgesetzt. Die Landsmannschaft hatte allen im Bundestag vertretenen Parteien von Anfang an klargemacht, dass sie bezüglich dieser Punkte eine andere Auffassung vertritt. Das betrifft insbesondere die Sprachtests. Die Landsmannschaft erkennt zwar die Bedeutung der deutschen Sprache für die Integration und Akzeptanz der russlanddeutschen Spätaussiedler an, sie wendet sich aber dagegen, dass ein einziger Sprachtest über das Schicksal ganzer Familien entscheiden soll. Vor dem Hintergrund der Geschichte unserer Volksgruppe sind wir der Auffassung, dass der Nachweis deutscher Sprachkenntnisse als Kriterium für die Aufnahme in Deutschland denkbar ungeeignet ist. Seit rund drei Jahren kämpfen wir gegen das Zustandekommen des Zuwanderungsgesetzes. Wie es momentan aussieht, waren unsere Anstrengungen auf diesem Gebiet vergeblich. Ganz offenbar wurden unsere Argumente auf höherer politischer Ebene nicht wirklich zur Kenntnis genommen, und die Parteien von Regierung und Opposition haben sich auf einen Kompromiss geeinigt, der für ausreisewillige Deutsche in den Ländern der GUS beinahe nur Nachteile bringen wird. Trotzdem beharren wir auf unserem Standpunkt, dass sich alle, die das Zuwanderungsgesetz bejaht haben, dessen bewusst sein sollten, dass sie die Trennung von Familien billigend in Kauf nehmen bzw. die Ausreise nach Deutschland faktisch beenden. Der Bundesvorstand der Landsmannschaft, der am nächsten Wochenende zu einer Vorstandssitzung zusammenkommt, denkt deshalb ernsthaft daran, gegen das Zuwanderungsgesetz in den Passagen, die sich mit der Aufnahme von Spätaussiedlern befassen, gerichtlich vorzugehen. Mit dem Kampf gegen das Zuwanderungsgesetz habe ich Ihnen bereits einen der zentralen Punkte landsmannschaftlicher Arbeit der Gegenwart genannt. Lassen Sie mich in der gebotenen Kürze die weiteren Schwerpunkte unserer Arbeit umreißen. Traditionsgemäß kämpft die Landsmannschaft in Gesprächen mit Vertretern aller im Bundestag vertretenen Parteien, durch Stellungnahmen und Presseerklärungen, aber auch durch die Beschreitung des Rechtsweges für die Schaffung von rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, die eine weitere Aufnahme von Spätaussiedlern im Bundesgebiet ermöglichen und ihre Eingliederung erleichtern. Die Landsmannschaft setzt dabei auf geduldige und hartnäckige Arbeit, die sich eher im Stillen vollzieht, und verzichtet auf lautstarke Resolutionen und Proklamationen, die in einer westlichen Demokratie ohne Wirkung bleiben. Wir unterstützen das Engagement unserer Mitglieder in demokratischen Parteien und verwahren uns mit Nachdruck gegen sektiererische Versuche der Gründung einer eigenen Partei, die uns der

- Zum einen waren die sozialen Probleme unserer Landsleute in einem Maße drängend, dass wir uns notgedrungen in erster Linie auf deren Lösung konzentrieren mussten. - Zum anderen wurden Mitte der 90er Jahre die öffentlichen Mittel für die Kulturarbeit der Vertriebenen praktisch auf Null reduziert, so dass wir bis zum heutigen Tag nicht in der Lage sind, einen hauptamtlich tätigen Kulturreferenten zu finanzieren, und fast ausschließlich auf das ehrenamtliche Engagement unserer Mitglieder angewiesen sind. Lassen Sie mich trotzdem aufzählen, was wir auf dieser ehrenamtlichen Basis im vorigen Jahre auf die Beine gestellt haben, und entscheiden Sie dann ein weiteres Mal, ob es gerechtfertigt ist, der Landsmannschaft Untätigkeit vorzuwerfen: - Wir haben mit der schrittweisen Umgestaltung unserer Bundesgeschäftsstelle in Stuttgart in ein echtes “Haus der Heimat” begonnen. - Wir haben zwei Videofilme zur deutschen Kultur in Russland herausgegeben. - Wir haben eine Feier anlässlich der Verleihung des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg im Neuen Schloss in Stuttgart durchgeführt. - An gleicher Stelle haben wir eine Feierstunde anlässlich des 200-jährigen Auswanderungsjubilä41

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews ums der Schwarzmeerdeutschen veranstaltet. - Wir haben zu diesem Jubiläum eine Ausstellung in den Räumen der Geschäftsstelle aufgebaut und einen Katalog herausgebracht. - Wir haben am Vertriebenendenkmal in StuttgartBad Cannstatt eine Feierstunde zum Gedenken an die Opfer der Vertreibung durchgeführt. In gleicher Weise sind wir im Jahr 2001 vor dem Berliner Reichstag als Veranstalter der 60-Jahresfeier zum Gedenken an die Veröffentlichung des unseligen Erlasses des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 aufgetreten und werden dies anlässlich der 65-Jahresfeier in zwei Jahren wieder tun. In diesem Jahr haben wir maßgeblich dazu beigetragen, dass am 28. August im Hessischen Landtag in Wiesbaden eine unseren Landsleuten gewidmete Gedenkfeier stattfinden wird. - Wir konnten dank der Spenden unserer Mitglieder das 28. Heimatbuch der Landsmannschaft herausgeben. - Und natürlich will ich auch die zahlreichen Kulturveranstaltungen der landsmannschaftlichen Orts- und Kreisgruppen sowie unserer Arbeitskreise nicht vergessen und erwähnen, dass für die Gestaltung des kulturellen Rahmens unserer Veranstaltungen eigene Chöre, Orchester, Tanzgruppen und Solisten sorgen.

Wozu die Landsmannschaft selbst in Zeiten leerer werdender Kassen in der Lage ist, haben wir gerade bei unserem 28. Bundestreffen in Karlsruhe bewiesen. In enger Zusammenarbeit von Bundesvorstand, Bundesgeschäftsstelle und ehrenamtlichen Helfern ist es uns gelungen, ein abwechslungsreiches Programm anzubieten, das sich nicht nur nach meiner Meinung wohltuend von der Jahrmarktatmosphäre anderer russlanddeutscher Treffen unterschied. Lassen Sie mich meine Ausführungen mit einer kurzen Zusammenfassung dessen beenden, was uns gegenwärtig neben unseren üblichen Aktivitäten unter anderem beschäftigt:

- Mein Vorstandkollege Dr. Arthur Bechert, der wegen eines Todesfalls in der Familie heute nicht zu Ihnen sprechen kann, befasst sich für die Landsmannschaft intensiv mit den Problemen der russlanddeutschen Akademiker und Selbständigen. - Am Tag nach dem Bundestreffen haben wir in Gesprächen mit den Delegationen aus der GUS und den USA eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit den dortigen Organisationen der Russlanddeutschen in die Wege geleitet. - Intensivieren werden wir auch den Kontakt zu Wissenschaftlern und Künstlern in Deutschland, der in den 90er Jahren ein wenig eingeschlafen ist. - Mit einer Reihe von Veranstaltungen und PublikaAuf unerwartete Schwierigkeiten sind wir bei der Intionen werden wir auf die Auswanderungsjubiläen tensivierung unserer Öffentlichkeitsarbeit gestoßen. der Wolgadeutschen und Krimdeutschen in diesem Zwar haben wir inzwischen die Voraussetzungen geJahr eingehen. schaffen, um rasch und kompetent auf Turbulenzen in der Medienlandschaft zu reagieren, doch ist es uns Das Hauptaugenmerk werden wir aber künftig vertrotz aller Anstrengungen noch immer nicht gelun- stärkt darauf legen, bei unseren Aktivitäten den Nutgen, eine landsmannschaftliche Zeitung in russischer zen für die Landsmannschaft nicht aus den Augen zu Sprache herauszubringen. Zum jetzigen Zeitpunkt verlieren. Es nützt uns nämlich nichts, wenn wir Jahr lässt sich noch nicht sagen, ob wir mit diesem ehr- für Jahr über 50.000 Sozialberatungen durchführen geizigen Projekt an unsere finanziellen Grenzen ge- und gleichzeitig mit ansehen müssen, wie unsere stoßen sind oder ob sich doch noch Wege zur Reali- Mitgliederzahlen sinken. Wie mir unsere Sozialberasierung finden werden. Eines kann ich aber schon ter gesagt haben, dauert das Ausfüllen eines einzigen jetzt sagen: Wir können und werden es uns nicht leis- Rentenantrages bis zu sechs Stunden - sechs Stunten, eine russischsprachige Zeitung auf den Markt zu den, die dem Beratenen nützen, ihn aber nur in den bringen, deren Erfolg fraglich ist. Das sind wir der seltensten Fällen dazu motivieren, der LandsmannLandsmannschaft und unseren Mitgliedern schuldig. schaft beizutreten. Um die russlanddeutschen Jugendlichen nicht zu ei- Ein Appell sei mir zum Abschluss gestattet: Was wir ner "verlorenen Generation" werden zu lassen, haben brauchen, sind nicht in erster Linie Ideen - die haben wir nach gewissen Schwierigkeiten mit der Jugend- wir selber mehr als genug. Was wir brauchen, sind organisation “Deutsche Jugend aus Russland” in die- engagierte Mitglieder, die bereit und willens sind, sem Jahr mit der Wiederbelebung der landsmann- diese Ideen in die Tat umzusetzen! schaftlichen Jugendarbeit auch auf institutioneller Ebene begonnen. August 2004

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Negative Berichterstattung über Deutsche aus Russland - wie lange noch? Presseerklärung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland der Spätaussiedler" aus - mit Behauptungen, die keiner ernsthaften Realitätsprüfung standhalten. In die gleiche Richtung ging der Bericht “Neue Angst vor den Russen” der “Welt am Sonntag” über russlanddeutsche Jugendliche, die das Schwarzwaldstädtchen Lahr angeblich in Angst und Schrecken versetzen. In diesem Fall ergab die Realitätsprüfung in Form einer offiziellen Statistik der Lahrer Kriminalpolizei, dass Deutsche aus Russland in Lahr und Umgebung weniger häufig straffällig werden als ihre einheimischen Mitbürger! Ähnliches erfahren wir auch aus anderen Kriminalitätsstatistiken, die belegen, dass von überdurchschnittlicher Kriminalität deutscher Spätaussiedler aus Russland keine Rede sein kann. In gleicher Weise lösen sich im Übrigen auch andere Vorurteile auf, mit denen Spätaussiedler in den letzten Jahren immer häufiger konfrontiert werden. Von Einwanderern ist da die Rede, die sich aus den deutschen Rententöpfen bedienen, ohne auch nur eine Mark bzw. einen Euro eingezahlt zu haben - laut einer Statistik des “Instituts der deutschen Wirtschaft” zahlen russlanddeutsche Spätaussiedler jedoch weitaus mehr in die deutschen Rentenkassen ein, als sie diesen entnehmen. Und man hört, dass Deutsche aus Russland als Arbeitslose dem Staat auf der Tasche liegen - laut einer Statistik der Bundesanstalt für Arbeit aus dem Jahr 2003 sind unsere Landsleute jedoch weniger stark von Arbeitslosigkeit betroffen als ihre einheimischen Kollegen. Deutsche aus Russland werden also verurteilt, ohne “schuldig” geworden zu sein. Ihre einzige “Schuld” besteht darin, als letzte deutsche Volksgruppe aus Osteuropa in ein Land zu kommen, das seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten kaum noch Herr wird. Wir betonen an dieser Stelle ein weiteres Mal: Alle Russlanddeutschen wären bereits seit über 50 Jahren in Deutschland, wenn ihre Ausreise nicht von den sowjetischen Machthabern mit schierem Zwang verhindert worden wäre. Unsere Landsleute kommen nicht als Wirtschaftsflüchtlinge nach Deutschland, sondern als letzte Opfer des Zweiten Weltkrieges, und sie haben alle Rechte, hier als Deutsche aufgenommen zu werden. Anders als ein kleines Land wie Israel, das bei einer Bevölkerungszahl von 6 Millionen in den letzten Jahren 1 Million Volkszugehörige aufgenommen hat, scheint die Bundesrepublik Deutschland vor unüber-

“Eine Region in Angst” - so der bezeichnende Titel eines ebenso einseitigen wie negativen Beitrags, den der Fernsehsender SAT1 in seinem Magazin "Akte 04" am 27. Juli 2004 ausstrahlte. Die Region war der Ort Korbach in Hessen, für Angst sorgen dort angeblich jugendliche Deutsche aus Russland. Der Bundesvorstand der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland protestiert mit Nachdruck gegen eine Berichterstattung wie diese, deren Ziel es offenbar nicht ist, die Wirklichkeit darzustellen und zu informieren, sondern in reißerischer Oberflächlichkeit eine Volksgruppe zu diffamieren der Titel “Eine Region in Angst” spricht Bände. Lassen Sie uns das anhand einiger Beispiel illustrieren: Sämtliche Jugendlichen, die in dem Beitrag zu Wort kommen, sind Schüler bzw. Auszubildende oder arbeiten bereits, sind integriert und nicht kriminell. In dem Beitrag wird aber der Eindruck erweckt, als gehörten sie zum Kreis der russlanddeutschen Kriminellen, von denen die Region angeblich terrorisiert wird. Der in der Sendung erwähnte Mordfall, an dem ein Aussiedler als Täter beteiligt war, liegt sage und schreibe acht Jahre zurück. Das ändert selbstverständlich nichts an der Tragik dieses Vorfalls, eignet sich aber in keiner Weise als Beweismittel für auffallende kriminelle Neigungen der Aussiedler, zumal vor drei Jahren in der gleichen Region ein Aussiedler aus Polen von einem Einheimischen ermordet wurde. Für besonders bezeichnend halten wir es, dass der Redakteur in seinem Beitrag keinen Platz fand für eine ganze Reihe von positiven Beispielen, von denen er im Laufe der dreitägigen Dreharbeiten erfuhr, und auch Interviews mit einem erfolgreichen russlanddeutschen Sportler und Integrationsmitarbeitern nicht aufnahm. Spätaussiedler sind eben, so der Eindruck, den der unbedarfte Zuschauer gewinnen musste, rundum schlechter und gefährlicher als der normale Bundesbürger. Bestätigen ließ sich der Redakteur diese Auffassung von angeblichen Experten, die von einer speziellen Kriminalitätsneigung der deutschen Spätaussiedler aus Russland redeten und dabei gerade noch an genetischen Erklärungsversuchen vorbeischrammten. Leider handelt es sich bei einer aussiedlerfeindlichen Sendung wie dieser um keinen Einzelfall. So strahlte das Fernsehmagazin “Frontal 21” im Oktober 2002 einen Beitrag mit dem Titel "Die kriminellen Kinder 43

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews windlichen Schwierigkeiten zu stehen, wenn es bei Parteien, die Sache der Deutschen aus Russland einer Bevölkerungszahl von über 80 Millionen im nicht nur in Wahlkampfzeiten zu der ihren zu maJahr nicht einmal 100.000 Volkszugehörige aus den chen; Staaten der GUS aufnehmen soll! Sollten wir wirk- - sprechen wir die Hoffnung aus, dass der Aussiedlich vermuten müssen, dass hinter diesen vorgeblilerbeauftragte der Bundesregierung, Jochen Welt, chen Schwierigkeiten eine Ablehnung unserer den Fall in die Öffentlichkeit tragen und ihn zur Landsleute steckt? Behandlung an maßgebliche politische Stellen Berichte wie “Eine Region in Angst” sind schändlich übergeben wird; und tragen in unverantwortlicher Weise dazu bei, das - fordern wir die Vertreter der Medien auf, in BeBild unserer Volksgruppe - einer Volksgruppe, die im richten über Deutsche aus Russland verstärkt die Laufe ihrer Geschichte mehr als genug gelitten hat Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen und in der Öffentlichkeit noch weiter zu beschädigen. neben den quotenwirksamen negativen Aspekte Um den angerichteten Schaden in Grenzen zu halten, auch die positiven zu erwähnen. wird die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um Bundesvorstand der Landsmannschaft eine Gegendarstellung zu erreichen - in Bezug auf der Deutschen aus Russland e.V. diese Sendung, aber auch bei künftigen Sendungen vergleichbarer Tendenz. September 2004 Des Weiteren - appellieren wir an die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Vertreter der politischen

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Hilfswerk der Russlandeutschen gegründet Sozialstationen, Bibliotheken, Archiven, Kulturhäusern und sonstigen Kultureinrichtungen. Nach einer ausführlichen Diskussion über die Aufgaben und Ziele des Vereins wurde unter der Leitung des stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Waldemar Neumann, der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, zum 1. Vorsitzenden gewählt. Vonseiten der Landsmannschaft wurden außerdem Adolf Braun, stellvertretender Bundesvorsitzender, Dr. Arthur Bechert, Mitglied des Bundesvorstandes, sowie der Historiker Dr. Alfred Eisfeld in den Vorstand gewählt. Zu weiteren Mitgliedern des Vorstandes wählten die Teilnehmer der Versammlung Edgard L. Born, Pfarrer und Aussiedlerbeauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen, Franz M. Herzog, Leiter der Arbeitsstelle Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, und Eduard Lippert. Vorsitzender der Kirchlichen Gemeinschaft der Evangelisch-lutherischen Deutschen aus Russland. Dezember 2004

n Anwesenheit sämtlicher Mitglieder des Bundesvorstandes der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wurde am 10. Dezember 2004 in der Stuttgarter Bundesgeschäftsstelle das “Hilfswerk der Russlanddeutschen” gegründet”, mit dem die Hilfen für Landsleute in der GUS koordiniert werden sollen.

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Der Verein, der nicht zuletzt auf Anregung der Bundesregierung entstanden ist, sieht laut Satzung seine Aufgabe in der Förderung der sozialen und kulturellen Belange sowie der Verbesserung der Lebensbedingungen der Deutschen in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Das soll beispielsweise durch die Unterstützung des Baus und Wiederaufbaus bzw. der Erhaltung und Pflege von Kirchen und Einrichtungen, die mildtätigen oder gemeinnützungen Zwecken dienen, erreicht werden. Konkrete Hilfe soll Altenwohnheimen geleistet werden, außerdem Kinderheimen, Kindergärten und Schulen, Einrichtungen der Krankenpflege,

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

So werden aus Opfern Täter gemacht! Stellungnahme zu einem Interview des sächsischen Innenministers Thomas de Maizière it deutlichen Worten reagierte der Bundesserer Auffassung grob fahrlässig, ausgehend von vorsitzende der Landsmannschaft der Deuteinigen bedauerlichen Einzelfällen auf die Geschen aus Russland, Adolf Fetsch, auf Äußerunsamtheit der Spätaussiedler zu schließen und diegen zur Spätaussiedlerproblematik des Innenmise einer gesteigerten Kriminalität zu bezichtigen. nisters des Freistaates Sachsen, Thomas de Mai- 3. Für skandalös halten wir Ihren Versuch, Spätauszière: siedler für die hohen Wahlergebnisse der NPD in Ihrem Bundesland verantwortlich zu machen. “Russischen Aussiedlern”, wie Sie sie nennen, Mit einigem Erstaunen und großem Befremden haden Erfolg einer Partei vorzuwerfen, die jenseits ben wir das Interview gelesen, das Sie dem AP-Korallen politischen Anstands auch Spätaussiedler ins respondenten Frank Ellmers Ende letzten Jahres zur Visier genommen hat, ist ein in der Geschichte Spätaussiedlerproblematik gegeben haben. Einige der Bundesrepublik bisher einmaliger Fall. So unserer Landsleute haben auf die von Ihnen darin gewerden aus Opfern Täter gemacht! Und so wermachten Äußerungen bereits äußerst heftig reagiert, den aus Unschuldigen Sündenböcke für den von und auch wir als Vertreter der ältesten und größten anderen zu verantwortenden Wahlerfolg der UnOrganisation der Deutschen aus Russland verwahren verbesserlichen. uns mit Nachdruck gegen eine ganze Reihe Ihrer Aussagen. Da uns bisher von Ihrer Seite keine Rich- 4. Wenn der “Volksmund” Menschen, die nach Jahrzehnten der Vernichtung und Verfolgung endlich tigstellung bekannt geworden ist, müssen wir davon in der Heimat ihrer Vorfahren angekommen sind, ausgehen, dass der AP-Korrespondent Sie richtig zipauschal beschimpft und sie als “Russen” betiert hat. zeichnet, so sollte man diese Dummheit nicht zur Im Einzelnen sind vor allem diese Ihrer Äußerungen Grundlage von Argumentationen machen. Zumal unhaltbar: dieser Ausdruck mit einem Handstreich zwei 1. Es kann keine Rede davon sein, dass bei “jungen Gruppen von Menschen diskriminiert: Zum einen russischen Aussiedlern der dritten oder vierten die Spätaussiedler, weil man sie mit einer BeGeneration Tendenzen zu Parallelgesellschaften” zeichnung belegt, die beleidigend gemeint ist, und bestehen. Sieht man davon ab, dass es “russische zum anderen die Russen, weil man ihren ehrenAussiedler” gar nicht gibt (wer als Spätaussiedler werten Namen als Beleidigung missbraucht. Aufnach §4 BVFG nach Deutschland kommen will, gabe eines Innenministers gleich welchen Bunmuss nachweisen, dass er Deutscher ist und imdeslandes wäre es, gegen Stammtischgerede diemer war), sind Aussiedler, laut Gesetz also diejeser Art mit aller Macht vorzugehen. nigen, die vor 1993 nach Deutschland gekommen sind, hier längst integriert und in keiner Weise 5. Da es unklar ist, ob Sie unter die Ausländer, die im Falle einer Weigerung, Deutsch zu lernen, ausauffällig. Wir zitieren dazu den neuen Aussiedlerzuweisen seien, auch “russische Aussiedler” subbeauftragten der Bundesregierung, Hans-Peter sumieren, enthalten wir uns eines Kommentars zu Kemper: “Die allermeisten der rund 4,5 Millionen diesem Punkt. Aussiedler sind integriert, fallen gar nicht auf. Es wird aber über die wenigen gesprochen, die uns Zu Ihrer Information legen wir diesem Brief eine Probleme machen.” Wenn Sie mit dieser Aussage Ausarbeitung zu Positionen der Landsmannschaft allerdings Spätaussiedler meinen, diejenigen also, der Deutschen aus Russland bei, die aufgrund objekdie seit 1993 nach Deutschland kommen, sollte tiver Untersuchungen und Statistiken erstellt wurde. klar sein, dass noch einige Jahrzehnte vergehen Für eine Reaktion auf unser Schreiben wären wir Ihmüssen, bis diese eine “dritte oder vierte Genera- nen sehr dankbar. tion” hervorgebracht haben. 2. In gleicher Weise entbehrt Ihre Aussage, Aussied- Nachstehend das Interview im Wortlaut: ler würden “Ausweichstrategien entwickeln, die in die Kriminalität führen”, jeglicher empirischer “Sie wollen die deutsche Sprache nicht lernen” Grundlage. Lassen Sie uns auch hier Herrn Kemper zitieren: “Insgesamt gibt es bei den Aussied- Dresden (AP) Der sächsische Innenminister Thomas lern keine größere Kriminalität als bei anderen de Maizière hat russischen Spätaussiedlern in OstBevölkerungsgruppen.” Es ist nicht nur nach un- deutschland mangelnden Integrationswillen vorge-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews worfen. In einem AP-Interview warnte der CDU-Po- Im Volksmund werden diese Menschen nur als “die litiker vor dem Entstehen so genannter Parallelge- Russen” bezeichnet und nicht als Spätaussiedler. Vielleicht ist das ein Ausdruck dafür, was wirklich sellschaften. stattfindet. AP: Seit Wochen warnen Politiker vor der Gefährlichkeit von Parallelgesellschaften. Sind davon auch AP: Wie gefährlich sind diese Parallelgesellschaften? die neuen Bundesländer betroffen? De Maizière: Ich sehe mit Sorgen in Sachsen und De Maizière: Das ist für eine weltoffene Gesellganz Ostdeutschland erste Tendenzen zu Parallelge- schaft immer ein Problem, denn wenn Offenheit mit sellschaften bei jungen russischen Aussiedlern der Nicht-Offenheit, also mit Abgeschlossenheit beantdritten oder vierten Generation, die von den Groß- wortet wird, findet auch Toleranz ihre Grenze. müttern zum Teil gegen deren Willen mitgenommen wurden. Sie wollen die deutsche Sprache nicht ler- AP: Was schlagen Sie vor? nen, sie wollen sich nicht integrieren, und ihr Weg De Maizière: Wir müssen mit Nachdruck auf die Inführt in die Strafbarkeit. Diese Leute haben keinen tegration einschließlich von Sprachkursen in Deutsch missionarischen Anspruch wie bei einigen muslimi- drängen, und wenn das nicht gelingt, müssen die beschen Geistlichen, aber ihr Verhalten hat trotzdem treffenden Ausländer Deutschland verlassen. verheerende Folgen. AP: Also Pflichtkurse für Ausländer in Deutsch? De Maizière: Nun ist das neue Zuwanderungsgesetz AP: Was sind das für Folgen? De Maizière: Wegen der mangelnden Bereitschaft ab 1. Januar 2005 gültig. Da müssen wir mal die zur Integration entwickeln diese Menschen Aus- Auswirkungen abwarten. Aber ich sage es noch einweichstrategien, und die führen in die Kriminalität. mal: Wer sich als Ausländer in Deutschland dauerDie Entwicklung ist noch beherrschbar, beunruhigt haft weigert, die deutsche Sprache zu lernen und aber die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten dafür nicht gute Gründe nachweisen kann wie etwa und ist auch ein Grund für die hohen Wahlergebnisse ein hohes Alter, muss sich fragen lassen, was er in Deutschland will, und im Zweifel das Land verlasder rechtsextremistischen NPD. sen. AP: Von welchen Gebieten in Ostdeutschland reden (Die Fragen stellte AP-Korrespondent Frank Ellmers.) wir? De Maizière: Wir haben das im Grunde genommen Januar 2005 in allen ostdeutschen strukturschwachen Regionen.

Ohne erfolgreiche Integration gibt es keinen sozialverträglichen Zuzug! ein geschätzter Partner bei grundsätzlichen Fragen der Eingliederung. Sie hat eine beachtliche Leistung im Rahmen der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Integration der Spätaussiedler vollbracht. Die Bundesregierung hat sie dabei stets unterstützt. Angesichts der gegenwärtigen Sparzwänge sind die finanziellen Ressourcen zur Förderung der Integration begrenzt. Deshalb muss verstärkt auf Selbsthilfe und Eigeninitiative der Aussiedler und ihrer Organisationen gesetzt werden. Die Landsmannschaft wird deswegen künftig in dieser sozial wichtigen Aufgabe mehr denn je gefordert. Das Zuwanderungsgesetz ermöglicht seit dem 1. Januar allen Familienmitgliedern die Teilnahme an Integrationskursen, auch den ausländischen. Das ist ein großer Fortschritt. Für die Familienangehörigen, die zu uns kommen möchten, gilt aber: Wer den Sprach-

nlässlich eines Gesprächs mit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 17. Januar 2005 erklärte der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten in Deutschland, Hans-Peter Kemper, MdB: "Die Bundesregierung wird auch in Zukunft Russlanddeutschen, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen, die Aussiedlung nach Deutschland ermöglichen. Das Zuwanderungsgesetz hält weiterhin an der Vermutung eines Kriegsfolgenschicksals der Russlanddeutschen fest. Aussiedler und ihre Angehörigen, die nach Deutschland kommen, sind darauf angewiesen, so schnell wie möglich beruflich und gesellschaftlich Fuß zu fassen. Deshalb ist Integration ein Schwerpunkt der Aussiedlerpolitik. Die Landsmannschaft war stets

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews test nicht besteht, kann nur noch nach ausländerrechtlichen Bestimmungen einreisen. Die Schwiegerund Stiefkinder dürfen - wie bisher - als Ausländer sofort mit einreisen. Die Bundesregierung will diese Reglung auch für die Ehegatten und leiblichen Kinder einführen. Das haben die unionsgeführten Länder abgelehnt. Sie sollen nach dem Willen der CDU/CSU nur im Wege des Familiennachzugs kommen. Das halte ich für nicht hinnehmbar. Um unnötige Härten und Kosten zu vermeiden, appelliere ich an diese Länder, die Kinder und Ehegatten genauso zu stellen wie die Schwieger- und Stiefkinder und ihnen - wie die SPD es vorschlägt - die gemeinsame Einreise zu ermöglichen.”

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3. 4. 5. -

Die Landsmannschaft, die bei dem Gespräch durch ihren Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch und den Bundesreferenten Waldemar Axt vertreten war, hatte für das Gespräch die folgenden Punkte auf die Ta- 6. gesordnung gesetzt: 1. Situation im Aussiedlerbereich (Ausreise, Aufnahme, Integration) nach Inkrafttreten des Zu- 7. wanderungsgesetzes. Speziell: Nicht geregelter

Nachzug von Ehegatten und Abkömmlingen nach ausländerrechtlichen Vorgaben. Gefährdung der Betreuungsarbeit der ehrenamtlichen Mitarbeiter der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland nach Streichung der Aufwandsentschädigung. Neukonzeption der Migrationsberatung mit veränderter Formulierung des Anforderungsprofils der hauptamtlichen Mitarbeiter im Sozialbereich. Drastische Kürzung der Sprachförderung vor allem im Jugendbereich. Sinkende Akzeptanz der Spätaussiedler in der Gesellschaft. Ursachen: Verzerrte Darstellung der Aussiedler- und Spätaussiedlerproblematik in den Medien. Spätaussiedler als Sündenböcke für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Mangelnde Solidarität größerer Teile der Politik und Öffentlichkeit. Schwierigkeiten bei der Integration männlicher Spätaussiedler im Alter zwischen etwa 18 und 29 Jahren (Arbeitslosigkeit, Kriminalität). Fehlende Bundes- und Landesmittel im Kulturbereich. Januar 2005

Welche Änderungen bringt das Zuwanderungsgesetz? wird zunächst alleine einreisen müssen, um Aufnahme als Deutscher zu finden und damit den Anspruch auf Familiennachzug zu erwerben. Erst dann kann er seine Familienangehörigen nachkommen lassen. Nachziehen kann nur die so genannte Kernfamilie, d.h. Ehegatte und minderjährige Kinder. Volljährige 1.Ausreichende deutsche Kinder werden in den ausländerrechtlichen Nachzug Sprachkenntnisse bei Ehegatten nicht einbezogen. Der Nachzug von Kindern nach und Abkömmlingen Vollendung des zwölften Lebensjahres wird auch nur Eine Einbeziehung in den Aufnahmebescheid des möglich, wenn das Kind ausreichende Kenntnisse Spätaussiedlers ist künftig nur noch möglich, wenn der deutschen Sprache hat. der Ehegatte und alle Abkömmlinge, die ausreisen wollen, Grundkenntnisse der deutschen Sprache ha- 3. Einbeziehung von Ehegatten bei ben. Dieser Sprachtest ist wiederholbar. kurzer Ehezeit nicht möglich

as am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz bringt für Spätaussiedler eine Reihe von Änderungen mit sich, die wir nachstehend zusammengefasst haben:

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Ehegatten, die noch keine drei Jahre mit dem Spätaussiedler verheiratet sind, werden in den Aufnahmebscheid nicht einbezogen. Sie werden auch nicht einbezogen werden können, wenn sie ausreichende deutsche Sprachkenntnisse haben. Wie schon bisher bleibt diesen Ehegatten der Erwerb der Rechtsstellung als Deutscher versagt. Die Einbeziehung und der Erwerb der Rechtsstellung als Deutscher erfolgt nur bei ausreichenden Kenntnissen der deutschen

2. Nachzug von Ehegatten und Abkömmlingen nach ausländerrechtlichen Vorgaben Der Nachzug von Ehegatten und Abkömmlingen von Deutschen wird sich deshalb in vielen Fällen künftig nach dem Aufenthaltsgesetz richten. Dieses setzt voraus, dass der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt bereits im Bundesgebiet hat. Der Spätaussiedler 48

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Sprache und wenn die Ehe zum Zeitpunkt des Ver- gleichermaßen gelten. lassens des Aussiedlungsgebietes mindestens drei Die Integrationsförderung obliegt dem neu errichteten Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Jahre bestanden hat.

4. Einbeziehung nur auf ausdrücklichen Antrag

6. Bundesverwaltungsamt zuständig für Bescheinigungsverfahren

Die Einbeziehung in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers wird von der zuständigen Behörde künftig nur vorgenommen werden, wenn dies von der Bezugsperson, also dem Spätaussiedler ausdrücklich beantragt wird. In den Fällen, in denen die gemeinsame Aussiedlung beantragt wurde, ist diesem Erfordernis Genüge getan. Wenn aber Abkömmlinge einen eigenen Antrag auf Aufnahme gestellt haben, sollte der Einbeziehungsantrag bedingt gestellt werden. Bisher wurde der eigene Antrag auf Aufnahme, wenn er abgelehnt wurde, von der zuständigen Behörde (BVA) in einen Antrag auf Einbeziehung umgedeutet. Das BVA nahm diesen Vorgang selbständig vor, wenn im Herkunftsland noch Bezugspersonen vorhanden waren. Dies wird künftig nicht mehr geschehen, so dass der bedingt gestellte Einbeziehungsantrag besonders wichtig ist.

Dem Bundesverwaltungsamt wird die Zuständigkeit für die Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung übertragen. Diese Konzentration der Zuständigkeit beinhaltet für den Antragsteller eine größere Verlässlichkeit der Einheitlichkeit der Entscheidung. Auch die Klarstellung, dass Spätaussiedler, die den Sprachtest im Herkunftsland bestanden haben, nicht mehr einem Sprachtest im Bundesgebiet unterzogen werden können, gewährleistet eine verlässliche Entscheidung.

7. Höherstufung nur noch begrenzt möglich

Nach § 15 Abs. 2 Satz 3 BVFG soll eine Höherstufung von Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern ausgeschlossen sein, wenn diese bereits eine bestands- und rechtskräftige Ablehnung ihres eigenen Antrags auf Aufnahme als Spätaussiedler er5. Integrationsförderung halten haben. Eine Höherstufung ist auch nicht mögIn § 9 Abs. 1 BVFG (Bundesvertriebenengesetz) ist lich, wenn kein eigener Antrag auf Aufnahme geder Anspruch der Spätaussiedler sowie der Ehegatten stellt wurde. und Abkömmlinge auf einen kostenlosen Integra- 8. Abstammung tionskurs geregelt. Der dreistufige Integrationskurs Beim Führen des Abstammungsnachweises bleibt es soll Basissprachkurse und Aufbausprachkurse von je bei der bisherigen gesetzlichen Regelung, wonach bis zu 300 Stunden sowie einen Orientierungskurs beim Führen des Abstammungsnachweises in besonvon bis zu 30 Stunden beinhalten. Dabei sind Diffe- ders gelagerten Fällen auch auf die Generation der renzierungen bei der Dauer der Sprachkurse je nach Großeltern zurückgegriffen werden kann. vorhandenen Vorkenntnissen vorgesehen. Die Integrationskurse sollen für alle Zuwanderungsgruppen Januar 2005

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Über den Meinungsverschiedenheiten nicht die Gemeinsamkeiten vergessen! Interview mit dem Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Adolf Fetsch VadW: Herr Fetsch, in wenigen Wochen haben Sie die erste Hälfte Ihrer Amtszeit als Bundesvorsitzender der Landsmannschaft hinter sich. Wie lautet Ihre Halbzeitbilanz? Fetsch: Die letzten Monate standen nicht zuletzt im Zeichen eines Kampfes gegen die Einbeziehung unserer Landsleute in das Zuwanderungsgesetz. Leider konnten wir uns mit unserer Auffassung, dass Deutsche aus Russland nicht in ein Gesetz gehören, das ausdrücklich für Ausländer und EU-Bürger konzipiert wurde, nicht durchsetzen. Immerhin konnten wir jedoch das Schlimmste verhindern - in langwieriger Kleinarbeit und in Kontakt mit führenden Politikern aller Fraktionen. Wir haben mit dem Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Roland Koch (CDU), dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Prof. Dr. Wolfgang Böhmer (CDU), und dem jetzigen Innenminister unseres Patenlandes BadenWürttemberg, Heribert Rech (CDU), ebenso gesprochen wie mit dem SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering oder CSU-Generalsekretär Markus Söder, wir waren in ständigem Gedankenaustausch mit dem ehemaligen Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Jochen Welt, und wir haben uns bereits frühzeitig mit dem jetzigen Aussiedlerbeauftragten HansPeter Kemper in Verbindung gesetzt. Wir werden dieses Engagement auch in den nächsten Monaten fortführen, um Härten in den Ausführungsbestimmungen des Zuwanderungsgesetzes zu verhindern. Als Erfolg können wir zweifellos verbuchen, dass es uns in Zeiten erheblich knapper gewordener öffentlicher Zuschüsse gelungen ist, das Niveau der landsmannschaftlichen Arbeit nicht nur zu halten, sondern sogar zu steigern. Unsere ehrenamtlichen Sozialbetreuer befassen sich nach wie vor mit beinahe 50.000 Fällen pro Jahr, wir haben bundesweit rund 15 Integrationsprojekte laufen, dank der Spendenbereitschaft unserer Mitglieder gelingt es uns weiterhin, Jahr für Jahr Heimatbücher und sonstige Publikationen zur Geschichte und Kultur der Volksgruppe herauszugeben, der Kontakt zu den Ortsruppen konnte entscheidend verbessert werden und vieles mehr. An dieser Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es uns trotz der genannten finanziellen Engpässe gelungen ist, die Beitragsrückerstattung für die landsmannschaftlichen Gruppierungen fristgerecht und zur gegenseitigen Zufriedenheit abzuwickeln. Nicht selbstverständlich war es, dass wir zuerst mit dem leider viel zu früh verstorbenen Peter Safreider

und jetzt mit Josef Schleicher unserem Ausstellungsorganisator Jakob Fischer einen zweiten Mann an die Seite stellen konnten. Dadurch sind wir noch besser und flächendeckender als früher in der Lage, die bundesdeutsche Öffentlichkeit mithilfe unserer Wanderausstellung über die Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen aufzuklären. Wie nötig und beliebt diese Ausstellung ist, beweisen die über 300 Voranmeldungen von Städten und Gemeinden. Ein großer Erfolg war unser Bundestreffen im letzten Jahre in Karlsruhe, das dank des Einsatzes Hunderter ehrenamtlicher und hauptamtlicher Mitarbeiter zu einem Fest der Begegnung wurde, das nachhaltig die Integrationsbereitschaft und den kulturellen Reichtum der Deutschen aus Russland demonstrierte. Stolz können wir auch sein auf unsere Aktivitäten anlässlich des 200-jährigen Auswanderungsjubiläums der Schwarzmeerdeutschen vor zwei Jahren und die Feierstunde zum 240-jährigen Auswanderungsjubiläum der Wolgadeutschen im letzten Jahr, die wir dank unserer intensiven Kontakte zur Regierung des Patenlandes der Wolgadeutschen, Hessen, und ihrem Aussiedlerbeauftragten Rudolf Friedrich im Hessischen Landtag in Wiesbaden durchführen konnten. VadW: Worin sehen Sie gegenwärtig die Hauptprobleme der landsmannschaftlichen Arbeit? Fetsch: Lassen Sie mich zwei Punkte nennen: Aufgrund der Neustrukturierung der sozialen Beratung und Betreuung von Spätaussiedlern durch die Bundesregierung wird es der Landsmannschaft in Zukunft kaum mehr möglich sein, ihre ehrenamtliche Sozialarbeit, die einem gesamtgesellschaftlichen Auftrag dient, im bisherigen Umfang fortzuführen: Im Klartext: Wird keine Aufwandsentschädigung mehr gezahlt, werden viele unserer Mitarbeiter die Segel streichen müssen, da sie nicht in der Lage sein werden, ihre Kosten aus der eigenen Tasche zu begleichen. Meine Kollegen vom Bundesvorstand und die Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle in Stuttgart sind in dieser Angelegenheit sehr aktiv. Wir hoffen, dass wir die zuständigen Politiker und Beamten davon überzeugen können, dass durch einen jährlichen staatlichen Förderbetrag im mittleren fünfstelligen EuroBereich ein Schaden für die Integration der Spätaussiedler verhindert werden könnte, der heute noch gar nicht abgeschätzt werden kann. Eine Investition, die sich also gewiss lohnen würde, zumal unsere 50

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Sie an die Landsleute herankommen, die in den letzten Jahren nach Deutschland ausgereist sind. Als Ratgeber werden uns dabei in erster Linie diejenigen Ortsgruppen dienen, die auf respektable Mitgliederzahlen und eine erfolgreiche Arbeit verweisen können. Warum sollte das, was in mitgliederstarken Ortsgruppen in verschiedenen Bundesländern möglich ist, nicht auch in anderen Gegenden möglich sein, die zur “Diaspora” der Landsmannschaft gehören?

Landsleute, die jetzt nach Deutschland kommen, bereits in der nächsten Generation keine Probleme mehr bereiten und auch aufgrund ihrer günstigen Altersstruktur einen Gewinn für Deutschland darstellen werden. Eine Investition auch, die allein schon deshalb ihre Berechtigung hätte, weil Spätaussiedler als Arbeitnehmer weitaus mehr in die deutschen Rentenund Sozialversicherungen einbezahlen, als sie diesen als Versorgungsberechtigte entnehmen. Als zweites Hauptproblem nenne ich die zurückgehenden Mitgliederzahlen. Es ist uns nicht gelungen, aus dem Aussiedlerstrom der letzten eineinhalb Jahrzehnte Kapital in Form von Mitgliederzuwachs zu schlagen, und es ist uns auch nicht gelungen, einen nennenswerten Prozentsatz der Spätaussiedler, die Jahr für Jahr von unseren Mitarbeitern unentgeltlich beraten und betreuen wurden, zum Eintritt in die Landsmannschaft zu bewegen. Gerade diesem Problem werden wir in den nächsten Monaten und Jahren unser Hauptaugenmerk schenken.

VadW: Wenn man sich im Lande umhört und in russischsprachige Zeitung schaut, “erfährt” man so manches über die Landsmannschaft, was nicht gerade schmeichelhaft ist... Fetsch: Um es geradeheraus zu sagen: Gerade in den letzten Monaten musste ich mich des öfteren darüber wundern, was über die Landsmannschaft an Unsinn erzählt wird, und mich dafür schämen, was angebliche Landsleute an Gehässigem in ihren Publikationen über unsere Organisation und ihre ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter verbreiten. Es wird von Leuten, die keine Ahnung haben, einfach zu viel geredet. Von solchen, die aus gutem Grund lieber anonym bleiben und bewusst Unwahrheiten verbreiten, ganz zu schweigen. Dabei sollte jeder von uns bedenken, dass er mit seinem Verhalten das Bild unserer Volksgruppe in der Öffentlichkeit mitprägt.

VadW: Nicht wenige sehen in der Schaffung einer russischsprachigen Zeitung der Landsmannschaft in Ergänzung zu “Volk auf dem Weg” das Allheilmittel. Fetsch: Ich kann mich dieser Auffassung nur bedingt anschließen. Der Markt ist übervoll mit russischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, und es ist meiner Meinung nach mehr als fraglich, ob die Landsmannschaft in diesem Haifischbecken finanziell überleben könnte, zumal sie sich als eingetragener Verein mit gewissen mehr als fragwürdigen Inhalten nicht befassen dürfte. Wenn wir eine russischsprachige Zeitung auf die Beine stellen, dann als vorübergehende Integrationshilfe und auf einer soliden finanziellen Basis. Finanzielle Experimente jedweder Art könnten wir vor unseren Mitgliedern nicht verantworten. Sinnvoll wäre ein russischsprachiges oder zweisprachiges Presseorgan der Landsmannschaft jedoch nicht zuletzt deshalb, weil wir mit ihm der “russischen Variante” der Politik, mit der unsere Landsleute in anderen russischsprachigen Zeitung konfrontiert werden, eine Auffassung von Politik gegenüberstellen könnten, die hier in Deutschland in demokratischen Parteien üblich ist.

VadW: Stichwort negative Berichterstattung in den Medien. Wie gedenken Sie dagegen vorzugehen? Fetsch: Wir werden auch hier unsere mühsame Kleinarbeit fortsetzen und uns nach unseren Kräften gegen jeden zur Wehr setzen, der glaubt, gegen Spätaussiedler hetzen zu können. Wir schaffen es inzwischen, auf negative Berichte in den Medien sofort und breit gestreut zu reagieren. Als nächste größere Aktion steht an, vom Deutschen Presserat prüfen zu lassen, ob bestimmte negative und einseitige Berichte mit den Bestimmungen des Grundgesetzes vereinbar sind. VadW: Was wünschen Sie sich vor allem für Ihre zukünftige landsmannschaftliche Arbeit? Fetsch: Ich wünsche mir, dass meine Landsleute auf allen Ebenen als Bereicherung für Deutschland anerkannt werden, dass Einheimische und Deutsche aus Russland sich gegenseitig respektieren und dass wir es endlich schaffen, über den Meinungsverschiedenheiten nicht die Gemeinsamkeiten zu vergessen. Und ich appelliere an meine Landsleute: Unterstützen Sie unseren Einsatz für die Russlanddeutschen hier und drüben und treten Sie der Landsmannschaft bei! Zum Wohle einer Volksgruppe, die es nach Jahrzehnten der Verfolgung verdient hat, hier in Deutschland zu sein.. Februar 2005

VadW: Wie wollen Sie um neue Mitglieder kämpfen, wie wollen Sie die Landsmannschaft für Ihre Landsleute attraktiver machen? Fetsch: Abgesehen von bereits angelaufenen Werbemaßnahmen, wollen wir das Problem von Grund auf angehen. Nach der Erledigung unserer Hausaufgaben mit der Abtragung des Schuldenberges der Landsmannschaft als wesentlichstem Moment haben wir mit der Aktivierung der Landesgruppen begonnen und werden jetzt den Orts- und Kreisgruppen konkrete Inhalte und Methoden vermitteln, mit deren Hilfe 51

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Den kriminellen Aussiedler gibt es nicht! Junge Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler in Nordrhein-Westfalen ein Bericht von Hans-JürgenThom, Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes NRW (MGSFF) eit Anfang des Jahres 2004 werden vor dem Hintergrund spektakulärer Einzelfälle straffällig gewordener junger Spätaussiedler in den Medien immer häufiger Berichte über junge Spätaussiedler aufgegriffen, die die gesamte Gruppe pauschal als kriminell und gewaltbereit stigmatisieren. Die aktuelle Debatte wird bestimmt von der Beteiligung junger männlicher Ausländer an der Gewaltkriminalität und den nicht zu den Ausländern zählenden männlichen Spätaussiedlern, vor allem aus den Staaten der ehem. UdSSR, zuletzt in einem Bericht der “Rheinischen Post” vom 24.2. 2005 (“Angst vor den Gnadenlosen”). Seit dem Jahr 2004 wird in NRW der Personenkreis der Spätaussiedler in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) gesondert erhoben, um die Fakten objektiver beleuchten zu können. Denn Russlanddeutsche bzw. Spätaussiedler wurden in den meisten Statistiken bisher nicht gesondert erfasst, weil sie dem Status nach Deutsche sind. Gegen die medial weit verbreitete Pauschalisierung einer bestimmeten Zuwanderergruppe stellt sich auch die Landesregierung. Um die Situation jugendlicher Spätaussiedler näher zu beleuchten, wurde von der interministeriellen Arbeitsgruppe “Zuwanderung” eine Unterarbeitsgruppe eingesetzt, in der neben dem federführenden Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie das Innen- und Justizministerium, das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit sowie das Ministerium für Schule, Jugend und Kinder mitwirkten. Frau Ministerin Birgit Fischer stellte den Untersuchungsbericht am 3. März 2005 in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Innenminister des Landes NRW, Dr. Fritz Behrens, vor, der die neue Kriminalitätsstatistik der Öffentlichkeit präsentierte. Der Bericht und die Auswertung der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik bestätigten die bisherigen Annahmen: Die meisten (jungen) Spätaussiedler sind nach den vorliegenden Erkenntnissen weder besonders kriminell noch besonders auffällig, sondern integrieren sich gut in diese Gesellschaft. In den Focus der Öffentlichkeit gelangen vielfach nur spektakuläre Einzelfälle. Die Zahl der tatverdächtigen Spätaussiedler in der aktuellen Kriminalitätsstatistik für Nordrhein-Westfalen liegt mit 2,4 Prozent im Verhältnis deutlich

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Stichpunkte: - Die meisten (jungen) Spätaussiedler sind weder besonders kriminell noch besonders auffällig, sondern integrieren sich gut in diese Gesellschaft. - Die Zahl der tatverdächtigen Spätaussiedler in NRW liegt mit 2,4 Prozent im Verhältnis deutlich unter ihrem Bevölkerungsanteil von ca. 4,5 Prozent. - Bei den auffälligen Jugendlichen handelt es sich um eine kleine Gruppe. - Den kriminellen Aussiedler gibt es nicht! - Ein großer Teil der Kriminalität im Jugendalter ist als vorübergehende, oft episodenhafte Entwicklung anzusehen. unter ihrem Bevölkerungsanteil, der mit ca. 4,5 Prozent (Quelle: Landesstelle für Aussiedler, Zuwanderer und ausländische Flüchtlinge NRW in Unna-Massen - LUM) angenommen wird. (In absoluten Zahlen: 11.825 Spätaussiedler wurden von der Polizei im Jahr 2004 als Straftäter ermittelt. Rd. 835.000 (Spät)Aussiedler sind seit 1983 nach NRW zugezogen.) Die weit überwiegende Mehrzahl der zugewanderten Spätaussiedler verhält sich also gesetzestreu und respektiert die Regeln des Rechtsstaates. Und das ist eine gute Nachricht für alle, die sich für die Integration von Spätausgesiedelten stark machen. Bei den auffälligen Jugendlichen handelt es sich um eine kleine Gruppe. Dies ist auch aus der PKS zu erkennen. Insbesondere die jugendlichen (männlichen) Spätaussiedler unter 21 Jahren waren erfahrungsgemäß stärker kriminalitätsbelastet. Eine Reihe von Risikofaktoren, die die Integration erschweren, treffen gerade für einen Großteil der jungen Heranwachsenden zu. Von den jugendlichen Spätaussiedlern waren knapp 4.800 tatverdächtig. In Nordrhein-Westfalen leben mehr als 100.000 junge Spätaussiedler im Alter bis zu 21 Jahren. Dadurch wird in der Relation deutlich, dass die allermeisten Jugendlichen dieser Bevölkerungsgruppe ihren Platz in der Mitte der deutschen Gesellschaft finden. Mehr als 95 Prozent der jugendlichen Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler sind eben polizeilich nicht aufgefallen. Sie fassen schulisch und beruflich Fuß. Im Vergleich zu den Tatverdächtigen insgesamt sind 52

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews ventionen in eine Sozial- und Integrationspolitik für Jugendliche eingebettet sein. Mit dem Strafrecht allein, so Hurrelmann, lassen sich keine sozialen Probleme lösen. Dies kann kein Ersatz für Jugendhilfe und soziale Unterstützung sein. Hinzu kommt bei den jugendlichen Spätaussiedlern das mitgebrachte “Verständnis der Ehre”. Strasser und Zdun von der Universität Duisburg haben das “Ehrverständnis” junger Russlanddeutscher eingehend untersucht. Sie sind dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Gruppe aufgrund ihrer Erfahrungen im Herkunftsland dazu neigt, beispielsweise bei Konflikten die Polizei nicht in Anspruch zu nehmen, sondern die Dinge - auch gewaltsam - untereinander auszutragen. Dies ist sicherlich eine Erklärung für Gewalt und Kriminalität junger Russlanddeutscher. Gleichzeitig erklärt dieses Phänomen die Probleme deutscher Behörden beim Zugang zu einem Milieu, das nicht selten als fremd, bedrohlich und “unheimlich” empfunden wird. Aus der Gewaltforschung wird zudem deutlich, dass wesentliche Aspekte von Jugendgewalt und jugendlichen Gewaltkarrieren im Dunkeln bleiben, solange nicht Situationen konkreter Gewaltausübung zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Die Aussiedlerzuwanderung und -integration ist als ein wesentliches Element der Migrations- und Gesellschaftspolitik und die chancengleiche Partizipation der Zuwanderer in Arbeitsmarkt und Gesellschaft als zentrale Aufgabe der Integrationspolitik zu betrachten. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die Förderung des Erlernens der deutschen Sprache, die Schaffung von Rahmenbedingungen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Betonung von Integrationsmaßnahmen, die auf Eigeninitiative und die Kompetenzen der Zuwanderer setzen, zu legen. Bei allen Bemühungen ist die Integration jugendlicher Spätaussiedler differenziert zu betrachten. Mit generellen Urteilen wird man den unterschiedlichen Integrationsformen und -problemen nicht gerecht. Insbesondere den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kommt eine herausragende Bedeutung zu. Problematische Folgen sind dann zu erwarten, wenn die jungen Spätaussiedler ihre Teilhabechancen in verschiedenen Bereichen (Schule, Ausbildung, Beschäftigung, soziale Sicherung) als gering wahrnehmen. Dies kann zu Marginalisierungs- bzw. Desintegrationsprozessen führen. Das MGSFF fördert mit einer Reihe von Maßnahmen und Projekten die Integration: Spätaussiedler werden nach ihrer Ankunft in NRW zunächst für etwa zwei bis drei Wochen in der vom Land finanzierten Landesstelle für Aussiedler, Zuwanderer und ausländische Flüchtlinge NRW in Unna-Massen aufgenommen, betreut und dann in die

die Spätaussiedler häufiger mit Ladendiebstählen, Raubdelikten, Körperverletzungen und Rauschgiftdelikten in Erscheinung getreten. Mehr Erkenntnisse können nach nur einem Jahr nicht aus der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik gezogen werden. Dazu ist ein längerer Beobachtungszeitraum erforderlich. Generell gilt, dass Kriminalität nicht die Konsequenz bestimmter Staatsangehörig-keiten ist, sondern maßgebliche Folge einer ungünstigen sozialen Lage. Die Zusammenhänge von Ethnie und Kriminalität/Gewalt sind bis heute unklar, da viele andere Faktoren für die Kriminalitätsbelastung ursächlich sein können. Vielfach bestehen Wissens- und Erkenntnislücken. Außerdem sind Zusammenhänge mit Armut bzw. sozialen Defiziten, Segregation und Migration zu beachten. Den kriminellen Aussiedler gibt es nicht! Das hat auch die Auswertung der aktuellen PKS bestätigt. Die kriminologische Forschung geht im Übrigen davon aus, dass Einwanderer per se nicht krimineller sind als andere Gruppen. Der Mythos vom alkoholisierten und überdimensional gewalttätigen tatverdächtigen Spätaussiedler kann nach den vorliegenden Untersuchungen nicht bestätigt werden. Besondere Risikofaktoren für Kriminalität sind schlechte Sprachbeherrschung, sozio-kulturelle Prägung, soziale Randständigkeit, keine gleichberechtigte Partizipation an Bildung, Ausbildung und sozialem Leben. Oft kommt dabei familiären Belastungen, Gewalt, Armut, ungünstigem Wohnumfeld, Abbruch schulischer Karrieren und beruflicher Ausbildungen, Umzügen, Arbeitslosigkeit, biographischen Brüchen in der Entwicklung und einem Mangel an sozialer Anerkennung besondere Bedeutung zu. Die Gewaltkriminalität ist im Übrigen männlich (90 Prozent). Delinquenz ist nicht die Eigenschaft von Personen, sondern das Resultat sozialer Interaktionsprozesse und gesellschaftlicher Strukturen. Die Ursachen liegen auch in den sozialen Bedingungen der Herkunfts- und Aufnahmeländer und ihren sozialen und familiären Beziehungen. Bei der Betrachtung der spätausgesiedelten Jugendlichen ist zudem grundsätzlich das Auftreten einer entwicklungsbedingten Delinquenz in der “Lebensphase Jugend” zu berücksichtigen, wie Klaus Hurrelmann betont. Nach sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen ist ein großer Teil der Kriminalität im Jugendalter als vorübergehende, oft episodenhafte Entwicklung anzusehen. Gewalt und Kriminalität bei Jugendlichen haben ihre wichtigste Ursache in mangelnder sozialer Integration, kultureller Isolation, problematischen Familienverhältnissen, niedrigen schulischen Leistungen, Versagen beim Schulabschluss und ungünstigen beruflichen Perspektiven. Für Klaus Hurrelmann sollten unterstützende und korrigierende Inter53

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Kommunen weitergeleitet. In der LUM werden u.a. angeboten: - “Soziale Orientierungskurse” zur ersten Orientierung im deutschen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. In 30-stündigen zweisprachigen Kursen (Deutsch und Herkunftssprache) werden Grundinformationen über Schule, Arbeit, Wohnen, Gesundheit, Sozialsystem und Rechtsordnung vermittelt. Diesen Kursen liegen wissenschaftliche Ausarbeitungen zu Grunde, die unter dem Gesichtspunkt des “Gender Mainstreamings” (Gender Mainstreaming bedeutet, bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt.) überarbeitet wurden. - Außerdem erhalten die Jugendlichen dort eine individuelle Bildungsberatung, bei der auch Hinweise auf Sprachförderung gegeben werden. - Während des Besuches der “Gerhart-HauptmannSchule” erhalten sie zudem weitergehende Informationen über das Schulsystem. In den Kommunen nehmen die Spätaussiedler an 600-stündigen Deutschkursen nach dem Zuwanderungsgesetz teil. Vor Ort werden auch Förderklassen und Fördergruppen für das intensive Sprachenlernen eingerichtet. Vorschulische Sprachförderkurse richten sich auch an die Kinder von spätausgesiedelten Familien. Die zielgruppenorientierte Arbeitsmarktpolitik des Landes NRW unterstützt auch diesen Personenkreis. So haben beispielsweise zwischen 2000 und 2003 fast 11.000 Spätaussiedler an regionalisierten Arbeitsmarktprogrammen teilgenommen, die durch den Europäischen Sozialfonds mit finanziert wurden. Etwa ein Drittel von ihnen war jünger als 25 Jahre. Nur eine Minderheit der Jugendlichen stellt eine besondere Problemgruppe dar. Laut Kriminalitätsstatis-

tik sind in NRW im vergangenen Jahr rund 890 Spätaussiedler im Alter bis zu 21 Jahren wegen Gewaltdelikten polizeilich aufgefallen. Häufig geht die hohe Gewaltbereitschaft dieser kleinen Gruppe mit Alkohol- und Drogenkonsum einher. Auch werden diese Jugendlichen von herkömmlichen Projekten oder Maßnahmen nicht erreicht. Deshalb fördern das IM gemeinsam mit dem MGSFF ein Projekt beim Landespräventionsrat NRW, in dem Wissenschaftler der Universitäten Bielefeld, Kiel und Köln vorbeugende Ansätze der Integrationspolitik untersuchen. Mit Hilfe dieses Projektes werden Antworten auf drängende Fragen des Gelingens oder Misslingens der Integration und der Wirkungsmechanismen bereits bestehender Ansätze untersucht. Erste Ergebnisse werden Mitte des Jahres 2005 erwartet. Für die bereits inhaftierten jugendlichen Spätaussiedler fördern das IM und das MGSFF gemeinsam mit dem Bund und dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche ein Modellprojekt “Vernetzte Integrationshilfen für inhaftierte Aussiedler in der JVA Heinsberg”. Bereits während der Inhaftierung werden Wege zur Resozialisierung vorbereitet, die nach der Entlassung durch die vernetzten Hilfen begleitet werden. Dieses dreijährige Modellprojekt zeigt bereits durchweg positive Zwischenergebnisse. So hat sich das Gewaltpotenzial reduziert. Der so genannte “harte Kern” ist kleiner geworden. Das Klima zwischen den Jugendlichen und den Bediensteten in der JVA konnte wesentlich verbessert werden. Von besonderer Bedeutung sind die ergänzenden sprachlichen sowie die berufsvorbereitenden Angebote. Dieses Modellprojekt wird von der Universität Köln ausgewertet. Das MGSFF hat die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt, so dass sichergestellt ist, dass die Erkenntnisse der Landesregierung zugute kommen. März 2005

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Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. zu der allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VwV) des Bundesministeriums des Innern gem. § 104 BVFG i.d.F. von Art. 6 Nr. 7 Zuwanderungsgesetz sche privilegiert (auf welche Weise auch immer) waren und kein Kriegsfolgenschicksal erlitten haben. Hier müsste die Behörde konkrete Beweise im Einzelfall vorlegen können, da dies für die Betroffenen genauso gilt, wenn sie das Gegenteil beweisen wollen. Zudem sollte hier nicht unberücksichtigt bleiben, dass sie als Kinder das Schicksal der Eltern geteilt haben und vielleicht deshalb durch eine entsprechende Ausbildung versucht haben, dem zu entgehen. Sie versuchen mit ihrem Beruf die Lebens- und Existenzgrundlage zu sichern.

VwV § 4 Spätaussiedler 1.4: Wird der Aufnahme- oder Einbeziehungsbescheid oder die Übernahmegenehmigung bestands- oder rechtskräftig mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen, war die Voraussetzung zu keinem Zeitpunkt erfüllt. Landsmannschaft (LM) zu § 4 1.4: Diese Formulierung ist unverständlich, da Übernahmegenehmigungen bzw. Aufnahmebescheide die vor 1993 erteilt wurden, anderen Gesetzesgrundlagen unterlagen. Daher können diese nicht nach neuen Gesetzesgrundlagen zurückgenommen werden.

VwV § 6 Bekenntnis 2.2 Abs.1: Die Feststellung des Bekenntnisses erfolgt auf der Grundlage einer an der Bekenntnisfähigkeit ansetzenden zeit-raumbezogenen Betrachtung, wonach bei Personen im bekenntnisfähigen Alter grundsätzlich für den gesamten Zeitraum zwischen Eintritt der Bekenntnisfähigkeit und Ausreise ein positives Bekenntnis zum deutschen Volkstum feststellbar sein muss. 2.2.2 Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum erfolgt im Allgemeinen durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung, in der Regel anlässlich der Ausstellung des ersten (Inlands-)Passes (im Alter von 16 Jahren). LM zu § 6 2.2 Abs.1: Hier erscheint fraglich, auch für den fiktiven Fall eines Wahlrechts, ob ein beschränkt Geschäftsfähiger im Alter von 16 Jahren hinsichtlich der Angabe seiner Nationalität in einem ausreichenden Maße erklärungsfähig ist. Gerade in diesem Alter ist man auch leicht zu beeinflussen und unsicher und man kann die Reichweite einer entsprechenden Maßnahme nicht erkennen. Die Lebensbedingungen aufgrund der Paria-Situation der Russlanddeutschen geboten lange Zeit kein öffentliches Bekenntnis zum deutschen Volkstum. Zudem konnte die einmal erfolgte Eintragung nach dem bis dahin geltenden Recht nicht geändert werden. Dies hatte zur Folge, dass Deutschstämmige aus gemischtnationalem Elternhaus, wenn einmal die Volkszugehörigkeit “russisch” eingetragen worden war, darauf festgelegt waren. Eine Änderung war erst 1993 möglich. Die GUS-Staaten tragen in neu ausgestellten Pässen nur noch die Staatsangehörigkeit ein. Staatsangehörigkeit ist jedoch nicht gleich Volkszugehörigkeit.

Punkt 2 VwV zu Abs.2: Spätaussiedler nach Abs.2 müssen außer den Voraussetzungen nach Abs.1 glaubhaft machen (Nr. 2.4), dass sie am 31. Dezember 1992 oder danach (Nr. 2.1) Benachteiligungen (Nr. 2.2) oder Nachwirkungen früherer Benachteiligungen (Nr. 2.3) auf Grund deutscher Volkszugehörigkeit unterlagen. 2.2: Als Maßstab für die Verletzung von Minderheitenrechten können die jeweils mit den Herkunftsstaaten geschlossenen Abkommen (vgl. Anlage 1) oder, sofern kein Abkommen geschlossen wurde, die in Art. 20 des Vertrages zwischen der BRD und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 genannten Minderheitenrechte herangezogen werden. LM zu P.2 Abs.2: Hier kommt das unterstellte Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen (Stichtag 31.12.1992) nicht zum Tragen. Hier kann auch nicht auf das Polnische Abkommen hingewiesen werden (siehe z.B. Kasachstan). VwV § 5 Ausschlusstatbestand 6.1: Das Gesetz geht in Nr. 2 Buchst. b davon aus, dass deutsche Volkszugehörige im Sinne von § 6 in systemerhaltenden Funktionen kein Kriegsfolgenschicksal erlitten haben, weil sie funktionsbedingt privilegiert waren und insbesondere nicht mehr den allgemeinen, gegen die deutsche Minderheit gerichteten Maßnahmen unterlagen. LM zu § 5 6.1: Hier wird von der Behörde, ohne irgendwelche Beweise dafür vorzulegen, behauptet, dass Volksdeut55

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews VwV § 6 Deutsche Volkszugehörigkeit 2.2.1: Durch die Wendung “nur zum deutschen Volkstum bekannt” ist nicht ausgeschlossen, “dass in einem Fall von Behördenwillkür, der zur Dokumentation eines anderen Volkstumsbekenntnisses geführt hat, der Antragsteller gleichwohl glaubhaft machen kann und muss, sich tatsächlich zum deutschen Volkstum bekannt zu haben”. LM zu § 6 2.2.1: Da Behördenwillkür von den Betroffenen meist nicht nachgewiesen werden kann, müssen Abstammung und evtl. deutsche Sprachkenntnisse reichen. Kultur und Erziehung sollten als gleichwertige Kriterien für das Bekenntnis ebenso ausreichen.

LM zu 2.3.2: Die Frage, warum kein russlanddeutscher Dialekt verwandt und wie gesprochenes Schrift- oder Hochdeutsch erworben wurde, wird oft vom Prüfling nicht bzw. verkehrt verstanden. In vielen Familien, gerade da wo beide Elternteile aus verschiedenen deutschen Siedlungsgebieten stammen, wird entweder Hochdeutsch oder eine Mischung aus Dialekt, Hochdeutsch und Russisch gesprochen, was vom Tester oft nicht verstanden wird. Physischen und psychischen Belastungen kann vorgebeugt werden, wenn eine Person des Vertrauens den Antragsteller zum Test begleitet. Dies war zwar bisher zugelassen, doch die Sprachprüfer haben das meist nie erlaubt. Weiterhin sind als Dolmetscher fremdvölkische Volkszugehörige (z.B. Russen, Kasachen) anwesend, die die Betroffenen sehr oft auffordern, Russisch zu sprechen, oder die von vornherein sagen, der Betroffene würde den Test sowieso nicht bestehen. Die Betroffenen werden oftmals auch unter Druck gesetzt und sind dadurch eingeschüchtert und verängstigt. Weiterhin sollten die Tester angehalten werden, langsam zu sprechen. Aus Erfahrung wissen wir, dass diese oftmals so schnell sprechen, dass der Betroffene nur einen Bruchteil versteht und deshalb kaum in der Lage ist, richtig und ausführlich zu antworten. Dann ist im Protokoll zu lesen: n.v. (nicht verstanden). Ebenso verhält es sich, wenn der Betroffene nachfragt. Die Aufklärung, dass die Möglichkeit besteht, aufgrund psychischer und physischer Belastung die Anhörung zu verschieben, sollte bereits mit der Einladung zum Test erfolgen. Wenn wegen Alters oder dauerhafter körperlicher Behinderung keine Anhörung erfolgt, sollte auch hier die Belehrung, dass dies im Bescheinigungsverfahren nachgeholt wird und bei Nichtbestehen entsprechende Folgen - auch für die einbezogenen Familienangehörigen - haben kann, mit dem Aufnahmeantrag ausgehändigt werden. Oftmals füllen die Betroffenen die Anträge nicht selbst aus, sondern überlassen dies den in Deutschland wohnenden Angehörigen oder Bekannten. Dann erfolgen hier Angaben, obwohl man die Bekannten oder Verwandten oft jahrelang nicht gesehen und gesprochen hat. Dringend zu empfehlen ist, dass ohne Aufforderung der bevollmächtigten Person diesen eine Kopie des Sprachtestprotokolls zugesandt wird. Meist erhalten diese das Protokoll erst im Klageverfahren. Zu begrüßen ist der Vorschlag (auf S. 15 und 16), dass ein Dialektsprecher bzw. Germanist hinzugezogen wird, wenn der Betreffende nur Dialekt sprechen kann. Unseres Erachtens müsste dies in jedem Fall erfolgen, da viele gesonderte Dialekte weder vom Tester

VwV zu Familiäre Vermittlung der deutschen Sprache 2.3.1: Sowohl das Bekenntnis als auch das Bekenntnissurrogat muss durch die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache bestätigt werden. Sie liegt vor, wenn die erforderlichen Deutschkenntnisse durch die Verwendung des Deutschen innerhalb der Familie durch Eltern, Großeltern oder andere Verwandte erlernt wurde. Die deutsche Volkszugehörigkeit der vermittelnden Verwandten wird nicht vorausgesetzt. Der Erwerb von Deutschkenntnissen durch nicht familiäre Vermittlungsinstanzen (Schule) vermag dagegen das Bekenntnis oder Bekenntnissurrogat nicht zu bestätigen. LM zu 2.3.1 und zum übrigen Sprachkomplex: Viele haben als Kind meist bis zur Einschulung deutsch gesprochen und in der Schule 1 bis 2-mal pro Woche den Deutschunterricht besucht. Kurse und Unterricht helfen den meisten nicht, wenn nicht bereits Kenntnisse durch die Familie vermittelt wurden. Nach einem Gutachten von Hilkes wurde in den Schulen meist nur auf das Übersetzen, nicht aber auf das Sprechen Wert gelegt. In früheren Jahren hielten oftmals russische Lehrer den Deutschunterricht ab und waren des Deutschen selbst kaum mächtig. Unverständlich ist auch, warum die bei Kursbesuchen erworbenen Deutschkenntnisse nicht berücksichtigt werden, zumal die Regierung Unsummen für diese Sprachkurse im Herkunftsgebiet ausgibt. Zudem kann man durch Kurse oder Unterricht seine in der Kindheit erworbenen Sprachkenntnisse verbessern und ausbauen oder sich die deutsche Hochsprache gegenüber dem erlernten Dialekt aneignen. Dies um so mehr, als viele Betroffene ihren Dialekt nicht als richtiges Deutsch empfinden. Auch die Dauer der familiären Sprachvermittlung ist sehr wichtig. Gerade bei den vor 1975 Geborenen (kein Deutschunterricht, fremdvölkische Umgebung, Ausbildung usw.) ist dies wichtig. Zudem wird nicht in jeder Familie ein Dialekt gesprochen. 56

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews worden ist. Eine Unterstellung der Antragstellung ist unzulässig. Der Antrag ist auch unter der Bedingung zulässig, dass ein von der einzubeziehenden Person gestellter Antrag auf Ausstellung eines Aufnahmebescheides abgelehnt wird. Nach dem Tod der Bezugsperson ist die Einbeziehung in deren Aufnahmebescheid wegen der akzessorischen Natur des Instituts der Einbeziehung nicht mehr möglich, wobei unerheblich ist, ob die Bezugsperson vor Aussiedlung in den Aussiedlungsgebieten oder nach Aussiedlung in der Bundesrepublik Deutschland verstirbt. LM zu § 27 1.2: Stirbt die Bezugsperson in Deutschland, wäre eine VwV § 7 Grundsatz 2. Abs.2: Abkömmling eines Spätaussiedlers ist jede Person, Einbeziehung ungültig, falls Abkömmlinge und Ehedie von einem Spätaussiedler in gerader Linie ab- gatten noch nicht ausgereist sind, eine unzumutbare Härte, wenn die Einbezogenen gerade am Auflösen stammt. des Haushaltes sind. LM zu § 7 2. Abs.2: Geht man von diesem Grundsatz aus (was auch richVwV zu § 27 1.3: tig ist), müssten Bewerber, deren eigene Aufnahmeanträge abgelehnt wurden, automatisch die Einbezie- Die Einbeziehung setzt Grundkenntnisse der deuthung (auch nachträglich) erhalten. Zudem bedeutet schen Sprache voraus. Sie liegen vor, wenn ein dies auch, da kein anderer Hinweis, dass auch über Sprachniveau der Stufe A 1 des “Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen: Lernen, 18-Jährige dem Personenkreis angehören. lehren und beurteilen” des Europarates erreicht ist. LM zu § 27 1.3.: VwV § 15 Bescheinigungsverfahren 1.2: Im Bescheinigungsverfahren sind mit Ausnahme des Hier stellen sich folgende Fragen: Was sind GrundTatbestandsmerkmals “im Wege des Aufnahmever- kenntnisse, die im Rahmen des Europäischen Refefahrens” in § 4 Abs.1, sofern ein rechtswirksamer renzrahmens liegen? Wie weit sind diese Rahmen Aufnahmebescheid vorliegt, sowie des Tatbestands- gesteckt? Ist eine einheitliche Regelung vorgegeben? merkmals “familiäre Vermittlung der deutschen VwV zu § 27 1.3.2: Sprache” in § 6 Abs. 2 S. 3, sofern hierzu im Aufnahmeverfahren eine Anhörung im Sinne von § 26 Abs.1 Bei Ehegatten oder bei Jugendlichen, die das 16. LeNr. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz stattgefunden hat, bensjahr noch nicht vollendet haben, reicht es aus, alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anerken- wenn in dem Sprachstandstest “Start Deutsch 1” mindestens 52 Punkte erreicht werden, sofern das nung als Spätaussiedler festzustellen. Die im Aufnahmeverfahren hierzu getroffenen Erlernen des Deutschen durch den Bildungsstand Feststellungen sind ohne bindende Wirkung für oder vergleichbare Lebensumstände besonders erschwert wird. Dasselbe Sprachniveau reicht generell das Bescheinigungsverfahren. aus bei Ehegatten, die das 60. Lebensjahr vollendet LM zu § 15 1.2: Wenn die Feststellung im Aufnahmeverfahren ohne haben. bindende Wirkung ist, würde dies auch heißen, dass Bei Jugendlichen erfolgt die Einbeziehung dann nur eine Sprachtestwiederholung beim Bescheinigungs- unter der Bedingung, dass die Aussiedlung vor Vollendung des 17. Lebensjahres tatsächlich erfolgt. verfahren durchgeführt werden kann. Über die Rechtsfolgen des Nichteintritts der BedinLM zu § 15 1.5: Hier hat das Bundesverwaltungsgericht abermals gung und die Notwendigkeit einer erneuten Einbezieausgeführt, dass die Statusdeutscheneigenschaft be- hungsentscheidung ist der Antragsteller (Bezugsperreits mit der Aufnahme und Wohnsitznahme im Bun- son) durch einen gleichlautend in Deutsch und Russisch abgefassten Vordruck zu informieren. Eine von desgebiet erreicht wird. dem Antragsteller unterzeichnete Ausfertigung des Vordrucks ist zur Verwaltungsakte zu nehmen. VwV zu § 27 Anspruch 1.2: LM zu § 27 1.3.2: Die Einbeziehung des Ehegatten oder Abkömmlings eines Spätaussiedlerbewerbers in dessen Aufnahme- Auf die Lebensumstände hat die Landsmannschaft bescheid ist nur zulässig, wenn dies von dem Spät- bereits bei ihren Lösungsvorschlägen hingewiesen. aussiedlerbewerber selbst ausdrücklich beantragt Hier ist zunächst zu berücksichtigen, dass viele unsenoch vom Dolmetscher erkannt und verstanden werden. Was nunmehr die Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der Vermittlung der deutschen Sprache angeht, so gehört u.E. unbedingt die Internatsunterbringung dazu. Gerade wenn keine Großeltern oder andere Verwandte in der näheren Umgebung lebten oder diese alle verstorben waren und die Eltern einen Arbeitstag von 10 bis 16 Stunden hatten, war dies die beste Möglichkeit, die Kinder nicht zu vernachlässigen oder verwahrlosen zu lassen. Einfluss auf diese Umstände hatten weder die Eltern noch die Kinder. Man musste arbeiten, um zu überleben.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews rer Volksgruppe nicht die gleichen Rechte und Angebote wie andere Zuwanderungsgruppen haben. Dies zeigt sich bei den Landsleuten, die in den Aussiedlungsgebieten auf dem Land wohnen, wo es keinen Deutschunterricht oder auch keinen Deutschkurs gibt. Erhebliche Unterschiede gibt es auch bei den Lernmitteln. Zu den Lebensumständen sollten unbedingt die Ausführungen, die die Landsmannschaft in ihren Lösungsvorschlägen angeführt hat, beachtet werden. Was nunmehr die Einbeziehung von Jugendlichen angeht, dass diese nur dann erfolgt, wenn die Aussiedlung vor dem 17. Lebensjahr liegt, sind hier erhebliche Bedenken abgebracht. Aus Erfahrung wissen wir, dass das Aufnahmeverfahren oft bis zu drei Jahren dauert. Würde ein Betroffener in dieser Zeit 17 Jahre, wäre er gezwungen, einen Antrag nach eigenem Recht zu stellen, oder die Bezugsperson müsste erneut einen Einbeziehungsantrag stellen. Hierdurch wird die Bearbeitungszeit wieder unnötig verlängert und würde des Weiteren gegen den Grundsatz § 7 (s.o.) verstoßen. Weiterhin würde, wenn der Antrag nach eigenem Recht und die Einbeziehung abgelehnt würden, die Familientrennung forciert, und es wäre ein eklatanter Verstoß gegen Art. 6 GG. LM zu § 27 1.3.3: Hier müsste eine genaue Erläuterung erfolgen, auf welche andere Weise ausreichende Integrationsfähigkeit festgestellt werden soll. Gerade Kinder lernen sehr schnell die deutsche Sprache und integrieren sich sehr leicht. Bezüglich der Einbeziehung, wenn Aussiedlung vor

Vollendung des 15. Lebensjahres erfolgt, wird auf die o.g. Ausführungen verwiesen. LM zu § 27 1.4 letzter Absatz: Was geschieht, wenn der deutsche Elternteil verstirbt? Darf der Abkömmling (der evtl. § 7 besitzt) mit dem nichtdeutschen sorgeberechtigten Elternteil trotzdem zu Verwandten, die im Bundesgebiet leben, ausreisen bzw. besteht die Möglichkeit der Einbeziehung bei in Deutschland lebenden Verwandten, z.B. den Großeltern? VwV zu § 100 Anwendung des bisherigen Rechts Abs. 2: Wer die Aussiedlungsgebiete nach dem 31. Dezember 1992 verlassen, jedoch vor dem 1. Januar 1993 einen Aufnahmebescheid erhalten hat, ist nach Abs. 5 Spätaussiedler dann, wenn er - mit Ausnahme des Stichtags - die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Nr. 3 oder des § 4 erfüllt. Dasselbe gilt nach Abs. 4 für denjenigen, der die Aussiedlungsgebiete nach dem 31. Dezember 1992 ohne Aufnahmebescheid, jedoch mit einer vor dem 1. Juli 1990 erteilten Übernahmegenehmigung des Bundesverwalungsamtes verlassen hat. In beiden Fällen ist das für die Betroffenen günstigere Recht anzuwenden. LM zu § 100 2. Abs. 2: Hier wird ausgeführt, dass für Betroffene das jeweils günstigere Recht anzuwenden ist.Dies würde bedeuten, dass wenn z.B. eine Übernahmegenehmigung vorliegt, kein Sprachtest erfolgen kann und darf. Siehe hierzu § 4 1.4. April 2005

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Was ist das Kulturgut der Russlanddeutschen Begrüßungsrede des Vorsitzenden der Jury, Waldemar Weber, anlässlich der Verleihung des Russlanddeutschen Kulturpreises 2005 So saß er eine Weile und schaute verstört vor sich hin, dann fragte er: “Und warum seid ihr nicht zu sehen?” Ich versuchte mich krampfhaft an ein paar Namen zu erinnern, die sozusagen “zu sehen waren”, und weil mein Gesprächspartner ein Musiker war, fiel mir der Name Rudolf Kehrer ein. “Rudolf Kehrer?”, staunte der Armenier wieder, “er ist doch ein Georgier.” “Er ist aus Georgien, aber er ist ein Deutscher”, stellte ich klar, was meinen Zimmernachbarn in den Zustand noch tieferer Nachdenklichkeit versetzte. Ja, meine Damen und Herren, das Volk existierte, lebte weiter und gleichzeitig existierte es nicht. Oder anders formuliert: Es war nicht erwähnenswert. Das betraf auch die Leistungen von all denjenigen Deutschen in der Sowjetunion, die sich trotz aller Erschwernisse, ob bei der Bewerbung um ein Studium oder beim Erhalt eines Arbeitsplatzes an die Oberfläche des öffentlichen sowjetischen Lebens durchgekämpft hatten. Und es waren oft erstaunliche Leistungen, als wären diese Persönlichkeiten aus dem Nichtsein auferstanden, aus jener Epoche vor den Jahren 1915 bis 1917, in denen die neuen Gesetze der Zarenregierung die Deutschen Russlands aus der Masse der Untertanen Seiner Majestät aussonderten und sie als die in der russischen Staatsangehörigkeit stehenden Personen feindlicher Herkunft abstempelten. Die neuen Herrscher haben diesen Prozess fortgesetzt und bis zu seinem bitteren Ende geführt. In den 25 Bänden des Russischen Biographischen Lexikons, die noch vor dem Jahr 1917 erschienen sind, ist mehr als ein Sechstel aller Personen deutscher Abstammung. Es wird für einen Historiker gar nicht so leicht sein, sie alle aus der Geschichte Russlands auszusondern. Wenn man bloß bei den Musikern dieses Lexikons bleibt, so würde ihre Aufzählung mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Auch das 20. Jahrhundert hat auf dem Gebiet der Musik viele deutsche Namen hervorgebracht, einige von ihnen, die Komponisten Nikolaj Metner, Alexander Gödicke, Leo Knipper und Alfred Schnittke, die Pianisten Heinrich Neuhaus und Swjatoslaw Richter sind weltbekannt geworden. Unsere heutigen Preisträger befinden sich also in einer guten Gesellschaft.

ls ich mich für diese heutige feierliche Stunde vorbereitete, wollte ich zuerst ausschließlich über die Kunst reden. In der Kunst, sei es Musik, Malerei oder Literatur, sind solche Merkmale wie Abstammung, Alter, Geschlecht, Lebenslauf absolut zweitrangig. Der Klang, die Farbe, das Wort sind das Einzige, was zählt. Nur danach wird beurteilt und geschätzt. Für die Kunst der heutigen Preisträger steht in erster Linie ihr professionelles schöpferisches Können. Während ich aber an dieser Begrüßungsrede schrieb, habe ich verstanden, dass ich nicht umhin kann, auch im Zusammenhang mit der heutigen Preisverleihung über unser besonderes, ja sogar im Kontext des gesamten Vertriebenenschicksals einmaliges Geschick zu sprechen. Um aber zu diesem Thema all das zu sagen, was ich sagen möchte, bräuchte ich etwas mehr Zeit, als mir jetzt zur Verfügung steht. Deshalb hilft mir vielleicht eine Geschichte vom Anfang der 70er Jahre, als ich in der Sowjetunion viel herumgereist und vielen Menschen begegnet bin. So musste ich einmal in einer sibirischen Stadt das Hotelzimmer mit einem jungen armenischen Musiker teilen. Es war damals in sowjetischen Hotels üblich, aus Gründen des Mangels an Einzelnzimmern fremde Personen miteinander unterzubringen. Meinem Zimmernachbarn habe ich mich mit meinem Vornamen Waldemar vorgestellt, wie es unter den jungen Menschen in Russland Sitte gewesen ist. “Bist du Lette?”, fragte er mich. “Nein, ich bin deutsch.” Musiker sind selten deutschfeindlich. Ganz im Gegenteil, sie sind meistens ausgesprochen germanophil. Denn die deutsche Musik ist für jeden Musiker wie die Muttermilch, von der ihre Kunst großgezogen wird. Der armenische Geiger war also sehr froh, einen Menschen aus dem Lande Johann Sebastian Bachs kennen zu lernen. Ich musste ihn enttäuschen und berichtete von meiner Herkunft. Von den Russlanddeutschen hatte er keine Ahnung, obwohl wir beide in demselben Land geboren wurden und lebten. “Wo lebt ihr denn?”, erkundigte er sich. “Überall, von Kamtschatka bis an die Ostsee.” “Und wie viele seid ihr?” “Über zwei Millionen.” “So viele?” Der Armenier musste sich vor Erstaunen auf sein Bett hinsetzen. Stühle gab es in unserem Zimmer keine.

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Ich werde jetzt nicht auf jeden einzelnen Preisträger eingehen. Ihre besonderen Leistungen, die zur Ver59

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews leihung des Preises geführt haben, werden nachher in ausführlichen Laudationes gewürdigt. Ihr Schaffen braucht, wie ich schon am Anfang gesagt habe, kein Gängelband des leidvollen Schicksals oder gesellschaftlich-politischen Engagements, ihre Kunst spricht für sich selbst. Mein kurzer Rückblick in unsere russlanddeutsche Geschichte war von mir nur deswegen gemacht worden, um die Frage stellen zu können: Was ist der russlanddeutsche Kulturpreis? Der Russlanddeutsche Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg wird russlanddeutschen Kulturschaffenden verliehen, deren Werk das Kulturgut der Russlanddeutschen repräsentiert. Und was ist das Kulturgut der Russlanddeutschen? Jede Epoche bringt eigene Definitionen. Ich würde es so definieren:

mat wie auch trotz allem dort Erlittenen - unsere Erkenntnis, dass wir, Deutsche aus Russland, nach Deutschland aus dem Land einer großen Kultur zurückkehren und dass diese Kultur ein Teil von uns selbst geworden ist.

Nicht zufällig spielt heute Rudolf Kehrer Werke der großen russischen Musiker, nicht zufällig kann man aus der Musik von Wladimir Wecker russische Einflüsse heraushören, was auch dem Ansinnen dieses Preises entspricht, der auch die Werke auszeichnet, die die Wechselwirkungen zwischen den Russlanddeutschen und ihren Nachbarn repräsentieren. Die Mitglieder der Juri hoffen, dass sie dieser Intention der Stifter des Preises gerecht geworden sind und dass dieser Preis zu der weiteren kulturellen Integration der Deutschen aus Russland und ihren musikalischen Erfolgen in der Bundesrepublik beitragen Unser Kulturgut ist unsere heutige Identität, das wird. von uns Durchlebte, unsere Erfahrung des Leidens April 2005 und der Nächstenliebe in unserer russischen Hei-

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Aussiedlerfeindlichkeit darf niemals politisch korrekt werden! Lassen Sie mich dazu, soweit es die von mir vertretene Volksgruppe der Russlanddeutschen betrifft, einiges anmerken:

it höchst bedenklichen Behauptungen zum Aussiedlerthema warteten der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen, Prof. Christian Pfeiffer (SPD), und der Grünen-Politiker Oswald Metzger in der ARD-Sendung “Joschka Fischer Ende eines Superstars” (“Sabine Christiansen”, 27. Februar 2005) auf. Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Adolf Fetsch, wandte sich an beide in den Tagen nach der Diskussionssendung mit sachlichen Stellungnahmen. Nachstehend längere Auszüge aus dem Schreiben an Prof. Pfeiffer:

M

1. Russlanddeutsche Aussiedler bzw. Spätaussiedler sind zu keiner Zeit als Wahlvieh für irgendeine Partei nach Deutschland geholt worden. Sie kommen vielmehr auch heute noch vor allem aus zwei Gründen nach Deutschland: - Sie kommen erst jetzt, weil man sie nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vernichtung in der damaligen Sowjetunion in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zum allergrößten Teil nicht nach Deutschland ausreisen ließ. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass ungefähr jeder dritte Russlanddeutsche (400.000) Opfer des stalinistischen Terrorregimes wurde. Ohne jede Übertreibung kann gesagt werden, dass 99 Prozent aller Russlanddeutschen bereits in den fünfziger Jahren nach Deutschland ausgereist wären, wenn sie denn gedurft hätten. Ihnen daraus jetzt einen Vorwurf zu machen und sie als Wahlhelfer der Kohl-Regierung abzuqualifizieren, ist skandalös und zeugt von mangelndem Resepekt vor einer Volksgruppe, die mehr als jede andere deutsche Volksgruppe unter einem Krieg gelitten hat, an dem sie keinerlei Schuld trägt. - Meine Landsleute kommen auch nicht deshalb nach Deutschland, weil Bundeskanzler Kohl im Alleingang das so gewollt hat, sondern weil sich die Parteien des Deutschen Bundestages darauf geeinigt haben, den Russlanddeutschen als einziger deutschen Volksgruppe aus den Ländern Südost- und Osteuropas auch sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein kollektives Kriegsfolgenschicksal zuzuerkennen.

Ich wende mich an Sie als Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland mit der Bitte um Aufklärung, wie es von Ihrer Seite in der oben genannten Sendung und vor allem im Internet-Chat danach zu Äußerungen kommen konnte, die man nur als aussiedlerfeindlich klassifizieren kann. Mir geht es vor allem um den von Ihnen angestellten Vergleich der Kriminalität von Ukrainern, die auf bekanntem Wege nach Deutschland gekommen sind, und Spätaussiedlern resp. Aussiedlern, die vor allem in den letzten eineinhalb Jahrzehnten nach Deutschland ausreisen durften. Als Grundlage dieses Briefes dienen mir Ihre Diskussionsbeiträge und die Aussage im Chat nach der Sendung, die ich hier samt Frage wörtlich zitiere: vladimir: Warum haben Sie das Thema Spätaussiedler aufgegriffen? Was haben diese mit der Visa-Affäre zu tun? Prof. Christian Pfeiffer: Ich wollte damit klar machen, wie marginal die Bedeutung der Ukraine für das Kriminalitätsgeschehen ist. Jeder weiß doch, dass die Kohl-Regierung seit 1993 trotz hoher Arbeitslosigkeit und ächzendem Sozialstaat deswegen noch so viele Spätaussiedler ins Land geholt hat, weil diese damals zu etwa 3/4 Kohl gewählt haben. Dadurch konnte die Regierung die 94er Wahl gewinnen. Das war politische Selbstbedienung zu Lasten der Allgemeinheit. Es erscheint mir deshalb richtig, darauf hinzuweisen, dass es auch früher schon Fehler der Einwanderungspolitik gegeben hat. Zur Ehrenrettung der CDU muss ich freilich sagen, dass sie selber 1996 damit begonnen hat, auf die Bremse zu treten und durch gesetzgeberische Maßnahmen den starken Zustrom der Aussiedler nachhaltig zu reduzieren.

2. Sie verdrehen in unverständlicher Weise die Tatsachen, wenn Sie sagen: “Jeder weiß doch, dass die Kohl-Regierung seit 1993 trotz hoher Arbeitslosigkeit und ächzendem Sozialstaat deswegen noch so viele Spätaussiedler ins Land geholt hat, weil diese damals zu etwa 3/4 Kohl gewählt haben. Dadurch konnte die Regierung die 94er Wahl gewinnen. Das war politische Selbstbedienung zu Lasten der Allgemeinheit.” - Wie aus den offiziellen Zahlen des Bundesverwaltungsamtes hervorgeht, lag 1993 der absolute Hö61

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews hepunkt der Aussiedleraufnahme in der Bundesrepublik Deutschland bereits einige Jahre zurück: 1988: 202.673 1989: 377.055 1990: 397.073 1991: 221.995 (Aus dem Schreiben an Oswald Metzger) 1992: 230.565 1994: 222.591

700.000 Aussiedler pro Jahr?

ie haben in der oben erwähnten Sendung zwei Dinge über Aussiedler bzw. Spätaussiedler geäußert, die ich als Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland nicht unwidersprochen lassen kann. Ich beziehe mich auf Ihren Satz: “Bis zu 700.000 deutschstämmige Aussiedler der x-ten Generation sind pro Jahr nach Deutschland gekommen.”

S

- Mit “hoher Arbeitslosigkeit” und “ächzendem Sozialstaat” suggerieren Sie dem uninformierten Zuschauer, der Zuzug von Aussiedlern und Spätaussiedlern habe zu einer Belastung der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft geführt. Aus offiziellen Statistiken (die wir Ihnen beilegen) geht jedoch das Gegenteil hervor:

3. Ohne Ihre Angaben in einen für den Zuschauer nach- - Laut offizieller Statistik des Bundesverwaltungsamtes sind niemals mehr als 397.073 Aussiedler vollziehbaren Rahmen zu stellen, behaupten Sie, pro Jahr nach Deutschland gekommen. Das war eine ausgesprochen hohe Kriminalität von Spätaus1990, und bereits im Jahr danach ging die Zahl siedlern festgestellt zu haben. Auch wir können Ihre deutlich zurück (221.995). 1990 kamen 147.950 Angaben nicht überprüfen, verweisen aber in aller Aussiedler aus der Sowjetunion, 133.872 aus PoAusführlichkeit auf den aktuellen Bericht “Junge len, 111.150 aus Rumänien und zusammen rund Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler in Nord4.000 aus anderen osteuropäischen Staaten. rhein-Westfalen” von Hans-JürgenThom, MinisteriEs sind auch keine „deutschstämmigen Aussiedler um für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des der x-ten Generation“ gekommen, sondern MenLandes NRW (MGSFF), in dem der Verfasser zu schen, die nach Jahrzehnten der schlimmsten Vervöllig anderen Ergebnissen als Sie kommt. (Siehe folgung und Unterdrückung als letzte Opfer des dazu VadW 4/2004, S. 10-12.) Zweiten Weltkrieges endlich ausreisen durften als Deutsche, denen alle Parteien des Deutschen Ich darf Ihnen in aller Offenheit sagen, dass der UnBundestages dieses Recht zuerkannt haben. mut meiner Landsleute groß ist, wenn sie Sie sagen hören, Aussiedler seien 30-mal so kriminell wie Ukrainer, die per Visa nach Deutschland gekommen Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diese Hinweisind. Und ich muss Ihnen auch sagen, dass die von se bei späteren Gelegenheiten berücksichtigen würIhnen in Aussiedlerfragen beratene Niedersächsische den. Landesregierung für viele Jahre die Galionsfigur der Mai 2005 Aussiedlerfeindlichkeit war. Dabei sollten wir uns doch vor allem in einem einig sein: So wie Ausländerfeindlichkeit niemals politisch korrekt sein darf, darf es auch niemals politisch korrekt sein, Aussiedler zu Sündenböcken für politische Fehlentwicklungen zu machen, zu deren Entstehen sie in keiner Weise beigetragen haben.

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“Die Integration der Spätaussiedler ist insgesamt als erfolgreich zu betrachten.” Interview mit dem Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Hans-Peter Kemper ans-Peter Kemper (SPD), der im November letzten Jahres zum Nachfolger von Jochen Welt (SPD) als Aussiedler- und Minderheitenbeauftragter der Bundesregierung berufen wurde, stellte in einem Interview mit VadW die Grundzüge seiner Aussiedlerpolitik dar:

H

allein aus den Mitgliederzahlen herleiten. Vielmehr beeinflusst oder unterstützt die Landsmannschaft die Zuwanderer durch ihre Integrationsbemühungen, die sich in Projekten und insbesondere auf dem Feld der vorbildlichen ehrenamtlichen Betätigung widerspiegelt.

VadW: Sie können bereits auf eine längere politische Laufbahn zurückblicken, zunächst auf regionaler und dann auf Bundesebene. Wie sind Sie mit dem speziellen Bereich der Spätaussiedlerpolitik in Berührung gekommen und wie gestalten sich Ihre Kontakte zu russlanddeutschen und anderen Aussiedlern? Kemper: Durch meine langjährige Arbeit im Innenausschuss des Deutschen Bundestages sind mir die Themen Zuwanderung, Staatsangehörigkeitsrecht, Asylrecht u.a. bestens vertraut. Als Polizist habe ich natürlich auch die Schwierigkeiten einiger Spätaussiedler bei der Integration kennen gelernt. Seit meinem Dienstantritt bemühe ich mich, in ganz Deutschland mit Spätaussiedlern zusammenzutreffen, um im persönlichen Gespräch etwas über ihre Sorgen und ihre Sicht der Dinge zu erfahren. Auch empfange ich im Bundesministerium des Innern regelmäßig Spätaussiedler als Besuchergruppen Zwei meiner engsten Mitarbeiter sind Spätaussiedler bzw. Abkömmlinge von Russlanddeutschen. Kontakte sind also permanent vorhanden.

VadW: Ihr Vorgänger, Jochen Welt, hat der Aussiedlerpolitik der Bundesregierung seinen eigenen Stempel aufgedrückt. Inwieweit setzen Sie seine Politik fort und wo wollen Sie neue Akzente setzen? Kemper: Zunächst will ich die von Jochen Welt initiierten neuen Wege in der Integrationspolitik in Form von Modellprojekten fortsetzen und intensivieren. Dies gilt insbesondere für die begonnene Aktivierung des ehrenamtlichen Engagements. Gerade bei der Integration sind ehrenamtliche Mitarbeiter unentbehrlich. Hier können insbesondere bereits länger in Deutschland lebende Spätaussiedler eine Gegenleistung dafür erbringen, dass sie ihrerseits Integrationshilfen erhalten haben. Die Landsmannschaft ist hier ein verlässlicher Partner. Darüber hinaus will ich mich insbesondere dafür einsetzen, dass die Anstrengungen zur gesellschaftlichen Integration vor allem junger Aussiedler weiter intensiviert werden. Viele Jugendliche fühlen sich nicht verstanden und grenzen sich von ihrem elterlichen und schulischen Umfeld ab. Dem gilt es künftig stärker entgegenzuwirken. Wir müssen auch u. a. über weitere Maßnahmen zur Stärkung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Aussiedler nachdenken. Vor allem soll aber jeder Aussiedler selbst den Dialog mit den Nachbarn suchen, um ihnen das Volksgruppenschicksal und das der eigenen Familie zu vermitteln. Die Aufklärung darüber wird in der Öffentlichkeit Akzeptanz und Verständnis für diese Bevölkerungsgruppe fördern und der Fremdenfeindlichkeit, die sich auch gegen die Deutschen aus Russland richtet, vorbeugen. Die Wanderausstellung “Volk auf dem Weg” wirkt hier beispielhaft.

VadW: Hatten Sie in Ihrer Amtszeit als Aussiedlerbeauftragter bereits Kontakte zur Landsmannschaft der Deutschen aus Russland? Wie schätzen Sie die Möglichkeit der Einflussnahme der Organisation ein? Kemper: Die Kontakte zur Landsmannschaft sind seit Amtsantritt durchgängig vorhanden und gestalten sich unkompliziert. Allein durch die vom Innenministerium finanzierte Wanderausstellung “Volk auf dem Weg” sind häufige Treffen mit Vertretern der Landsmannschaft vorprogrammiert. Ich versuche, so oft wie möglich an Veranstaltungen der Landsmannschaft teilzunehmen, um so den engen Kontakt zu den VadW: Russlanddeutschen zu halten. Die Einflussmöglich- Die größte Sorge bereitet unseren Landsleuten die keiten der Landsmannschaft lassen sich wohl nicht Gefahr, dass bereits in den nächsten Jahren die Aus63

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews reise aus den Staaten der GUS nach Deutschland weitgehend zum Erliegen kommt und ihre Familienangehörigen nicht mehr zu ihnen kommen können. Wie sehen Sie die Entwicklung der Ausreise? Kemper: Diese Sorge ist unbegründet. Die Angehörigen der deutschen Minderheit wurden infolge des Zweiten Weltkriegs aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit massiv verfolgt und noch Jahrzehnte nach Kriegsende zum Teil erheblich benachteiligt. Mit der Aufnahme von Spätaussiedlern trägt die Bundesrepublik Deutschland ihrer historischen Verantwortung Rechnung. Daran wird sich nichts ändern. Namentlich ist nicht beabsichtigt, die Möglichkeiten zum Familiennachzug wesentlich zu beschneiden. Vielmehr wollen wir Ehe und Familie weiterhin den gebotenen besonderen Schutz zu Teil werden lassen. Die Zahl der im Wege des Aufnahmeverfahrens nach Deutschland Kommenden wird voraussichtlich weiter zurückgehen. Denn zum Ersten hat ein großer Teil der Ausreisewilligen bereits Aufnahme in Deutschland gefunden. Zum Zweiten leistet die Bundesregierung umfangreiche Hilfen in deren Herkunftsgebieten; diese Hilfen bezwecken auch, den Angehörigen der deutschen Minderheit und ihren Familien den Verbleib in ihren angestammten Wohngebieten zu ermöglichen. Wie sich die Aufnahmezahlen genau entwickeln werden, ist jedoch kaum zu prognostizieren. Dafür sind die Motive für die Aussiedlung zu vielschichtig.

als rechtstreuer als hier geborene Deutsche. Das gilt es immer wieder öffentlich zu betonen. Allerdings: Die Übersiedlung, bringt den Kindern Lebenskrisen, Schulwechsel, Abbruch von Ausbildungen und - sehr wesentlich - den Verlust von Freunden. Mangelnde Sprachkenntnisse ziehen schulische und berufliche Probleme nach sich. Ausflucht wird in Alkohol- und Drogenkonsum gesucht, was zum Teil auch - bei männlichen Jugendlichen - auf den Weg der Kriminalität führt. Diese Entwicklung macht mir Sorgen, da sie dem Bild der Spätaussiedler in der Öffentlichkeit abträglich ist. Als Aussiedlerbeauftragter betrachte ich es aber auch als meine Pflicht, darauf hinzuweisen. Ich will mich dafür einsetzen, dass mehr spezielle Projekte für kriminalitäts- und drogengefährdete jugendliche Aussiedler durchgeführt werden. Dies hat sich jedenfalls in NRW als segensreich erwiesen. Darüber hinaus halte ich es für erforderlich, dass sich die Innenminister der Länder verstärkt des Themas “Kriminalitäts- und Drogenprävention bei jugendlichen Aussiedlern” annehmen. Dazu gehört auch eine flächendeckende zielgruppenbezogene Statistik. Außerdem will ich mit den Justizministern der Länder erörtern, wie bessere Möglichkeiten der Resozialisierung und Erziehung von Aussiedlern im Strafvollzug geschaffen werden können. VadW: Sie haben Ihre Integrationspolitik unter das Leitmotiv “Fördern und Fordern” gestellt. Welche Empfehlungen zur Unterstützung ihrer eigenen Integration würden Sie unseren Landsleuten geben? Kemper: Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der Staat legt rechtliche Rahmenbedingungen fest und unterstützt mit Förderprogrammen den Integrationsprozess von Zuwanderern. Nach dem Grundsatz des “Förderns und Forderns” werden im neuen Zuwanderungsgesetz erstmals Rechte und Pflichten im Bereich Integration festgeschrieben. Integration bedeutet doppelte Verpflichtung: 1. Die Verpflichtung des Staates, Integrationsangebote bereit zu stellen; 2. die Verpflichtung der Zuwanderer, sich den Integrationsanforderungen zu stellen. Integration vollzieht sich somit nicht nur durch Integrationspolitik, sondern hängt auch ganz erheblich vom Eigenengagement der Zuwandernden ab. Und so ist meine Empfehlung an die zuwandernden Spätaussiedler, vom Integrationskurs, aber auch von anderen Angeboten - etwa im Bereich der beruflichen Qualifizierung oder der neuen Migrationserstberatung - Gebrauch zu machen, ihre Potenziale weiterzuentwickeln und mit viel eigenem Engagement nach Wegen zu suchen, diese in unserem Land ein-

VadW Obwohl Untersuchungen immer wieder beweisen, dass von einer überdurchschnittlichen Kriminalität russlanddeutscher Aussiedler keine Rede sein kann, berichten die Medien unbeirrt das Gegenteil. Worin sehen Sie Möglichkeiten, der Diffamierung entgegenzuwirken? Kemper: Die Integration der Spätaussiedler und auch der jugendlichen Spätaussiedler ist insgesamt als erfolgreich zu betrachten. Die große Mehrheit der jungen Spätaussiedler bewältigt ihren Alltag mit viel Ehrgeiz, Energie und Engagement. Integration ist die Regel, Abgrenzung die Ausnahme. Nur eine verschwindend geringe Minderheit wird auffällig. Das haben neueste Untersuchungen aus NRW ergeben. Trotz einiger Hindernisse schafft es die weit überwiegende Zahl der jungen Russlanddeutschen, hier Fuß zu fassen. Nur 6,9 Prozent haben keinen Schulabschluss, 33 Prozent einen Hauptschulabschluss, immerhin 48,9 Prozent einen Realschulabschluss und 11,3 Prozent einen gymnasialen Abschluss. Über 95 Prozent von ihnen sind noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Die Erwachsenen gelten 64

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews zubringen. Möglichkeiten, sich selber zu engagieren - für die eigene Integration aber auch für andere bieten etwa die vielen lokalen bürgerschaftlichen Initiativen und Gruppen. In diesen Gemeinschaften können Spätaussiedler mit ihren Potenzialen und Fähigkeiten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den eigenen Lebensraum, das Wohnumfeld, den Stadtteil, gemeinsam zu gestalten.

VadW: Die Parteien des Deutschen Bundestages attestieren den Russlanddeutschen als einziger deutscher Volksgruppe aus den Ländern Ost- und Südosteuropas nach wie vor ein kollektives Kriegsfolgenschicksal. Wird sich Ihrer Auffassung nach daran in den nächsten Jahren etwas ändern? Kemper: Das Schicksal der Russlanddeutschen unterscheidet sich in wesentlichen Punkten vom Schicksal deutscher Volkszugehöriger in anderen Aussiedlungsgebieten. Sie wurden im Gegensatz zu anderen Spätaussiedlern, bis in die jüngere Vergangenheit hinein insgesamt erheblich benachteiligt. Zudem konnten die meisten Betroffenen erst nach 1989 nach Deutschland ausreisen. Mit der Unterstellung des Kriegsfolgenschicksals nimmt die Bundesregierung auch künftig ihre historische Verantwortung gegenüber den Russlanddeutschen wahr. Das Aufnahmeverfahren für Spätaussiedler ist im Bundesvertriebenengesetz geregelt. Teil dieser Regelungen ist die Kriegsfolgenschicksalsvermutung für deutsche Volkszugehörige aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion, Estland, Lettland oder Litauen. Die gesetzliche Kriegsfolgenschicksalsvermutung für deutsche Volkszugehörige aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion wird nicht in Frage gestellt.

VadW: Gerade gut ausgebildete und hoch qualifizierte russlanddeutsche Spätaussiedler leiden darunter, dass sie hier in Deutschland in den allermeisten Fällen nur Stellen gekommen, die weit unter ihrem Niveau sind. Müssen sie sich in Zeiten großer Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt wirklich damit abfinden? Kemper: Viele der in Deutschland wohnhaften Spätaussiedler sind hoch qualifiziert und gut ausgebildet. Nach wie vor ist zu beklagen, dass Ihre Potenziale nur in Ansätzen wahrgenommen werden. So auch die Chancen, die sich aus der Präsenz von mehr als 200.000 in Deutschland wohnhaften russlanddeutschen Akademiker ergeben. Diese Potenziale gilt es im Interesse der Aufnahmegesellschaft und der Zuwanderer zu erkennen, zu fördern und zu nutzen. Berufliche Integration ist nicht nur die Voraussetzung für ein positives Selbstwertgefühl und finanzielle Unabhängigkeit, sondern erhöht zudem die Akzeptanz und Anerkennung in der Bevölkerung. Berufliche Qualifizierung stellt einen wichtigen Bereich der Integration dar, denn nur mit einer ausreichend hohen beruflichen Qualifizierung bestehen Chancen, adäquat in das Erwerbsleben einzusteigen. Es gibt immer noch Probleme bei der Anerkennung der Bildungs- und Berufsabschlüsse aus den Herkunftsländern. Dazu kommen Faktoren wie unzureichende Deutschkenntnisse, eine verbreitete Orientierungslosigkeit im beruflichen und akademischen Leben in der Bundesrepublik und zum Teil mangelnde Eigeninitiative. Auf der andere Seite ein geringes Wissen um die Qualifikationen der Zuwanderer in der Aufnahmegesellschaft und natürlich die insgesamt angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt. Unter dem Titel “Berufliche Integration von russischsprachigen Akademikern aus der GUS in den deutschen Arbeitsmarkt - Potenziale erkennen, fördern und nutzen” hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unlängst ein umfassendes Konzept zur Verbesserung der beruflichen Integration von russischsprachigen Akademikern erarbeitet. Dieses Konzept versteht sich als ein Angebot zur dauerhaften Mitwirkung an alle Beteiligten. Ein runder Tisch als ein turnusmäßig einzuberufendes Expertengremium ist in Vorbereitung.

VadW: Zentrales Moment der Arbeit der Landsmannschaft in den letzten Jahren war die soziale Beratung und Betreuung ihrer Landsleute. Aufgrund der Neustrukturierung der Betreuungsarbeit durch die Bundesregierung sehen viele diese Arbeit, die zum allergrößten Teil auf ehrenamtlicher Basis geschieht, gefährdet. Kemper: Das ehrenamtliche Engagement ist beim sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Einleben der Neubürger ein wichtiger Baustein für die Integration von Menschen, die aus anderen Ländern und Kulturen zu uns kommen. In Gesprächen mit dem BdV ist immer wieder betont worden, dass die Mitarbeit ehrenamtlicher Kräfte weiterhin erwünscht ist. Die Zeitaufwandsentschädigung, die bisher den ehrenamtlichen Beratern gezahlt wurde, kommt jedoch einem Honorar gleich. Honorarzahlungen sind mit der Ehrenamtlichkeit nicht vereinbar, sondern lediglich eine Entschädigung für Sachaufwand. Darüber hat sich das Bundesministerium des Innern in einem Grundsatzgespräch mit der Generalsekretärin des Bundes der Vertriebenen, Michaela Hriberski, verständigt. Es wurde einvernehmlich festgelegt, dass im Rahmen des für das Jahr 2005 vorgesehenen Mittelansatzes die in der Migrationserstberatung täti65

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews gen ehrenamtlichen Berater eine pauschale Entschädigung für ihren Sachaufwand in Höhe von 250 Euro erhalten können. Ferner wurde mit den Trägerverbänden das in der Neukonzeption der Migrationsberatung festgelegte Anforderungsprofil für die Berater ausführlich besprochen. Die im Rahmen der Migrationserstberatung vorgesehene bedarfsorientierte Einzelfallbegleitung setzt beim Migrationsberater neben praktischen Erfahrungen im Berufsfeld vor allem soziale und interkulturelle Kompetenz, gutes Organisationstalent, psychologische Grundkenntnisse sowie Kenntnisse von Lernprozessen voraus. Als formales Qualifikationskriterium von Beratern im Rahmen der Migrationserstberatung wird daher vorrangig eine abgeschlossene Berufsausbildung zum Diplom-Sozialpädagogen/Diplom-

Sozialarbeiter (Fachhochschule) erwartet. Bei der Neueinstellung von Beratern, die Aufgaben der Migrationserstberatung wahrnehmen und deren Stelle aus Bundesmitteln finanziert wird, müssen diese Kriterien erfüllt sein. Für eine Übergangszeit bis Ende 2009 kann im Bereich der mit Mitteln des Bundes geförderten Migrationserstberatung Personal eingesetzt werden, dass dieses Anforderungsprofil nicht besitzt. Die Gespräche mit der Landsmannschaft darüber sind noch nicht abgeschlossen. VadW: Herr Kemper, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Mai 2005

“Ihre kulturelle Vielfalt und ihr starker Familiensinn haben mich beeindruckt.” Interview mit dem Generalsekretär der CSU, Dr. Markus Söder ner aus dem Sudetenland stammte. Wichtig ist, dass es uns in Bayern gelungen ist, die zwei Millionen Vertriebenen zu integrieren, die einen wichtigen Anteil am Wiederaufbau Deutschlands tragen. Ich finde, dass in der Gegenwart die Deutschen aus Russland mit ihrer europäischen Kultur, ihrer Lebenseinstellung, ihrem oft hohen Bildungsniveau und nicht zuletzt auch mit ihrer vorteilhaften Altersstruktur ein Gewinn für unser Land sein können. Dies müssen wir in der Öffentlichkeit viel stärker kommunizieren.

VadW: Beim letzten größeren Treffen mit Vertretern unserer Landsmannschaft haben Sie betont, dass Sie Mitglied unserer Landsmannschaft sind und zu den aufmerksamen Lesern von “Volk auf dem Weg” gehören. Wie sind Sie mit unserer Volksgruppe und ihrer Landsmannschaft in Kontakt gekommen und wie gestalten sich diese Kontakte heute? Dr. Söder: Mein Stimmkreis im Nürnberger Westen ist auch für viele Deutsche aus Russland zu einer neuen Heimat geworden. Bei den zahlreichen und sehr persönlichen Gesprächen mit Mitgliedern Ihrer Volksgruppe hat mich vor allem die kulturelle Vielfalt und ihr starker Familiensinn beeindruckt. Nicht zuletzt die große Wärme, die mir bei Ihnen entgegengebracht wird, hat mich vor Jahren veranlasst, eine Einladung anzunehmen und Ihrer Landsmannschaft beizutreten.

VadW: Als Folge des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes ist zu befürchten, dass es zu erheblichen Schwierigkeiten beim Nachzug von Familienangehörigen der Spätaussiedler kommen wird... Dr. Söder: Wie Sie wissen, konnte die Union gerade im Bereich der Aussiedlerpolitik des neuen Zuwanderungsgesetzes eine wesentlich härtere Linie der Bundesregierung verhindern. Beispiele dafür sind die Beibehaltung der alten Regelungen bei der Führung des Abstammungsnachweises, die Wiederholbarkeit des Sprachtests und eine geringere Hürde für die Zulassung zu Integrationssprachkursen. Bei diesen Gesetzesverhandlungen wurden wieder einmal die ausgeprägte Abneigung und das Desinteresse von Rot-Grün gegenüber den Aussiedlern deutlich.

VadW: Nicht selten ist von den Sudetendeutschen als viertem Volksstamm Bayerns neben Altbayern, Franken und Schwaben die Rede, und es ist bekannt, dass sich die CSU und Bayern in besonderer Weise um diese Vertriebenengruppe kümmern. Inzwischen dürften nicht viel weniger als eine halbe Million Deutsche aus Russland in Bayern leben. Welche Maßnahmen könnten Sie sich vorstellen, um deren Akzeptanz in der Öffentlichkeit zu steigern und ihnen den Einfluss zu geben, der ihrem Bevölkerungsanteil entspricht? Dr. Söder: Die Aufnahme der Sudetendeutschen als vierter Stamm Bayerns rührt aus der besonderen Situation nach Kriegsende, als fast jeder siebte Bewoh-

VadW: Vor fünf Jahren hat die Kriminologische Forschungsgruppe der bayerischen Polizei in einer groß angelegten Untersuchung festgestellt, dass von einer überdurchschnittlichen Kriminalität der Deutschen 66

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews sen wir durch Senkung der Sozialausgaben, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Entbürokratisierung und eine umfassende Steuerreform für mehr Wachstum und damit für mehr Arbeit sorgen. So haben wir es auch in unserem Regierungsprogramm vorgesehen, denn: Sozial ist, was Arbeit schafft!

aus Russland keine Rede sein kann. Diese Ergebnisse wurden vor wenigen Monaten von einer ministeriellen Forschungsgruppe in Nordrhein-Westfalen bestätigt. Trotzdem scheint sich die Mär vom kriminellen Aussiedler zu einem Lieblingsthema der deutschen Medien zu entwickeln. Sehen Sie Möglichkeiten, dieser Hetze effektiv entgegenzuwirken? Dr. Söder: Die Medien spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, einer positiven Einstellung zur Integrationspolitik den Boden zu bereiten. Dabei geht es nicht darum, die mit Migration und Integration verbundenen Problemstellungen auszublenden. Aber nur eine Berichterstattung, die auch die Erfolge von Migration darstellt, entspricht der Lebensrealität und erreicht die Menschen.

VadW: Die Landsmannschaft sieht durch das Bundeskonzept Migrationserstberatung ihre jahrzehntelange erfolgreiche Beratungstätigkeit gefährdet. Wie schätzen Sie die ehrenamtliche Tätigkeit unserer Mitarbeiter ein und welche Unterstützung haben wir von Bayern zu erwarten, um sie auch in Zukunft unseren Landsleuten anbieten zu können? Dr. Söder: Die wertvolle Arbeit der ehrenamtlichen Mitarbeiter in diesem Bereich ist ungeheuer wichtig VadW: Einen Grund für viele Vorurteile bezüglich und verdient eine verlässliche Unterstützung. Das Aussiedlern aus den Nachfolgestaaten der UdSSR zweifelhafte rot-grüne Konzept der Migrationserstsehen wir darin, dass das Thema “Russlanddeut- beratung gehört auf den Prüfstand. sche” in den Schulen nicht auf dem Lehrplan steht. Wird sich daran Ihrer Meinung nach in absehbarer VadW: Die Deutschen aus Russland vertrauen darauf, dass ihnen auch weiterhin ein kollektives Zeit etwas ändern? Dr. Söder: Fundierte Geschichtskenntnisse tragen Kriegsfolgenschicksal als Basis ihrer Ausreiseermaßgeblich dazu bei, Toleranz und Verständnis bei laubnis nach Deutschland attestiert wird. Wie wird in jungen Menschen zu erzeugen. Das Thema “Flucht Ihrer Partei diese Frage gesehen? und Vertreibung” findet sich dementsprechend auch Dr. Söder: Im Gegensatz zu allen anderen Parteien im Geschichtsunterricht an bayerischen Gymnasien wird es mit CSU und CDU zu keiner Änderung des § wieder. Den Lehrerinnen und Lehrern stehen ver- 116 Grundgesetz kommen. Auch hier zeigt sich: Die schiedene Handreichungen und eine Fülle an Mate- Union ist der einzige verlässliche Partner der deutrialien und Informationen zur Verfügung. Damit die schen Aussiedler. Pädagogen dieses Thema auch wirklich aufgreifen, müssen wir intensiver einen direkten Draht zu den VadW: Unsere Leser wären Ihnen auch dankbar für ein Wort zur Bedeutung deutscher Sprachkenntnisse Schulen suchen. im Aufnahmeverfahren als Spätaussiedler. VadW: Viele Deutsche aus Russland kommen mit ho- Dr. Söder: Die Bundesregierung wollte sehr hohe hen beruflichen Qualifikationen nach Deutschland sprachliche Hürden im Aufnahmeverfahren einfühund enden hier als Putzkräfte oder bei Zeitarbeitsfir- ren. Dies konnte die Union noch im letzten Moment men. Wie kann sich an dieser Situation Ihrer Mei- verhindern und darüber hinaus eine Wiederholbarkeit des Sprachtests erreichen. Allerdings sind für ein ernung nach etwas ändern? Dr. Söder: Die Politik von Rot-Grün hat in den letz- folgreiches Bestehen des Aufnahmeverfahrens ten Jahren zu einer dauerhaften und katastrophalen sprachliche “Grundkenntnisse” notwendig. Dies ist Massenarbeitslosigkeit geführt. Dies ist das größte auch einsehbar, schließlich ist die Sprache auch der Problem in Deutschland und das Schicksal von Mil- Schlüssel für eine erfolgreiche Integration. lionen Bürgerinnen und Bürgern. Davon sind natürlich auch oft die Aussiedler besonders hart getroffen. VadW: Herr Dr. Söder, wir danken Ihnen für dieses Wichtig ist deshalb: Je besser die Sprachkenntnisse Gespräch. und je höher die Integrationsbereitschaft, umso gröAugust 2005 ßer sind die Erfolgsaussichten. Grundsätzlich müs-

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Rede zur Gedenkfeier der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland anlässlich des Jahrestages der Vertreibung der Russlanddeutschen (Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender, am 28. August 2005 in Augsburg) Meine lieben Landsleute, liebe Gäste der Gedenkfeier,

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Diskriminierung der Deutschen in der Sowjetunion mit dem Zweiten Weltkrieg nicht zu Ende war. Die deutschen Schulen blieben geschlossen, es war kaum möglich, in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen, und die Deutschen waren noch auf Jahre hinaus gezwungen, in ihren Verbannungsgebieten zu verblieben und sich regelmäßig auf der Kommandantur zu melden. Das offizielle Ende dieser Sonderkommandantur kam erst mit einem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 vor beinahe 50 Jahren also - über die Aufhebung der Einschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen in der Sondersiedlung. Dass damit jedoch keine wirkliche Gleichstellung der Deutschen in der Sowjetunion verbunden war, geht aus einem Passus des Erlasses hervor, in dem es wörtlich heißt: „Es wird festgestellt, dass die Aufhebung der durch die Sondersiedlung bedingten Einschränkungen für die Deutschen nicht die Rückgabe des Vermögens, das bei der Verschickung konfisziert worden ist, zur Folge hat und dass sie nicht das Recht haben, in die Orte zurückzukehren, aus denen sie ausgesiedelt worden sind.“ Es konnte also keine Rede davon sein, dass mit diesem Erlass ein ernsthafter Versuch unternommen wurde, begangenes Unrecht wieder gutzumachen. Und selbst in der Gegenwart kommen die allermeisten Spätaussiedler nicht aus den ursprünglichen Ansiedlungsgebieten ihrer Familien nach Deutschland, sondern aus den Vertreibungsgebieten in Russland, aus Kasachstan und mittelasiatischen Republiken wie Kirgisien oder Usbekistan. Lassen Sie mich diese Feststellung zum Anlass nehmen, den Blick von der Vergangenheit auf die nähere Zukunft zu richten. Nach dem erfreulichen Anwachsen der Zahlen von Spätaussiedlern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts sind diese Zahlen in den letzten Jahren bereits erheblich zurückgegangen. Ein weiterer Rückgang droht durch Bestimmungen des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes, die eine Ausreise erschweren. Besondere Sorge bereiten der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland eventuelle Restriktionen

im Namen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland begrüße ich Sie recht herzlich zu unserer Feierstunde, mit der wir aller unserer Landsleute gedenken, die in den schlimmen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu Opfern der stalinistischen Verfolgung und Vernichtung in der ehemaligen Sowjetunion geworden sind. Wir begehen diesen Gedenktag der Russlanddeutschen alljährlich am 28. August, weil an diesem Tag vor nunmehr 64 Jahren das ganze Ausmaß der stalinistischen Willkürherrschaft für unsere Volksgruppe sichtbar wurde. Nachdem der Oberste Sowjet der Sowjetunion in seinem unsäglichen Erlass vom 28. August 1941, rund zwei Monate nach Beginn des deutsch-russischen Krieges also, die Wolgadeutschen pauschal der Kollaboration mit Deutschland bezichtigt hatte, begann nicht nur für diese, sondern für beinahe alle Russlanddeutschen der Weg in die Verbannung. So haltlos diese Anschuldigung auch war, bedeutete sie doch für Hunderttausende meiner Landsleute das Todesurteil. Ganz egal, ob sie an der Wolga, am Dnjepr oder am Schwarzen Meer, auf der Krim, im Kaukasus oder in den Städten wohnten, wurden sie in die so genannte Trudarmee getrieben, die nichts anderes war als ein perfides System von Vernichtungslagern. Es waren Vernichtungslager, die nur mit den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten zu vergleichen waren und dem Schicksal der Russlanddeutschen nachhaltiger ihren Stempel aufdrückten als alles andere, was sie im Laufe ihres Lebens in Russland und der Sowjetunion durchgemacht hatten. Hatten bereits die Wirren nach dem Ersten Weltkrieg und Hungersnöte, die Zwangskollektivierung und die stalinistischen Säuberungen der Jahre 1937 und 1938 die russlanddeutsche Volksgruppe in ihrem Bestand erschüttert, so konnte sie sich von dem Vernichtungsfeldzug nach dem 28. August 1941 bis zum heutigen Tage nicht erholen. All die Toten und Entrechteten lasten schwer auf den Seelen meiner Landsleute, und es gibt kaum einen unter uns, der in seiner Familie keine Opfer zu beklagen hatte. 68

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Und es darf ebenfalls nicht sein, dass Menschen, die endlich als Deutsche unter Deutschen leben wollen, hier der Eindruck vermittelt wird, sie seien nicht willkommen. Der Respekt vor Menschen, die im vorigen Jahrhundert mehr gelitten haben als andere, sollte endlich dazu führen, dass sie gerecht behandelt werden, in den Staaten der GUS, aber auch bei uns in Deutschland. Zumal mit den russlanddeutschen Spätaussiedlern Menschen nach Deutschland kommen, die ein Gewinn für das Land sind. Als ausgesprochen junge Volksgruppe verbessern sie die Altersstruktur einer vergreisenden Bundesrepublik und stützen die deutschen Rentenkassen, sie sind nicht wählerisch bei der Annahme von Arbeitsstellen und sie haben vielerorts dazu beigetragen, dass wirtschaftlich schwache Gebiete in Deutschland saniert werden konnten. Liebe Landsleute, liebe Gäste, nichts liegt mir gerade an einem Tag wie heute ferner, als Vergeltung für begangenes Unrecht zu fordern. Ich hoffe aber, dass wir es in absehbarer Zeit erreichen werden, den Russlanddeutschen den Platz in der Geschichte zu sichern, den sie sich nach all dem Leid verdient haben. August 2005

beim Zuzug der Familienangehörigen von Spätaussiedlern. Um größeren Schaden zu verhindern, haben wir uns gerade in den letzten Tagen an führende deutsche Politiker auf Bundes- und Länderebene gewandt. Wir haben in unseren Briefen und Gesprächen vor allem betont, dass die vorgesehene Neuregelung die Tatsache ignoriert, dass mit den russlanddeutschen Spätaussiedlern keine Ausländer nach Deutschland kommen, sondern Deutsche. Deutsche, die in den vergangenen Jahrzehnten so viel zu erdulden hatten, dass ihnen auch heute noch von allen Parteien des Deutschen Bundestages in ihrer Gesamtheit ein besonderes Kriegsfolgenschicksal attestiert wird. Diese Menschen haben sich das Recht verdient, als Deutsche wahrgenommen und behandelt zu werden. Es darf nicht sein, dass Mitglieder einer Volksgruppe, die in den 50er, 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts massiv an der Ausreise in die Heimat ihrer Vorfahren, nach Deutschland, gehindert wurden, dafür heute bestraft werden. Und es darf nicht sein, dass Menschen, die den Verlust ihrer deutschen Muttersprache als ganz wesentlichen Bestandteil ihres Kriegsfolgenschicksals beklagen, heute mangelhafte Deutschkenntnisse als Ausreisehemmnis in den Weg gelegt werden.

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Landsmannschaft und djo schließen Kooperationsabkommen “Wir werden in Zukunft unsere Anstrengungen zur Eingliederung der jugendlichen Spätaussiedler gemeinsam abstimmen. Die Kooperation ist sehr sinnvoll, weil sie Personen zusammenführt, Kräfte bündelt und Potentiale erschließt, die sonst ungenutzt blieben. Dadurch werden Synergieeffekte erzielt, die der Integration der jugendlichen Zuwanderer zugute kommen.” Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, betonte: “Darüber hinaus wollen wir uns aber auch gemeinsam dafür einsetzen, dass die bisherigen großen Integrationsleistungen der Deutschen aus Russland, ihre Potentiale und die positiven Folgen ihrer Zuwanderung stärker im öffentlichen Leben gewürdigt werden.” Im Kooperationsvertrag kamen die beiden Partner darin überein, ihre bereits guten partnerschaftlichen Beziehungen weiter auszubauen und auf eine dauerhafte und solide Grundlage zu stellen. Als inhaltliche Schwerpunkte der Zusammenarbeit wurden festgehalten:

n München wurde am 14. September ein Kooperationsabkommen zwischen der djo-Deutsche Jugend in Europa und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland unterzeichnet.

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Die djo-Deutsche Jugend in Europa ist laut eigener Definition ein überparteilicher und überkonfessioneller Jugendverband, der sich für ein geeintes, demokratisches Europa einsetzt, in dem der trennende Charakter von Grenzen überwunden ist. Im Rahmen ihrer Jugendarbeit fördert sie die kulturelle Betätigung von jungen Zuwanderern als Mittel der Identitätsstiftung und Hilfe zur Integration. In der internationalen Jugend- und Kulturarbeit organisiert die djo-Deutsche Jugend in Europa auf Versöhnung und Verständigung ausgerichtete Austausch- und Begegnungsmaßnahmen insbesondere mit den ost- und südosteuropäischen Ländern. Weitere Schwerpunkte ihrer Arbeit sind der Einsatz für die weltweite Ächtung von Vertreibungen und das Engagement für die sozialen, politischen und kulturellen Rechte von Flüchtlingen und Vertriebenen. Ziel des Abkommens ist es, die Partnerschaft zu einem wichtigen inhaltlichen Element der Förderung der Integration der jugendlichen Spätaussiedler in Deutschland, aber auch der Förderung der deutschen Minderheit in den Herkunftsgebieten werden zu lassen. “Durch dieses Abkommen werden die guten Beziehungen der djo-Deutsche Jugend in Europa und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland entscheidend verbessert”, erklärte Frank Jelitto, Bundesvorsitzender der djo-Deutsche Jugend in Europa.

- Unterstützung der Jugendstrukturen - Unterstützung von Selbstorganisationen von jugendlichen Deutschen aus Russland - gemeinsame Multiplikatorenschulungen - gemeinsame Jugendbegegnungen - interkulturelle Jugendarbeit - Fortbildungen für Fachkräfte und Bildungsseminare - Veranstaltung von Konferenzen, Symposien und Ausstellungen September 2005

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Keine Härten beim Nachzug der Kernfamilie von Spätaussiedlern! Geschichte einer leidgeprüften Volksgruppe. Lassen Sie mich dazu die folgenden Einzelpunkte nennen:

n etwa gleichlautenden Briefen wandte sich der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Adolf Fetsch, an die Innenminister der Länder Niedersachsen und Bayern, Uwe Schünemann und Dr. Günther Beckstein, sowie den Innenminister von BadenWürttemberg und gegenwärtigen Vorsitzenden der Innenministerkonferenz, Heribert Rech, um unnötige Härten bei der Regelung des Nachzugs der Kernfamilie nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zu verhindern. Wir zitieren aus dem Brief an Heribert Rech, der gleichzeitig Argumentationsgrundlage für einen Besuch des Bundesvorsitzenden und der stellvertretenden Bundesvorsitzenden Leontine Wacker am 12. Oktober im baden-württembergischen Innenministerium war:

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1. Die angesprochene Neuregelung ignoriert die Tatsache, dass mit den russlanddeutschen Spätaussiedlern keine Ausländer nach Deutschland kommen, sondern Deutsche, denen von allen Parteien des Deutschen Bundestages bis zum heutigen Tage in ihrer Gesamtheit ein besonderes Kriegsfolgenschicksal attestiert wird, wodurch eine Überprüfung dieses Schicksals im Einzelfall nicht erforderlich ist. Diese Menschen haben demzufolge ein verbrieftes Recht darauf, als Deutsche wahrgenommen und behandelt zu werden. 2. Von der ursprünglichen Aussage, nur mehr rund 20 Prozent der russlanddeutschen Spätaussiedler seien Deutsche, ist das Bundesinnenministerium inzwischen abgekommen und spricht gegenwärtig davon, lediglich 20 Prozent der Spätaussiedler würden über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen. Wir verwahren uns jedoch auch gegen diese Festlegung, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen kann nach den uns vorliegenden Erkenntnissen keine Rede davon sein, dass nur ein Fünftel der nach Deutschland kommenden Spätaussiedler ausreichend gut Deutsch spricht, und zum anderen werden mit dieser Festlegung ein weiteres Mal deutsche Sprachkenntnisse zum dominierenden Nationalitätenmerkmal erhoben. Wie wir jedoch bereits mehrfach ausgeführt haben, tragen die Russlanddeutschen keine Schuld am Verlust ihrer deutschen Muttersprache, sie betrachten im Gegenteil gerade diesen Verlust als zentralen Bestandteil ihres bis in die Gegenwart andauernden Kriegsfolgenschicksals. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns als höchst ungerecht, Menschen, die in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion jahrzehntelang als Deutsche diskriminiert wurden, hier in Deutschland de facto ihren Status als Deutsche abzusprechen.

... Uns liegt dieser Termin sehr am Herzen, da er uns die Gelegenheit gibt, Ihnen die Argumente der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland vorzutragen, die dafür sprechen, den Mitgliedern der Kernfamilie eines anerkannten Spätaussiedlers (gemäß §4 BVFG) auch nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 eine unmittelbare Ausreise nach Deutschland ohne Sprachtest zu ermöglichen. Wir berufen uns dabei nicht zuletzt auf §6 des Grundgesetzes, der den besonderen Schutz von Ehe und Familie vorschreibt. Unsere Mitglieder befürchten nicht zu Unrecht, dass sich nach der im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen Neuregelung der Nachzug von Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern gemäß §4 BVFG in vielen Fällen künftig nach dem Aufenthaltsgesetz richten wird. Das aber setzt voraus, dass ein davon betroffener Spätaussiedler seinen gewöhnlichen Aufenthalt bereits in der Bundesrepublik Deutschland hat. Ein Spätaussiedler wird also zunächst allein einreisen müssen, um Aufnahme als Deutscher zu finden und damit den Anspruch auf Familiennachzug zu erwerben. Erst dann könnte er die Angehörigen der Kernfamilie, den Ehegatten also und minderjährige Kinder, nachkommen lassen. Diese restriktive Neuregelung des Nachzuges von Ehegatten und Abkömmlingen von Deutschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion geht nach Auffassung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in mehrfacher Hinsicht an den realen Gegebenheiten im Spätaussiedlerbereich vorbei und missachtet in eklatanter Weise das Schicksal und die

3. Restriktive Regelungen der genannten Art lassen in meinen Landsleuten den Eindruck entstehen, sie seien in der Heimat ihrer Vorfahren nicht willkommen. Ohne auf moralisch Fragwürdiges einer eventuellen Behinderung des Familiennachzuges näher einzugehen, will ich Ihnen nachstehend beispielhaft drei Momente nennen, die den Zuzug von Deutschen aus 71

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews den Staaten der GUS in einem positiven Licht er- deutlich unterdurchschnittlichen Kriminalitätsneischeinen lassen: gung. So lauten jedenfalls die Ergebnisse von empirischen Studien, die im öffentlichen Auftrag in Niedersachsen und Bayern durchgeführt worden sind a) Wie aus offiziellen Statistiken hervorgeht, handelt es und gerade erst durch eine weitere Untersuchung in sich bei den Deutschen aus Russland um eine ausge- Nordrhein-Westfalen bestätigt wurden. sprochen junge und arbeitswillige Volksgruppe. Sie “verjüngen” die Alterspyramide einer vergreisenden c) Bundesrepublik, sie zahlen erheblich mehr in die Die Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte hadeutschen Rentenkassen ein, als sie diesen entneh- ben gezeigt, dass russlanddeutsche Aussiedler und men, sie nehmen auch Arbeiten an, die deutlich unter Spätaussiedler nach einer Übergangsphase ihrem ihrer mitgebrachten Qualifikation liegen, und sie Anspruch, als Deutsche unter Deutschen leben zu leisten ihren Beitrag zur Rettung strukturschwacher wollen, gerecht geworden sind und sich voll und Gebiete in Deutschland. In diesem Zusammenhang ganz integriert haben. verweise ich darauf, dass diese Leistungsbereitschaft Sehr geehrter Herr Minister, lassen sie mich abder Deutschen aus Russland auch bei den Olympi- schließend noch einmal betonen, dass die Entscheischen Sommerspielen des Vorjahres in Athen zum dung über die Modalitäten der Übersiedlung der Ausdruck gekommen ist. Dort waren Deutsche aus Kernfamilie eines Spätaussiedlers, die bei der KonfeRussland, deren Bevölkerungsanteil bei etwa 3,5 renz der Innenminister im Herbst dieses Jahres fallen Prozent liegt, am Gewinn von über 20 Prozent der wird, für meine Landsleute von essentieller Bedeudeutschen Medaillen beteiligt! tung ist. Wir sehen uns als Landsmannschaft in dieser Angelegenheit in der Auskunftspflicht unseren Mitgliedern und allen Deutschen aus Russland geb) Entgegen dem Bild, das von den Spätaussiedlern in genüber, von denen inzwischen rund drei Millionen der Öffentlichkeit durch eine häufig einseitige und in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. negative Berichterstattung in den Medien entstanden ist, sind Deutsche aus Russland Menschen mit einer Oktober 2005

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Fragen des Zuwanderungsgesetzes (Rede anlässlich einer Versammlung des Bundes der Vertriebenen am 10. November 2005 in Berlin, gehalten von Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender) Vorfahren in den Weg gelegt wurden, ließ den Kampf gegen eine Einbeziehung der Russlanddeutschen in das Zuwanderungsgesetz zu einem zentralen Punkt der Politik der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in den letzten Jahren werden. In Stellungnahmen, in denen es neben der unzulässigen Einbeziehung der russlanddeutschen Spätaussiedler in das Zuwanderungsgesetz vor allem um die geplante Überbetonung von deutschen Sprachkenntnissen im Aufnahmeverfahren ging, wandte sich die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland noch eine Woche vor der Abstimmung über das Gesetz im Bundesrat an alle, die in diesem Land politisch etwas zu sagen haben. Wir machten immer wieder darauf aufmerksam, dass es keiner weiteren Verschärfung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausreise von Spätaussiedlern bedürfe.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in meinen Ausführungen will ich Ihnen die Positionen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Bezug auf das vor einem knappen Jahr in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz darlegen. Ich werde zusammenfassen, was wir erreichen wollten, was wir erreicht haben und worum es uns gegenwärtig geht. Es war für uns von Anfang an klar, dass es nicht zulässig ist, russlanddeutsche Spätaussiedler, bei denen es sich ja laut Artikel 116 des Grundgesetzes um Deutsche handelt, in ein Gesetz einzubeziehen, das sich ausdrücklich auf die Integration von EU-Bürgern und Ausländern bezieht. Obwohl diese Auffassung von allen Parteien des Deutschen Bundestages getragen wird, ist es uns nicht gelungen, diese Einbeziehung der Russlanddeutschen in das Zuwanderungsgesetz zu verhindern. In ein Gesetz also, das letztendlich dazu führen wird, dass immer weniger Deutsche aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ausreisen können. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um Menschen, denen ebenfalls von allen Parteien des Deutschen Bundestages nach wie vor ein kollektives Kriegsfolgenschicksal attestiert wird und die jahrzehntelang von den sowjetischen Behörden an der Ausreise gehindert wurden. Und das nach Jahren des stalinistischen Terrors, dem mindestens 400.000 Russlanddeutsche vor allem deshalb zum Opfer fielen, weil sie Deutsche waren. 1985, 32 Jahre nach Stalins Tod und noch vor Beginn der großen Ausreisewelle aus der damaligen Sowjetunion, vertrat der sowjetische Außenminister Gromyko beharrlich den Standpunkt, die Familienzusammenführung der Russlanddeutschen sei abgeschlossen. Der Rückgang der Aussiedlerzahlen sei nur ein Spiegelbild des natürlichen Schwundes der Ausreisewilligen. Wer die wirklichen Verhältnisse kennt – damals lebten noch mindestens zweieinhalb Millionen Deutsche in der Sowjetunion - kann über den Zynismus dieser Aussage nur den Kopf schütteln. Die Erinnerung an diese verantwortungslose Politik, vor allem aber an die Leiden der russlanddeutschen Volksgruppe und die Hindernisse, die ihr über eine so lange Zeit bei der Rückkehr in die Heimat ihrer

Trotz aller Bemühungen und der breiten Unterstützung durch den Bund der Vertriebenen und die unionsgeführten Länder konnten wir jedoch nicht verhindern, dass das Zuwanderungsgesetz letztendlich doch in Kraft trat. Immerhin konnten wir jedoch erreichen, dass von den Vorschlägen der Landsmannschaft drei Punkte übernommen wurden: - So ist es beim Führen des Abstammungsnachweises bei der bisherigen gesetzlichen Regelung geblieben, nach der in besonders gelagerten Fällen auch auf die Generation der Großeltern beim Führen des Abstammungsnachweises zurückgegriffen werden kann. - Außerdem werden bei dem für die Familienangehörigen und Abkömmlinge des Spätaussiedlers vorgesehenen Sprachtest, der wiederholbar ist, lediglich Grundkenntnisse der deutschen Sprache verlangt werden. - Und schließlich bleibt per Ministererlass der Beirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Aussiedlerfragen erhalten. Gegenwärtig setzen wir alle Hebel in Bewegung, um den Mitgliedern der Kernfamilie eines nach Paragraph 4 des Bundesvertriebenengesetzes anerkannten Spätaussiedlers auch nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 eine unmittelbare Ausreise nach Deutschland ohne Sprachtest zu ermöglichen. Wir beziehen uns in unserer Argumenta73

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews tion vor allem auf Paragraph 6 des Grundgesetzes, der den besonderen Schutz von Ehe und Familie vorschreibt. Um bei der Innenministerkonferenz Anfang Dezember diesen Jahres, in deren Rahmen auch dieser Punkt behandelt werden wird, eine gerechte Lösung für meine Landsleute zu erreichen, haben wir uns in den letzten Wochen und Monaten mit den Innenministerien verschiedener Bundesländer in Verbindung gesetzt. Dabei erhielten wir sowohl vom Aussiedlerbeauftragten der Hessischen Landesregierung, Rudolf Friedrich, als auch von den Innenministern der Länder Niedersachsen und Bayern, Uwe Schünemann und Dr. Günther Beckstein, positive Signale. Sehr erfreulich war auch der Termin beim aktuellen Vorsitzenden der Innenministerkonferenz, dem baden-württembergischen Innenminister Heribert Rech, den ich am 12. Oktober mit Frau Steinbach und meiner Bundesvorstandskollegin Leontine Wacker wahrgenommen habe. Ohne auf Einzelheiten eingehen zu wollen, lässt sich momentan sagen, dass es nach der Sitzung der Innenministerkonferenz beim Nachzug von Ehegatten und minderjährigen Kindern keine Schwierigkeiten mehr geben wird. Einen für uns günstigen Ausgang erhoffen wir uns auch von unserem Gespräch beim Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Ingo Wolf, das in den nächsten Wochen stattfinden soll. Bei all diesen Gesprächen haben wir vor allem die Befürchtungen der Mitglieder der Landsmannschaft und aller Deutschen aus Russland erwähnt, dass sich nach der im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen Neuregelung der Nachzug von Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern gemäß §4 des Bundesvertriebenengesetzes in vielen Fällen künftig nach dem Aufenthaltsgesetz richten wird. Das aber würde voraussetzen, dass ein davon betroffener Spätaussiedler seinen gewöhnlichen Aufenthalt bereits in der Bundesrepublik Deutschland hat. Ein Spätaussiedler würde also zunächst allein einreisen müssen, um Aufnahme als Deutscher zu finden und damit den Anspruch auf Familiennachzug zu erwerben. Erst dann könnte er die Angehörigen der Kernfamilie, den Ehegatten also und minderjährige Kinder, nachkommen lassen. Diese restriktive Neuregelung des Nachzuges von Ehegatten und Abkömmlingen von Deutschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ginge nach Auffassung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in mehrfacher Hinsicht an den realen Gegebenheiten im Spätaussiedlerbereich vorbei und würde in eklatanter Weise das Schicksal und die Geschichte einer leidgeprüften Volksgruppe missachten. Die Neuregelung würde die Tatsache ignorieren,

dass die russlanddeutschen Spätaussiedler ein verbrieftes Recht darauf haben, als Deutsche wahrgenommen und behandelt zu werden Für viel Unmut hat vor einigen Jahren die Aussage des Bundesinnenministeriums gesorgt, nur mehr rund 20 Prozent der russlanddeutschen Spätaussiedler seien Deutsche. Die Intervention der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat dafür gesorgt, dass das Bundesinnenministerium inzwischen von dieser Aussage abgekommen ist und gegenwärtig nur mehr davon spricht, lediglich 20 Prozent der Spätaussiedler würden über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen. Aus mehreren Gründen verwahren wir uns jedoch auch gegen diese Behauptung: Zum einen kann nach den uns vorliegenden Erkenntnissen keine Rede davon sein, dass nur ein Fünftel der nach Deutschland kommenden Spätaussiedler ausreichend gut Deutsch spricht, und zum anderen werden mit dieser Festlegung ein weiteres Mal deutsche Sprachkenntnisse zum dominierenden Nationalitätenmerkmal erhoben. Wie wir jedoch bereits mehrfach ausgeführt haben, tragen die Russlanddeutschen keine Schuld am Verlust ihrer deutschen Muttersprache, sie betrachten im Gegenteil gerade diesen Verlust als zentralen Bestandteil ihres bis in die Gegenwart andauernden Kriegsfolgenschicksals. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns als höchst ungerecht, Menschen, die in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion jahrzehntelang als Deutsche diskriminiert wurden, hier in Deutschland de facto ihren Status als Deutsche abzusprechen. Restriktive Regelungen der genannten Art lassen in meinen Landsleuten den Eindruck entstehen, sie seien in der Heimat ihrer Vorfahren nicht willkommen. Ohne auf moralisch Fragwürdiges einer eventuellen Behinderung des Familiennachzuges näher einzugehen, will ich Ihnen nachstehend beispielhaft drei Momente nennen, die den Zuzug von Deutschen aus den Staaten der GUS in einem positiven Licht erscheinen lassen: - Wie aus offiziellen Statistiken hervorgeht, handelt es sich bei den Deutschen aus Russland um eine ausgesprochen junge und arbeitswillige Volksgruppe: - Sie „verjüngen“ die Alterspyramide einer vergreisenden Bundesrepublik. - Sie zahlen erheblich mehr in die deutschen Rentenkassen ein, als sie diesen entnehmen. - Sie akzeptieren auch Arbeiten, die deutlich unter ihrer mitgebrachten Qualifikation liegen. - Und sie leisten ihren Beitrag zur Rettung strukturschwacher Gebiete in Deutschland. In diesem Zusammenhang verweise ich darauf, dass diese Leistungsbereitschaft der Deutschen aus Russland auch bei den Olympischen Sommerspielen des 74

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews In besonderem Maße legen wir schließlich Wert auf diese Feststellung: Die Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte haben gezeigt, dass russlanddeutsche Aussiedler und Spätaussiedler nach einer Übergangsphase ihrem Anspruch, als Deutsche unter Deutschen leben zu wollen, gerecht geworden sind und sich voll und ganz integriert haben. Es wird von unserer Seite nicht bestritten, dass gerade junge Spätaussiedler anfangs mit überdurchschnittlichen Integrationsschwierigkeiten zu kämpfen haben. Wir halten es jedoch für eine verhängnisvolle Entscheidung, diese Probleme auf dem Wege einer weiteren Behinderung der Ausreise lösen zu wollen. Wir sind vielmehr der Überzeugung, dass jeder Euro, der für die Integration der russlanddeutschen Spätaussiedler ausgegeben wird, eine Gewinn bringende Investition für die Zukunft ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Satz „Nur gemeinsam sind wir stark!“ ist mittlerweile zum Leitmotiv zahlreicher Veranstaltungen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland geworden. In diesem Sinne appelliere ich an Sie, uns bei der Durchsetzung unserer dringenden Anliegen zu unterstützen und sich als die zuverlässigen Partner zu erweisen, die Sie uns in den letzten Jahrzehnten stets waren. Abschließen will ich meine Ausführungen mit einigen Worten des Dankes, die die Fairness gebietet: Auch wenn wir mit der scheidenden Regierung bei der Diskussion um das Zuwanderungsgesetz gewiss nicht einer Meinung waren, so erhielten wir doch gerade in den letzten Monaten durch Innenminister Otto Schily und seinen Aussiedlerbeauftragten HansPeter Kemper Rückendeckung in Sachen Nachzug von Ehegatten und minderjährigen Kindern von Spätaussiedlern. Widerstände waren eher in einigen unionsgeführten Bundesländern zu überwinden. Dramatisieren will ich die Angelegenheit jedoch nicht – schließlich konnte sie ja zur beiderseitigen Zufriedenheit gelöst werden. November 2005

Vorjahres zum Ausdruck gekommen ist. Dort waren Deutsche aus Russland, deren Bevölkerungsanteil bei etwa 3,5 Prozent liegt, am Gewinn von über 20 Prozent der deutschen Medaillen beteiligt! Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs: Wer die jüngere Geschichte der russlanddeutschen Volksgruppe in der Sowjetunion bzw. in den Staaten der GUS kennt, weiß auch, aus welchen Gründen es in vielen Fällen zu so genannten Mischehen gekommen ist und weshalb viele dieser Medaillengewinner Namen haben, die hier in Deutschland eher nicht üblich sind. Ich denke aber, wir sollten auf sie genauso stolz sein, wie wir uns über Spieler wie Tilkowski, Libuda, Litbarski oder Podolski in der deutschen Fußballnationalmannschaft gefreut haben und freuen! Entgegen dem Bild, das von den Spätaussiedlern in der Öffentlichkeit durch eine häufig einseitige und negative Berichterstattung in den Medien entstanden ist, sind Deutsche aus Russland Menschen mit einer deutlich unterdurchschnittlichen Kriminalitätsneigung. So lauten jedenfalls die Ergebnisse von empirischen Studien, die in den letzten Jahren in Niedersachsen und Bayern durchgeführt worden sind und gerade erst vor wenigen Monaten durch eine weitere Untersuchung in Nordrhein-Westfalen bestätigt wurden. Dort kam das Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familien zu folgenden Resultaten: - Die meisten (jungen) Spätaussiedler sind weder besonders kriminell noch besonders auffällig, sondern integrieren sich gut in diese Gesellschaft. - Die Zahl der tatverdächtigen Spätaussiedler in Nordrhein-Westfalen liegt mit 2,4 Prozent deutlich unter ihrem Bevölkerungsanteil von ca. 4,5 Prozent. - Bei den auffälligen Jugendlichen handelt es sich um eine kleine Gruppe. - Ein großer Teil der Kriminalität im Jugendalter ist als vorübergehende, oft episodenhafte Entwicklung anzusehen.

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Vor 50 Jahren: Aufhebung der Sonderkommandantur führt habe und einige diesbezügliche Vorschläge für eine Besprechung im ZK vorbereitet worden seien. Die zaghafte Entstalinisierungspolitik verbesserte Schritt für Schritt die Situation der deportierten Völker: Am 5 Juli 1954 erließ das Ministerrat der UdSSR die Verordnung “Über die Aufhebung einiger Einschränkungen in der Rechtsstellung der Sondersiedler”. Dieser zufolge wurden Kinder bis zum 16. Lebensjahr von der Registrierung befreit. Einige Tage später folgte die Aufhebung des Erlasses vom 26. November 1948, der für die Flucht aus den Zwangsansiedlungen eine 20-jährige Haftstrafe vorsah. Die vor 1941 in östlichen Gebieten des Landes lebenden, während des Krieges nicht “umgesiedelten” Deutschen wie auch die in der Verbannung verbliebenen Großbauern (Kulaken) wurden am 13. August 1954 von der Kommandanturaufsicht befreit. Das gleiche geschah mit jenen Parteimitgliedern und ihren Familienangehörigen, die sich laut Anordnung des ZKPräsidiums vom 9. Mai 1955 als freie Bürger zählen konnten. Auf Anordnung des Ministerrats vom 24. November desselben Jahres wurden auch Lehrer, Teilnehmer des „Großen Vaterländischen Krieges“ und Träger von Orden und Medaillen der UdSSR zusammen mit ihren Familienangehörigen von der Aufsicht befreit. Im März 1955 verfügte der Ministerrat die Ausstellung von Pässen für die Sondersiedler und ihre Einberufung zum regulären Militärdienst, angefangen mit dem Jahrgang 1936. Schließlich hob das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR in dem Erlass vom 13. Dezember 1955 den Status der Deutschen als “Sondersiedler” auf. Die weit verbreitete Meinung, der Dezember-Ukas sei ein Ergebnis des Moskau-Besuchs von Bundeskanzler Konrad Adenauer im September 1955 gewesen, greift zu kurz. Die sukzessive Abschaffung der administrativen Einschränkungen einiger nationaler bzw. sozialer Gruppen hing vielmehr mit der allgemeinen Entwicklung in der nachstalinistischen Gesellschaft zusammen, und es war nur eine Frage der Zeit, wann die Deutschen in diese Entwicklung einbezogen werden würden. Eine ZK-Kommission hatte dem Präsidenten des Obersten Sowjet, Georgij Malenkow, schon im April 1953 wesentliche Erleichterungen für die Sondersiedler vorgeschlagen. So wichtig alle diese Erlässe und Anordnungen auch sind, für die Betroffenen konnte von einer vollständigen Wiederherstellung ihrer Rechte keine Rede sein.

rst durch den Erlass des Obersten Sowjets vom 13. Dezember 1955 wurden die Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen, die sich in Sondersiedlungen befanden, aufgehoben, aber mit zwei wichtigen Ausnahmen:

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1. Sie durften nicht in ihre früheren Kolonien zurückkehren und 2. ihnen wurde kein Anspruch gewährt auf Rückgabe des konfiszierten Vermögens. Trotz Amnestie waren sie also doch nicht vollberechtigte Bürger geworden. Mit diesem Zitat des ehemaligen stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Dr. Herbert Wiens, aus dem Jahr 1986 beginnt einer der Artikel des neuesten Heimatbuches der Landsmannschaft, der sich mit der Aufhebung der Sonderkommandantur über die Russlanddeutschen vor 50 Jahren auseinandersetzt. Im nachstehenden Artikel, einem Auszug (S. 1151-1153) aus “Patrioten oder Verräter? Politische Strafprozesse gegen Rußlanddeutsche 1942-1946” im Sammelband “Verführungen der Gewalt. Russen und Deutsche im Ersten und Zweiten Weltkrieg” (West-östliche Spiegelungen - Neue Folge; Bd. 1), hrsg. von Karl Eimermacher und Astrid Volpert unter Mitarbeit von Gennadij Bordjugov, München 2005, bewertet der renommierte russlanddeutsche Historiker Dr. Viktor Krieger die damaligen Vorgänge, insbesondere auch im Hinblick auf die Rolle des deutschen Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer, aus wissenschaftlicher Sicht: Sofort nach Stalins Tod setzte eine wenn auch vorerst auf Angehörige der Führungselite und einige Opfergruppen der späten 40er und frühen 50er Jahre beschränkte Rehabilitierung ein. Dabei ergriff ausgerechnet Berija am konsequentesten die Flucht nach vorn und schlug einige Reformen im GULag-System vor. In Bezug auf Russlanddeutsche bewies er ebenfalls erstaunliche Flexibilität. Den anonymen Brief eines Sondersiedlers, der die diskriminierende Lage der Russlanddeutschen in drastischem Ton schilderte, ließ er am 8. Mai 1953 an die Präsidiumsmitglieder des ZK der KPdSU mit dem Vermerk verschicken, dass angesichts der “staatlichen Bedeutung dieser Frage” das von ihm geleitete Innenministerium “eine Überprüfung der Lage der Sondersiedler” durchge76

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Orte zurückzukehren”, aus denen sie “ausgesiedelt” worden waren, und dass die Aufhebung des Status eines Sondersiedlers nicht “die Rückgabe des Vermögens, das bei der Verschickung konfisziert worden ist”, mit sich bringt. Die “beglückten” Deutschen mussten schriftlich auf die Rückkehr und ihr Vermögen verzichten. Wer daran in den “liberalen” Chruschtschow-Zeiten oder später rüttelte, wurde sofort mit dem Vorwurf antisowjetischer Agitation und Propaganda mit all den dazugehörigen Konsequenzen konfrontiert. Dezember 2005

Auf den Deutschen, wie auch vorübergehend auf den anderen verbannten Völkern, lastete weiterhin der Vorwurf, sie seien Vaterlandsverräter. Nur weil die Beschränkung der Rechte dieses Personenkreises für “nicht notwendig” erachtet wurde, fand eine Art regierungsamtlicher Begnadigung statt. An der Richtigkeit der Deportationsmaßnahmen während des Krieges bestand aus Sicht der Stalin-”Erben” kein Zweifel. Unmissverständlich kam dies im Erlass vom 13. Dezember 1955 zum Ausdruck, in dem erklärt wird, dass die Verbannten “nicht das Recht haben, an die

Sozialpolitik im Zeichen gestiegener Schwierigkeiten Arbeitstagung für ehrenamtliche Betreuer der Landsmannschaft und 50 alte und neue Mitarbeiter der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland kamen am 26. November im Technikum-Hotel in Würzburg zu ihrer letzten Arbeitstagung in diesem Jahr zusammen. Die Tagungsleitung hatten die beiden stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Leontine Wacker und Adolf Braun.

kommt man leicht auf eine Million Deutsche in der GUS. Vor diesem Hintergrund müssen wir konstatieren, dass für unsere Landsleute die Formel “bleiben oder ausreisen” nur noch mit Einschränkungen gilt. Da zwei der Hauptreferenten der Tagung, Gisela Schewell vom Bund der Vertriebenen und Ministerialdirigent Frank Willenberg vom Bundesministerium des Innern, aufgrund des Schneechaos in NordrheinWestfalen für mehrere Stunden festsaßen, musste das Tagungsprogramm kurzfristig umgestellt werden. Der Vormittag gehörte deshalb den Ausführungen von Adolf Braun in seiner Eigenschaft als sozialpolitischer Sprecher des Bundesvorstandes und Isolde Haase, Migrationserstberaterin der Landsmannschaft in München. Die von den beiden Referenten angesprochenen Themen wie doppelte Staatsangehörigkeit, Statusverlust der Spätaussiedler oder Änderungen des kasachischen Staatsangehörigkeitsrechts riefen bei den Teilnehmern lebhafte Diskussionen hervor. Gisela Schewell befasste sich in ihrem Vortrag vor allem mit den Gründen für den alarmierenden Rückgang der Spätaussiedlerzahlen. Als größten Stolperstein bezeichnete sie den 1996 durch das Bundesverwaltungsamt eingeführten Sprachtest. Sie verwies aber auch darauf, dass nach wie vor eine sehr große Anzahl bereits erteilter Aufnahmebescheide nicht genutzt würden und die mangelhafte Qualität zahlreicher aktueller Ausreiseanträge einer raschen Bearbeitung im Wege stünden. Nachdem Adolf Fetsch den landsmannschaftlichen Sozialbetreuer und stellvertretenden Vorsitzenden der Ortsgruppe Chemnitz, Florian Braun, für seine langjährigen Verdienste mit der bronzenen Ehrennadel der Landsmannschaft ausgezeichnet hatte, mach-

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In seiner Begrüßungsansprache ging der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, auf die aktuelle Situation der Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der UdSSR und die gewachsenen Schwierigkeiten bei der Sozialberatung unserer Landsleute ein. Zunehmend als Hemmschuh erweist sich in diesem Bereich die Neustrukturierung der Sozialberatung unter dem Begriff Migrationserstberatung, vom Wegfall der Aufwandsentschädigung für ehrenamtliche Betreuer ganz zu schweigen. Einen schweren Stand, so Fetsch, hat die Landsmannschaft auch bei ihrem Kampf gegen negative Auswirkungen des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes. Die erneut deutlich zurückgegangenen Spätaussiedlerzahlen sprechen eine deutliche Sprache. Diese Zahlen stehen in keinem Verhältnis zu der Anzahl der in der GUS verbliebenen Deutschen. Der “Fischer Weltalmanach 2006” beziffert die Anzahl der Deutschen in Russland mit 0,41 Prozent der Gesamtbevölkerung, also knapp 600.000. In Kasachstan nehmen sie mit 2,4 Prozent (circa. 356.000) hinter Kasachen, Russen, Ukrainern und Usbeken sogar immer noch den fünften Platz in dem Vielvölkerstaat ein. Wenn man die verbliebenen Deutschen in der Ukraine (30.000), Kirgisien (20.000) und anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion hinzurechnet, 77

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews te Ministerialdirigent Frank Willenberg die Tagungsteilnehmer mit dem aktuellen Stand der Dinge im Spätaussiedlerbereich und der Sicht der Bundesregierung vertraut. Als Gründe für den Rückgang der Spätaussiedlerzahlen nannte er zum einen ähnlich wie seine Vorredner das Zuwanderungsgesetz und die hohe Anzahl von erteilten Aufnahmebescheiden, die nicht genutzt würden. Zum anderen verwies er jedoch darauf, dass ein erheblicher Teil der unmittelbaren Familienzusammenführung abgeschlossen sei und die Hilfen der Bundesregierung die Motivation der Deutschen in den Ländern der GUS erhöht hätten, dort zu bleiben. Keinesfalls ist jedoch laut Willenberg im Gespräch, die Anerkennung des kollektiven Kriegsfolgen-

schicksals der Russlanddeutschen anzutasten und damit ihre weitere Ausreise faktisch zu beenden. Ausnahmen gelten lediglich für die neuen EU-Mitgliedsstaaten Estland, Lettland und Litauen. Unter Berücksichtigung der Kürze der Arbeitstagung - sechs Stunden - darf registriert werden, dass die Fülle der angebotenen Informationen beachtlich war. Viele Teilnehmer erwiesen sich einmal mehr als ebenbürtige Kenner der Materie und waren durchaus in der Lage, mit den Referenten auf Expertenebene zu verhandeln - eine Tatsache, die für das weiterhin hohe Niveau der landsmannschaftlichen Sozialarbeit spricht. Dezember 2005

2005: Spätaussiedlerzuzug weiter rückläufig Aussiedlerbeauftragter Kemper: „Integration bleibt das wichtigste Ziel!“ (Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums) Der Rückgang hat vielfältige Ursachen: Familienzusammenführungen sind inzwischen zu einem großen Teil abgeschlossen. Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung in den Aussiedlungsgebieten, die Förderungen auf kulturellem, sprachlichem, sozialem, medizinischem und wirtschaftlichem Gebiet sowie die verstärkte Förderung der Bildung und In1996: 177.751 Personen tensivierung von Städtepartnerschaften zwischen 1997: 134.419 Personen Kommunen in Deutschland und in den Herkunftsge1998: 103.080 Personen bieten haben zur Verbesserung der sozialen und wirt1999: 104.916 Personen schaftlichen Lage geführt und den Menschen eine 2000: 95.615 Personen Zukunftsperspektive in den Herkunftsgebieten eröff2001: 98.484 Personen net. Zugleich haben die Demokratisierungsprozesse 2002: 91.416 Personen in den osteuropäischen Staaten zu einer Stabilisie2003: 72.885 Personen rung der Lage der deutschen Minderheiten beigetra2004: 59.093 Personen gen. Mit einigen Staaten wurden außerdem vertragli2005: 35.522 Personen che Übereinkommen über den Minderheitenschutz Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. Denn auch abgeschlossen. die Zahl der neuen Aufnahmeanträge hat mit 21.306 gegenüber dem Vorjahr (34.560) um gut 38 Prozent Viele Antragsteller erfüllen die sprachlichen Voraussetzungen für eine Aufnahme als Spätaussiedler abgenommen. nicht mehr. Zudem müssen seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes auch die Familienangehörigen 1996: 168.758 Personen Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachweisen. 1997: 147.577 Personen Der Erwerb dieser Kenntnisse wird durch ein flä1998: 100.421 Personen chendeckendes Angebot an kostenlosen außerschuli1999: 117.101 Personen schen Deutschkursen in den Herkunftsgebieten er2000: 106.895 Personen möglicht. 2001: 83.812 Personen Im Jahr 2005 wurden insgesamt 1.468 Personen zu 2002: 66.833 Personen einem Sprachstandstest eingeladen. Hiervon sind 2003: 46.443 Personen 871 Personen zum Test erschienen, von denen 216 2004: 34.560 Personen d.h. knapp 25 Prozent den Test bestanden haben. 2005: 21.306 Personen m Jahr 2005 sind 35.522 Spätaussiedler und Angehörige nach Deutschland gekommen, annähernd 40 Prozent weniger als 2004 (59.093 Personen). Damit setzt sich der Rückgang der Spätaussiedlerzahlen fort:

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews forderlich, wird der Integrationskurs durch eine sozialpädagogische Begleitung sowie durch Kinderbetreuungsangebote ergänzt.

Dazu der Aussiedlerbeauftragte Hans-Peter Kemper: „Diese Ergebnisse sollten für alle Bewerber Motivation sein, von den angebotenen Sprachkursen Gebrauch zu machen. Der Erwerb von Deutschkenntnissen stellt keine unüberwindliche Hürde dar. Die bestehenden Hilfsangebote müssen nur genutzt werden. Nach der Ankunft in Deutschland werden die mitgebrachten Sprachkenntnisse die Integration erheblich erleichtern und so auch die weitere Akzeptanz des Spätaussiedlerzuzuges bei der einheimischen Wohnbevölkerung sicherstellen. Ich meine, diese Vorleistung darf von den Einbeziehungsbewerbern als zukünftigen deutschen Staatsangehörigen erwartet werden. Im Gegenzug wird ihnen nach ihrem Eintreffen durch weitere Unterstützungsangebote geholfen.“ Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes haben neben den Spätaussiedlern auch alle mit ihnen nach Deutschland gekommenen Familienangehörigen einen gesetzlichen Anspruch auf kostenlose Teilnahme an einem Integrationskurs. Im Jahr 2005 hat das Bundesverwaltungsamt 33.804 Teilnahmeberechtigungen ausgestellt. Der Kurs umfasst einen jeweils 300-stündigen Basis- und Aufbausprachkurs sowie einen Orientierungskurs von 30 Stunden, in dem Kenntnisse der Rechtsordnung, Kultur und Geschichte Deutschlands vermittelt werden. Soweit er-

Weitere staatliche Integrationsangebote sind die Migrationserstberatung für erwachsene Zuwanderer und der Jugendmigrationsdienst für junge Zuwanderer bis 27 Jahre. Daneben gibt es vielerorts auch wohnumfeldbezogene Projekte vor allem zur gesellschaftlichen Integration, die durch Verbände, Vereine, Initiativen und Stiftungen durchgeführt und von der Bundesregierung gefördert werden. Kemper weiter: „Die Unterstützung der sozialen und beruflichen Integration der Spätaussiedler und ihrer Familien wird auch in Zukunft ein vorrangiges Ziel der Bundesregierung bleiben. Ich ermutige alle, die zu uns gekommen sind, sich nicht in eine Parallelgesellschaft zurückzuziehen, sondern sich aktiv am gesellschaftlichen Leben in den Kommunen zu beteiligen, selbst möglichst gut Deutsch zu lernen und dafür zu sorgen, dass ihre Kinder Deutsch lernen im Kindergarten, in der Schule, in Vereinen und in Jugendeinrichtungen der Kirchen und Gemeinden, denn die Sprache wird ihnen viele Türen öffnen nicht zuletzt die auf den Arbeitsmarkt.“ Januar 2006

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Erstaunliches, Skandalöses... kunftsland und dem jetzigen Aufenthaltsland zusammen. Es kommt hinzu, dass die Russlanddeutschen nicht als gern gesehene Arbeitskräfte gekommen sind, sondern von Anfang an Bezieher von Transfereinkommen waren.

... über russlanddeutsche Aussiedler und Spätaussiedler ist gerade in den letzten Wochen und Monaten in auflagenstarken deutschen Zeitungen zu lesen und von bekannten deutschen Politikern zu hören. So meldet die „BILD“ in ihrer Ausgabe vom 5. April, dass jeder fünfte Gefängnisinsasse Aussiedler („Russlanddeutscher“) sei, und fragt in einem Interview den Publizisten Prof. Arnulf Baring, weshalb es fast ausschließlich Probleme mit Türken, Arabern, Albanern und Russlanddeutschen gebe, nicht aber mit Einwanderern aus anderen Ländern. Unerwartetes meldet die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer Ausgabe vom 10. April vom Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Edmund Stoiber (CSU), der im Anschluss an eine zweitägige Klausurtagung im oberfränkischen Kloster Banz „massive Integrationsprobleme bei Aussiedlern der dritten Generation vor allem aus Kasachstan und Russland“ beklagt habe. Den Vogel aber schoss der Münchner Oberbürgermeister und Präsident des Deutschen Städtetages, Christian Ude (SPD) ab, der in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ ebenfalls am 10. April erklärte:

Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland kann sich beim besten Willen nicht erklären, auf welchem Datenmaterial diese Aussagen basieren. Nach den uns vorliegenden offiziellen Statistiken lässt sich zu den genannten Punkten Folgendes sagen:

- Untersuchungen des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familien sowie Studien aus Bayern und regionale Statistiken aus Lahr (Baden-Württemberg), Hamburg und anderen norddeutschen Städten haben gezeigt, dass russlanddeutsche Spätaussiedler keinesfalls überdurchschnittlich häufig kriminell werden. Vielmehr ist gerade das Gegenteil der Fall. - Die nordrhein-westfälische Untersuchung legt außerdem besonderen Wert auf die Feststellung, dass gewisse Probleme bei jungen russlanddeutschen Männern eine vorübergehende Erscheinung sind. Von „massiven Integrationsproblemen bei Aussiedlern der dritten Generation“ kann also nach BZ: Gibt es Ausländer, die schwieriger in der Integden uns vorliegenden Daten keine Rede sein. ration sind als andere? Ude: Ohne Frage, ja. Die mit Abstand schwierigste Die Landsmannschaft verwahrt sich energisch gegen Gruppe sind die so genannten Russen, auch wenn es Aussagen der genannten Art, die nicht nur nach unsich dabei teilweise um Menschen mit deutscher serer Auffassung nichts mit der Wirklichkeit zu tun Staatsangehörigkeit handelt. Bei den Kindern aus Fa- haben. Wir können ganz im Gegenteil mit gutem Gemilien russischer Herkunft ist nach Aussagen der Po- wissen behaupten, dass sich unsere Landsleute in ihlizei die Straffälligkeitsquote am höchsten, und es rer großen Mehrheit in vorbildlicher Weise integriert sind auch die Integrationsprobleme am gravierends- haben. ten. An zweiter Stelle würde ich mit deutlichem Ab- Wir haben es nicht dabei belassen, gegen die genannstand die jungen Türken und Araber nennen. ten Aussagen zu protestieren und vor negativen Auswirkungen auf die öffentliche Meinung über SpätBZ: Warum sind die Probleme gerade bei den Russ- aussiedler zu warnen. Wir haben uns vielmehr belanddeutschen so groß? reits in Briefen an die genannten Personen gewandt Ude: Das hängt mit den wirtschaftlichen und gesell- und um Aufklärung gebeten. schaftlichen Unterschieden zwischen dem HerApril 2006

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Wir sind Deutsche aus Russland! Der Kampf der Landsmannschaft gegen das Zuwanderungsgesetz geht weiter die weitere Einreise von Russlanddeutschen. Dass Familienangehörige, die den Sprachtest nicht bestanden haben, nach dem Ausländerrecht einreisen dürfen, ist ein schwacher Trost und legt ihren Status zudem in unzulässiger Weise fest.“ Blättern wir einige Jahre zurück: 1985, 32 Jahre nach Stalins Tod und noch vor Beginn der großen Ausreisewelle aus der damaligen Sowjetunion, vertrat der sowjetische Außenminister Gromyko beharrlich den Standpunkt, die Familienzusammenführung der Russlanddeutschen sei abgeschlossen. Der Rückgang der Aussiedlerzahlen sei nur ein Spiegelbild des natürlichen Schwundes der Ausreisewilligen. Wer die wirklichen Verhältnisse kannte - damals lebten noch mindestens zweieinhalb Millionen Deutsche in der Sowjetunion -, konnte über den Zynismus dieser Aussage nur den Kopf schütteln. Die Erinnerung an diese verantwortungslose Politik, vor allem aber an die Leiden der russlanddeutschen Volksgruppe und die Hindernisse, die ihr über eine so lange Zeit bei der Rückkehr in die Heimat ihrer Vorfahren in den Weg gelegt wurden, ließ den Kampf gegen eine Einbeziehung der Russlanddeutschen in das Zuwanderungsgesetz zu einem zentralen Punkt der Politik der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in den letzten Jahren werden. In zahllosen Gesprächen und Stellungnahmen, in denen es neben der unzulässigen Einbeziehung der russlanddeutschen Spätaussiedler in das Zuwanderungsgesetz vor allem um die geplante Überbetonung von deutschen Sprachkenntnissen im Aufnahmeverfahren ging, wandte sich der Bundesvorstand der Landsmannschaft an den Bundespräsidenten, die Bundesregierung, die Ministerpräsidenten der Länder und weitere führende Politiker des Landes. Wir machten immer wieder darauf aufmerksam, dass es keiner weiteren Verschärfung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausreise von Spätaussiedlern bedürfe, und unterbreiteten eine Reihe von Lösungsvorschläge für eine bessere und vor allem humanere Aufnahmepraxis.

„Wir sind Deutsche aus Russland! Keine Ausgewanderten, keine Einwanderer, keine Ausländer, keine deutschen Russen oder russischen Deutschen. Wir sind einfach Deutsche aus Russland!“

Mit diesem Plädoyer fasste eine Zuhörerin in Buckenberg-Haidach (Pforzheim) die Beiträge im Rahmen einer von der Heinrich-Böll-Stiftung veranstalteten Podiumsdiskussion kurz und knapp zusammen. Es sind Worte, die allen, auch den verantwortlichen Politikern, zu denken geben sollten. Sie zeigen, was die Deutschen aus Russland fühlen. Und es sind Worte, die haargenau die Argumentationslinie der Landsmannschaft im Kampf gegen das Zuwanderungsgesetz wiedergeben. Dieses Gesetz, das am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, hat inzwischen dazu geführt, dass immer weniger unserer Landsleute aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland aussiedeln dürfen. Von Anfang an hat die Landsmannschaft betont, dass Deutsche aus Russland, die ja Deutsche gemäß Artikel 116 des Grundgesetzes sind, nicht in ein Gesetz gehören, das ausdrücklich für Ausländer und EUBürger konzipiert wurde. Betont haben wir auch, dass das Zuwanderungsgeetz in völlig ungenügender Weise dem besonderen Schicksal der russlanddeutschen Volksgruppe Rechnung trägt. Wir zitieren dazu aus der Presseerklärung der Landsmannschaft vom Januar 2003: „Dabei dürfte es dem Gesetzgeber durchaus bekannt gewesen sein, dass die Russlanddeutschen vor allem nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion jahrzehntelanger Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt waren. Es dürfte dem Gesetzgeber ebenfalls bekannt gewesen sein, dass so gut wie alle Russlanddeutschen bereits in den 50er und 60er Jahren nach Deutschland gekommen wären, wenn sie denn gedurft hätten (die minimalen Ausreisezahlen dieser Jahre belegen diese Behauptung; wenn überhaupt, war damals eine Ausreise nur im Rahmen der Familienzusammenführung möglich). Diese Menschen nach dem Verlust unzähliger Angehöriger, nach Repressionen und Unterdrückung ein weiteres Mal zu Einige dieser Lösungsvorschläge seien in aller Kürze bestrafen, indem man die Hürden für ihre Ausreise erwähnt: - Rückkehr zur Akzeptanz der Spätaussiedler als höher baut, ist unverantwortlich.“ deutsche Volkszugehörige trotz ihrer durch das Zu den Folgen des Gesetzes führte die Presseerkläschwere Schicksal der Eltern und Großeltern in rung bereits damals aus: „Wer die Bestimmungen den Herkunfts- und Verschleppungsgebieten bedes Zuwanderungsgesetzes durchsetzen will, nimmt dingten Besonderheiten in Sprache und Verhalten. Familientrennungen in Kauf oder verhindert bewusst 81

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews - Für die Anerkennung der Spätaussiedler sind aufgrund dieser Tatsache einzig und allein die Abstammung und das Bekenntnis zum deutschen Volkstum erforderlich. - Wenn trotz ihrer Fragwürdigkeit an den so genannten Sprachtests festgehalten wird, müssen sich diese an den Gegebenheiten sowohl bei den zu testenden Personen als auch in den Bereichen, aus welchen diese stammen, orientieren.

diglich Grundkenntnisse der deutschen Sprache verlangt werden. - Und schließlich bleibt per Ministererlass der Beirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Aussiedlerfragen erhalten. Die Änderungen, die das Zuwanderungsgesetz mit sich gebracht hat, haben wir in VadW 2/2005 veröffentlicht. Gegenwärtig setzt die Landsmannschaft alle Hebel in Bewegung, um den Mitgliedern der Kernfamilie eines nach Paragraph 4 des Bundesvertriebenengesetzes anerkannten Spätaussiedlers auch nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 eine unmittelbare Ausreise nach Deutschland ohne Sprachtest zu ermöglichen. Wir beziehen uns in unserer Argumentation vor allem auf Paragraph 6 des Grundgesetzes, der den besonderen Schutz von Ehe und Familie vorschreibt. Sie sehen also, dass für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland auch 16 Monate nach seinem Inkrafttreten der Kampf gegen das Zuwanderungsgesetz noch nicht zu Ende ist. Wir werden alles tun, um möglichst vielen unserer Landsleute die Ausreise in das Land ihrer Vorfahren zu ermöglichen! April 2006

Trotz aller Bemühungen, Gespräche und Stellungnahmen, die sich über vier Jahre hinzogen, konnte die Landsmannschaft jedoch nicht verhindern, dass das Zuwanderungsgesetz mit seinen für Spätaussiedler negativen Folgen in Kraft trat. Immerhin konnte jedoch erreicht werden, dass von den Vorschlägen der Landsmannschaft drei Punkte übernommen wurden: - So ist es beim Führen des Abstammungsnachweises bei der bisherigen gesetzlichen Regelung geblieben, nach der in besonders gelagerten Fällen auch auf die Generation der Großeltern zurückgegriffen werden kann. - Außerdem werden bei dem für die Familienangehörigen und Abkömmlinge des Spätaussiedlers vorgesehenen Sprachtest, der wiederholbar ist, le-

Beirat für Spätaussiedlerfragen konstituiert hende aussiedlungsbedingte Erscheinung betrachtet werden. Dazu der Vorsitzende des Beirats, der Aussiedlerbeauftragte Dr. Christoph Bergner: „Die aktuellen Kriminalitäts- und Integrationsstatistiken zeigen, dass die Spätaussiedler anders als vielfach behauptet keine besondere Problemgruppe darstellen, sondern sich mehrheitlich gut in unsere Gesellschaft integrieren.“ Die Mitglieder des Beirates fordern die Bundesregierung auf, die Spätaussiedler, die aufgrund ihres Kriegsfolgenschicksals weiterhin eine besondere Zuwanderergruppe darstellen, auf dem anstehenden Integrationsgipfel angemessen zu berücksichtigen. Im Sinne der Integration sei insbesondere ein gemeinsamer Zuzug der Kernfamilie des Spätaussiedlers wünschenswert. Schließlich bittet der Beirat die Bundesregierung, die im Spätaussiedlerbereich zur Verfügung gestellten Mittel auf dem erreichten Niveau zu stabilisieren und qualifizieren, anstatt sie zu kürzen. April 2006

m 10. April hat sich beim Bundesministerium des Innern der Beirat für Spätaussiedlerfragen konstituiert. Das Gremium, das sich aus 16 Vertretern der Länder, der Vertriebenenorganisationen, der Kirchen, der kommunalen Spitzenverbände, der Wohlfahrtsverbände und der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammensetzt, soll die Bundesregierung sachverständig in Fragen der Aufnahme und Integration von Spätaussiedlern beraten. Angesichts einseitiger Darstellungen von Integrationsproblemen der Aussiedler wendet sich der Beirat nachdrücklich gegen pauschale Verunglimpfungen dieser Zuwanderergruppe. Vor dem Hintergrund, dass seit 1950 ca. 4,5 Millionen Spätaussiedler erfolgreich in unsere Gesellschaft eingegliedert worden sind, sieht es der Beirat als eine seiner wichtigsten Aufgaben an, der Öffentlichkeit die großartige Integrationsleistung der Spätaussiedler zu verdeutlichen. Die lediglich vereinzelt zu beobachtenden Probleme bei jugendlichen männlichen Aussiedlern müssten angemessen eingeordnet und als vorüberge-

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Nur gemeinsam sind wir stark! Stelle erwähnt, dass sich die Innenminister mit diesem Beschluss gegen den Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, durchsetzten. Dieser hatte gefordert, die Deutschtests als Einreisevoraussetzung wieder abzuschaffen. Erwähnt sei gleichfalls, dass wir in dieser Angelegenheit sowohl Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble als auch seinen Amtsvorgänger Otto Schily auf unserer Seite haben bzw. hatten, genauso wie die beiden früheren Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Jochen Welt und Hans-Peter Kemper. Eine endgültige Regelung ist erst für den Herbst des Jahres zu erwarten, so dass uns noch genügend Zeit zur Intervention geblieben ist. Sollten wir uns nicht durchsetzen können, werden wir wohl oder übel hinnehmen müssen, das auf die Argumente der Landsmannschaft, die wir in zahllosen Briefen und Gesprächen vorgebracht haben, wieder einmal nicht gehört wurde. Unsere Stimme wird auch künftig nur gehört werden, wenn wir im Namen möglichst vieler Mitglieder der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland sprechen. Und wir werden nur etwas erreichen, wenn wir uns untereinander solidarisch verhalten und uns über unsere Ziele und die Vorgehensweise einig sind. Denn: „Nur gemeinsam sind wir stark!“ Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender Mai 2006

o lautet immer wieder das Motto von Veranstaltungen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, das der eine oder andere vielleicht für abgedroschen halten mag. Wir werden jedoch daran festhalten, da wir gerade in der gegenwärtigen Situation nur mit einer starken und einigen Landsmannschaft etwas für unsere Landsleute erreichen können. Lassen Sie mich dazu zwei Beispiel nennen: Nachdem 2005 die Aussiedlerzahlen um beinahe 40 Prozent auf nur mehr 35.000 gesunken waren, setzte sich dieser Trend 2006 mit rasant verschärftem Tempo fort: Man mag es kaum glauben, dass in den ersten vier Monaten dieses Jahres gerade einmal 1.961 Spätaussiedler nach Deutschland gekommen sind (fast ausschließlich aus den Staaten der ehemaligen UdSSR). 1.961 Spätaussiedler in vier Monaten – hochgerechnet auf das gesamte Jahre kommt man auf eine Zahl von knapp 6.000! Alarmierende Zahlen und eine Entwicklung, die von der Landsmannschaft bereits vor Jahren im Zusammenhang mit der Diskussion um das Zuwanderungsgesetz prognostiert wurden, wenn auch nicht in diesem katastrophalen Ausmaß. Und gerade erst mussten wir den Beschluss der Länderinnenminister – der allerdings noch keine endgültig bindende Wirkung hat - zur Kenntnis nehmen, laut dem künftig auch von Familienangehörigen von Spätaussiedlern einfache deutsche Sprachkenntnisse bei der Ausreise verlangt werden. Es sei an dieser

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Unterstützung für die Arbeit der Landsmannschaft Gespräch mit dem Aussiederbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner ter der Landsmannschaft auf das vor eineinhalb Jahren in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz zurück. Keinesfalls könne zudem die Rede davon sein, dass durch die verstärkte Betonung deutscher Sprachkenntnisse bei der Ausreise die Sprachförderung in den Herkunftsländern gestiegen sei. Ein offenes Ohr hatte der Aussiedlerbeauftragte für die Wünsche, die von den Vertretern der Landsmannschaft bei dem Gespräch geäußert wurden. Diese betrafen zum einen eine Intensivierung der landsmannschaftlichen Integrationsarbeit, vor allem in den neuen Bundesländern, zum anderen einen weiteren Ausbau der Wanderausstellung „Volk auf dem Weg. Geschichte und Gegenwart der Deutschen aus Russland“. Sowohl in finanzieller als auch in personeller Hinsicht stellte Dr. Bergner eine großzügige Unterstützung in Aussicht. Mai 2006

u einem Gespräch mit dem Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, traf der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, gemeinsam mit dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden Adolf Braun und Bundesgeschäftsführer Alexander Rack am 16. Mai in Berlin zusammen. Zu Beginn des Gespräches zeigte sich der Aussiedlerbeauftragte wenig erfreut über den vorläufigen Beschluss der Innenminister der Bundesländer, Familienangehörige von Spätaussiedlern bei der Ausreise auf deutsche Sprachkenntnisse zu testen. Er wolle diesen Entschluss jedoch nicht unwidersprochen hinnehmen, zumal es sich längst gezeigt habe, dass sich die übergroße Mehrheit der Aussiedler und Spätaussiedler aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion problemlos integriert. Die gestiegenen Probleme bei der Einreise unserer Landsleute führte Dr. Bergner ebenso wie die Vertre-

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Statistiken belegen keine höhere Kriminalität Die Frage nach einer erhöhten Kriminalität bei Aussiedlern beantwortete er wie folgt: „Es gibt statistische Untersuchungen in Hamburg und NordrheinWestfalen. Sie belegen, dass die Kriminalität bei Aussiedlern nicht wesentlich höher ist als im deutschen Umfeld gleichen Alters. Ich finde es bedauerlich, dass manche Innenminister – auch aus der Union – sehr schnell zu abwertenden Urteilen kommen.“ Und bei der Frage nach der Hilfe für junge Aussiedler nannte Dr. Bergner auch unsere Organisation: “Wir haben bereits unterschiedliche Projekte. Sport spielt als Integrationsmittel eine wichtige Rolle. Wir können auf die Unterstützung der vielen längst integrierten Aussiedler setzen und sollten deshalb die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland stärker einbinden.” Mai 2006

n einem Interview mit der „Berliner Zeitung“, das unmittelbar nach dem Treffen mit Vertretern der Landsmannschaft am 16. Mai in Berlin geführt wurde, fand der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, klare Worte zugunsten unserer Volksgruppe. So antwortete er auf die Frage nach Integrationsproblemen bei Aussiedlern: „Natürlich gibt es Problme. Diese betreffen vor allem männliche Jugendliche, die den dramatischen Wechsel des Umfeldes nur schwer verkraften. Ich lege großen Wert darauf, dass 4,5 Millionen Aussiedler, die seit 1950 zu uns kamen, erfolgreich und zum Nutzen der deutschen Gesellschaft integriert wurden. Sie haben als Deutsche eine ausgeprägte Integrationsbereitschaft und eine starke Loyalität gegenüber dem deutschen Staat mitgebracht.

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Die Zukunft der Landsmannschaft liegt in unserer Hand! Mitarbeitertagung in Würzburg "Für Ihr Schreiben, in dem Sie sich für die Weitergewährung der pauschalen Aufwandsentschädigung für die im Rahmen der Migrationsberatung tätigen ehrenamtlichen Beraterinnen und Berater Ihres Verbandes einsetzen, danke ich Ihnen. Ich darf Ihnen davon Kenntnis geben, dass ich die Angelegenheit zwischenzeitlich in einem ausführlichen Gespräch mit dem Vorsitzenden der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland erörtert habe. Dabei habe ich ihn unterrichtet, dass das BMI die Pauschale nicht zeitlich befristen wolle und eine Anhebung des Betrages im Rahmen der engen haushaltsmäßigen Spielräume ins Auge gefasst wird."

n die einhundert ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeiter der Landsmannschaft trafen sich am 13. und 14. Mai zu einer Tagung im Würzburger Technikum-Hotel. Die Tagungsleitung lag in den Händen des stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Dr. Arthur Bechert, der in seiner Begrüßungsansprache den Erfahrungsaustausch unter den Teilnehmern sowie Informationen über die Arbeit des Bundesvorstandes, der Bundesgeschäftsstelle sowie der landsmannschaftlichen Gremien als hauptsächliche Gegenstände der Tagung bezeichnete.

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Aufgaben und Ziele Es liegt in unserer Hand Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, befasste sich in seinem Referat mit den aktuellen Aufgaben und Zielen unserer Organisation angesichts erheblich gesunkener Aussiedlerzahlen. Neben den Problemen, die als Folge des Zuwanderungsgesetzes entstanden sind, und der gesunkenen Akzeptanz der Volksgruppe in der Öffentlichkeit nannte er vor allem die Einschnitte im Sozialberatungs- und Integrationsbereich, durch die er die Arbeit der Landsmannschaft in ihrem Bestand gefährdet sieht. Zum einen würden durch die Neukonzeption der Migrationserstberatung die speziellen Qualifikationen unserer hauptamtlichen Mitarbeiter im Integrationsbereich nicht mehr anerkannt bzw. abgewertet. Und das, obwohl sich in unzähligen Fällen gezeigt habe, dass die Mitarbeiter der Landsmannschaft, die nicht nur im linguistischen Sinne die Sprache der Spätaussiedler sprechen, für die Betreuung der betroffenen Personengruppe geeigneter seien als Sozialarbeiter, die ihre Ausbildung an bundesdeutschen Universitäten und Fachhochschulen absolviert haben. Zum anderen würden durch den drohenden Wegfall der Aufwandsentschädigung für die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Landsmannschaft diese kaum noch zumutbaren finanziellen Belastungen ausgesetzt sein. Allerdings, so Fetsch, habe die Landsmannschaft gerade in dieser Hinsicht in den letzten Wochen einiges erreichen können. Der Bundesvorsitzende zitierte dazu aus einem Schreiben von Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble an die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, das der Landsmannschaft Ende März d.J. zugestellt wurde:

Nach einer lebhaften Diskussionen mit zahlreichen Wortmeldungen der Teilnehmer ging der seit September 2005 amtierende Bundesgeschäftsführer Alexander Rack konkret auf die gegenwärtige Situation der Landsmannschaft und der Bundesgeschäftsstelle ein, und er zeigte auf, was in den letzten Monaten und Jahren geleistet wurde und was für die nächste Zeit geplant ist. Nach einer Phase der finanziellen Konsolidierung der Landsmannschaft gelte es jetzt, die inhaltliche Arbeit voranzutreiben. Trotz aller Schwierigkeiten, so Rack weiter, liege die Zukunft der Landsmannschaft jedoch in unserer Hand. Von unserem Einsatz, unserem Gemeinschaftsgeist und unserer Begeisterungsfähigkeit hänge es ab, wie viele Landsleute wir für die Landsmannschaft gewinnen könnten. Bei allen unseren Bemühungen dürften wir außerdem niemals vergessen, dass die Landsmannschaft kein x-beliebiger Verein sei. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland sei ganz im Gegenteil eine Schicksalsgemeinschaft, eine Organisation, der anzugehören für jedes Mitglied eine Ehre sein sollte. Innerhalb dieser Landsmannschaft müssten wir ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, mit dessen Hilfe wir viel erreichen könnten. Sowohl Adolf Fetsch als auch Alexander Rack stießen mit ihren Ausführungen auf die breite Zustimmung der Tagungsteilnehmer, denen Dr. Arthur Bechert zusätzlich Ermutigendes mit auf den Weg gab, indem er betonte, dass sich unsere Organisation mit ihrer Arbeit erst im Aufbau befinde, während sich die anderen Vertriebenenverbände in einem geschichtlich bedingten und schwer aufzuhaltenden 85

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Schrumpfungsprozess befänden. Unsere Aufgabe sei es, den Landsleute zu vermitteln, dass sie mit der Landsmannschaft einen zuverlässigen Partner an ihrer Seite hätten, den sie durch ihren Beitritt stärken sollten. Ehe der erste Tag mit weiteren Diskussionsbeiträgen und Vorschlägen der Teilnehmer zu Ende ging, legte die stellvertretende Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Leontine Wacker, den Teilnehmern ein weiteres Mal die Notwendigkeit einer korrekten Arbeit in den Ortsgruppen ans Herz. Vor allem im Vorfeld der im Oktober 2006 anstehenden Bundesdelegiertenversammlung sei es wichtig, termingerechte Vorstandswahlen durchzuführen und die Arbeitsberichte einzureichen.

Gesellschaft noch nicht abgeschlossen ist. Die Quintessenz seines Referates drückte er abschließend mit den Worten aus: „Solange wir nicht entsprechend unserem Bevölkerungsanteil in den öffentlichen Strukturen vertreten sind, haben wir unsere Aufgaben nicht erfüllt.“ Adolf Fetsch mahnte in seinem Bericht für den Öffentlichkeitsausschuss eine noch effektivere Gestaltung der landsmannschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit an. Es müsse alles Mögliche versucht werden, noch mehr Mitglieder in diese Arbeit mit einzubeziehen, und es sei dringend nötig, Strukturen zu entwickeln, die uns helfen, dieses Ziele zu erreichen. Mit bloßen Willenserklärungen, denen keine Taten folgten, sei es dagegen nicht getan.

Arbeit in den Ausschüssen

Fazit

Wie es sich für eine Tagung der Landsmannschaft gehört, begann der zweite Tag mit einer Andacht, die von Marta Braun (Wolfsburg) gehalten wurde. Im Anschluss daran standen die Berichte des Organisationsausschusses und des Öffentlichkeitsausschusses auf dem Programm. Dr. Arthur Bechert befasste sich in seinem Bericht für den Organisationsausschusses vorrangig mit den Aufgaben, die sich für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland als Vertreterin einer Volksgruppe stellt, deren Eingliederung in die deutsche

Betrachtet man das Engagement und die Kompetenz, mit der sich die Mitarbeiter der Landsmannschaft an der Tagung beteiligten, kann man durchaus zuversichtlich in die Zukunft unserer Organisation blicken. Die Arbeit, so Dr. Bechert in seinen abschließenden Worten, sei zwar nicht leichter geworden, aber sie würde sich lohnen. Und: Wir sind diejenigen, die die Arbeit tun müssen! Keiner wird die Arbeit für uns erledigen. Mai 2006

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Gegenwärtige Aufgaben und Ziele der Landsmannschaft Rede anlässlich der Mitarbeitertagung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 13. und 14. Mai 2006 in Würzburg, gehalten von Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender heim auszudrücken, die wir in der letzten Ausgabe von "Volk auf dem Weg" zitiert haben: "Wir sind Deutsche aus Russland! Keine Ausgewanderten, keine Einwanderer, keine Ausländer, keine deutschen Russen oder russischen Deutschen. Wir sind einfach Deutsche aus Russland!" Stets betont haben wir auch, dass das Zuwanderungsgesetz in völlig ungenügender Weise dem besonderen Schicksal unserer Volksgruppe gerecht wird. Die Erinnerung an dieses Schicksal ließ den Kampf gegen eine Einbeziehung unserer Landsleute in das Zuwanderungsgesetz zu einem zentralen Punkt unserer Politik werden. Trotz aller Bemühungen konnten wir jedoch nicht verhindern, dass die Spätaussiedlerfrage in das Zuwanderungsgesetz aufgenommen wurde. Einige Erleichterungen für unsere Landsleute konnten wir zwar durchsetzen (wir haben darüber wiederholt in "Volk auf dem Weg" berichtet), doch war unsere Stimme letztendlich zu schwach, um wirklich gehört zu werden. Und gerade erst mussten wir den Beschluss der Länderinnenminister – der allerdings noch keine endgültig bindende Wirkung hat - zur Kenntnis nehmen, laut dem künftig auch von Familienangehörigen von Spätaussiedlern einfache deutsche Sprachkenntnisse bei der Ausreise verlangt werden. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich die Innenminister mit diesem Beschluss gegen den Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, durchsetzten. Dieser hatte gefordert, die Deutschtests als Einreisevoraussetzung wieder abzuschaffen. Erwähnt sei gleichfalls, dass wir in dieser Angelegenheit sowohl Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble als auch seinen Amtsvorgänger Otto Schily auf unserer Seite haben bzw. hatten, genauso wie die beiden früheren Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Jochen Welt und Hans-Peter Kemper. Eine endgültige Regelung ist erst für den Herbst des Jahres zu erwarten, so dass uns noch genügend Zeit zur Intervention geblieben ist. Sollten wir uns nicht durchsetzen können, werden wir wohl oder übel hinnehmen müssen, das auf die Argumente der Landsmannschaft, die wir in zahllosen Briefen und Gesprächen vorgebracht haben, wieder einmal nicht gehört wurde.

... ich begrüße Sie herzlich zu unserer Mitabeitertagung hier in Würzburg und freue mich, dass Sie so zahlreich den Weg zu uns gefunden haben. Namentlich will ich diesmal meine beiden Bundesvorstandskollegen Leontine Wacker und Adolf Braun begrüßen, mit denen ich in den letzten Monaten besonders produktiv zusammenarbeiten konnte. Und ich will mein Referat mit einem Glückwunsch für die Vorsitzende der Landesgruppe Hessen unserer Landsmannschaft, Frau Emich, verbinden, die vor kurzem zur Kreistagsabgeordneten gewählt wurde. Wie Sie der Tagesordnung entnehmen können, befasse ich mich in meinem Referat mit den gegenwärtigen Aufgaben und Zielen der Landsmannschaft. Bei allem, was wir innerhalb der Landsmannschaft planen und durchführen, müssen wir berücksichtigen, dass wir es eineinhalb Jahr nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 mit dramatisch sinkenden Spätaussiedlerzahlen zu tun haben. Nachdem 2005 die Quote um beinahe 40 Prozent auf nur mehr 35.000 gesunken war, setzte sich dieser Trend 2006 verstärkt fort. In den ersten drei Monaten des Jahres kamen sage und schreibe noch 1.523 Spätaussiedler aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland, was einem weiteren Rückgang von über 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Bei gleichbleibender Entwicklung werden heuer weniger als 10.000 Spätaussiedler nach Deutschland kommen. Alarmierende Zahlen! Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat diese Entwicklung bereits vor Jahren prognostiziert – wenn auch nicht in diesem Ausmaß! - und sich mit Nachdruck dagegen ausgesprochen, den Zuzug von Spätaussiedlern im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes zu regeln bzw. – um deutlichere Worte dafür zu finden – zu reglementieren und zu begrenzen. Dabei war und ist unser Hauptargument: Russlanddeutsche Spätaussiedler sind Deutsche und gehören damit nicht in ein Gesetz, das ausdrücklich für Ausländer und Bürger der Europäischen Union konzipiert wurde. Es sind Deutsche, die es nach Jahrzehnten der Verfolgung und Unterdrückung in der ehemaligen Sowjetunion verdient haben, in der Heimat ihrer Vorfahren aufgenommen zu werden. Oder, um es mit den Worten einer Frau aus Pforz87

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Immer wieder haben wir nämlich darauf hingewiesen, dass in erster Linie die Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Anerkennungsprozess zum Rückgang der Aussiedlerzahlen geführt hat. Und wir haben ebenfalls darauf hingewiesen, dass von dieser Maßnahme eine Volksgruppe betroffen ist, - die in den Herkunftsgebieten massiv am Gebrauch und Erlernen der deutschen Sprache gehindert wurde; - die in ihrer Gesamtheit bereits in den 50er Jahren in die Bundesrepublik Deutschland gekommen wäre, wenn die sowjetischen Machthaber dies zugelassen hätten; - deren Mitglieder in der ehemaligen Sowjetunion als Deutsche wahrgenommen und unterdrückt wurden; - der als einziger deutscher Volksgruppe aus den Staaten Ost- und Südosteuropas bis zum heutigen Tag von allen Parteien des Deutschen Bundestages nach wie vor ein kollektives Kriegsfolgenschicksal attestiert wird; - deren Angehörige sich als unschuldige Opfer deutsch-russischer Auseinandersetzungen durch jede Behinderung der Ausreise ein weiteres Mal bestraft fühlen und den Eindruck bekommen, in der Heimat ihrer Vorfahren nicht willkommen zu sein. Ein weiterer Punkt, den wir in unserer landsmannschaftlichen Arbeit zu berücksichtigen haben, ist die gesunkene Akzeptanz unserer Landsleute in der Öffentlichkeit. Ich bin gewiss weit davon entfernt, die Verhältnisse in einer Diktatur wie der untergegangenen Sowjetunion mit denen eines demokratischen Staates wie der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen. Doch leider war es hier wie in der Sowjetunion über allzu viele Jahre und Jahrzehnte gang und gäbe, die Volksgruppe der Russlanddeutschen kaum zu beachten und ihre Lage in höchst einseitiger und negativer Weise darzustellen. Wer nun glaubt, dass diese Zeiten in Deutschland längst der Vergangenheit angehören, wurde noch bis in die letzten Monate eines Besseren bzw. Schlechteren belehrt. Ich nenne dazu einige Beispiele, die dazu beigetragen haben, das Bild unserer Volksgruppe in der Öffentlichkeit nachhaltig zu beschädigen: So stellte im Februar des vergangenen Jahres der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen, Prof. Christian Pfeiffer, im Rahmen einer Fernsehsendung Behauptungen auf, die derart abseitig waren, dass ich sie hier wörtlich wiederholen möchte, damit Sie sich selbst ein Bild machen können: Zum einen behauptete er: „Jeder weiß doch, dass die Kohl-Regierung seit 1993 trotz hoher Arbeitslosigkeit und ächzendem Sozialstaat deswegen noch so

viele Spätaussiedler ins Land geholt hat, weil diese damals zu etwa drei Vierteln Kohl gewählt haben. Dadurch konnte die Regierung die 94er Wahl gewinnen.“ Noch viel negativer aber war seine Behauptung, Aussiedler seien 30-mal so kriminell wie Ukrainer, die per Visa nach Deutschland gekommen sind. Damit nicht genug: In der gleichen Sendung – es war die Talkshow von Sabine Christiansen – sprach der bekannte Grünen-Politiker Oswald Metzger von „bis zu 700.000 deutschstämmigen Aussiedlern der x-ten Generation“, die pro Jahr nach Deutschland gekommen seien. Wohlgemerkt: Behauptungen, die nicht zur feuchtfröhlichen Stunde an einem Stammtisch aufgestellt wurden, sondern in der ARD zur besten Sendezeit! Wir haben uns gegen diese Behauptungen durch sachliche Gegendarstellungen in Briefen an Herrn Prof. Pfeiffer und Herrn Metzger und in unserer Vereinszeitschrift „Volk auf dem Weg“ gewandt. Wir haben darauf hingewiesen, dass laut offiziellen Statistiken pro Jahr niemals mehr als 400.000 Aussiedler aus Ost- und Südosteuropa nach Deutschland gekommen sind. Wir haben betont, dass keine „deutschstämmigen Aussiedler der x-ten Generation“ nach Deutschland eingereist sind, sondern Menschen, die nach Jahrzehnten der schlimmsten Verfolgung und Unterdrückung als letzte Opfer des Zweiten Weltkrieges endlich ausreisen durften – als Deutsche, denen alle Parteien des Deutschen Bundestages dieses Recht zuerkannt haben. Wir haben des weiteren betont, dass russlanddeutsche Aussiedler bzw. Spätaussiedler zu keiner Zeit als Wahlvieh irgendeiner Partei nach Deutschland geholt wurden. Sie kommen vielmehr erst jetzt nur aus dem einen und einzigen Grund, weil sie in früheren Jahrzehnten von den Organen der Sowjetunion massiv an der Ausreise gehindert wurden. Vehement verwahrten wir uns schließlich dagegen, zu Mitverursachern der hohen Arbeitslosigkeit und des ächzenden Sozialstaates erklärt zu werden, und legten offizielle Statistiken vor, die eindeutig belegen, dass Aussiedler und Spätaussiedler auch in ökonomischer Hinsicht einen Gewinn für Deutschland darstellen. Demnach handelt es sich bei den Deutschen aus Russland um eine ausgesprochen junge und arbeitswillige Volksgruppe. Sie „verjüngen“ die Alterspyramide einer vergreisenden Bundesrepublik, sie zahlen erheblich mehr in die deutschen Rentenkassen ein, als sie diesen entnehmen, sie akzeptieren auch Arbeiten, die deutlich unter ihrer mitgebrachten Qualifikation liegen, und sie leisten ihren Beitrag zur Rettung strukturschwacher Gebiete. Der skandalösen Behauptung, Aussiedler seien 30mal so kriminell wie Ukrainer, die mit Visa nach 88

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Und wir sollten in verstärktem Maße den Kontakt zu Politikern suchen, die sich immer und auch öffentlich für uns ausgesprochen haben. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang Passagen aus einer Pressemitteilung des Vorsitzenden der Gruppe der "Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler der CDU/CSU-Bundestagsfraktion", Jochen-Konrad Fromme, zitieren, der sich mit ungewöhnlich deutlichen und scharfen Worten auf unsere Seite stellt. Ich zitiere: "Welchen Geistes Kind der vom Hamburger Abendblatt zitierte Amtsrichter Masch ist, offenbart dieser mit seinen pauschalen Äußerungen, er habe zeitweise das Gefühl, fast nur noch gegen junge Russen zu verhandeln. Mit dieser pauschalen Verunglimpfung der Schicksalsgruppe der deutschen Spätaussiedler unterstreicht der Amtsrichter seine problematische Distanz zu diesen Menschen. Zum wiederholten Mal sei daher deutlich festgestellt: Die deutschen Spätaussiedler sind Deutsche, die sich trotz Verfolgsmaßnahmen über Jahrzehnte in ihren Herkunftsgebieten und Diskriminierung zur deutschen Herkunft bekannt haben. Dieses Bekenntnis, trotz Schwierigkeiten, war Voraussetzung für ihre Anerkennung als Deutsche und damit für die Möglichkeit, in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen. Nicht nur mit dieser Pauschalkritik diskreditiert der Amtsrichter seine eigene Kritik an der vom Hamburger Landeskriminalamt erstellten Studie „Lagebild Spätaussiedler“. Die vom Hamburger Abendblatt zitierte Untersuchung der Hamburger Polizei zeigt abermals deutlich, dass bei deutschen Spätaussiedlern keine höhere Kriminalitätsneigung festzustellen ist als bei einheimischen Deutschen. Zu diesem Ergebnis sind übrigens auch schon Untersuchungen an anderen Orten gekommen. Daher kann man mit Fug und Recht behaupten, dass deutsche Spätaussiedler bei gleicher Sozialisation keine höhere Kriminalitätsneigung haben als einheimische Deutsche." Ende des Zitats. Gäbe es in Deutschland mehr Politiker, die sich in dieser Art zu uns bekennen, hätten wir bei unserer landsmannschaftlichen Integrationsarbeit weiß Gott erheblich weniger Probleme zu überwinden. Erst vor wenigen Tagen hat mir Herr Fromme in einem persönlichen Brief, in dem er mir zu meiner Berufung in den Beirat für Spätaussiedlerfragen beim Bundesministerium des Innern gratulierte, seine Mitarbeit und Unterstützung in allen Bereichen zugesichert, die Spätaussiedler betreffen. Lassen Sie mich jetzt zu einem Punkt kommen, durch den ich unsere landsmannschaftliche Arbeit in ihrem Bestand gefährdet sehe – die geplanten bzw. bereits vollzogenen Einschnitte im Sozialberatungsund Integrationsbereich. Bedingt durch das erhebliche Ansteigen der Aus-

Deutschland gekommen sind, stellten wir die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung des nordrheinwestfälischen Ministeriums für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie gegenüber. Laut dieser Untersuchung sind die meisten Spätaussiedler, auch die jungen, weder besonders kriminell noch besonders auffällig, sondern integrieren sich gut in diese Gesellschaft. Die Untersuchung belegt sogar, dass die Anzahl der tatverdächtigen Spätaussiedler in Nordrhein-Westfalen mit 2,4 Prozent unter ihrem Bevölkerungsanteil von ca. 4,5 Prozent liegt. Bei den auffälligen Aussiedlerjugendlichen handelt es sich lediglich um eine kleine Gruppe, und ein großer Teil der Kriminalität im Jugendalter ist als vorübergehende, oft episodenhafte Entwicklung anzusehen. Mit diesen Argumenten haben wir uns auch gegen Aussagen gewandt, die eben erst publik gemacht wurden. Sowohl der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber als auch der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude sprachen demnach von massiven Integrationsproblemen bei Aussiedlern der dritten Generation, und die BILD-Zeitung behauptete gar, jeder fünfte Gefängnisinsasse sei Deutscher aus Russland. Teile der Bevölkerung verwenden Aussagen wie diese selbstverständlich gerne, um sich in ihren Ressentiments und negativen Vorurteilen Aussiedlern gegenüber bestätigen zu lassen. Kaum zur Kenntnis genommen werden dagegen positive Ergebnisse von Studien, die nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern beispielsweise auch in Bayern, Baden-Württemberg und verschiedenen norddeutschen Städten wie Hamburg oder Wolfsburg durchgeführt wurden. Ganz frisch ist eine Untersuchung zum Thema "Junge Migrantinnen und Migranten – von der Schule in die Berufsausbildung", die Frau Dr. Nora Gaupp vom Deutschen Jugend-Institut in München durchgeführt hat. Die Wissenschaftlerin schildert darin Ziele, Hindernisse und Handlungsbedarf bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund und kommt unter anderem zu folgenden Ergebnissen: - Spätaussiedlerjugendliche streben stärker als alle anderen jungen Migranten eine Berufsausbildung an. - Im Vergleich zu 2004 hat sich die Lage der Spätaussiedler verbessert. - Immer mehr Spätaussiedler sind in der Lage, ihre Pläne langfristig zu verwirklichen. Aufgabe der Landsmannschaft ist es, einer einseitig verzerrten Darstellung der Situation im Spätaussiedlerbereich mit Engagement und sachlicher Argumentation entgegenzutreten – in Briefen, bei Gesprächen und Veranstaltungen, in "Volk auf dem Weg" und anderen Publikationen der Landsmannschaft. 89

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews siedlerzahlen vor etwa 15 Jahren und dem damit verbunden Anwachsen der Integrationsprobleme, rückte die landsmannschaftliche Beratungs- und Betreuungsarbeit noch stärker als zuvor in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen. 45.000 Beratungsfälle, die von unseren Mitarbeitern vorwiegend auf ehrenamtlicher Basis in letzter Zeit Jahr für Jahr behandelt wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Nachdem vor Jahren die Mittel für die Kulturarbeit der Vertriebenen und Aussiedler drastisch gesenkt wurden, scheint die Bundesregierung nunmehr jedoch auch die Mittel für die ehrenamtliche und hauptamtliche Sozialarbeit auf diesem Sektor zusammenstreichen zu wollen. Der satzungsgemäße Integrationsauftrag der Landsmannschaft wird nach dem aktuellen Stand der Dinge in zweierlei Weise gefährdet: a) Durch den Wegfall der Aufwandsentschädigung würden die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Landsmannschaft kaum noch zumutbaren finanziellen Belastungen ausgesetzt sein. Allerdings – und insoweit kann ich Sie beruhigen – konnte die Landsmannschaft in dieser Hinsicht einiges erreichen. Ich zitiere dazu aus einem Schreiben von Bundesinnenminister Dr. Schäuble an die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, das uns Ende März dieses Jahres zugestellt wurde: "Für Ihr Schreiben, in dem Sie sich für die Weitergewährung der pauschalen Aufwandsentschädigung für die im Rahmen der Migrationsberatung tätigen ehrenamtlichen Beraterinnen und Berater Ihres Verbandes einsetzen, danke ich Ihnen. Ich darf Ihnen davon Kenntnis geben, dass ich die Angelegenheit zwischenzeitlich in einem ausführlichen Gespräch mit dem Vorsitzenden der Landsmannschaft erörtert habe. Dabei habe ich ihn unterrichtet, dass das BMI die Pauschale nicht zeitlich befristen wolle und eine Anhebung des Betrages im Rahmen der engen haushaltsmäßigen Spielräume ins Auge gefasst wird." Ende des Zitats. b) Durch die Neukonzeption der Migrationserstberatung mit veränderter Formulierung des Anforderungsprofils der hauptamtlichen Mitarbeiter im Integrationsbereich werden deren spezielle Qualifikationen nicht mehr anerkannt bzw. abgewertet. Dabei hat sich in unzähligen Fällen gezeigt, dass die Mitarbeiter der Landsmannschaft, die nicht nur im linguistischen Sinne die Sprache der Spätaussiedler sprechen, für die Betreuung der betroffenen Personengruppe geeigneter sind als Sozialarbeiter, die ihre Ausbildung an bundesdeutschen Universitäten und Fachhochschulen absolviert haben. In ihrer Betreuungsarbeit favorisiert die Landsmannschaft das so genannte Huckepacksystem, das eine Kombination des Knowhows einheimischer Sozialarbeiter mit dem Insiderwissen russlanddeutscher

Experten vorsieht. Ohne die ehrenamtliche Sozialarbeit der Landsmannschaft werden die Integrationsprobleme der russlanddeutschen Spätaussiedler jedoch weiter zunehmen. In zähen Verhandlungen mit Politikern und Verwaltungsbeamten ist es uns zum Glück gelungen, bis dato die schlimmsten Streichungen zu verhindern. Wir werden diesen Problembereich in aller Ausführlichkeit auch bei einem Treffen mit dem Aussiedlerbeauftragten Dr. Bergner, das in wenigen Tagen stattfindet, ansprechen. Die Frage der Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Sozialberater der Landsmannschaft wird dabei ebenso Thema sein wie die Schulung unserer Mitarbeiter im Rahmen von Integrationstagungen und die Schaffung einer landsmannschaftlichen Projektstelle zur Organisation und Durchführung von Ausbildungsmaßnahmen für Multiplikatoren der landsmannschaftlichen Integrationsarbeit. Ein weiteres Thema wird die besondere Problemlage in den neuen Bundesländern sein. Wir werden Herrn Dr. Bergner unter anderem vorschlagen, sich dort – nach dem Muster mehrerer alter Bundesländer – für die Einführung von Länderaussiedlerbeauftragten stark zu machen. Wie wir in unserem Mitgliederrundbrief bereits angedeutet haben, stellen sich auch die Bedingungen für unsere Arbeit auf dem Kultursektor nach wie vor problematisch dar. Nach den radikalen Streichungen der letzten Jahre hat uns jedoch eine Erklärung des Staatsministers für Kultur und Medien, Bernd Neumann, Hoffnung gemacht. Gemäß dieser Erklärung soll es zu einer Weiterentwicklung der Kulturarbeit nach § 96 Bundesvertriebenengesetz kommen. Gerade in diesen Tagen haben wir uns mit ihm in Verbindung gesetzt und ihm die Argumente übermittelt, die nach unserer Auffassung für die Wiedervereinführung des Postens eines hauptamtlichen Kulturreferenten der Landsmannschaft sprechen, wie wir ihn noch bis vor einigen Jahren hatten. Zum Abschluss meiner Ausführungen will ich kurz zwei weitere Punkte ansprechen. Ohne dem Bericht unseres Bundesgeschäftsführers Alexander Rack vorgreifen zu wollen, weise ich mit Stolz darauf hin, dass es uns nach den gewaltigen Turbulenzen vor einigen Jahren in gemeinsamer Anstrengung gelungen ist, das landsmannschaftliche Schiff wieder flott zu machen. Ich danke allen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern, die ihren Beitrag dazu geleistet haben, und bin froh darüber, dass wir in dieser Hinsicht mit der Verpflichtung der Bundesgeschäftsführer Waldemar Axt und Alexander Rack die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Ich bedauere in diesem Zusammenhang sehr, dass wir es vor einem Jahr nicht geschafft haben, Diffe90

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Gedenkveranstaltungen zum 28. August 1941 in Berlin in Verruf geraten sind und wir einen neuen Anfang machen wollten – mit einer Veranstaltung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland für ihre Mitglieder und alle Landsleute, die sich mit unserer Arbeit identifizieren. Es soll eine Gedenkveranstaltung in würdigem Rahmen werden, ohne laute Töne, mit Ehrengästen, Festrednern und Totengedenken. Ich bin mir sicher, dass der Bundesvorstand mit Stuttgart die richtige Entscheidung getroffen hat, und bitte unsere Ortsgruppen um rege Beteiligung. Ich wünsche der Tagung einen konstruktiven und produktiven Verlauf und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Mai 2006

renzen in der Führungsetage der Landsmannschaft auf friedlichem Wege beizulegen und den Rücktritt von Herrn Axt und unseres stellvertretenden Bundesvorsitzenden Waldemar Neumann akzeptieren mussten. Schließen will ich mit einem Hinweis auf unsere Veranstaltung zum Gedenken an die Vertreibung der Russlanddeutschen, die wir am 27. August 2006 in Stuttgart durchführen, und mit einer Replik auf kritische Äußerungen zur Wahl des Veranstaltungsortes. Kritik, die in letzter Zeit von einigen Seiten grundsätzlich vorgebracht wird, egal wie und wofür wir uns entscheiden. Der Bundesvorstand hat sich für die Hauptstadt unseres Patenlandes Baden-Württemberg als Veranstaltungsort nicht zuletzt deshalb entschieden, weil die

„Arbeit der Landsmannschaft – Geleistetes, Geplantes, Problematisches“ Referat anlässlich der Mitarbeitertagung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Würzburg am 13. und 14. Mai 2006, gehalten von Alexander Rack, Bundesgeschäftsführer geworden ist! Mitgliederschwund und leerer gewordene Geldbeutel unserer treuen Mitglieder haben darüber hinaus dafür gesorgt, dass auch unser zweites finanzielles Standbein – die Einnahmen aus Spenden – brüchig geworden ist. Und berücksichtigt man – drittens -, dass die Gelder aus öffentlichen Kassen längst nicht mehr so sprudelnd fließen wie in früheren Jahren, dürfte jedem von Ihnen – und auch jedem unserer Kritiker! - klar sein, dass die gegenwärtige Finanzlage der Landsmannschaft keine großen Sprünge zulässt. Selbstkritisch sollten wir jedoch als vierten Punkt anmerken, dass die Arbeit in den landsmannschaftlichen Landes- und Ortsgruppen nur zum Teil als zufrieden stellend zu bezeichnen ist. Allzu oft ersetzen wir konstruktives und loyales Miteinander durch höchst überflüssigen Hickhack und Konkurrenzdenken. Trotz der zahlreichen Schwierigkeiten, die uns beinahe zu erdrücken scheinen, sollten wir jedoch nicht vergessen, was wir in den letzten Jahren geleistet haben: Angesichts des Schuldenberges, den die Verantwortlichen der Landsmannschaft vor rund fünf Jahren vorgefunden haben, dürfen alle Beteiligten stolz darauf sein, dass unser Haushalt inzwischen im Großen und Ganzen konsolidiert ist. Zu verdanken haben wir das in erster Linie dem Einsatz zahlreicher ehrenamtlicher Mitarbeiter und der Verzicht- und Opferbereit-

... ich will in meinem Referat - die Ausführungen unseres Bundesvorsitzenden ergänzen und konkret auf die gegenwärtige Situation der Landsmannschaft und der Bundesgeschäftsstelle eingehen, - aufzeigen, was wir in den letzten Monaten und Jahren geleistet haben, - und was wir für die nächste Zeit geplant haben. Ich will Ihnen aber auch nicht verschweigen, auf welchen Gebieten wir es mit Schwierigkeiten zu tun haben, die aus heutiger Sicht nur schwer zu bewältigen sein werden und die wir - wenn überhaupt! - nur in gemeinsamer Anstrengung meistern können. Lassen Sie mich mit diesen Schwierigkeiten beginnen, die sich nicht zuletzt auf den folgenden vier Gebieten zeigen: Trotz aller Bemühungen ist es uns nicht gelungen, den rapiden Mitgliederschwund der Landsmannschaft zu bremsen. Vereinfacht lässt sich sagen, dass wir nach wie vor jährlich etwa zehn Prozent unserer Mitglieder verlieren. Nach dem Anstieg der Mitgliederzahlen bis Mitte der 90er Jahre sind wir inzwischen wieder auf den Mitgliederstand abgesunken, den wir vor Beginn der russlanddeutschen Ausreisewelle Ende der 80er Jahre hatten. Ich muss wohl nicht eigens betonen, dass unsere Arbeit – bei aller Sparsamkeit! - durch die immer weiter sinkenden Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen nicht einfacher 91

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews schaft unserer hauptamtlichen Angestellten. Ich will an dieser Stelle ganz bewusst die Leistung meines Amtsvorgängers Waldemar Axt erwähnen, ohne dessen ehrenamtliche Arbeit der Karren wohl noch immer im Dreck stecken würde. Nach manchmal nur schwer verständlichen Versäumnissen der Vergangenheit haben wir die Bundesgeschäftsstelle inzwischen in einen Betrieb verwandelt, der modernen Ansprüchen genügt. Wie ich bereits kurz erwähnt habe, sind wir aufgrund der angespannten Finanzlage gezwungen, in allen Bereichen der landsmannschaftlichen Arbeit mit höchster Sparsamkeit zu wirtschaften. Ob das nun unsere Veranstaltungen betrifft, die erheblich seltener geworden sind, oder unser hauptamtliches Personal, dem wir so einiges zumuten mussten – unbezahlte Überstunden, Gehaltskürzungen und vieles mehr, was der eine oder andere bedenken sollte, ehe er wieder einmal über „die in Stuttgart“ herzieht. Vieles, was wir in den letzten Monaten und Jahren durchsetzen mussten, war sehr schmerzhaft, aber notwendig. Die Sanierung des Haushaltes der Landsmannschaft hatte absolute Priorität. Der Erneuerungsprozess der Landsmannschaft, ihrer Gliederungen und der Bundesgeschäftsstelle ist jedoch noch nicht abgeschlossen, und eventuell steht uns noch so manche Rosskur bevor, ehe wir uns gelassen zurücklehnen und sorgenfrei unsere eigentlichen landsmannschaftlichen Arbeiten in Angriff nehmen können. Trotzdem dürfen wir festhalten: Wir kommen gut voran, wenn auch nicht in Sieben-Meilen-Stiefeln, die wir uns wünschen würden, aber doch mit einer Kontinuität, die Mut macht. Sorgen bereitet mir gegenwärtig vor allem, dass vieles von dem, was wir eingeleitet und verwirklicht haben, draußen bei unseren Mitgliedern und den anderen Deutschen aus Russland nicht – bzw. noch nicht! - anzukommen scheint. Viele haben noch nicht wahrgenommen, dass die Arbeit in unserem Verein neue Züge bekommen hat und effektiver geworden ist. Für viele sind wir nach wie vor der rückständige oder – bestenfalls! rührend altmodische Verein, dessen Mitglieder sich zweimal im Jahr zum gemeinsamen Kaffeetrinken treffen. Vielleicht haben wir ja auch zu wenig getan, um unsere Aktionen auf politischem, kulturellem und vor allem sozialem Gebiet in die Öffentlichkeit zu tragen. Mit der Neugestaltung unserer Vereinszeitschrift „Volk auf dem Weg“ haben wir jedoch erste Schritte unternommen, diesem Missstand abzuhelfen; eine Intensivierung der landsmannschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit, die wir als vorrangiges Ziel für die nächste Zeit ins Auge gefasst haben, soll uns auf diesem Gebiet einen weiteren Schritt voranbringen.

Ich will aber auch nicht verschweigen, dass ich von der mangelnden Solidarität zahlreicher Mitglieder der Landsmannschaft enttäuscht bin, die sich nach Überwindung der drängendsten Integrationsprobleme von uns abwenden und nichts mehr mit uns zu tun haben wollen. Ohne falsche Bescheidenheit sei an dieser Stelle erwähnt, dass gerade diesen Landsleuten in vielen Fällen von Mitarbeitern der Landsmannschaft geholfen wurde – ehrenamtlich und unentgeltlich -, wirtschaftlich und sozial auf die Beine zu kommen. Sieht man von bedauernswerten Extremfällen ab, dürfte wohl jeder Landsmann in der Lage sein, den winzigen Monatsbeitrag von höchstens 2 Euro 50 Cent für seine Interessenvertretung durch die Landsmannschaft zu bezahlen. Bedauerlicherweise sind wir nach wie vor nicht in der Lage, den Verlust von Mitgliedern durch den Hinzugewinn neuer Mitglieder zu kompensieren. Wir müssen vielmehr mit ansehen, wie der Austritt eines Mitgliedes weitere Austritte nach sich zieht. Auch deshalb, weil uns die personellen ebenso wie die finanziellen Möglichkeiten fehlen, uns in angemessener Weise um unseren Mitgliederbestand zu kümmern. Trotzdem kann und will ich mich nicht dem Pessimismus einiger Landsleute anschließen, die das baldige Ende der Landsmannschaft prophezeien. Und manchmal habe ich beinahe den Eindruck, es handle sich um Wunschdenken, wenn ich die sattsam bekannten Sprüche höre: Die Landsmannschaft hat doch keine Zukunft! Die Landsleute, die heute kommen, sind doch ganz anders als früher und haben mit der Landsmannschaft nichts am Hut! Die Spätaussiedler von heute wollen doch gar nicht wissen, was die Landsmannschaft sagt; die holen sich ihre Informationen viel lieber aus russischsprachigen Medien! Ihr habt doch keine Chance gegen die anderen russlanddeutschen Vereine, die euch immer mehr Konkurrenz machen. Ich halte nichts von diesen demotivierenden Sätzen und unterstelle nicht jedem, der sie von sich gibt, lautere Motive. Ich bin vielmehr fest davon überzeugt, dass es für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland eine Zukunft gibt. Die über zweieinhalb Millionen Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik stellen ein lebendiges Potential dar, um das uns alle anderen Landsmannschaft beneiden. Es liegt nur an uns, die richtigen Mittel und Wege zu finden, dieses Potential auszuschöpfen. Wir haben unsere Zukunft selbst in der Hand, und es hängt von unserem Einsatz, unserem Gemeinschaftsgeist und unserer Begeisterungsfähigkeit ab, wie viele Landsleute wir für die Landsmannschaft gewinnen können. Bei allen unseren Bemühungen dürfen wir 92

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews sie mit der Landsmannschaft verbindet. Für so manchen ist die Zeitung neben den Heimatbüchern sogar die einzige Lektüre, die sie regelmäßig ins Haus bekommen. Viele Landsleute verstehen sich weniger als Mitglied der Landsmannschaft, sondern als Abonnenten von „Volk auf dem Weg“. Die Zeiten, in denen wir „Volk auf dem Weg“ als Nebenprodukt der landsmannschaftlichen Arbeit verstanden haben, sollten also endgültig vorbei sein. Die Zeitung steht vielmehr im Zentrum unserer Tätigkeit, sie ist der Spiegel der Landsmannschaft und durch sie können wir unsere gegenwärtigen Mitglieder an uns binden und neue gewinnen. Wir haben deshalb die Pflicht, unseren Lesern eine sorgfältig und anspruchsvoll gestaltete Zeitschrift in die Hand zu geben, in der die Themen unserer Volksgruppe und ihrer Landsmannschaft umfassend und objektiv dargestellt werden. Vor drei Monaten haben wir damit begonnen, „Volk auf dem Weg“ sowohl äußerlich als auch inhaltlich ein neues Gesicht zu geben. In regelmäßigen Redaktionskonferenzen sind wir bemüht, die Zeitung weiter zu verbessern, den Kreis der Themen und der Mitarbeiter zu erweitern und ein Produkt herzustellen, das sowohl den Ansprüchen eines offiziellen Organs der Landsmannschaft als auch denjenigen einer freien Zeitung gerecht wird. Die beinahe durchweg positiven Reaktionen unserer Leser auf die letzten Ausgaben haben uns in der Auffassung bestärkt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Frage, wie sich die neu gestaltete Zeitung auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen auswirken wird, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht eindeutig beantworten. In den letzten Wochen hat sich allerdings ein leicht positiver Trend feststellen lassen, der sich nach unserer Meinung verstärken wird, wenn sich die Veränderungen in „Volk auf dem Weg“ erst einmal herumgesprochen haben. Keiner von uns ist jedoch so naiv oder vermessen zu glauben, eine verbesserte Zeitung allein würde die Landsmannschaft aus dem Tal holen, in dem sie sich befindet. Gelingen wird uns das erst, wenn wir es schaffen, die Arbeit in den Landes- sowie in den Orts- und Kreisgruppen zu aktivieren. Wenn wir nicht in der Lage sind, bundesweit ein Netz funktionierender landsmannschaftlicher Gliederungen aufzubauen, werden alle unsere Versuche scheitern. Leider ist die Lage gerade hinsichtlich unserer Gliederungen nicht eben rosig. Ich will das mit einigen näheren Angaben verdeutlichen: Zwar gehören der Landsmannschaft bundesweit rund 150 Orts- und Kreisgruppen an, wirklich aktiv ist jedoch nur ein Bruchteil von ihnen. Das geht aus den Unterlagen hervor, die der Bundesgeschäftsstelle zugeschickt werden, und das können Sie Monat für

niemals vergessen, dass die Landsmannschaft kein xbeliebiger Verein ist. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist ganz im Gegenteil eine Schicksalsgemeinschaft, eine Organisation, der anzugehören für jedes Mitglied eine Ehre sein sollte. Innerhalb dieser Landsmannschaft müssen wir ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, mit dessen Hilfe wir viel erreichen können. Lassen sie mich jetzt in der Kürze der Zeit darstellen, was aus meiner Sicht getan werden muss, um unseren Verein wieder mitgliederstark, einflussreich und respektabel zu machen. Die Landsmannschaft sollte sich nicht zuletzt als Dienstleistungsunternehmen für ihre Mitglieder verstehen. Die traditionell dominierende soziale Beratungs- und Betreuungsarbeit muss ergänzt werden durch ein möglichst breit gefächertes Angebot von Publikationen, durch regelmäßige Bundes- und Landestreffen, durch Kulturveranstaltungen auf Bundesebene sowie die Pflege von Gedenktagen. Auf zwei spezielle Bereiche – unser landsmannschaftliches Presseorgan „Volk auf dem Weg“ und die Arbeit in den Landes- und Ortsgruppen - werde ich am Schluss meines Referates eingehen. Neben der Quantität unserer Angebote und Veranstaltungen müssen wir auch ihre Qualität steigern. Potentielle Mitglieder dürfen nicht durch das inakzeptable Niveau von Darbietungen bzw. durch das würdelose Begehen von christlichen oder sonstigen Festen abgeschreckt werden. Und auch wenn es der eine oder andere nicht so gerne hört, sage ich deutlich: Oft ist weniger mehr, und das Gegenteil von „gut“ ist häufig „gut gemeint“. Genauso wichtig wie die Vielfalt unserer Angebote – im Kultur- und Sozialbereich, bei der Jugend- oder Seniorenarbeit – ist die Kontinuität der landsmannschaftlichen Arbeit. Unsere Mitglieder müssen wissen, dass wir zuverlässig für sie da sind, sie müssen das Gefühl haben, bei der Landsmannschaft gut aufgehoben zu sein. Bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland handelt es sich um keine Geheimorganisation, deshalb muss unsere Tätigkeit ebenso wie die Ziele, die wir anvisieren, transparent sein. Sie muss noch stärker als bisher schon ihren Niederschlag in „Volk auf dem Weg“ finden und dort offen dargestellt werden. Doch lassen Sie mich jetzt – wie bereits angekündigt – zu den beiden wichtigsten Werkzeugen kommen, mit deren Hilfe es uns gelingen muss, die Landsmannschaft wieder auf Vordermann zu bringen - unsere Vereinszeitschrift und die Arbeit in den landsmannschaftlichen Gliederungen. Wir dürfen bei allen Überlegungen niemals vergessen, dass für die meisten unserer Mitglieder „Volk auf dem Weg“ beinahe der einzige Kontakt ist, der 93

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Monat im Ortsgruppenteil von „Volk auf dem Weg“ verfolgen. Es ist außerdem keineswegs so, dass wir in allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland in nennenswertem Umfang präsent sind. Dichten Ortsgruppenstrukturen in Baden-Württemberg, Bayern, NordrheinWestfalen, Niedersachsen und Hessen stehen vor allem die neuen Bundesländer gegenüber, in denen wir kaum vertreten sind, von Landesgruppen ganz zu schweigen. Der Bundesvorstand ist sich dieses Zustandes bewusst, und wir wissen auch, dass eine bundesweite Stärkung der landsmannschaftlichen Strukturen durch die Bundesgeschäftsstelle allein nicht zu leisten ist. Die anstehenden Probleme sind nach unserer Auffassung nur über eine Stärkung der Landesgruppen zu lösen. Unsere Aufgabe wird es sein, in den nächsten Monaten Strategien zu entwickeln, die den regionalen und landsmannschaftlichen Besonderheiten eines jeden Bundeslandes gerecht werden. Eine allgemeingültige Lösung gibt es nicht. Eine weitere Aufgabe sehen wir darin, unsere ehrenamtlichen Mitarbeiter in den Orts- und Kreisgruppen besser zu schulen. Das betrifft den sozialen Bereich ebenso wie die Durchführung von Feiern und sonstigen Veranstaltungen nach hiesigen Gepflogenheiten. Wilde Gestalten aus der russischen Märchenwelt haben – um nur ein Beispiel zu nennen - bei einer christlichen Weihnachtsfeier nichts zu suchen und stoßen viele Landsleute vor den Kopf. Wir haben deshalb vor, in Zusammenarbeit von Landesgruppen

und Bundesgeschäftsstelle Schulungen durchzuführen, die sich mit den verschiedensten Bereichen landsmannschaftlicher Arbeit beschäftigen. Mein Hauptziel in diesem Jahr – und damit will ich schließen – besteht darin, den Rückgang unserer Mitgliederzahlen zu stoppen. Wenn uns das gelingt, haben wir schon viel erreicht. Vereine verschiedenster Prägungen, die unseren Landsleuten helfen wollen, werden kommen und gehen, einige schon nach ganz kurzer Zeit. Die Landsmannschaft aber, die vor 56 Jahren gegründet wurde, muss und wird bestehen bleiben. Wir werden mit allen seriösen Vereinen zusammenarbeiten, doch werden dabei die Ziele der Landsmannschaft für uns stets im Vordergrund bleiben. Jedem von uns sollte vor allem die Landsmannschaft am Herzen liegen. Sie aufzubauen und stark zu machen, sollte für jeden Ehrensache sein. Loyalität und Vereinsdisziplin sollten uns nicht fremd sein, ein freundlicher und freundschaftlicher Umgang miteinander eine Selbstverständlichkeit. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland muss wieder den Platz bekommen, der ihr zusteht, sie soll wieder das Flaggschiff aller Vereine unserer Landsleute werden. Ich kann Ihnen versichern, dass die Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle und ihrer Außenstellen dafür ihr Bestes geben. Bei ihnen bedanke ich mich ebenso herzlich wie bei allen unseren ehrenamtlichen Helfern und den Mitgliedern des Bundesvorstandes, die mir bei meiner Arbeit beigestanden haben. Mai 2006

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Vorschläge der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zum Integrationsgipfel der Bundesregierung (aus einem Brief an den Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner) ... wir bedanken uns herzlich für Ihre Einladung zu dem heutigen Gespräch, das uns die Gelegenheit bieten wird, Ihnen die Vorschläge und Anregungen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland für den anstehenden Integrationsgipfel der Bundesregierung vorzustellen.

richten, deren Dauer bei etwa sechs Monaten liegen sollte. Wir geben in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Sprachkurse in den Herkunftsländern mit immer größer werdenden Problemen verbunden sind. Für viele stellen sich vor allem die gewaltigen Entfernungen der Sprachkursstätten als unüberwindliches Hindernis dar; verschärft wird die Situation zahlreicher Ausreisewilliger durch ihre zunehmende Isolation und Vereinsamung als Deutsche in fremder Umgebung nach der Ausreisewelle der letzten eineinhalb Jahrzehnte.

Für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland geht es gegenwärtig in erster Linie darum, ihre Basis hauptamtlicher Mitarbeiter zu verbreitern, um den gewachsenen Anforderungen im Integrationsbereich der Spätaussiedler aus den Ländern der GUS gerecht zu werden; mit ehrenamtlich tätigen Kräften allein können diese Aufgaben längst nicht mehr erfüllt werden. In diesem Schreiben gehen wir daher in erster Linie auf die Notwendigkeit der Schaffung dieser hauptamtlich funktionierenden Struktur ein – sowohl im unmittelbar landsmannschaftlichen Wirkungsbereich als auch in anderen Einrichtungen, die mit der Integration von Spätaussiedlern befasst sind. Als Grundlage für unser heutiges Gespräch übermitteln wir Ihnen Ausführungen zu sechs Themenkomplexen, mit denen sich die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland gegenwärtig vorrangig befasst: In den nächsten Tagen werden wir diese Ausführungen durch weitere Vorschläge zu einzelnen Fragen ergänzen.

II. Aussiedlerbeauftragte in den Bundesländern Für besonders wichtig halten wir die Benennung von Aussiedlerbeauftragten in den einzelnen Bundesländern, gerade auch in den neuen Bundesländern, wo sich die Probleme, denen sich unsere Landsleute vor allem in den ersten Jahren nach ihrer Einreise gegenüber sehen, aus bekannten Gründen gravierender auswirken als im Westen der Bundesrepublik. Gerade dort wäre es also für sie wichtig, einen zentralen Ansprechpartner und Interessenvertreter in Gestalt eines Aussiedlerbeauftragten des jeweiligen Bundeslandes zu haben. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass sich die Institution eines Aussiedlerbeauftragten in den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, NordrheinWestfalen, Hessen und Niedersachsen sehr positiv auf die Integrationsarbeit für Spätaussiedler ausgewirkt hat. In allen diesen Bundesländern bestehen regelmäßige Kontakte zwischen den Aussiedlerbeauftragten und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die für beide Seiten von sehr großem Nutzen waren und sind.

I. Fragen des Familiennachzuges Nach wie vor bereitet der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland der noch nicht geregelte Nachzug von Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern große Sorgen; insbesondere befürchten wir Familientrennungen. Wie wir aus mehreren Gesprächen mit Ihnen wissen, können wir in dieser Angelegenheit mit Ihrer vollen Unterstützung rechnen; wir hoffen, dass Ihre und unsere Vorstellungen sich bei der Konferenz der Innenminister der Länder durchsetzen werden. Im Vorgriff auf weitere konkrete Lösungsansätze schlagen wir Ihnen vor, für Spätaussiedler sofort nach ihrer Ankunft in Friedland Sprachkurse einzu-

III. Schaltstellen zur Unterstützung der Integrationsarbeit Um einen möglichst hohen Integrationserfolg zu gewährleisten, halten wir es darüber hinaus für nützlich, in den einzelnen Bundesländern hauptamtlich tätige Landsleute einzusetzen, die als Schaltstellen 95

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews zwischen den Bedürfnissen der russlanddeutschen Aussiedler und Spätaussiedler, ihrer Landsmannschaft, den jeweiligen Länderregierungen sowie den auf Länder- und Kommunalebene installierten Netzwerken für Integration fungieren sollen. Als Beispiel für die Überbeanspruchung unserer ehrenamtlichen Mitarbeiter sei der Vorsitzende der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen, Johann Engbrecht, genannt, der darauf hinweist, dass er neben seinen repräsentativen Aufgaben auch rund um die Uhr als Berater, Betreuer und Organisator gefordert sei – wohlgemerkt auf ehrenamlicher Basis. Wir zitieren dazu aus einem Brief, den wir vor einigen Wochen an Ihr Büro geschickt haben: „Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist in Nordrhein-Westfalen mit 32 Orts- und Kreisgruppen sehr gut vertreten und kann dort auf eine Reihe besonders aktiver ehrenamlicher Mitarbeiter zurückgreifen, denen es jedoch ohne zentrale Anlaufstellen des öfteren am nötigen organisatorischen Zusammenhalt mangelt, für den nach unserer Auffassung nur hauptamtliche Kräfte sorgen können.“

im Integrationsbereich werden die speziellen Qualifikationen unserer Mitarbeiter nicht mehr anerkannt bzw. abgewertet. Dabei hat sich in unzähligen Fällen gezeigt, dass die Mitarbeiter der Landsmannschaft, die nicht nur im linguistischen Sinne die Sprache der Spätaussiedler sprechen, für die Betreuung der betroffenen Personengruppe geeigneter sind als Sozialarbeiter, die ihre Ausbildung an bundesdeutschen Universitäten und Fachhochschulen absolviert haben. Mit Bedauern müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass in der Praxis allzu selten auf das von der Landsmannschaft favorisierte „Huckepack-System“ zurückgegriffen wird, das eine Kombination des Knowhows einheimischer Sozialarbeiter mit dem Insiderwissen russlanddeutscher Spezialisten vorsieht. Die Erfolge in Orten, in denen dieses System praktiziert wird, sprechen eine eindeutige Sprache. Ohne die ehrenamtliche Sozialarbeit der Landsmannschaft werden die Integrationsprobleme der russlanddeutschen Spätaussiedler jedoch weiter zunehmen. V. Kulturbereich

IV. Sozialbereich Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat ihre Kulturarbeit stets in erster Linie als Beitrag zur Festigung bzw. Wiedergewinnung der kulturellen Identität der Mitglieder einer Volksgruppe verstanden, die nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung orientierungslos geworden ist. Inzwischen leben rund 2,8 Millionen Deutsche aus Russland hier in der Bundesrepublik, die aufgrund ihrer günstigen Altersstruktur und ihrer großen Integrationsbereitschaft einen Gewinn für die hiesigen Renten- und Sozialversicherungen darstellen. Es sind ganz gewiss Menschen, die es verdient haben, hierher nach Deutschland zu kommen und gemäß ihrer rechtlichen Position gefördert zu werden – auch und vor allem auf kulturellem Gebiet, um die Ausprägung bzw. Wiedererlangung eines stimmigen Selbstbildes zu erleichtern. Für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist die Kulturarbeit, insbesondere auch die kulturelle Breitenarbeit, ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil der Integrationsarbeit für und mit Spätaussiedlern. Eine Förderung dieses Bereiches trägt zudem in ganz erheblicher Weise zur Steigerung der Akzeptanz unserer Landsleute durch die einheimische Bevölkerung bei. Durch die Darstellung ihres kulturellen, sozialen und politischem Hintergrundes ebenso wie durch die Präsentation ihres kulturellen Erbes, das sie über all die schicksalsschweren Jahre bewahrt und mit nach Deutschland gebracht haben. In gleicher Weise würde eine verstärkte Einbindung von Spätaussiedlern aus der GUS in das Projekt „In-

Wir wissen es sehr wohl zu schätzen, dass Sie uns speziell in diesem Bereich eine großzügige Unterstützung in Aussicht gestellt haben. Nicht zuletzt trifft das auf die Förderung der landsmannschaftlichen Sozialreferententagungen zu, die es uns ermöglichen werden, unsere Mitarbeiter umfassend und sachgerecht zu informieren. Wir begrüßen es ebenfalls, dass uns nach dem Zurückfahren der Mittel im Jahr 2005 für dieses Jahr Erhöhungen im Bereich der Ehrenamtlichkeit in Aussicht gestellt wurden. Wir befürchten allerdings, dass auch diese Erhöhungen nicht ausreichen werden, um die anstehenden Aufgaben in angemessener Weise bewältigen zu können. Wir sehen uns vielmehr nach einigen Entscheidungen, die in den letzten Jahren getroffen wurden, schier unlösbaren Schwierigkeiten gegenüber: Bedingt durch das erhebliche Ansteigen der Aussiedlerzahlen vor etwa 15 Jahren und dem damit verbunden Anwachsen der Integrationsprobleme, rückte die landsmannschaftliche Beratungs- und Betreuungsarbeit noch stärker als zuvor in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen. 45.000 Beratungsfälle, die von unseren Mitarbeitern vorwiegend auf ehrenamtlicher Basis in letzter Zeit Jahr für Jahr behandelt wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Neben dem Streichen finanzieller Mittel sehen wir die landsmannschaftliche Sozialarbeit vor allem durch die Neukonzeption der Migrationserstberatung gefährdet. Durch die veränderte Formulierung des Anforderungsprofils der hauptamtlichen Mitarbeiter 96

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews arbeit auf allen Ebenen. - Einbindung von auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet tätigen und erfolgreichen Landsleuten in die Arbeit der Landsmannschaft. - Schließlich als generelles Ziel: Unterstützung der Deutschen aus Russland bei der Wiederherstellung ihrer kulturellen Identität, die in den Jahren der Verfolgung beschädigt bzw. zerstört wurde. Da wir – wie bereits angedeutet - die Hauptaufgabe der landsmannschaftlichen Kulturarbeit und ihrer hauptamtlichen Kulturreferenten in der Schaffung einer Basis für die Entwicklung einer kulturellen und somit sozialen Identität der Aussiedler und Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion erblicken, halten wir es für sinnvoll, diesen Bereich aus Integrationsmitteln des Bundes zu fördern.

tegration durch Sport“ dazu führen, der bundesdeutschen Bevölkerung ein positiveres Bild unserer Volksgruppe zu vermitteln. Durchaus erwähnen sollte man in diesem Zusammenhang, dass Deutsche aus Russland in zahlreichen Sportarten weit überdurchschnittliche Leistungen erbringen und durch ihre vorbildliche Einsatzbereitschaft überzeugen. Ziehen wir jedoch konkrete Zahlen zu Rate, müssen wir leider Folgendes feststellen: Standen im Jahr 1998 noch umgerechnet 23,5 Millionen Euro für die Kulturarbeit der Vertriebenen und Aussiedler zur Verfügung, so wurde dieser Betrag schrittweise auf nur mehr 12,9 Millionen Euro im Bundeshaushalt des Jahres 2004 reduziert. Das entspricht einer Kürzung von 45 Prozent innerhalb von sechs Jahren. Trotz dieser finanziellen Einschnitte ist es der Landsmannschaft dank des vorbildlichen Einsatzes ihrer ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter gelungen, ihre Kulturarbeit zu intensivieren. Ohne ein Mindestmaß an öffentlicher finanzieller Förderung lässt sich jedoch kaum eine Kulturmaßnahme der Landsmannschaft realisieren. Besonders nachteilig auf die landsmannschaftliche Kulturarbeit hat sich die Streichung der Posten hauptamtlich tätiger Kulturreferenten ausgewirkt. Zu Beginn der 90er Jahre hatte die Landsmannschaft noch zwei hauptamtliche Kulturreferentinnen, einige Jahre später wurde eine der beiden Stellen gestrichen, und seit etwa fünf Jahren gibt es diese Einrichtung überhaupt nicht mehr. Das Arbeitsgebiet der beiden landsmannschaftlichen Kulturreferenten würde die folgenden Aufgaben umfassen: - Koordination der ehrenamlichen Kulturarbeit in den rund 150 Orts- und Kreisgruppender Landsmannschaft und Ausbildung der dortigen Mitarbeiter. - Aufbau eines Archivs und eines Museums, in denen die Kulturgeschichte der Russlanddeutschen umfassend und für die Öffentlichkeit zugänglich dargestellt wird. - Verfassen von Publikationen zur Kulturgeschichte der Russlanddeutschen, die Wissenschaftlern wie Laien einen wichtigen, aber bisher weitgehend vernachlässigten Teil der deutschen Geschichte näher bringen würden. - Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen und anderen Einrichtungen, die sich im In- und Ausland mit der Geschichte der Russlanddeutschen beschäftigen. - Aufbau von kulturellen Einrichtungen zur Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen in Deutschland und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. - Vorbereitung und Durchführung von landsmannschaftlichen Maßnahmen der kulturellen Breiten-

VI. Erfordernisse der Öffentlichkeitsarbeit Es ist nach unserer Auffassung nur bedingt effektiv, über Verbesserungen bei der Integration von Deutschen aus Russland nachzudenken und zu beraten, solange das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihnen macht, durch die einseitige und negative Berichterstattung in den Medien beeinflusst wird. Die Landsmannschaft schlägt deshalb die folgenden personellen und sachlichen Maßnahmen vor: - Weiterer Ausbau der Wanderausstellung „Volk auf dem Weg. Geschichte und Gegenwart der Deutschen aus Russland“, der uns dankenswerterweise von Ihnen bereits in Aussicht gestellt wurde. - Unmittelbare Reaktion von politisch Verantwortlichen auf unhaltbare Äußerungen über Spätaussiedler. Es darf nicht sein, dass – aus welchen Gründen auch immer – das Thema „Spätaussiedler“ tabuisiert wird und seine Behandlung tendenziöser Berichterstattung überlassen wird. - Behandlung des Themas „Russlanddeutsche/Deutsche aus Russland“ als selbstverständlicher Bestandteil des Lehrplans deutscher Schulen. - Finanzielle und evtl. auch institutionelle bzw. personelle Unterstützung der Presse- und Informationsarbeit der Landsmannschaft, um die Integrationsprobleme sowie die Ansätze zu ihrer Lösung auf breiterer Grundlage in kompetenter Weise in die Öffentlichkeit bringen zu können. Damit könnte auch der Tendenz russischsprachiger Presseorgane entgegengewirkt werden können, Spätaussiedler auf eine Politik einzuschwören, die den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft widersprechen. - Fortsetzung und Ausbau der Förderung von kulturellen, Geschichts- und Informationsbroschüren im Aussiedlerbereich sowie Unterstützung bei der Herstellung und Verbreitung unmittelbar lands97

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews mannschaftlicher Publikationen, vor allem des Vereinsblattes „Volk auf dem Weg“.

Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender Adolf Braun, stellvertretendender Bundesvorsitzender und sozialpolitischer Sprecher des Bundesvorstandes Juli 2006

Wir sind zuversichtlich, dass wir in den von uns angesprochenen Problembereichen zu Lösungen kommen werden, die für beide Seiten von Nutzen sind, und verbleiben mit den besten Wünschen.

Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zum Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes Bei der aktuellen Formulierung des Gesetzes besteht seitens des Gerichts im Klageverfahren die Möglichkeit, den Antragsteller/Kläger zu hören und seine Sprachkenntnisse unabhängig von der verwaltungsbehördlichen Entscheidung festzustellen. Wenn nun im Gesetz und in der Gesetzesbegründung hinsichtlich der Bestätigung des Bekenntnisses auf die Sprachkenntnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesver�waltungsamtes abgestellt wird, so besteht die Gefahr, dass die Gerichte an die Feststellungen im Anhörungsverfahren gebunden sind und die Sprachtestprotokolle als die einzige Beweisgrundlage für und wider die Sprachkenntnisse im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung herangezogen werden können. Die Gerichte werden schwerlich die Sprachkenntnisse eines Klägers auf einen fixen Zeitpunkt in der Vergangenheit hin überprüfen können, wenn die Anhörung mehrere Jahre zurückliegt. So werden Widerspruch und Klage inhaltlich ausgehöhlt. Aus rechtsstaatlichen Gründen ist es deshalb geboten, an der jetzigen Gesetzesfassung festzuhalten, weil sich viele Sprachtestprotokolle als unzureichend, unklar und falsch herausgestellt haben und die Gerichte ihre Feststellungen aufgrund der persönlichen Anhörung der Kläger in der mündlichen Verhandlung entgegen der Entscheidung des Bundesverwaltungsamtes getroffen haben. Diese Option muss das Gesetz offen halten, weil nur so die behördliche Entscheidung objektiv überprüft werden kann.“

Zu Nr. 1: Änderung des § 4 BVFG Buchstabe a Trotz der Beitritte von Estland, Litauen und Lettland zur Europäischen Union bleibt die Bundesregierung in der Verantwortung für die deutschen Volkszugehörigen, bei denen durch Erteilung einer Übernahmegenehmigung oder des Aufnahmebescheides das individuelle Kriegsfolgenschicksal festgestellt wurde. Zu Nr. 2: Änderung des § 5 Buchstabe b Hier bedarf es keiner Erweiterung, da mit dieser Änderung eine ganze Volksgruppe der Vermutung ausgesetzt würde, gewalttätig zu sein bzw. terroristischen Vereinigungen anzugehören. Zu Nr. 3: Änderung des § 6 Abs. 2, Satz 3 und Satz 4 Buchstabe a Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland sieht dies ebenso wie der BdV, der in seiner Stellungnahme zum Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes Folgendes ausgeführt hat: „Der Ersetzung des Wortes 'Aussiedlung' durch die Worte 'verwaltungsbehördliche Entscheidung über den Aufnahmeantrag' wird widersprochen. Bei der Feststellung der deutschen Sprachkenntnisse wird in der Praxis tatsächlich nicht auf den Zeitpunkt der Aussiedlung, auch nicht auf den Zeitpunkt der Erteilung bzw. Versagung des Aufnahmebescheides (verwaltungsbehördliche Entscheidung), sondern ausschließlich auf das Ergebnis des Sprachstandstests im Zeitpunkt der im Verfahren erfolgten Anhörung abgestellt.

Buchstabe b Zu Punkt b schließt sich die Landsmannschaft den Ausführungen zum Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes des Landesbeauftragten der Hessischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, Rudolf 98

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews chung des Wortes „nichtdeutsch“ unschädlich ist. Begrüßt wird die Einfügung einer Bestimmung, dass auch Ehegatten und/oder Abkömmlinge in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers einbezogen werden, die wegen einer Be�hinderung keine Grundkenntnisse der deutschen Sprache besitzen können.

Friedrich, wie folgt an: „Die Erweiterung um Satz 4, dass die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache entfällt, wenn dem Aufnahmebewerber die deutsche Sprache wegen einer in seiner Person vorliegenden Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch nicht vermittelt werden konnte, ist notwendig, da bei bisheriger Verwaltungspraxis eine Einbeziehung der betroffenen Person nicht möglich war. Diese Änderung halten wir für sehr dringend und notwendig.“

Buchstabe b Hier sollte der Wortlaut wie folgt sein: „Die Eintragung nach Abs.1 Satz 2 wird nachgeholt, wenn ein Abkömmling nach Erteilung des Aufnahmebescheides und vor Ausstellung der Bescheinigung nach § 15 geboren wird.“

Zu Nr. 4: Änderung des § 8 Abs. 1 und Abs. 6 Buchstabe a

Zu Nr. 11: Änderung des § 28 Abs.1 Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland schließt sich hier wie folgt den Ausführungen des Hier wird keine Änderung benötigt. BdV an: „Die Verpflichtung des Spätaussiedlers und der einZu Nr. 12: Änderung des § 29 Abs.1 bezogenen Familienangehörigen (Ehegatte und/oder Abkömmlinge), sich (unmittelbar) nach Einreise in einer Erstaufnahmeeinrichtung des Bundes registrie- Hier wird keine Änderung benötigt ren zu lassen, passt gesetzessystematisch in das Zu Nr. 13: Änderung des § 94 Abs.1 BVFG. Allerdings nicht hinter die Bestimmung des § Buchstabe a 8 Abs.1 als Satz 4, weil § 8 inhaltlich die Registrierung voraussetzt und anschließende Maßnahmen reZu diesem Punkt schließen wir uns den Ausführungelt, sondern als Abs. 3 des § 7 BVFG.“ gen des BdV an, die wie folgt lauten: „Die Änderung und Erweiterung der namensrechtliZu Nr.5: Änderung des § 9 Abs. 1, Abs. 3 chen Bestimmungsmöglichkeiten des § 94 wird beWie Rudolf Friedrich begrüßt auch die Landsmann- grüßt. In der Praxis hat es trotz der verschiedenen schaft die Maßnahme der Erstattung von Fahrtkosten Gestaltungsmöglichkeiten Probleme gegeben, die zu Integrationskursen und schlägt hierzu folgenden erst durch gerichtliche Entscheidungen im Einzelfall geregelt wurden. Wortlaut vor: „Spätaussiedler sowie deren Ehegatten oder Ab- Es erscheint jedoch weiterhin problematisch, die Nakömmlinge im Sinne des § 7 Abs.2 Satz 1 werden mensänderungszuständigkeiten an zwei Stellen anzuFahrtkosten zur Teilnahme an einem Integrationskurs siedeln, nämlich beim Bundesverwaltungsamt und beim örtlich zuständigen Standesamt. Oft sind Spätgewährt.“ aussiedler in der Registrierungsphase beim Bundesverwaltungsamt nicht in der Lage, die Auswirkungen Zu Nr. 7: Änderung des § 15 Abs. 1 und Abs. 2 einer einmaligen und nicht korrigierbaren Erklärung Buchstabe a über die künftige Führung ihres Namens abzusehen. Nach unserer Meinung bedarf es hier keiner Ände- Oft entstehen damit unterschiedliche Namen und rung, da Erhebungen bereits im Aufnahmeverfahren Schreibformen von Namen in der Großfamilie, die sicher nicht beabsichtigt wurden, sondern oft aus durchgeführt werden. Unwissenheit geschehen. Einmal getroffene Entscheidungen können nur unter Zu Nr. 8: Änderung des § 16 Abs.1 Satz 3 engen Voraussetzungen nach dem NamensändeAuch hier ist keine Änderung nötig, da dies bereits rungsgesetz verändert werden. Um dies zu vermeiim Kriegsfolgenbereinigungsgesetz unter § 16 Abs. 1 den, sollte die namensrechtliche Bestimmungsmöglichkeit beim Bundesverwaltungsamt mit einem einausgeführt ist. jährigen Widerrufsrecht ausgestattet werden. Nach Ablauf des Jahres seit der Neubestimmung ist sie unZu Nr. 10: Änderung des § 27 Abs.1, widerrufbar. Abs.2 und Abs.3, Buchstabe a (3) Die Erklärungen nach Abs.1 können innerhalb eiHier sind wir der Meinung des BdV, dass die Strei- nes Jahres beim Bundesverwaltungsamt oder beim 99

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Standesbeamten widerrufen werden.“ Zu Nr. 14: Änderung der Übergangsbestimmungen des § 100 Abs. 4 und 5 Diesen Änderungsvorschlag sieht die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland im Großen und Ganzen wie der BdV. Der BdV führt dazu in seiner Stellungnahme aus: „Der Befristung der Geltung der vor dem 1. Juli 1990 im D-1-Verfahren erteilten Übernahmegenehmigungen und der vor dem 1.1.1993 erteilten Aufnahmebescheide bis zum 31.12.2009 wird widersprochen. Die Befristung der Aufnahmebescheide stellt einen Verstoß gegen den Vertrauensgrundsatz dar. Viele Inhaber von Übernahmegenehmigungen und Aufnahmebescheiden haben den Bescheid bisher nicht zur Ausreise genutzt, weil durch identitätsstärkende Maßnahmen und Unterstützung der Minderheiten durch die Bundesregierung der Bleibewillen gestärkt wurde und der Bescheid als Sicherheitspapier die Möglichkeit zur Ausreise offen hielt. Mit der Befristung der Geltungsdauer werden auch diese Bemühungen in Frage gestellt. Mit dem EU-Beitritt einzelner ehemaliger Vertreiberstaaten sind die Kriegsfolgen für die betroffenen Menschen nicht bewältigt. Sowohl die alten Übernahmegenehmigungen, die teilweise Jahrzehnte alt sein können, als auch die in der Zwischenzeit bis zum 31.12.1992 erteilten Aufnahmebescheide beruhen auf einem gesetzlich vermuteten Kriegsfolgenschicksal. Diese gesetzliche Vermutung wurde für die aus außerhalb der ehemaligen Sowjetunion stammenden Spätaussiedlerbewerber erst durch das sog. Kriegesfolgenbereinigungsgesetz ab 1993 aufgegeben; sie wird für die der EU am 1.5.2005 beigetretenen Baltischen Staaten ab Inkrafttreten dieses Änderungsgesetzes gelten. Durch die Befristung wird den Betroffenen ein erworbener Anspruch auf Aufnahme und nicht nur die Anwartschaft auf Aufnahme entzogen.“ Zu Nr. 15: Änderung des § 100 a Buchstabe b Auch hier schließt sich die Landsmannschaft der Ansicht des BdV an. Wir zitieren: „Der Gesetzgeber geht in der Begründung zum Regelungsinhalt des neu einzuführenden § 100 a Abs.2 davon aus, dass nach dem 31.12.1992, dem Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes, keine Aufnahmebescheide mehr für Personen nach § 4 Abs.2 BVFG erteilt wurden, weil ein individuelles Kriegsfolgenschicksal für Personen außerhalb der

Staaten der ehemaligen Sowjetunion nicht glaubhaft gemacht werden konnte. Ob diese Annahme zutrifft, ist hier nicht feststellbar. Deshalb sollte in der Begründung zum Gesetzesentwurf auch die Möglichkeit offen gelassen werden, für Personen z.B. aus der Republik Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Rumänien usw. die Spätaussiedlereigenschaft zu erwerben, wenn der Aufnahmebescheid nach dem 31.12.1992 erteilt wurde. Hinsichtlich der Befristung der nach dem 31.12.1992 erteilten Aufnahmebescheide wird auf die Ausführungen zu Nr. 14 verwiesen. Zusätzlich ein Vorschlag der Landsmannschaft zur Änderung des § 27 Abs.1 Satz 2 BVFG Der § 27 Abs.1 Satz 2 BVFG sollte wie folgt gefasst werden: „Der im Aussiedlungsgebiet lebende Ehegatte und/ oder der Abkömmling einer Person im Sinne des Satzes 1 werden zum Zweck der gemeinsamen Ausreise vorläufig nach § 27 Abs.2 einbezogen. Nach der Einreise erfolgen nach einer mehrmonatigen (ca. neun Monate) intensiven Sprachförderung in Friedland und nach erfolgtem Sprachtest die Statusfeststellung und die Ausstellung der Bescheinigung nach § 7 Abs.2 BVFG.“ Begründung: Das Erlernen der deutschen Sprache in den GUSStaaten scheitert meist am fehlenden bzw. äußerst begrenzten Angebot der Hilfsmittel zum Spracherwerb. Des Weiteren leben die Betroffenen in einem deutschfremden, mancherorts sogar in einem deutschfeindlichen Umfeld. Gerade auf dem Land entstehen weitere Mängel beim Erlernen der Sprache durch die fehlende Infrastruktur; die Landbewohner haben demzufolge nur geringe Möglichkeiten, die Sprache durch Kurse zu erlernen bzw. mangelhafte Kenntnisse zu vertiefen und auszubauen. Bei vielen scheitert der Spracherwerb an den hohen Kosten, die für Fahrten und Kursbesuch anfallen. Ebenfalls zu berücksichtigen sind Unterschiede in der Sprachbegabung sowie Unterschiede im Bildungsstand und Bildungsniveau, die sogar innerhalb derselben Familie auftreten. Die oben angeführte Regelung würde den enormen psychischen Druck, dem die Bezugsper�sonen ausgesetzt sind, in vielerlei Hinsicht verringern: - Keine Trennung von der Familie. - Die Bezugsperson muss sich keine Gedanken darüber machen, ob der Ehegatte bzw. der Abkömmling einen evtl. weiteren Test besteht oder nicht. - Keine Gedanken über den Gesundheitszustand der Familie.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews - Keine Gefahr der Vereinsamung der Bezugsperson durch die lange Trennung von der Familie. - Die Familie kann den Integrationskurs gemeinsam besuchen. Nicht vergessen werden sollte außerdem, dass die Angehörigen der deutschen Volksgruppe in der ehemaligen Sowjetunion aufgrund des Zweiten Weltkrieges kaum die Möglichkeit hatten, die deutsche Sprache zu erlernen, geschweige denn, die deutsche Sprache in der Öffentlichkeit zu benutzen. Die bisherige Regelung ignoriert und verkennt, dass die mangelhafte Beherrschung bzw. Nichtbeherrschung der

deutschen Sprache eine Spätfolge des Zweiten Weltkrieges ist. Mit dem Vorschlag der Landsmannschaft fände das besondere Kriegsfolgenschicksal der Volksgruppe, zu dem sich die Bundesregierung bekannt hat, die Beachtung, die es verdient. Zugleich wäre die Ungleichbehandlung gegenüber den anderen Zuwanderungsgruppen, denen die Möglichkeit geboten wird, hier in einem deutschen Umfeld die deutsche Sprache zu erlernen, vom Tisch, und es würde kein Verstoß gegen Art. 6 des Grundgesetzes mehr vorliegen, der den besonderen Schutz von Ehe und Familie vorschreibt. Juli 2006

Integrationsgipfel der Bundesregierung Bundeskanzlerin Merkel zieht positives Fazit Landsmannschaft durch Adolf Fetsch vertreten uf ein überwiegend positives Echo stieß der Integrationsgipfel, den Bundesregierung am 14. Juli in Berlin veranstaltete. Angela Merkel sprach gar von einem „fast historischen Ereignis“. Die Bundeskanzlerin hatte mehr als 80 Vertreter aus Politik und Wirtschaft, von Sozialverbänden und Ausländerorganisationen ins Kanzleramt geladen. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland war durch ihren Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch vertreten. Anlass waren Befürchtungen, das die rund 20 Prozent der Bevölkerung, die selbst eingewandert sind oder aus Einwandererfamilien stammen, zunehmend ein Leben am Rande oder außerhalb der Gesellschaft führen. Der Gipfel war als Auftakt eines einjährigen Dialogs gedacht, der 2007 in einen Nationalen Integrationsplan münden soll. Die Bundeskanzlerin sagte im Anschluß an das Treffen, es habe große Übereinstimmungen unter den Teilnehmern gegeben, es werde aber sicher noch Diskussionen geben, nicht zuletzt auch zwischen den Vertretern der Regierungsparteien. Die Regierung hält einen Ausbau der Integrationskurse, eine frühere Förderung der deutschen Sprache, mehr Arbeitsmarktchancen durch Bildung, eine bessere Situation von Frauen und Mädchen durch Gleichberechtigung, Integration in Kommunen sowie Stärkung der Bürgergesellschaft für notwendig. Dies soll mit Ländern, Kommunen und Zuwanderern in Arbeitsgruppen besprochen werden. Mit Bedauern mussten wir jedoch zur Kenntnis nehmen, dass selbst bei diesem Treffen die Leistungen, Probleme und Perspektiven der inzwischen rund 2,8 Millionen Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion nur am Rande zur Sprache kamen.

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Bezeichnenderweise fand sich kein Platz für die Rede, die Adolf Fetsch auf Wunsch der Veranstalter für das Treffen vorbereitet hatte. Sie sei deshalb wenigstens in größeren Auszügen in unserem Vereinsblatt veröffentlicht: „Ehe ich in aller Kürze auf zentrale Aspekte der Aussiedlerproblematik eingehe, vorab diese Feststellung: In ihrer Gesamtheit kann die Integration der Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik als vorbildlicher Erfolg bezeichnet werden. Aussiedler früherer Jahre sind beinahe ausnahmslos in die Gesellschaft integriert und haben ihr Ziel erreicht, hier als Deutsche unter Deutschen zu leben. Erheblich besser integriert, als es die oft tendenziöse Berichterstattung in den Medien vermuten lässt, sind auch die Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, die erst in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind. Offizielle Statistiken und wissenschaftliche Untersuchungen sprechen hier eine deutliche Sprache. Trotzdem will ich nicht verschweigen, dass es gerade in den letzten Jahren verstärkt zu Problemen im Aussiedlerbereich gekommen ist. Diese Schwierigkeiten haben nach unserer Auffassung vor allem mit deutschen Sprachdefiziten zu tun. Diese Defizite können meinen Landsleuten jedoch keinesfalls als Versäumnisse angelastet werden, sie sind vielmehr als Teil ihres Kriegsfolgenschicksals zu betrachten, das bis in die Gegenwart anhält und das von allen Parteien des Deutschen Bundestages anerkannt wird. Es sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass beinahe jeder dritte Deutsche in der Sowjetunion in den Jahren des Zweiten Weltkrieges dem stalinistischen Terrorregime zum Opfer fiel. Ab 1938, spätestens jedoch 1941 wurden in der So-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews wjetunion als Folge des deutsch-sowjetischen Krieges sämtliche deutschen Schulen geschlossen, die es bis dahin für die deutsche Volksgruppe gegeben hatte. Und noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg war es für die Deutschen in der Sowjetunion mit erheblichen Nachteilen verbunden, in der Öffentlichkeit, in der Schule oder am Arbeitsplatz deutsch zu sprechen. Vor allem deshalb hat sich die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland immer dagegen ausgesprochen, deutsche Sprachkenntnisse zum zentralen Kriterium im Aussiedleraufnahmeverfahren zu erheben. Erwähnt sei in diesem Zusammenfassung, dass bis zum heutigen Tag von einer tatsächlichen Rehabilitierung der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion noch keine Rede sein kann. Faktisch gelten für sie nach wie vor die Vorwürfe, die ihnen in einem Erlass des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 gemacht wurden und die als Grund für ihre Vertreibung im Zweiten Weltkrieg dienten. Um nicht missverstanden zu werden, will ich jedoch betonen: Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wendet sich zwar gegen eine Übertonung deutscher Sprachkenntnisse im Aufnahmeverfahren, ist aber selbstverständlich der Auffassung, dass deutsche Sprachkenntnisse eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen der Integration hier in Deutschland sind. Nach Auffassung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ließe sich im Bereich der Integration von Spätaussiedlern auch ohne größeren personellen und finanziellen Einsatz eine Menge bewirken, was letztlich der Gesamtgesellschaft zugute käme. Ich nenne die folgenden Bereiche:

Für sehr nützlich hielten wir die Benennung von Aussiedlerbeauftragten in den einzelnen Bundesländern, gerade auch in den neuen Bundesländern, wo sich die Probleme, denen sich meine Landsleute in den ersten Jahren nach ihrer Einreise gegenüber sehen, aus bekannten Gründen gravierender auswirken als im Westen der Bundesrepublik. Im Bereich der unmittelbaren Sozialberatung und betreuung sollte verstärkt auf Mitarbeiter aus den Reihen der Spätaussiedler selbst zurückgegriffen werden, die nicht nur im linguistischen Sinne die Sprache ihrer Landsleute sprechen. Nicht vergessen sei der Kulturbereich. Kulturarbeit, insbesondere auch die kulturelle Breitenarbeit haben wir stets verstanden als Beitrag zur Festigung bzw. Wiedergewinnung der kulturellen Identität der Deutschen aus Russland. Sie soll das Gelingen der Integration fördern und das Selbstwertgefühl der Spätaussiedler sowie ihre Akzeptanz in der Bevölkerung steigern Abschließend sei betont, dass es nur bedingt effektiv sein kann, über Verbesserungen bei der Integration von Deutschen aus Russland nachzudenken, solange das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihnen macht, durch die oft einseitige und negative Berichterstattung in den Medien beeinflusst wird. Wir blicken trotz allem zuversichtlich in die Zukunft, da wir bei bei allen Gesprächen der letzten Zeit den sicheren Eindruck gewinnen konnten, mit dem Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung einen zuverlässigen Partner auf unserer Seite zu haben.“

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zur Rentenfrage 40%-Kürzung für die ab 1996 “rentennahen” Jahrgänge verhindert – doch Obergrenzen von 40- und 25-Entgeltpunkten bleiben bestehen ur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Rentenfrage für Spätaussiedler erklären der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, und Rechtsanwalt Ernst Bruckner: Wir erinnern an die Vorgeschichte dieses zehn Jahre langen Streits um die Kürzung der Renten gemäß dem Fremdrentengesetz: Nach den schon sehr einschneidenden Kürzungen um 30 Prozent für die ab 1991 nach Deutschland gekommenen Spätaussiedler und der Obergrenzen von 40- und 25-Entgeltpunkten hat der Bundesgesetzgeber im Juli 1996 noch eine weitere Rentenkürzung für Fremdrentenfälle beschlossen, indem er die Kürzung auf 40 Prozent angehoben hat und sie zugleich auch auf alle Aussiedler ausgedehnt hat, also auch auf solche, die bereits vor 1991 nach Deutschland gekommen waren. Und weil der Gesetzgeber gerade schon voll am Sparen war, hat er diese Kürzung mit einer minimalen Übergangsfrist von drei Monanten schon für alle Rentenzugänge ab Oktober 1996 wirksam werden lassen.

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Diese zu knappe Übergangsfrist hat das Bundesverfassungsgericht nun zehn Jahre später rückwirkend als Verstoß gegen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip aufgehoben. Zugleich hat es den Gesetzgeber aufgefordert, bis zum Jahresende 2007 eine neue Übergangsregelung für die 1996 rentennahen Jahrgänge zu erlassen, deren Fälle noch nicht endgültig bestandskräftig sind - also in denen noch ein Widerspruchs- oder Klageverfahren läuft. Für sie muss diese 40-Prozent-Kürzung ab 1996 aufgehoben werden und sie müssen eine Nachzahlung erhalten. Wenn die monatliche Nachzahlung zum Beispiel durchaus realistische 50 Euro ausmacht - wir haben Fälle, in denen die Kürzung 150 Euro monatlich und mehr beträgt -,dann ergäbe dies für zehn Jahre eine Gesamtnachzahlung von 6.000 Euro. Der Gesetzgeber kann aber auch ganz gerecht vorgehen und alle Fälle gleichbehandeln - also die Kürzung ab 1996 aufheben, egal ob die Rentenbescheide bestandskräftig geworden sind oder nicht. Voraussetzung ist aber immer, dass der Zuzug bereits vor 1991 stattgefunden hat. Bei der Übergangsregelung können auch fließende Übergänge geschaffen werden, so dass in den ersten Jahren ab 1996 zum Beispiel überhaupt keine Kürzung angewendet wird und danach nur eine Kürzung

von zehn Prozent erfolgt, die dann langsam auf 40 Prozent anwächst. Bei diesen Regelungen ist der Gesetzgeber zuerst am Zug, er hat einen weiten Spielraum des politischen Ermessens: Wie weit gehen die 1996 rentennahen Jahrgänge - bis 1999? Bis 2001? Bis 2003? Oder bis 2006? Welche Kürzung soll für die einzelnen Jahrgänge eingeführt werden - langsam anwachsend auf 40 Prozent oder in einem bestimmten Jahr sofort mit 40 Prozent einsetzend? Es handelte sich um schwierige Rechtsfragen, die die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zusammen mit den anderen betroffenen Landsmannschaften einer Entscheidung zugeführt hat. Dazu wurden Musterprozesse in ganz Deutschland geführt, um die Richter von der Verfassungswidrigkeit zu überzeugen. Dies war vorerst an allen niedrigeren Gerichten gescheitert, so dass auch der Instanzenzug voll ausgeschöpft werden musste, bis der vierte Senat des Bundessozialgerichts nach einer ersten mündlichen Verhandlung 1999 ebenfalls zur Überzeugung kam, dass diese Gesetzgebung verfassungswidrig war. In einer großartig begründeten Entscheidung legte er dann die ersten Fälle dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor und wiederholte dies dank unserer Ausdauer und anhand weiterer Fälle von Betroffenen noch zweimal. Dabei wurden auch hochkarätige Gutachter eingeschaltet; Prof. Dr. Azzola, Prof. Dr. Dr. Podlech und RA Dieners verfassten das erste Gutachten, Prof. Dr. Becker das zweite. Die Prozessvertretung der Präzedenzfälle der Deutschen aus Russland wurde bis ans Bundesverfassungsgericht von meiner Anwaltskanzlei durchgeführt. Am 30. Juni 2006 haben wir nun die große 64 Seiten umfassende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugestellt erhalten und kurz darauf den Beschluss über die Obergrenzen von 40- und 25-Entgeltpunkten. Leider konnte die Kürzung um 40 Prozent nicht dauerhaft beseitigt werden, ebenso nicht die Obergrenzen von 40- und 25-Entgeltpunkten. Das Gericht hat dem Gesetzgeber einen sehr weiten Spielraum darüber zugebilligt, wie er die Rentenhöhe festlegen will, insbesondere wenn es sich wie hier um Zeiten handelt, für die keine Beiträge an die deutschen Rentenversicherungsträger geflossen sind. Insbesondere hat das Gericht keinen Verstoß gegen das Eigentumsgrundrecht angenommen, wenn solche Zeiten gegenüber früher stark gekürzt werden.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Zu den weiteren Einzelheiten der umfassenden Entscheidung kann auch auf die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen werden; sowohl die Entscheidung als auch die Pressemitteilung sind auf den Internetseiten des Bundesverfassungsgerichts einzusehen. Weiteres Vorgehen bei Rentenkürzungen

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber hierzu eine Frist bis zum Jahresende 2007 eingeräumt. Die Betroffenen müssen deshalb vorerst keine weiteren rechtlichen Schritte wie Anfechtungen, Widersprüche, Klagen, Anträge auf Neuberechnungen usw. unternehmen, da der Gesetzgeber zuerst zum Handeln aufgerufen ist.

Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2006 sind alle laufenden Rentenverfahren mit den 40%-Kürzungen noch offen. Sie werden von den Rentenversicherungsträgern sowie von den Gerichten weiterhin als ruhend behandelt, bis der Gesetzgeber eine gesetzliche Neuregelung der Übergangsvorschriften getroffen hat.

Politisch gesehen, wird die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland jetzt natürlich aktiv dafür eintreten, dass die bis zum Jahresende 2007 fällige gesetzliche Übergangsregelung für unsere betroffenen Landsleute so gut wie möglich ausfällt und die Betroffenen dann ihre Nachzahlungen erhalten. Juli 2006

Presseerklärung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zum 8. Landestreffen der Landesgruppe Niedersachsen am 19. August 2006 in Hannover nter dem Motto „Wir sind zu Hause“ veranstaltet die Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 19. August 2006 im Congress-Centrum von Hannover das 8. Landestreffen Niedersachsen, das unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, Christian Wulff, steht. Die Festreden halten der Niedersächsische Minister für Inneres und Sport, Uwe Schünemann, und der Bundesvorsitzende der Landsmannschaf, Adolf Fetsch. Angesichts erschwerter Integrationsbedingungen und nachlassender Akzeptanz der Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in der Bevölkerung will das Landestreffen einer breiten Öffentlichkeit ein realitätsgerechtes Bild der Deutschen aus Russland vermitteln. Es soll gezeigt werden, - dass die Integration der Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik in ihrer Gesamtheit als vorbildlicher Erfolg bezeichnet werden kann; - dass mit den Deutschen aus Russland Menschen gekommen sind, die sowohl in sozialer als auch in kultureller Hinsicht einen Gewinn für das Land darstellen und zudem als ausgesprochen junge Bevölkerungsgruppe der Tendenz einer Überalterung der Gesellschaft entgegenwirken; - dass Deutsche aus Russland mehrheitlich bereit sind, auch Arbeitsstellen anzunehmen, die unter

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ihrer mitgebrachten Qualifikation liegen, und aufgrund ihrer Mobilität und Arbeitswilligkeit in erheblichem Maße zur Sanierung strukturschwacher Gebiete beigetragen haben; - dass laut offiziellen Statistiken Deutsche aus Russland erheblich mehr in die deutschen Sozialversicherungs- und Rentenkassen einbezahlen, als sie diesen entnehmen, und somit die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden stützen; - und dass sich Deutsche aus Russland gerade auf künstlerischen und sportlichen Sektor durch eine weit überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit auszeichnen. Das Landestreffen will aber auch mit aller Deutlichkeit darlegen, dass das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz zu einer drastischen und unverantwortlichen Reduzierung der Einreisezahlen von Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion geführt hat. Waren in den ersten sieben Monaten der Jahre 2004 und 2005 noch 32.305 bzw. 25.474 Spätaussiedler nach Deutschland gekommen, so sank diese Zahl auf nur mehr 3.722 für die Monate Januar bis Juli 2006. Insbesondere wird die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland darauf hinweisen, dass die im Zuwanderungsgesetz festgeschriebene Gleichbehandlung der einzelnen Zuwanderergruppen de facto auf eine Benachteiligung der Deutschen aus Russ-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews land hinausläuft, denen die Bundesregierung und die Regierungen der Bundesländer nach wie vor ein kollektives Kriegsfolgenschicksal attestieren. Untergraben wird diese Anerkennung des Kriegsfolgenschicksals der Deutschen aus Russland vor allem durch die Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren, wodurch die Tatsache ignoriert wird, dass es für die Deutschen in der Sowjetunion spätestens ab 1941 nicht mehr möglich war, ihre deutsche Muttersprache zu pflegen und in der Öffentlichkeit zu benutzen, ohne Diskriminierungen befürchten zu müssen. Nicht verschwiegen werden soll auch, dass einige wenige Bundesländer entgegen der Auffassung der Bundesregierung und der deutlichen Mehrheit der übrigen Bundesländer zusätzliche Hürden beim Zuzug von Familienangehörigen von Spätaussiedlern aufbauen wollen. Nach Auffassung der Landsmann-

schaft der Deutschen aus Russland widerspricht diese Haltung dem besonderen Schutz von Ehe und Familie, den das Grundgesetz vorschreibt, und lässt tragische Störungen bei der Familienzusammenführung befürchten. Die Landsmannschaft hofft deshalb, bis zur anstehenden Entscheidung im Rahmen der Innenministerkonferenz der Länder sämtliche Bundesländer für eine verträgliche und familienfreundliche Regelung des Zuzuges gewinnen zu können. Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Lilli Bischoff Vorsitzende der Landesgruppe Niedersachsen August 2006

8. Landestreffen der Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 19. August 2006 in Hannover Rede des Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch ... Im Namen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und meiner Kolleginnen und Kollegen vom Bundesvorstand begrüße ich Sie herzlich zum 8. Niedersächsischen Landestreffen, das uns an diesem schönen Tag hierher nach Hannover geführt hat. Dass dieses Treffen überhaupt zustande kommen konnte, ist in erster Linie ein Verdienst des Vorstandes der Landesgruppe Niedersachsen mit seiner neuen Vorsitzenden Lilli Bischoff, bei der ich mich stellvertretend für alle ehrenamtlichen Helfer herzlich bedanke. Bei der Vorbereitung auf diese Veranstaltung habe ich die Ausgaben der letzten Jahre unserer Vereinszeitschrift „Volk auf dem Weg“ durchgeblättert und dabei festgestellt, dass Niedersachsen beinahe die einzige Landesgruppe der Landsmannschaft war, die sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten an die regelmäßige Durchführung von Landestreffen herangewagt hat. Einen besonderen Dank will ich in diesem Zusammenhang dem langjährigen Landesvorsitzenden Wendelin Jundt aussprechen, der trotz seiner inzwischen 76 Jahre als Bundessozialreferent der Landsmannschaft und Ehrenvorsitzender der Landesgruppe Niedersachsen aktiv ist wie eh und je. Der Blick auf die Seiten unseres Vereinsorgans hat mir aber auch gezeigt, wie sehr sich die Entwicklungen und Probleme innerhalb der Volksgruppe der

Deutschen aus Russland im Programm der Niedersächsischen Landestreffen widerspiegelten. Beim 5. Landestreffen, das in einem Jahr – 1993 – stattfand, in dem erstmals mehr als 200.000 Spätaussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen, forderte der damalige Oppositionsführer im Niedersächsischen Landtag und heutige Ministerpräsident Christian Wulff, dass das Tor nach Deutschland für meine Landsleute offen bleiben müsse. In besonderer Weise würdigte er im Übrigen bereits damals den ideellen und politischen Beitrag der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zur Arbeit im Verbands- und Kulturbereich hier in Deutschland. Vier Jahre später - die Zahl der Spätaussiedler war inzwischen auf rund 130.000 zurückgegangen - , hielt der Schirmherr und Festredner der Veranstaltung, der damalige Kultusminister des Landes, Prof. Rolf Wernstedt, es aus – leider! - gegebenem Anlass für angebracht, an die Integrationsbereitschaft der bundesdeutschen Gesellschaft zu appellieren. Er erinnerte daran, dass Deutschland es geschafft habe, nach dem Zweiten Weltkrieg, zu einer Zeit also, da es den Menschen erheblich schlechter ging als heute, mehr als 13 Millionen Flüchtlinge aufzunehmen. Deshalb sollte es, so der Kultusminister, doch möglich sein, heute eine wesentlich kleinere Zahl von

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Deutschen aus Russland bei uns willkommen zu heißen. Das 7. Landestreffen vor vier Jahren stand bereits ganz im Zeichen des Zuwanderungsgesetzes, das sich damals noch in der Planungsphase befand. Die Verantwortlichen der Landsmannschaft betonten, dass mit den im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen Regelungen in keiner Weise dem schweren Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen Rechnung getragen würde. Stattdessen mache man das Schicksal dieser Menschen vom Grad ihrer deutschen Sprachkenntnisse abhängig. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein weiteres Mal in einem Exkurs auf die Absurdität jeglicher Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Aufnahmeverfahren für Spätaussiedler eingehen: Wer sich mit der Geschichte der Deutschen in der Sowjetunion auseinander gesetzt hat, weiß, dass es für sie spätestens ab 1941 nicht mehr möglich war, ihre deutsche Muttersprache zu pflegen und sie in der Öffentlichkeit zu benutzen, ohne mit erheblicher Diskriminierung rechnen zu müssen. Die letzten deutschen Schulen in der Sowjetunion wurden 1941 geschlossen, Deutsch war die Sprache des Feindes. Neben der Verfolgung und Vertreibung und den zahllosen Opfern, die das stalinistische Gewaltregime von ihnen forderte, beklagen meine Landsleute gerade diesen Sprachverlust als wesentlichen Teil ihres bis zum heutigen Tag anhaltenden kollektiven Kriegsfolgenschicksals, das von der Bundesregierung und den Regierungen der Bundesländer nach wie vor anerkannt wird. Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich betrachtet auch die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland deutsche Sprachkenntnisse als unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen der Integration. Es darf jedoch nicht sein, dass Deutsche in den Staaten der GUS allein aufgrund mangelhafter Deutschkenntnisse an der Ausreise gehindert und ein weiteres Mal zu Opfern tragischer Entwicklungen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen gemacht werden. 2006 nun, bei diesem 8. Landestreffen, müssen wir mit großer Enttäuschung feststellen, dass die Befürchtungen, die die Landsmannschaft mit dem Zuwanderungsgesetz verbunden hat, in vollem Umfang Realität geworden sind, wie ein Blick auf die Einreisezahlen von Spätaussiedlern seit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 2005 zeigt: Waren nämlich in den ersten sieben Monaten der Jahre 2004 und 2005 noch 32.305 bzw. 25.474 Spätaussiedler nach Deutschland gekommen, so sank diese Zahl auf nur mehr 3.722 für die Monate Januar bis Juli 2006. Nicht verschweigen will ich auch, dass einige wenige Bundesländer entgegen der Auffassung der Bundesregierung und der deutlichen Mehrheit der übri-

gen Bundesländer zusätzliche Hürden beim Zuzug von Familienangehörigen von Spätaussiedlern aufbauen wollen. Nach Auffassung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland widerspricht diese Haltung dem besonderen Schutz von Ehe und Familie, den das Grundgesetz vorschreibt, und lässt tragische Störungen bei der Familienzusammenführung befürchten. Die Landsmannschaft hofft deshalb, bis zur anstehenden Entscheidung im Rahmen der Innenministerkonferenz der Länder sämtliche Bundesländer für eine verträgliche und familienfreundliche Regelung des Zuzuges gewinnen zu können. Insbesondere hoffe ich aber auch, gerade in dieser Angelegenheit unsere traditionellen Freunde auf Bundes- und Landesebene auf unserer Seite zu haben! *** Ich ärgere mich häufig darüber, dass in verschiedenen Teilen der Öffentlichkeit und in einigen Zeitungen sowie in Fernsehmagazinen grundsätzlich davon ausgangen wird, Spätaussiedler aus der GUS seien eine Belastung für die Bundesrepublik. Bedient man sich jedoch einer unvoreingenommenen Betrachtungsweise, gelangt man zu einer völlig anderen Einschätzung der Lage. Demnach dürfen wir die Integration der Deutschen aus Russland – von bedauerlichen Einzelfällen abgesehen - als vorbildlichen Erfolg bezeichnen. Das gilt sowohl für die Aussiedler früherer Jahre, die längst ihr Ziel erreicht haben, hier als Deutsche unter Deutschen zu leben, als auch für Spätaussiedler, die erst nach 1991 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Offizielle Statistiken und wissenschaftliche Untersuchungen sprechen hier eine deutliche Sprache: So sind Aussiedler bzw. Spätaussiedler eine ausgesprochen junge Bevölkerungsgruppe, die der überalterten bundesdeutschen Gesellschaft nur von Nutzen sein kann. Des Weiteren sind Aussiedler bzw. Spätaussiedler keineswegs überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie mehrheitlich bereit sind, Arbeitsstellen anzunehmen, die unter ihrer mitgebrachten Qualifikation liegen. Aufgrund ihrer Mobilität und ihrer Arbeitswilligkeit haben sie in erheblichem Maße zur Sanierung strukturschwacher Gebiete beigetragen. Zudem zeichnen sich Deutsche aus Russland vor allem auf künstlerischen und sportlichem Gebiet durch eine weit überdurchschnittliche Leistungsbereitschaft aus. Gerade weil viele es nicht glauben wollen und den Deutschen aus Russland vorwerfen, sie würden die öffentlichen Kassen plündern, will ich auch heute das wiederholen, was ich schon so oft gesagt habe:

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Deutsche aus Russland zahlen erheblich mehr in die deutschen Sozialversicherungs- und Rentenkassen ein, als sie diesen entnehmen, und stützen die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden. Keine Rede kann auch davon sein – und damit wende ich mich gegen ein weiteres Vorurteil -, dass Deutsche aus Russland in überdurchschnittlichem Maße kriminell sind. Zu diesem Ergebnis sind sowohl landesweite Untersuchungen in NordrheinWestfalen, Bayern und Baden-Württemberg als auch regionale Studien in Lahr (Baden-Württemberg) und verschiedenen norddeutschen Städten gekommen. Einheitlich besagen diese Studien, dass die meisten Spätaussiedler weder besonders kriminell noch besonders auffällig sind, sondern sich gut in diese Gesellschaft integrieren. Vor diesem Hintergrund wäre es nach Auffassung der Landsmannschaft wünschenswert, die Leistungen sowie die Vorzüge der Deutschen aus Russland in realitätsgerechter Weise darzustellen und nicht das Feld Personen zu überlassen, die ihre Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit bedenkenlos auf Aussiedler und Spätaussiedler ausweiten. Es wäre aber auch angebracht, die Volksgruppe der Deutschen aus Russland mit der Besonderheit ihres tragischen Schicksal zu würdigen und ihr die Anerkennung zukommen zu lassen, die ihr in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch heute noch versagt wird. Bei allem Einsatz für die Belange meiner Landsleute will ich natürlich nicht verschweigen, dass es gerade in den letzten Jahren zu Problemen im Aussiedlerbereich gekommen ist. Ohne die Bemühungen der politisch Verantwortlichen auf regionaler, Landes- und Bundesebene schmälern zu wollen, sei jedoch erwähnt, dass in den letzten Jahren einige Vorschläge der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zur Lösung dieser Probleme nur sehr zögerlich – wenn überhaupt! - verwirklicht wurden. Einige Gespräche, die wir in den letzten Monaten vor allem mit Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble und dem Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, geführt haben, haben uns jedoch die Hoffnung gegeben, dass sich daran in absehbarer Zeit einiges zum Besseren ändern wird. Positiv haben sich nach unserer Auffassung auch die Gespräche mit der Niedersächsischen Landesregierung und ihrem Minister für Inneres und Sport, Uwe Schünemann, dem ich für seine offenen Worte herzlich danke, entwickelt, auch wenn wir in der Frage der Einreise und insbesondere des Zuzugs von Familienangehörigen von Spätaussiedlern unterschiedlicher Meinung sind. Hilfreich auf unsere Arbeit in Niedersachsen hat sich außerdem die Einrichtung von hauptamtlichen Integrationsstellen in Hannover und Braunschweig ausgewirkt.

Lassen Sie mich jetzt einige Beispiele landsmannschaftlicher Lösungsansätze nennen - Ansätze, mit deren Hilfe sich auch ohne größeren personellen und finanziellen Aufwand so manches bewerkstelligen ließe: Als konkretes Modell zur Linderung der Sprachproblematik haben wir Herrn Dr. Bergner die Einführung deutscher Sprachkurse für Aussiedler vorgeschlagen, die direkt nach der Einreise in Friedland beginnen und etwa ein halbes Jahr dauern sollten. Wir haben in diesem Zusammenhang zu bedenken gegeben, dass Sprachkurse für Spätaussiedler in den Herkunftsländern mit immer größer werdenden Problemen verbunden sind. Für viele Ausreisewillige stellen sich vor allem die gewaltigen Entfernungen der Sprachkursstätten als unüberwindliches Hindernis dar; verschärft wird die Situation zahlreicher Ausreisewilliger durch ihre zunehmende Isolation und Vereinsamung als Deutsche in fremder Umgebung nach der Ausreisewelle der letzten eineinhalb Jahrzehnte. Von unschätzbarem Wert wäre nach unserer Auffassung die Ernennung von Aussiedlerbeauftragten in sämtlichen Bundesländern – nach dem Modell der Länder Baden-Württemberg, Bayern, NordrheinWestfalen, Hessen und Niedersachsen, wo sich diese Einrichtung sehr positiv auf die Integrationsarbeit für Spätaussiedler ausgewirkt hat. Um einen möglichst hohen Integrationserfolg zu gewährleisten, befürworten wir außerdem den bundesweiten Einsatz von hauptamtlich tätigen Landsleuten, die als Schaltstellen zwischen den Bedürfnissen der Spätaussiedler, ihrer Landsmannschaft, den jeweiligen Länderregierungen sowie den Netzwerken für Integration fungieren sollten. Als weiterer Punkt sei der Bereich der unmittelbaren Sozialbetreuung und Sozialberatung genannt, der mit 45.000 Einzelfällen, die von unseren Mitarbeitern noch im Jahr 2003 und vor allem auf ehrenamtlicher Basis erledigt wurden, nach wie vor im Zentrum der landsmannschaftlichen Arbeit steht. Unsere Mitarbeiter haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder bewiesen, dass sie für die Betreuung ihrer Landsleute in besonderem Maße geeignet sind, auch wenn sie nicht die Qualifikationen mitbringen, die der Gesetzgeber mit der Neukonzeption der Migrationserstberatung vorgeschrieben hat. Wir wissen, dass unsere Mitarbeiter oft auch dort Erfolg haben, wo einheimische Sozialarbeiter, die ihre Ausbildung an bundesdeutschen Universitäten und Fachhochschulen absolviert haben, mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, weil ihnen einiges an Insiderwissen fehlt. Nicht vergessen sei auch der Kulturbereich. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat ihre Kulturarbeit stets in erster Linie als Beitrag zur

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Festigung bzw. Wiedergewinnung der kulturellen Identität der Mitglieder einer Volksgruppe verstanden, die nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung orientierungslos geworden ist. Bei meinen Landsleuten handelt es sich deshalb ganz gewiss um Menschen, die es verdient haben, gemäß ihrer rechtlichen Position gefördert zu werden – auch und vor allem auf kulturellem Gebiet, um die Ausprägung bzw. Wiedererlangung eines stimmigen Selbstbildes zu erleichtern. Bei all dem dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass es nur bedingt effektiv sein kann, über Verbesserungen bei der Integration von Deutschen aus Russland nachzudenken, solange das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihnen macht, durch die oft einseitige und negative Berichterstattung in den Medien beeinflusst wird. Gemeinsam sollten wir uns also bemühen, diesem Zerrbild mit einer realitätsgerechten und solidarischen Behandlung des Komplexes Spätaussiedler entgegen zu treten. Es ist nicht zuletzt Solidarität, um die ich Sie – und damit komme ich zum Schluss meiner Ausführungen – bitte:

Meine Landsleute rufe ich dazu auf, mit ihrem Beitritt die Arbeit ihrer Landsmannschaft zu unterstützen. In gleicher Weise empfehle ich ihnen, sich selbstbewusster und und aktiver an der Arbeit in einheimischen Vereinen und Organisationen, in Kirchen und Parteien zu beteiligen. An die alteingesessene Bevölkerung appelliere ich, Menschen, die erst jetzt aus der GUS nach Deutschland kommen durften, mit mehr Verständnis zu begegnen. Die Medien fordere ich zur fairen Berichterstattung auf. Und von den politisch Verantwortlichen in diesem Lande erhoffe ich mir, dass sie für die Deutschen aus Russland die Rahmenbedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen, sich hier wirklich zu Hause zu fühlen. Uns allen aber wünsche ich ein gelungenes Landestreffen Niedersachsen und angenehme Stunden im Kreise von Verwandten, Freunden, ehemaligen Nachbarn und Arbeitskollegen. August 2006

Presseerklärung zur Gedenkfeier anlässlich des 65. Jahrestages der Vertreibung der Russlanddeutschen am 27. August 2006 in Stuttgart-Bad Cannstatt it einer Andacht vor dem Vertriebenendenkmal in Stuttgart-Bad Cannstatt (Beginn 10 Uhr) und einem Festakt im nahe gelegenen Kursaal von Bad Cannstatt (Beginn 11 Uhr) begeht die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 27. August 2006 den 65. Jahrestag der Vertreibung der Russlanddeutschen. Die Festrede hält Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble, der mit seinem Erscheinen die Notwendigkeit und die Bereitschaft der Bundesregierung unterstreicht, sich der Geschichte und dem Schicksal der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion mit verstärkter Aufmerksamkeit zu widmen. Grußworte sprechen der Innenminister des Patenlandes der Landsmannschaft, Baden-Württemberg, Heribert Rech, und die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, die dadurch die Solidarität ihres Verbandes mit den Deutschen aus Russland zum Ausdruck bringt. Für die Landsmannschaft spricht ihr Bundesvorsitzender Adolf Fetsch. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland erinnert mit der Feier in Bad Cannstatt an die Ver-

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treibung der Deutschen in der Sowjetunion, deren tragischer Höhepunkt mit dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 „Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen“ eingeleitet wurde. Zwei Monate nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941 beschuldigte der Erlass in willkürlicher Manier die Bevölkerung des Wolgagebietes, die Anwesenheit von Tausenden von Spionen und Diversanten in ihrer Mitte zu verheimlichen, die, so der Erlass, „nach dem aus Deutschland gegebenen Signal Explosionen in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons hervorrufen sollen“. Aus diesem Grund wurde die Deportation sämtlicher Deutscher im Wolgagebiet nach Sibirien und Kasachstan angeordnet. Zwar waren in dem Erlass nur diejenigen Deutschen genannt, die an der Wolga lebten, betroffen waren jedoch alle Deutschen in der Sowjetunion – am Schwarzen Meer, am Dnjepr, im Kaukasus, auf der Krim, in Wolhynien und anderen Gebieten. Nicht vergessen werden sollte auch, dass die gegen die

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Russlanddeutschen endlich faktisch und vollstänDeutschen in der Sowjetunion gerichteten Maßnahdig zu rehabilitieren; men bereits lange vor Kriegsbeginn eingeleitet worden waren. Der Erlass war folglich nur die offizielle - an die politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik Deutschland, an der Anerkennung des kol„Legalisierung“ der Verfolgung und Vernichtung der lektiven Kriegsfolgenschicksals der RusslanddeutRusslanddeutschen. schen festzuhalten und der Einreise unserer LandsSpätestens mit diesem Erlass wurden die Deutschen leute keine weiteren Hindernisse in den Weg zu in der Sowjetunion für rechtlos erklärt, und ihre stellen; Nachkommen büßen bis zum heutigen Tag durch den Verlust von Grund und Boden, von Heimat und Spra- - an die Medien, über die Deutschen aus Russland in realitätsgerechter Weise zu berichten und nicht che für einen Krieg, mit dessen Zustandekommen sie aus bedauerlichen Einzelfällen negativer Auffälniemals etwas zu tun gehabt hatten. Trotzdem musligkeit allgemeine Vorwürfe zu konstruieren; sten sie Hunderttausende von Opfern beklagen, die bei der Vertreibung und in den sowjetischen Vernich- - an die bundesdeutsche Bevölkerung, den Spätaussiedlern aus den Staaten der ehemaligen Sowjettungslagern zu Tode gequält wurden oder verhungerunion, die erst jetzt als letzte Opfer des Zweiten ten. Weltkrieges nach Deutschland kommen dürfen, Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland mit dem Verständnis zu begrüßen, das sie verdient ist weit davon entfernt, Vergeltung für erlittenes Unhaben, und sie in der Heimat ihrer Vorfahren willrecht einzufordern, appelliert aber kommen zu heißen. - an die Regierungen der Nachfolgestaaten der SoAugust 2006 wjetunion, die in dem Erlass vom 28. August 1941 pauschal des Verrats bezichtigte Volksgruppe der

Die Toten und Gequälten lasten schwer auf den Seelen der Deutschen aus Russland! Rede der Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Adolf Fetsch anlässlich der Gedenkfeier der Landsmannschaft am 27. August 2006 ... Wir erinnern mit der heutigen Feierstunde an die Schicksalsschläge, die den Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion im 20. Jahrhundert zugefügt wurden, wir erinnern an die Verfolgung und Vertreibung unschuldiger Menschen. Als markantestes Datum für die Vertreibung der Deutschen in der Sowjetunion steht der 28. August 1941. Von diesem Tag an strebten die Repressionen gegen die Volksgruppe der Russlanddeutschen mit dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion “Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen” ihrem tragischen Höhepunkt zu. Zwei Monate nach Beginn des deutsch-russischen Krieges am 22. Juni 1941 wurden die Wolgadeutschen in dem Erlass pauschal der Kollaboration mit Deutschland bezichtigt. Diese Vorwürfe waren nichts weiter als ein fadenscheiniger Vorwand, sich der lästigen Deutschen zu entledigen. Und zwar nicht nur der in dem Erlass explizit genannten Wolgadeutschen, sondern aller Deutschen in der Sowjetunion, ganz gleich ob sie am Schwarzen Meer, am Dnjepr, auf der Krim, im Kaukasus, in Wolhynien oder in den Städten wohnten. Nicht vergessen seien auch die über 200.000 Schwarzmeerdeutschen, die damals in

dem von den deutschen Truppen besetzten Teil der Ukraine wohnten und zunächst von der Vertreibung verschont blieben, ehe auch sie das gleiche Schicksal ereilte. Mit welcher Perfidie dieser Erlass verfasst wurde, geht nicht zuletzt aus einer Passage hervor, die an Zynismus kaum zu überbieten ist. Darin wird nämlich ausgesagt, das Präsidium des Obersten Sowjets der Sowjetunion habe es “für nötig befunden, die gesamte deutsche in den Wolgarayons wohnende Bevölkerung in andere Rayons zu übersiedeln, wobei den Überzusiedelnden Land zuzuteilen und eine staatliche Hilfe für die Einrichtung in den neuen Rayons zu erweisen ist. Zwecks Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayons des Nowosibirsker und Omsker Gebiets, des Altaigaus, Kasachstans und andere Nachbarortschaften bestimmt.” Wir wissen sehr wohl, unter welchen Bedingungen diese Übersiedlung in Wirklichkeit vonstatten ging! Kaum ein Deutscher in der Sowjetunion wurde damals von der Vertreibung und dem Tod bringenden Sklavendienst in der so genannten Arbeitsarmee verschont, die in Wirklichkeit ein System von Vernichtungslagern war. Meine vertriebenen Landsleute verhungerten und erfroren, arbeiteten weit über ihre

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Kräfte hinaus. Sie mussten miterleben, wie ihre Verwandten, ihre Freunde, Arbeitskollegen und Nachbarn starben. Das ganze Ausmaß des Schreckens deutet sich in den nüchternen Zahlen an, die vom KGB der UdSSR zusammengestellt wurden. Demnach wurden bis zum 25. Dezember 1941, innerhalb von nur drei Monaten also, 894.626 Deutsche in der Sowjetunion zwangsumgesiedelt, die meisten aus der ASSR der Wolgadeutschen mit 374.717 Personen, darunter 116.917 Frauen, 81.106 Männer und 176.694 Kinder unter 16 Jahren. Bis zum heutigen Tag lasten die Toten und Gequälten schwer auf den Seelen der Deutschen aus Russland, und es gibt wohl keinen unter uns, der in seiner Familie keine Opfer zu beklagen hatte. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hörten zwar auch die schlimmsten Repressionen gegen die Deutschen in der Sowjetunion auf, von einer Beendigung der Diskriminierung konnte jedoch keine Rede sein. So waren Deutsche in der Sowjetunion noch auf Jahre hinaus gezwungen, in ihren Vertreibungsgebieten zu bleiben und sich regelmäßig auf der Kommandantur zu melden. Das offizielle Ende der Kommandanturaufsicht kam erst nach dem Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau mit dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 13. Dezember 1955 “Über die Aufhebung der Einschränkung in der Rechtsstellung der Deutschen und der Mitglieder ihrer Familien, die sich in der Sondersiedlung befinden”. Dass damit jedoch keine wirkliche Gleichstellung der Deutschen in der Sowjetunion verbunden war, geht aus dem folgenden Passus des Erlasses hervor: “Es wird festgestellt, dass die Aufhebung der durch die Sondersiedlung bedingten Einschränkungen für die Deutschen nicht die Rückgabe des Vermögens, das bei der Verschickung konfisziert worden ist, zur Folge hat und dass sie nicht das Recht haben, in die Orte zurückzukehren, aus denen sie ausgesiedelt worden sind.” Es konnte also keine Rede davon sein, dass mit diesem Erlass ein ernst zu nehmender Versuch unternommen wurde, begangenes Unrecht wieder gutzumachen. Wenigstens formal wurden die in dem Erlass vom 28. August 1941 erhobenen Vorwürfe durch einen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 29. August 1964 aufgehoben, in dem es unter anderem heißt: “Das Leben hat erwiesen, dass diese pauschal erhobenen Anschuldigungen haltlos und Ausdruck der angesichts des Personenkults um Stalin herrschenden Willkür waren.” Dennoch hat es bis in die Gegenwart keine faktische

Rehabilitierung der Russlanddeutschen durch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion gegeben. Das geht nicht zuletzt aus der Tatsache hervor, dass die allermeisten Spätaussiedler nicht aus den ursprünglichen Ansiedlungsgebieten ihrer Familien nach Deutschland kommen, sondern vor allem aus den Vertreibungsgebieten in Russland und Kasachstan. 61 Jahre nach Kriegsende ist man zudem weiter denn je entfernt von einer Wiederherstellung der gesetzwidrig aufgelösten Autonomie der Wolgadeutschen, obwohl die territorialen Autonomien anderer verbannter Völker der Sowjetunion bereits 1957 wieder hergestellt und sie damit vollständig rehabilitiert wurden. Gerade weil wir inzwischen einsehen mussten, dass mit einer tatsächlichen Rehabilitierung unserer Landsleute in der GUS in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, sind wir der Bundesregierung und den Länderregierungen sehr dankbar, dass sie den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor ein besonderes Kriegsfolgenschicksal attestieren und dadurch die Ausreise meiner Landsleute in größerem Umfang ermöglichen. Dankbar sind wir auch der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, die uns in all den Jahrzehnten in ihren Reihen aufgenommen hat. Gleichzeitig wenden wir uns jedoch dagegen, dass durch das Zuwanderungsgesetz diese Einreiseerlaubnis gewissermaßen durch die Hintertür ausgehebelt wird. Gegenwärtig müssen wir nämlich mit großer Enttäuschung zur Kenntnis nehmen, dass die Befürchtungen, die die Landsmannschaft mit dem Zuwanderungsgesetz verbunden hat, in vollem Umfang Realität geworden sind, wie ein Blick auf die stark gesunkenen Einreisezahlen von Spätaussiedlern seit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 2005 zeigt. Nicht verschwiegen sei auch, dass einige Bundesländer zusätzliche Hürden beim Zuzug von Familienangehörigen von Spätaussiedlern aufbauen wollen. Nach Auffassung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland widerspricht diese Haltung dem besonderen Schutz von Ehe und Familie, den das Grundgesetz vorschreibt, und lässt tragische Störungen bei der Familienzusammenführung befürchten. Die Landsmannschaft hofft deshalb, bis zur anstehenden Entscheidung im Rahmen der Innenministerkonferenz der Länder sämtliche Bundesländer für eine verträgliche und familienfreundliche Regelung des Zuzuges gewinnen zu können. Wir appellieren an die politisch Verantwortlichen, bei ihrer Entscheidung vor allem eines zu bedenken: Meine Landsleute beklagen den Verlust der deutschen Sprache als wesentlichen Teil ihres Kriegsfolgenschicksals und können deshalb nicht verstehen,

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews dass deutsche Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren von dominierender Bedeutung sind. Wir wissen doch, dass Deutsch in der Sowjetunion als Sprache des Feindes galt und wegen der zu erwartenden Diskriminierung nicht gepflegt und in der Öffentlichkeit gesprochen werden konnte! Der Respekt vor Menschen, die jahrzehntelang unschuldige Opfer der deutsch-sowjetischen Auseinandersetzungen waren und die endlich als Deutsche unter Deutschen leben wollen, sollte dazu führen, dass sie endlich gerecht behandelt werden. Gerade an einem Tag wie heute will ich jedoch betonen, dass die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zu keiner Zeit Vergeltung oder gar Rache für begangenes Unrecht gefordert hat. Wir hoffen aber, dass wir es in absehbarer Zeit erreichen werden, den Russlanddeutschen den Platz in der Geschichte zu sichern, den sie sich mit ihren Leistungen und nach all dem Leid verdient haben - insbesondere in den Nachfolgestaaten der UdSSR, wo wir, wie ich bereits ausgeführt habe, bereits zu lange auf eine faktische Rehabilitierung unserer Landsleute warten. Beenden will ich meine Ausführungen mit einer Erinnerung an das Jahr 1990. In diesem Jahr hatte Herr Dr. Schäuble, der damals Bundesinnenminister der Regierung Kohl war, die Festrede beim 22. Bun-

destreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland übernommen, das am 23. und 24. Juni in Wiesbaden stattfand. Es war das Jahr, in dem nach dem raschen Ansteigen der Aussiedlerzahlen seit 1987 erste kritische Stimmen über die Deutschen aus Russland in der Öffentlichkeit zu hören waren. Umso dankbarer waren wir Herrn Dr. Schäuble, dass er in seiner Rede die Obhutspflicht der Bundesregierung für diese Menschen betonte. Wörtlich sagte er damals: “Denn wer sollte sich um die Deutschen in der UdSSR kümmern, wenn nicht wir? Wir werden ihnen die Tür nicht zuschlagen.” Dieses Versprechen hat die Bundesregierung bis zum heutigen Tag gehalten. Rund zwei Millionen Deutsche, die seit diesem Versprechen vor 16 Jahren aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kommen durften, haben dadurch die Möglichkeit erhalten, endlich eine Heimat zu finden, die diesen Namen auch verdient hat. Dafür sagen wir Ihnen, Herr Minister, und allen politisch Verantwortlichen in Deutschland unseren herzlichen Dank – als Menschen, für die die Jahrzehnte der Verfolgung und Vertreibung mit der so lange ersehnten Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren, nach Deutschland ein Ende gefunden haben. August 2006

Bundesdelegiertenversammlung 2006 Bericht des Bundesvorsitzenden und Vorsitzenden des Öffentlichkeitsausschusses, Adolf Fetsch Vorab: Ich bedanke mich herzlich bei allen, die der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in den letzten drei Jahren die Treue gehalten haben, sei es als einfaches Mitglied oder als ehrenamtlicher bzw. hauptamtlicher Mitarbeiter in verantwortlicher Position. Sie haben es uns ermöglicht, das landsmannschaftliche Schiff, das nach den finanziellen Problemen, die vor rund fünf Jahren aufgetaucht waren, ins Schlingern geraten war, wieder auf Kurs zu bringen. In gemeinsamer Anstrengung haben wir es auch geschafft, die Schwierigkeiten, die sich nach den Rücktritten des stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Waldemar Neumann, und des ehrenamtlichen Bundesgeschäftsführers Waldemar Axt vor gut einem Jahr ergeben hatten, zu meistern. Einleitung Grundlage meiner politischen Arbeit in der zu Ende gehenden Amtsperiode war das Gebot des Paragra-

phen 1 der landsmannschaftlichen Satzung, wonach sich die Landsmannschaft als Vertreterin aller Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik Deutschland betrachtet und überkonfessionell und überparteilich handelt. Auf diese Weise ist es uns gelungen, sowohl vor als auch nach dem Regierungswechsel in Berlin mit den politisch Verantwortlichen in stetem Gedankenaustausch zu bleiben und von diesen als kompetente und verlässliche Verhandlungspartner angesehen zu werden. Damit konnten wir für unsere Landsleute in diesen drei Jahren erheblich mehr erreichen als mit lautstarken Parolen, die letztendlich wirkungslos verpuffen und lediglich dem eigenen Aggressionsabbau dienen. Besonders intensiv waren unsere Kontakte – Briefe, Stellungnahmen, Gespräche – zu den Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Jochen Welt, HansPeter Kemper und Dr. Christoph Bergner, sowie zum Vorsitzenden der Gruppe der „Vertriebenen, Flüchtlinge und Spätaussiedler“ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jochen Konrad Fromme. Diese wurden auf Bundesebene ergänzt durch regel-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews mäßige Kontakte mit maßgeblichen Vertretern der Regierungs- ebenso wie der Oppositonsparteien. Als herausragende Beispiele seien genannt die Gespräche mit Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble, mit dem damaligen Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Franz Müntefering, und dem ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern und jetzigen stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Fritz Rudolf Körper. Auf Länderebene will ich in erster Linie die folgenden Treffen nennen: mit dem Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch und dem Aussiedlerbeauftragten seiner Regierung, Rudolf Friedrich; mit dem Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt, Prof. Dr. Wolfgang Böhmer; mit dem Innenminister und Aussiedlerbeauftragten von Baden-Württemberg, Heribert Rech; mit dem bayerischen Innenminister Dr. Günther Beckstein, der bayerischen Sozialministerin Christa Stewens und CSU-Generalsekretär Dr. Markus Söder; mit dem Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, und dem Integrationsbeauftragten des Landes, Thomas Kufen; mit dem Innenminister von Rheinland-Pfalz, Karl Peter Bruch, und dem Sozialstaatssekretär des Landes, Dr. Richard Auernheimer; mit dem Innenminister von Niedersachsen, Uwe Schünemann, und dem Landesbeauftragter für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, Rudolf Götz. Den Rahmen dieses Berichtes würden die ungezählten Treffen mit Ämtern und Behörden sprengen, wobei vor allem die konstruktiven Verhandlungen mit dem Bundesverwaltungsamt in Köln und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg für unsere Arbeit von Bedeutung waren. Dass wir darüber hinaus mit dem Bund der Vertriebenen, zu dessen Vizepräsidenten ich zum wiederholten Male gewählt wurde, und seiner Präsidentin Erika Steinbach solidarisch zusammengearbeitet haben, braucht an dieser Stelle wohl kaum erwähnt zu werden. Eine besondere Würdigung erfuhr unsere Arbeit durch die Einladungen zur Teilnahme an dem von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel initiierten Integrationsgipfel der Bundesregierung im Juli 2006 sowie zur Mitwirkung an der Erarbeitung eines Nationalen Integrationsplanes, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im September 2006 in die Wege geleitet wurde. Im weiteren Verlauf meines Berichtes will ich detailliert die folgenden Punkte behandeln, die Inhalt der landsmannschaftlichen Politik in den letzten drei Jahren waren und von uns bei den genannten Gesprächen und Stellungnahmen angesprochen wurden oder aber Gegenstand der internen Arbeit der Landsmannschaft waren.

1. Zuwanderungsgesetz 2. Ausreisepolitik 3. Integrationspolitik 4. Sozialbereich 5. Kulturbereich 6. Kirchen 7. Jugend 8. Öffentlichkeitsarbeit (Zu den Strukturen der Landsmannschaft und anderen Themen, auf die ich in meinem Bericht nur am Rande eingehe, folgen Sie bitte den Ausführungen meiner Kollegen vom Bundesvorstand und des Bundesgeschäftsführers Alexander Rack.)

1. Zuwanderungsgesetz Sofort nachdem bekannt geworden war, dass die Deutschen aus Russland in das Zuwanderungsgesetz mit einbezogen werden sollten, wies die Landsmannschaft ausdrücklich darauf hin, dass damit in höchst ungenügender Weise dem schweren Kriegsfolgenschicksal der russlanddeutschen Volksgruppe Rechnung getragen würde. In einer Stellungnahme im Juni 2004 fassten wir die wichtigsten Punkte zusammen: Das Zuwanderungsgesetz wurde von seinen Verfassern unter dem Titel „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“ entworfen. Bei Deutschen aus Russland handelt es sich jedoch weder um Unionsbürger noch um Ausländer, sie sind vielmehr Deutsche gemäß Art. 116 GG. Die Landsmannschaft hat zu keiner Zeit bestritten, dass es Integrationsprobleme im Spätaussiedlerbereich gibt. Diese im Rahmen des vom Zuwanderungsgesetz vorgesehenen Aufnahmeverfahrens lösen zu wollen, ist aber bestimmt der falsche Weg. Zudem ist es unglaubwürdig, wenn alle Parteien und Fraktionen des Deutschen Bundestages einerseits behaupten, sie würden das schwere Kriegsfolgenschicksal der Deutschen aus Russland anerkennen, andererseits jedoch die Tatsache ignorieren, dass der Verlust der deutschen Muttersprache die Folge von Vertreibung und jahrzehntelanger Diskriminierung ist. Die Deutschen aus Russland werden als Opfer ein weiteres Mal bestraft, wenn man ihnen jetzt vorhält, sie würden ihre Muttersprache nur ungenügend beherrschen, und die Erfordernis deutscher Sprachkenntnisse zu einer unüberwindbaren Hürde werden lässt. Wer die Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes durchsetzen will, lässt den Deutschen aus Russland

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews zu testenden Personen als auch in den Bereichen, aus welchen diese stammen, orientieren. Trotz aller Bemühungen, Gespräche und Stellungnahmen, die sich über vier Jahre hinzogen, konnte die Landsmannschaft jedoch nicht verhindern, dass das Zuwanderungsgesetz mit seinen für Spätaussiedler negativen Folgen in Kraft trat. Immerhin konnte jedoch erreicht werden, dass von den Vorschlägen der Landsmannschaft drei Punkte übernommen wurden: - So ist es beim Führen des Abstammungsnachweises bei der bisherigen gesetzlichen Regelung geblieben, nach der in besonders gelagerten Fällen auch auf die Generation der Großeltern zurückgegriffen werden kann. - Außerdem werden bei dem für die Familienangehörigen und Abkömmlinge des Spätaussiedlers vorgesehenen Sprachtest, der wiederholbar ist, lediglich Grundkenntnisse der deutschen Sprache verlangt werden. - Und schließlich bleibt per Ministererlass der Beirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Aussiedlerfragen erhalten. Gegenwärtig bereitet uns der nach wie vor nicht geregelte Zuzug von Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern große Sorgen, wobei wir insbesondere befürchten, dass es in verstärktem Maße zu Familientrennungen kommen wird. Der Grund für unsere Befürchtungen findet sich im Paragraphen 28 des Zuwanderungsgesetzes, der einerseits zu begrüßen ist, da er den Familiennachzug zu Deutschen ermöglicht, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Landsmannschaft ist mit diesem Paragraphen dennoch nicht einverstanden und macht sich für eine Regelung stark, die eine gleichzeitige Ausreise des Spätaussiedlers (gemäß § 4 Bundesvertriebenengesetz) und den Mitgliedern seiner Kernfamilie ermöglicht. Wir unternehmen alles in unserer Macht Stehende, damit die diesbezüglich anstehende Entscheidung der Innenministerkonferenz der Bundesländer zugunsten der Deutschen aus Russland ausfallen wird. Zum Glück haben wir in dieser Frage den Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung ebenso auf un- Rückkehr zur Akzeptanz der Spätaussiedler als serer Seite wie die Innenminister der meisten Bundeutsche Volkszugehörige trotz ihrer durch das desländer. schwere Schicksal der Eltern und Großeltern in den Herkunfts- und Verschleppungsgebieten be2. Ausreisepolitik dingten Besonderheiten in Sprache und Verhalten. - Für die Anerkennung der Spätaussiedler sind auf- Mit seiner Einführung am 1. Januar 2005 kam es grund dieser Tatsache einzig und allein die Ab- durch das Zuwanderungsgesetz für die Deutschen stammung und das Bekenntnis zum deutschen aus Russland zu den Benachteiligungen, vor denen Volkstum erforderlich. die Landsmannschaft gewarnt hatte. Neben den be- Wenn trotz ihrer Fragwürdigkeit an den so ge- reits erwähnten Familientrennungen aufgrund des nannten Sprachtests festgehalten wird, müssen nicht geregelten Zuzuges von Ehegatten und Absich diese an den Gegebenheiten sowohl bei den kömmlingen seien genannt: nur die Wahl zwischen Familientrennung und Beendigung der Ausreise nach Deutschland. Dass Familienangehörige, die den Sprachtest nicht bestanden haben, nach dem Ausländerrecht einreisen dürfen, legt ihren Status in unzulässiger Weise fest und verschärft zudem die Integrationsproblematik in den Kommunen. Es ist unbestritten, dass deutsche Sprachkenntnisse der Schlüssel zu einer besseren Integration sind. Es kann aber nicht sein, dass ausländische Zuwanderer die deutsche Sprache im Rahmen ihrer Integration erlernen dürfen, während bei Deutschen gemäß Art. 116 GG jeder für sich, also auch der nichtdeutsche Ehepartner, als Voraussetzung für die Einreise deutsche Sprachkenntnisse nachweisen muss. Deutsche Sprachkenntnisse dürfen auch nicht als Voraussetzung für die Anerkennung als Spätaussiedler missbraucht werden. Man sollte sich vielmehr an den konkreten Gegebenheiten und am Alter der Ausreisenden orientieren. Die russlanddeutsche Volksgruppe ist vor sechs Jahrzehnten zwischen die Mühlsteine des Zweiten Weltkrieges geraten und soll nun nach dem unsäglichen Leid dieser Jahre und den Diskriminierungen der Jahre danach durch die Einbindung in das Zuwanderungsgesetz ein weiteres Mal bestraft werden! In zahllosen Gesprächen und Stellungnahmen, in denen es neben der unzulässigen Einbeziehung der russlanddeutschen Spätaussiedler in das Zuwanderungsgesetz vor allem um die geplante Überbetonung von deutschen Sprachkenntnissen im Aufnahmeverfahren ging, wandte sich der Bundesvorstand der Landsmannschaft an den Bundespräsidenten, die Bundesregierung, die Ministerpräsidenten der Länder und weitere führende Politiker des Landes. Wir machten immer wieder darauf aufmerksam, dass es keiner weiteren Verschärfung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausreise von Spätaussiedlern bedürfe, und unterbreiteten eine Reihe von Lösungsvorschläge für eine bessere und vor allem humanere Aufnahmepraxis. Einige dieser Lösungsvorschläge seien in aller Kürze erwähnt:

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews - Schlechterstellung gegenüber anderen Zuwanderern, die in Deutschland die Möglichkeit haben, Deutsch zu lernen. - Keine Berücksichtigung von Randgruppen (Analphabeten, hohes Alter, Taubstumme usw.). - Keine Übergangsbestimmungen, wodurch einige Familien das zweite Mal in eine Gesetzesänderung fallen und die Welt nicht mehr verstehen. - Unzumutbare Härten, etwa wenn der Einbezogene mit der Auflösung des Haushaltes beschäftigt ist und die Bezugsperson verstirbt. Mehr als alles andere hat jedoch die Sprachprüfung zu dem drastischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen geführt, der durch eine Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern und die dort geleisteten Hilfen der Bundesregierung nur zu einem geringen Teil erklärt werden kann. In den ersten acht Monaten des Jahres 2006 gingen die Spätaussiedlerzahlen nämlich auf 4.453 zurück, was bei gleich bleibender Tendenz bedeutet, dass heuer nicht einmal 7.000 Spätaussiedler nach Deutschland kommen werden. Damit setzt sich der Rückgang der letzten Jahre (2002: 91.416; 2003: 72.885; 2004: 59.093; 2005: 35.522) mit erheblich gewachsener Geschwindigkeit fort. Die Landsmannschaft hat in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hingewiesen, dass der Verlust der deutschen Sprache ein wesentlicher Teil des kollektiven Kriegsfolgenschicksals ist, das den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor als einziger deutschen Volksgruppe aus den Ländern Ost- und Südosteuropas attestiert wird. Eine Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Aufnahmeverfahren ignoriert deshalb die Tatsache, dass die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion seit den Vertreibungsmaßnahmen meist verstreut und in einer ihnen feindlich gesinnten Umwelt leben, abgeschnitten vom deutschen Kulturraum, der Möglichkeit beraubt, gemeinsam als Volksgruppe ihr kulturelles Erbe zu pflegen, ihre Kinder in deutschsprachigen Schulen zu erziehen und ihren Glauben in der Muttersprache zu bekennen, Im Vorgriff auf weitere konkrete Lösungsansätze hat die Landsmannschaft deshalb u.a. immer wieder vorgeschlagen, für Spätaussiedler sofort nach ihrer Ankunft in Friedland Sprachkurse einzurichten, deren Dauer bei etwa sechs Monaten liegen sollte. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass Sprachkurse in den Herkunftsländern mit immer größer werdenden Problemen verbunden sind. Für viele stellen vor allem die gewaltigen Entfernungen der Sprachkursstätten ein unüberwindliches Hindernis dar; verschärft wird die Situation zahlreicher Ausreisewilliger durch ihre zunehmende Isolation und Vereinsamung als Deutsche in fremder Umgebung nach der Ausreisewelle der letzten eineinhalb Jahrzehnte.

Bei aller Kritik an unnötigen Hindernissen, die der Ausreise unserer Landsleute in den Weg gestellt werden, sollte jedoch vor allem eines nicht vergessen werden: Dank der Landsmannschaft ist es bis zum heutigen Tag bei der Anerkennung des kollektiven Kriegsfolgenschicksals durch die Parteien des Deutschen Bundestages und sämtliche Länderregierungen geblieben. Ohne diese Anerkennung hätten in den letzten Jahren Hunderttausende von Deutschen aus der GUS nicht nach Deutschland ausreisen dürfen. Wir wissen, dass für die Deutschen aus Polen und Rumänien die Aberkennung des kollektiven Kriegsfolgenschicksals gleichbedeutend war mit einer Beendigung der Ausreise nach Deutschland.

3. Integrationspolitik Über die alltägliche und durch nichts zu ersetzende Integrationsarbeit unserer ehren- und hauptamtlichen Kräfte auf Orts-, Landes- und Bundesebene hinaus haben wir uns in den letzten Monaten an den Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, mit einer Reihe von Vorschlägen gewandt, die sich nach unserer Auffassung auch ohne größeren personellen und finanziellen Aufwand realisieren ließen: - Für besonders wichtig halten wir die Benennung von Aussiedlerbeauftragten in den einzelnen Bundesländern, speziell in den neuen Bundesländern, wo sich die Probleme, denen sich unsere Landsleute vor allem in den ersten Jahren nach ihrer Einreise gegenüber sehen, aus bekannten Gründen gravierender auswirken als im Westen der Bundesrepublik. Gerade dort wäre es also für sie wichtig, einen zentralen Ansprechpartner und Interessenvertreter in Gestalt eines Aussiedlerbeauftragten des jeweiligen Bundeslandes zu haben. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass sich die Institution eines Aussiedlerbeauftragten in den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen sehr positiv auf die Integrationsarbeit für Spätaussiedler ausgewirkt hat. In allen diesen Bundesländern bestehen regelmäßige Kontakte zwischen den Aussiedlerbeauftragten und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die für beide Seiten von sehr großem Nutzen waren und sind. - Um einen möglichst hohen Integrationserfolg zu gewährleisten, halten wir es darüber hinaus für nützlich, in den einzelnen Bundesländern hauptamtlich tätige Landsleute einzusetzen, die als Schaltstellen zwischen den Bedürfnissen der russlanddeutschen Aussiedler und Spätaussiedler, ihrer Landsmannschaft, den jeweiligen Länderregierungen sowie den auf Länder- und Kommunalebene installierten Netzwerken für Integration fungieren

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews insgesamt 108 ehrenamtliche Betreuer unserer Orsollen. ganisation in 75 Beratungsstellen im Einsatz, die - Des Weiteren haben wir darauf hingewiesen, dass in 33.919 Stunden 44.817 Personen betreuten. in der Integrationspraxis allzu selten auf das von Ohne die Landsmannschaft wären die meisten dieder Landsmannschaft favorisierte „Huckepackser Personen auf sich allein gestellt gewesen. System“ zurückgegriffen wird, das eine Kombination der Kenntnisse und Erfahrungen einheimi- - Gerade in Problem- und Härtefällen war die Landsmannschaft besonders erfolgreich. Als scher Sozialarbeiter mit denjenigen russlanddeutGründe für diesen Erfolg seien genannt: - Unsere scher Spezialisten vorsieht. Die Erfolge in Orten, Berater und Betreuer haben in den meisten Fällen in denen dieses System praktiziert wird, sprechen ein ähnliches Schicksal wie die gegenwärtig Beeine eindeutige Sprache. treuten hinter sich und sind daher in besonderem Eine Integrationspolitik im Spätaussiedlerbereich hat Maße motiviert und engagiert. - In regelmäßigen nach unserer Auffassung also nur dann Erfolg, wenn Schulungen der Landsmannschaft auf Orts-, Lansie nicht nur für Spätaussiedler durchgeführt wird, des- und Bundesebene wird ihnen das Spezialwissondern auch mit ihnen. sen vermittelt, das sie für ihre Arbeit benötigen. Unsere Betreuer beherrschen sowohl die deutsche 4. Sozialbereich als auch die russische Sprache. - Und nicht zuletzt fällt es ihnen erheblich leichter als einheimischen Unvermindert im Zentrum der landsmannschaftliSozialbetreuern und –arbeitern, zu den Spätauschen Arbeit steht der Bereich der sozialen Beratung siedlern ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. und Betreuung. Wir begrüßen es deshalb sehr, dass uns nach dem Zurückfahren der Mittel im Jahr 2005 - Die Aufwandsentschädigung für eine Beratungsstunde eines ehrenamtlichen landsmannschaftlifür dieses Jahr Erhöhungen im Bereich der Ehrenchen Mitarbeiters belief sich 2003 auf 2,57 Euro. amtlichkeit in Aussicht gestellt wurden. InsbesondeDieser Betrag lag deutlich unter den Werten der re sind wir froh darüber, erreicht zu haben, dass es Vorjahre und noch erheblich deutlicher unter dem, bei der Aufwandsentschädigung von 250 Euro für was vergleichbare Organisationen für ihre Beraehrenamtliche Mitarbeiter mit jährlich mehr als 100 tungs- und Betreuungsarbeit benötigten. Unser BeBetreuungsstunden bleibt (wir hoffen darüber hinaus, treuer haben sich noch nie darüber beklagt, dass dass man unserem Vorschlag folgen wird, der eine diese 2,57 Euro natürlich bei weitem nicht ihre Staffelung der Aufwandsentschädigung entsprechend wirklichen Kosten decken und sie nicht nur ihre der Anzahl der Betreuungsstunden vorsieht). GeförZeit und ihre Kraft für ihre Landsleute opfern, dert werden außerdem die landsmannschaftlichen sondern auch durch die Zuschüsse nicht gedeckte Sozialreferententagungen (MultiplikatorenschulunBeträge aus dem eigenen Geldbeutel begleichen. gen), die es uns ermöglichen werden, unsere MitarMit der jetzigen Regelung ist jedoch die Schmerzbeiter umfassend und sachgerecht zu informieren. grenze überschritten. Unsere ehrenamtlichen SoziEs sei in dieser Angelegenheit erwähnt, dass in der albetreuer, die in der Regel ganz gewiss nicht zu ursprünglich vorgesehenen Neustrukturierung der soden Großverdienern gehören, werden gezwungen zialen Beratung und Betreuung durch das Bundesmisein, ihr Engagement zu beenden und ihre Landsnisterium des Innern die ehrenamtliche Arbeit der leute, die erst jetzt nach Deutschland kommen dürLandsmannschaft nicht berücktsichtigt war und es fen, ihrem Schicksal zu überlassen. erheblicher Interventionen von unserer Seite bedurfte, den uns betreffenden Teil der Neustrukturierung Obwohl es also in diesem Jahr zu gewissen Verbeswieder rückgängig zu machen. Unsere Argumente, serungen im Sozialbereich gekommen ist – für deren die gleichzeitig den Kern der landsmannschaftlichen Verwirklichung sich im Übrigen auch BundesinnenSozialarbeit darstellen, fassten wir in einem Brief an minister Dr. Wolfgang Schäuble eingesetzt hat -, beDr. Gerold Lehnguth, Ministerialdirektor im Bundes- fürchten wir, dass diese Verbesserungen nicht ausreiministerium des Innern, zusammen. Daraus einige chen werden, um die anstehenden Aufgaben in angemessener Weise bewältigen zu können. Die SchwieStichpunkte: - Nach der geplanten Neustrukturierung lässt sich rigkeiten, die in den letzten Jahren nach einigen polidie erfolgreiche ehrenamtliche Sozialarbeit der tischen und behördlichen Entscheidungen entstanden Landsmannschaft keinesfalls mehr im bisherigen sind, werden wir nur meistern können, wenn wir an Umfang fortführen, mit der wir eine gesamtgesell- einem Strang ziehen. schaftliche Aufgabe von nicht zu unterschützender In erster Linie sehen wir die landsmannschaftliche Bedeutung erfüllen und die Integrationschancen Sozialarbeit durch die Neukonzeption der Migratider Aussiedler und Spätaussiedler aus der ehema- onserstberatung gefährdet. Durch die veränderte Formulierung des Anforderungsprofils der hauptamtliligen Sowjetunion deutlich verbessert konnten - Nach den uns vorliegenden Zahlen waren 2003 chen Mitarbeiter im Integrationsbereich werden die 115

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews speziellen Qualifikationen unserer Mitarbeiter nicht mehr anerkannt bzw. abgewertet. Dabei hat sich in unzähligen Fällen gezeigt, dass die Mitarbeiter der Landsmannschaft, die nicht nur im linguistischen Sinne die Sprache der Spätaussiedler sprechen, für die Betreuung der betroffenen Personengruppe geeigneter sind als einheimische Sozialarbeiter. Näheres zum Sozialbereich entnehmen Sie bitte dem Bericht des Sozialausschusses, in dem Sie auch über die geplanten Maßnahmen der Landsmannschaft angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2006 zur Rentenfrage für Spätaussiedler informiert werden.

5. Kulturbereich Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat ihre Kulturarbeit stets in erster Linie als Beitrag zur Festigung bzw. Wiedergewinnung der kulturellen Identität der Mitglieder einer Volksgruppe verstanden, die nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung orientierungslos geworden ist. Es sind ganz gewiss Menschen, die es verdient haben, hierher nach Deutschland zu kommen und gemäß ihrer rechtlichen Position gefördert zu werden – auch und vor allem auf kulturellem Gebiet, um die Ausprägung bzw. Wiedererlangung eines stimmigen Selbstbildes zu erleichtern. Nachdem wir bis in die 90er Jahre hinein mit hauptamtlich tätigen landsmannschaftlichen Kulturreferenten sehr gute und anspruchsvolle Arbeit zum Erhalt und zur Pflege des Kulturgutes der Russlanddeutschen durchführen und allgemein anerkannte Initiativen auf dem Gebiet der kulturellen Breitenarbeit auf die Beine stellen konnten, waren wir nach der Streichung dieser Stellen im Zuge der Neuorientierung der Kulturpolitik des Bundes gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz nicht mehr in der Lage, diese Arbeit sinnvoll fortzuführen. Diese Misere lässt sich leicht mit einigen Zahlen illustrieren: Standen im Jahr 1998 noch umgerechnet 23,5 Millionen Euro für die Kulturarbeit der Vertriebenen und Aussiedler zur Verfügung, so wurde dieser Betrag schrittweise auf nur mehr 12,9 Millionen Euro im Bundeshaushalt des Jahres 2004 reduziert. Das entspricht einer Kürzung von 45 Prozent innerhalb von sechs Jahren. Trotz dieser finanziellen Einschnitte ist es der Landsmannschaft dank des vorbildlichen Einsatzes ihrer ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter gelungen, ihre Kulturarbeit zu intensivieren. Ohne ein Mindestmaß an öffentlicher finanzieller Förderung lässt sich jedoch kaum eine Kulturmaßnahme der Landsmannschaft realisieren. Nach Jahren einer gewissen Stagnation haben uns zwei Ereignisse in diesem Jahr Mut gemacht, eine

Wiederbelebung der landsmannschaftlichen Kulturarbeit auf höherer Ebene in Angriff zu nehmen: Zum einen war es das Ergebnis eines Gespräches, das Dr. Christoph Bergner im Februar mit der Gruppe der „Vertriebenen, Flüchtlinge und Spätaussiedler“ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und deren Vorsitzendem Jochen-Konrad Fromme geführt hat. Dabei wurde ausgeführt, dass es zu einer Weiterentwicklung im Bereich der Kulturarbeit nach § 96 Bundesvertriebenengesetz kommen soll, wobei alle Aspekte der Kulturförderung in den Blick genommen werden, Zum anderen haben wir sehr viel Hoffnung aus einem Gespräch mit Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble im März mitgenommen, der dabei sein Erstaunen zum Ausdruck brachte, dass eine Volksgruppe wie die Deutschen aus Russland, von denen inzwischen beinahe 3 Millionen im Bundesgebiet leben, ohne hauptamtliche Kulturreferenten geblieben ist. Um also wieder ein Niveau zu erlangen, das der reichen Kultur einer Volksgruppe gerecht wird, die diese Kultur in Jahrzehnten der Verfolgung in der ehemaligen Sowjetunion bewahrt hat, haben wir die Einstellung hauptamtlicher Kulturreferenten beantragt, deren breit gefächerter Arbeitsbereich die folgenden Aufgaben beinhalten würde: - Koordination der ehrenamlichen Kulturarbeit in den rund 150 Orts- und Kreisgruppen der Landsmannschaft und Ausbildung der dortigen Mitarbeiter. - Aufbau eines Archivs und eines Museums, in denen die Kulturgeschichte der Russlanddeutschen umfassend und für die Öffentlichkeit zugänglich dargestellt wird. - Verfassen von Publikationen zur Kulturgeschichte der Russlanddeutschen, die Wissenschaftlern wie Laien einen wichtigen, aber bisher weitgehend vernachlässigten Teil der deutschen Geschichte näher bringen würden. - Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen und anderen Einrichtungen, die sich im In- und Ausland mit der Geschichte der Russlanddeutschen beschäftigen. - Aufbau von kulturellen Einrichtungen zur Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen in Deutschland und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. - Vorbereitung und Durchführung von landsmannschaftlichen Maßnahmen der kulturellen Breitenarbeit auf allen Ebenen. - Einbindung von auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet tätigen und erfolgreichen Landsleuten in die Arbeit der Landsmannschaft. - Schließlich als generelles Ziel: Unterstützung der Deutschen aus Russland bei der Wiederherstellung

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews ihrer kulturellen Identität, die in den Jahren der Verfolgung beschädigt bzw. zerstört wurde. Ich konnte unser Modell zum Ausbau der landsmannschaftlichen Kulturarbeit in Stellungnahmen und Gesprächen sowohl dem Bund der Vertriebenen als auch Kulturstaatsminister Bernd Neumann vorstellen. Weit mehr als nur ein Nebenprodukt der Arbeit von hauptamtlichen Kulturreferenten der Landsmannschaft ist nach unserer Auffassung die Stärkung unserer Organisation. Denn nur eine starke Landsmannschaft kann eine wirklich effektive Integrationsarbeit zum Wohle ihrer Mitglieder und aller Deutschen aus Russland durchführen. Wir können deshalb stolz darauf sein, dass es uns noch für dieses Jahr gelungen ist, die Finanzierung von zwei bundesweiten Kulturreferententagungen zu sichern, die sich hauptsächlich mit kultureller Breitenarbeit in den Orts- und Landesgruppen der Landsmannschaft befassen.

6. Kirchen Seit ihrer Gründung im April 1950, an der Vertreter der Protestanten, Katholiken, Mennoniten und Baptisten in maßgeblicher Weise beteiligt waren, arbeitet die Landsmannschaft eng mit den Kirchen zusammen. Nachdem die Einzelheiten der Zusammenarbeit zwischen der Landsmannschaft und der Aussiedlerseelsorge der Evangelischen Kirche in Deutschland bereits bei einem Treffen im Mai 2003 in einer gemeinsamen Erklärung festgehalten worden waren, trafen sich Mitglieder des Bundesvorstandes im Dezember 2004 mit Weihbischof Gerhard Pieschl und dem Leiter der Arbeitsstelle Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, Franz M. Herzog, um die Grundzüge einer gemeinsamen Vorgehensweise im Spätaussiedlerbereich der Landsmannschaft und der Katholischen Kirche zu besprechen. Dabei wurde insbesondere betont, dass sich zur Förderung des Heimischwerdens der Spätaussiedler die Aussiedlerarbeit und die Aussiedlerseelsorge in besonderer Weise an deren Lebens- und Glaubenssituation zu orientieren hätten. Dabei müsse berücksichtigt werden, dass viele Spätaussiedler in der für sie fremden Umwelt zunächst zurückhaltend und befangen seien, weshalb der Weg zur neuen Heimat und zum kirchlichen Leben in dieser neuen Heimat über den persönlichen Kontakt führe. In personeller Hinsicht mussten wir den Rücktritt des stellvertretenden Bundesvorsitzenden Waldemar Neumann hinnehmen, der bisher innerhalb des Bundesvorstandes für den Kontakt zur Evangelischen Kirche zuständig war. Wir sind gegenwärtig dabei, eine befriedigende Nachfolgeregelung zu finden.

Genauso schwer traf uns das Ausscheiden aus dem Amt des langjährigen Beauftragten der Bischofskonferenz für die katholischen Deutschen aus Russland und anderen GUS-Staaten, Pater Eugen Reinhardt. Zwar werden die Aufgaben eines Aussiedlerbeauftragten der Katholischen Kirche gegenwärtig durch hochrangige Persönlichkeiten kommissarisch wahrgenommen (Weihbischof Gerhard Pieschl und Franz M. Herzog), doch setzen wir uns dafür ein, dass die Katholische Kirche einen Geistlichen aus den Reihen unserer Volksgruppe zum Nachfolger von Pater Reinhardt als Aussiedlerbeauftragter beruft. Erwähnt sei außerdem, dass ich Mitglied des Arbeitskreises „Spätaussiedler“ der Bischofskonferenz bin und wir mit dem ehemaligen Bundesvorstandsmitglied Magdalena Merdian eine offizielle Verbindungsperson zur Katholischen Kirche benannt haben. In regelmäßigem Kontakt stehen wir zum Aussiedlerbetreuungsdienst der Mennonitischen Gemeinden in Deutschland mit den Pastoren Hans Freiherr von Niessen und Hermann Heidebrecht in führenden Positionen. Erst vor wenigen Wochen waren die Teilnehmer der Feierstunde zum Gedenktag der Russlanddeutschen in Stuttgart-Bad Cannstatt Zeugen der bewegenden Worte, die Pastor von Niessen bei der Totenehrung sprach. Einen weiteren Ausbau der Beziehungen streben wir mit der Bapistischen Kirche an, als deren Vertreter Pastor Otto Penno Mitglied des Bundesvorstandes in den Jahren 2000 bis 2003 war.

7. Jugend Um die Jugendarbeit der Landsmannschaft wieder auf ein festes Fundament zu stellen, besetzten wir im Februar 2004 den Posten einer Bundesreferentin für Jugendarbeit mit Frau Dr. Ludmilla Kopp, die ihr Konzept bei einer Mitarbeitertagung der Landsmannschaft sowie bei einer Besprechung mit dem damaligen Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Jochen Welt, vorstellte und für das Jugendprogramm beim Bundestreffen 2004 in Karlsruhe zuständig war. Unsere Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wird vorwiegend auf lokaler Ebene, in den Orts- und Kreisgruppe durchgeführt. Die Schwerpunkte setzen wir auf die Bereiche Kultur (Tanz, Gesang, Theater), Sprachförderung und Sport. Besonders aktiv auf Landesebene waren Hessen (Multiplikatorenschulungen, Festival, Jugendbroschüre), Nordrhein-Westfalen (Jugendkulturfeste) und Baden-Württemberg (Jugendbroschüre, zwei Integrationstreffen). Hinzu kamen Schulungen für Jugendleiter, die bundesweit und regional durchgeführt wurden, sowie zahlreiche Zusammenkünfte, die dem Informationsaustausch dienten, und ein Jugendsymposium im Oktober 2005

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews in Leipzig. Unterstützung für unsere Jugendarbeit erhielten wir von zahllosen ehrenamtlichen Mitarbeitern in unseren Orts- und Kreisgruppen, aber auch von den Leitern der landsmannschaftlichen Integrationsprojekte. Als Beispiele will ich nennen: - Sportaktivitäten in Rosenheim und im Ortenaukreis (Hermann Hoppe, Georg Stößel, Olga Bonet); - Theater und Musik in Nürnberg (Dorothea Walter); - erlebnispädagogische Aktivitäten in NordrheinWestfalen (Theodor Thyssen); - Landeskunde für Neuangekommene im Großraum München (Eugen Häußer); - Arbeit in Brennpunkten und aufsuchende Betreuung in Straubing (Eduard Neuberger). Gegenwärtig wird die Jugendarbeit innerhalb der Landsmannschaft vor allem von Erwachsenen geleitet. Nur selten agieren die Jugendgruppen selbständig; eine Gruppe wie die der „Jungen Deutschen aus Russland“ in Dortmund (Leiterin Eleonora Faust) bildet hier eher die Ausnahme. Die Aufgabe, die Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Jugendlichen zu fördern und ihnen Grundwissen und Erfahrungen der Jugendverbandsarbeit zu vermitteln, lässt sich nach unserer Auffassung nur in Zusammenarbeit mit einem bestehenden Jugendverband lösen. In diesem Zusammenhang ist das Kooperationsabkommen zu sehen, das wir im September 2005 mit der djoDeutsche Jugend in Europa abgeschlossen haben. Die djo erfüllt unsere sämtlichen Anforderungen an einen Kooperationspartner, denn sie war ursprünglich als Dachverband für landsmannschaftliche Jugendverbände gegründet worden, ist anerkannter Träger der Jugendhilfe und verfügt über fundierte Erfahrungen im Bereich Integration.

8. Öffentlichkeitsarbeit Bei allen unseren Stellungnahmen der letzten Zeit haben wir zum Ausdruck gebracht, dass es nach Auffassung der Landsmannschaft nur bedingt effektiv ist, über Verbesserungen bei der Integration von Deutschen aus Russland nachzudenken und zu beraten, solange das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihnen macht, durch die einseitige und negative Berichterstattung in den Medien beeinflusst wird. Wir haben deshalb die folgenden Maßnahmen vorgeschlagen, die zum Teil bereits verwirklicht worden sind: - Weiterer Ausbau der Wanderausstellung „Volk auf dem Weg. Geschichte und Gegenwart der Deutschen aus Russland“, mit deren Hilfe wir breite Bevölkerungsschichten erreichen können. Erfreuerlicherweise wurde uns in Aussicht gestellt, dass

die Ausstellung, die in sechs identischen Fassungen gezeigt wird, um einige Tafeln erweitert und ab dem nächsten Jahr von einem weiteren Projektleiter der Landsmannschaft betreut wird. Außerdem wird der Ausstellungskatalog in ergänzter Fassung neu aufgelegt. - Unmittelbare Reaktion von politisch Verantwortlichen auf unhaltbare Äußerungen über Spätaussiedler. Es darf nicht sein, dass – aus welchen Gründen auch immer – das Thema „Spätaussiedler“ tabuisiert und seine Behandlung tendenziöser Berichterstattung überlassen wird. In dieser Hinsicht verdient der Artikel „Verantwortung für die Schicksalsgemeinschaft“ von Dr. Bergner, der in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ im Juli 2006 veröffentlicht wurde, besondere Erwähnung. - Behandlung des Themas „Russlanddeutsche/Deutsche aus Russland“ als selbstverständlicher Bestandteil des Lehrplans deutscher Schulen. - Finanzielle und evtl. auch institutionelle bzw. personelle Unterstützung der Presse- und Informationsarbeit der Landsmannschaft, um die Integrationsprobleme sowie die Ansätze zu ihrer Lösung auf breiterer Grundlage in kompetenter Weise in die Öffentlichkeit bringen zu können. Damit könnte auch der Tendenz russischsprachiger Presseorgane entgegengewirkt werden können, Spätaussiedler auf eine Politik einzuschwören, die den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft widersprechen. - Fortsetzung und Ausbau der Förderung von kulturellen, Geschichts- und Informationsbroschüren im Aussiedlerbereich sowie Unterstützung bei der Herstellung und Verbreitung unmittelbar landsmannschaftlicher Publikationen, vor allem des Vereinsblattes „Volk auf dem Weg“. Als größeren Erfolg können wir die Neuauflage der Broschüre „Zwischen den Kulturen“ betrachten, die mit Mitteln des Bundesinnenministeriums noch in diesem Jahr erscheinen wird. Auch wenn die Zeiten schwerer geworden sind, haben wir keinen Grund, uns mit unseren Aktivitäten der letzten Monate und Jahre, von denen die wichtigsten genannt seien, zu verstecken: - 28. Bundestreffen: Unter dem Motto „Integration und Akzeptanz“ versammelten sich am 12. Juni 2004 rund 15.000 Besucher in Karlsruhe zum 28. Bundestreffen der Landsmannschaft, das zu einer friedlichen Demonstration der Einigkeit der Deutschen aus Russland wurde. - Feiern zum Gedenken an die Opfer der Vertreibung: Mit Gedenkfeiern im würdigen Rahmen setzte die Landsmannschaft in Wiesbaden (2004), Augsburg (2005) und Stuttgart-Bad Cannstatt (2006) ihre Bestrebungen fort, die bundesdeutsche Öffentlichkeit im Zusammenhang mit den Ereig-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

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nissen des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 auf das tragische Schicksal der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion aufmerksam zu machen. Die Bedeutung der Veranstaltung wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme von Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble, des baden-württembergischen Innenministers Heribert Rech und der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, unterstrichen. Auswanderungsjubiläen: Mit Feiern in Stuttgart und Wiesbaden gedachten wir des 200-jährigen Auswanderungsjubiläum der Schwarzmeerdeutschen und des 240-jährigen Auswanderungsjubiläum der Wolgadeutschen. Diese Feiern wurden ergänzt durch eine Ausstellung zur schwarzmeerdeutschen Thematik, die unter der Leitung von Dr. Alfred Eisfeld in den Räumlichkeiten der Bundesgeschäftsstelle der Landsmannschaft in Stuttgart aufgebaut wurde. Russlanddeutscher Kulturpreis: Nach wie vor wird alle zwei Jahre im Weißen Saal des Neuen Schlosses zu Stuttgart der Russlanddeutsche Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg verliehen. Zentrum gegen Vertreibungen: Im Rahmen der Ausstellung „Erzwungene Wege“ des Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin fand am 28. August 2006 eine Veranstaltung statt, die ausschließlich dem Schicksal der Russlanddeutschen gewidmet war. Während ich mich in meinem Referat mit der Nachkriegsgeschichte der Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik befasste, ging Dr. Alfred Eisfeld auf die über 200-jährige Geschichte der Volksgruppe ein. Im Übrigen will ich erwähnen, dass es nicht zuletzt einer Intervention der Landsmannschaft zu verdanken war, dass die Vertreibungsgeschichte der Russlanddeutschen in die Ausstellung aufgenommen wurde. Landsmannschaftliche Veranstaltungen: Auf Bundesebene führten wir die folgenden Tagungen durch: Mitarbeitertagungen im Februar 2004, im November 2005 und im Juni 2006; Sozialreferententagungen im März 2004 und im April 2004; eine Kulturreferententagung im November 2004. Diese Tagungen wurden ergänzt durch eine große Anzahl von Tagungen, Seminaren und Schulungen auf Landes- und Ortsebene. Weit über den Rahmen dieses Berichts hinaus würde die Aufzählung von Jubliäums- und sonstigen Feiern in den Ortsgruppen sowie der Veranstaltungen im Rahmen der landsmannschaftlichen Wanderausstellung gehen. Anerkennung hat an dieser Stelle das Engagement der Landesgruppe Niedersachsen verdient,

die im August 2006 in Hannover ihr 8. Landestreffen veranstaltete. Für dieses Jahr ist es uns gelungen, die Finanzierung von zwei Multiplikatorenschulungen für ehrenamtliche Berater und Betreuer und von zwei Kulturtagungen zu sichern, die jeweils an zwei Tagen im Oktober und November stattfinden werden bzw. bereits stattgefunden haben. - „Volk auf dem Weg“: Seit einem guten halben Jahr erscheint die Vereinszeitschrift der Landsmannschaft durchgängig in Farbe und mit deutlich erweitertem Umfang. - Publikationen: Neben den alljährlich erscheinenden Heimatbüchern konnten wir Broschüren zur Geschichte der Schwarzmeerdeutschen und Wolgadeutschen sowie Integrationsbroschüren in Baden-Württemberg und Hessen herausbringen. Selbstkritisch sollten wir allerdings anmerken, dass offizielle Zusammenkünfte des Öffentlichkeitsausschusses in letzter Zeit nicht stattgefunden haben. Dem steht jedoch eine große Anzahl von Aktionen gegenüber, die unsere Arbeit vorangebracht haben: - So hat eine Bestandsaufnahme ergeben, dass wir uns in den letzten Monaten mit weit mehr als 100 offiziellen Briefen an führende Vertreter von Politik und Öffentlichkeit gewandt haben; dazu kommen Dutzende von Reden und Stellungnahmen, in denen ich allein oder gemeinsam mit Vertretern des Bundesvorstandes bzw. der Bundesgeschäftsstelle auf aktuelle Probleme unserer Volksgruppe eingegangen bin. In vielen Fällen hat uns der briefliche Kontakt zu führenden Politikern den Weg zu weiterführenden und fruchtbaren Gesprächen geebnet. - Auf negative Äußerungen über die Volksgruppe, sei es in den Medien oder vonseiten der Politik, sowie Maßnahmen, die ihr schaden, reagieren wir inzwischen rascher und deutlicher als in der Vergangenheit. Themen, mit denen wir uns dabei immer wieder auseinander zu setzen hatten, waren vor allem die sinkende Akzeptanz unserer Landsleute in der deutschen Öffentlichkeit, die mangelhafte Vertretung unserer Interessen durch die zuständigen Politiker sowie zunehmende Streichungen von öffentlichen Mitteln im Integrationsbereich. Um diesem Absinken der Akzeptanz entgegenzusteuern, habe ich in zahlreichen Reden, Stellungnahmen und Briefen immer wieder die positiven Aspekte der Rückwanderung unserer Landsleute betont, und zwar: Mit den Spätaussiedlern kommen Menschen nach Deutschland, die aufgrund ihrer günstigen Altersstruktur für eine vergreisende Bundesrepublik nur von Nutzen sein können. Aufgrund dieser günstigen Alterstruktur und ihrer Bereitschaft, praktisch jede Arbeit anzunehmen,

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews zahlen sie in die Kassen der Renten- und Sozialversicherungen erheblich mehr ein, als sie diesen entnehmen. Sie sind also auch in finanzieller Hinsicht ein Gewinn für das Land und haben ihren Teil zur Sanierung strukturschwacher Gebiete beigetragen. Es sind Menschen, die besonders auf künstlerischem und sportlichem Gebiet weit Überdurchschnittliches leisten. (Eine Liste mit Namen von Deutschen aus Russland, die sich in dieser Hinsicht ausgezeichnet haben, wurde von unseren Mitarbeitern in diesen Tagen dem Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung übergeben.) In ihrer Gesamtheit kann die Integration der Deutschen aus Russland als vorbildlicher Erfolg bezeichnet werden. Integrationsschwierigkeiten sind vorübergehender Natur und spielen allerspätestens in der zweiten Generation keine Rolle mehr. - Reden bei regionalen und überregionalen Veranstaltungen, bei Feiern im Rahmen der Präsentation der landsmannschaftlichen Wanderausstellung sowie bei wissenschaftlichen Tagungen haben mir zudem die Gelegenheit geboten, die Problemlage unserer Volksgruppe einem größeren Kreis von Zuhörern zugänglich zu machen. - Um unsere Öffentlichkeitsarbeit noch effektiver als bisher zu gestalten, muss es uns sobald als möglich gelingen, erheblich mehr Mitglieder in diese Arbeit mit einzubeziehen. Gemeinsam mit unserem Bundesgeschäftsführer Alexander Rack sind wir gegenwärtig dabei, Strukturen zu entwickeln, die es uns ermöglichen werden, dieses Ziel

zu erreichen. Bloße Willenserklärungen, denen keine Taten folgen, helfen uns allerdings nichts. Die vielfältigen Aufgaben, die vor uns liegen, werden wir nur lösen können, wenn wir wieder zu der Solidarität zurückfinden, die unsere Landsmannschaft stark gemacht und ihren Bestand über 56 Jahre hinweg gesichert hat, und wenn wir unserer Volksgruppe den Platz in der deutschen Gesellschaft sichern, den sie sich verdient hat. Ich will deshalb meinen Bericht mit den Worten schließen, die ich auch an das Ende meiner Ansprache anlässlich der Feierstunde beim Landestreffen Niedersachsen am 19. August 2006 gestellt habe: Meine Landsleute rufe ich dazu auf, mit ihrem Beitritt die Arbeit ihrer Landsmannschaft zu unterstützen. In gleicher Weise empfehle ich ihnen, sich selbstbewusster und aktiver an der Arbeit in einheimischen Vereinen und Organisationen, in Kirchen und Parteien zu beteiligen. An die alteingesessene Bevölkerung appelliere ich, Menschen, die erst jetzt aus der GUS nach Deutschland kommen durften, mit mehr Verständnis zu begegnen. Die Medien fordere ich zur fairen Berichterstattung auf. Und von den politisch Verantwortlichen in diesem Lande erhoffe ich mir, dass sie für die Deutschen aus Russland die Rahmenbedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen, sich hier wirklich zu Hause zu fühlen.

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Oktober 2006

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Bundesdelegiertenversammlung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Adolf Fetsch als Bundesvorsitzender wieder gewählt ber einhundert Vertreter der landsmannschaftlichen Orts-, Kreis- und Landesgruppen beteiligten sich an der Bundesdelegiertenversammlung der Landsmannschaft, die am 11. und 12. November im TelekomHotel in Stuttgart stattfand. Bei den Neuwahlen des Bundesvorstandes wurde Adolf Fetsch (Bayern) in seinem Amt als Bundesvorsitzender bestätigt. Unter der straffen Leitung von Waldemar Axt (Bayern) wurde die Delegiertenversammlung nach Klärung der satzungsgemäßen Regularien mit den Berichten des Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch und des Bundesgeschäftsführers Alexander Rack eröffnet.

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Kontinuität und Verlässlichkeit

Der neue Bundesvorstand der Landsmannschaft (von links): Waldemar Axt (Stellvertreter), Adolf Braun (Stellvertreter), Leontine Wacker (Stellvertreterin), Adolf Fetsch (Bundesvorsitzender), Lilli Bischoff, Dr. Arthur Bechert und Dr. Andreas Keller.

Adolf Fetsch brachte in seinem Bericht zunächst seinen Stolz darüber zum Ausdruck, dass man es in gemeinsamer Anstrengung geschafft habe, die Landsmannschaft nach den finanziellen Problemen, die vor fünf Jahren aufgetaucht waren, zu sanieren und wieder auf Kurs zu bringen. Der Bundesvorstand und seine Mitstreiter in den landsmannschaftlichen Gliederungen hätten es jedoch nicht nur geschafft, größeren finanziellen Schaden abzuwenden, man habe es vielmehr darüber hinaus erreicht, mit einer Politik, die vor allem auf Sachlichkeit und Kompetenz setze, bei allen politisch Verantwortlichen in diesem Land als einzige Interessenvertreterin der Deutschen aus Russland akzeptiert und geachtet zu werden. Mit einer Politik der kleinen Schritte und der Beharrlichkeit habe man weitaus mehr durchgesetzt, als nach realistischer Einschätzung der Lage im Vertriebenen- und Aussiedlerbereich zu erwarten gewesen wäre. Vor allem sei es gelungen, die Anerkennung des kollektiven Kriegsfolgenschicksals der Russlanddeutschen zu erhalten, das Grundlage für die Ausreise von Deutschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ist. Mit unermüdlichem Einsatz

sei es außerdem gelungen, die Sozialarbeit trotz gegenläufiger Tendenzen der Bundespolitik am Leben zu erhalten. Nicht zuletzt dank der konstruktiven Zusammenarbeit mit der gegenwärtigen Bundesregierung und ihrem Aussiedlerbeauftragten Dr. Christoph Bergner könne man schließlich auch in den Bereichen Integrationspolitik, Kultur, Öffentlichkeitsarbeit und Jugend zuversichtlich nach vorne blicken.

Optimistisch in die Zukunft Im Bericht der Bundesgeschäftsstelle musste Alexander Rack zwar einräumen, dass es nach wie vor nicht gelungen sei, den Mitgliederschwund der Landsmannschaft zu stoppen. Er warnte jedoch nachdrücklich vor dem unverantwortlichen Pessimismus einiger Landsleute, die - aus welcher Motivation auch immer! - vom baldigen Ende der Landsmannschaft reden. Er setzte diesem Pessimismus seine unerschütterliche Überzeugung entgegen, dass es für die Landsmannschaft eine Zukunft gebe. Die über zweieinhalb Millionen Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik würden ein lebendiges Potential darstellen,

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews um das uns alle anderen Landsmannschaften beneideten. Es liege nur an uns, die richtigen Mittel und Wege zu finden, dieses Potential auszuschöpfen. Wir hätten, so Rack, unsere Zukunft selbst in der Hand, und es hänge von unserem Einsatz, unserem Gemeinschaftsgeist und unserer Begeisterungsfähigkeit ab, wie viele Landsleute wir für die Landsmannschaft gewinnen könnten. Bei allen unseren Bemühungen dürften wir niemals vergessen, dass die Landsmannschaft kein x-beliebiger Verein sei. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland sei ganz im Gegenteil eine Schicksalsgemeinschaft, eine Organisation, der anzugehören für jedes Mitglied eine Ehre sein sollte.

Neuwahlen Von teilweise recht heftigen Auseinandersetzungen und Wortgefechten begleitet waren die Neuwahlen zum Bundesvorstand der Landsmannschaft. Bei der Wahl zum Bundesvorsitzenden kam es - für einige vielleicht überraschend - zu einer Kampfabstimmung zwischen dem amtierenden Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch und seinem bisherigen Stellvertreter Dr. Arthur Bechert (Bayern). In geheimer Abstimmung setzte sich Adolf Fetsch mit 80 gegen 34 Stimmen bei zwei ungültigen Stimmen recht deutlich durch.

Zur Wahl der weiteren sechs Sitze im Bundesvorstand traten 13 Kandidaten an, von denen die folgenden sechs Personen gewählt wurden (Reihenfolge nach Anzahl der erhaltenen Stimmen): Adolf Braun (Sachsen), Waldemar Axt, Leontine Wacker (BadenWürttemberg), Dr. Arthur Bechert, Lilli Bischoff (Niedersachsen) und Dr. Andreas Keller (BadenWürttemberg). Völlig überraschend und für die meisten schwer verständlich nahm Viktor Harder (Nordrhein-Westfalen) seine Wahl nicht an, obwohl er die viertmeisten Stimmen auf sich vereinigen hatte können. Und auch Heinrich Zertik (Nordrhein-Westfalen) enttäuschte seine Anhänger, indem er zur Stichwahl um den sechsten Platz nicht antrat. Erheblich friedlicher ging es bei den Wahlen in die landsmannschaftlichen Ausschüsse zu, die jetzt (inklusive Nachrückkandidaten) wie folgt besetzt sind: Bundesprüfungskommission: Ida Jobe (BadenWürttemberg), Edith Klein (Baden-Württemberg), Olga Bonet (Bayern), Eduard Neuberger (Bayern). Bundesschiedskommission: Martha Braun (Niedersachsen), Erika Neubauer (Baden-Württemberg), Magdalena Merdian (Nordrhein-Westfalen), Dr. Viktor Donhauser (Bayern). Bundesehrenausschuss: Ewald Walth (Baden-Württemberg), Wilhelm Jaufmann (Baden-Württemberg), Alla Weber (Nordrhein-Westfalen), Lilli Hartfelder (Niedersachsen). November 2006

29. Bundestreffen der Deutschen aus Russland eine Gelegenheit, die wir nutzen sollten! nter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Roland Koch, findet am 26. Mai 2007 in den Wiesbadener Rhein-Main-Hallen das 29. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland statt. Mit ihren alle zwei bis drei Jahre stattfindenden Bundestreffen erreicht die Landsmannschaft als Vertreterin der über 2,5 Millionen Deutschen aus Russland, die inzwischen hier in der Bundesrepublik Deutschland ein Zuhause gefunden haben, eine Außenwirkung, die ihr sonst verwehrt ist. Sie bieten uns ein Forum, die breite Öffentlichkeit auf die Leistungen unserer Landsleute ebenso aufmerksam zu machen wie auf fortbestehende Probleme bei der Einreise und der Integration der Deutschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Wir bitten deshalb die Mitglieder der Landsmannschaft und alle Landsleute, mit ihrem Erscheinen in der hessischen Landeshauptstadt dazu beizutragen, das Treffen zu einer beeindruckenden Demonstration

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der Stärke unserer Volksgruppe werden zu lassen. Werben Sie für das Treffen unter Ihren Verwandten, Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen und natürlich nicht zuletzt unter den Mitgliedern Ihrer Ortsgruppe! Integration der Deutschen aus Russland eine Erfolgsgeschichte Unser 29. Bundestreffen ist besonders wichtig zu einer Zeit, in der die Akzeptanz der Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik ohne eigenes Verschulden gesunken ist. Schwerer gewordene wirtschaftliche Verhältnisse im Land haben dazu ebenso beigetragen wie Beiträge in den Medien, in denen allzu oft einseitig und negativ über unsere Landsleute berichtet wird. Gerade deshalb sollten wir im Rahmen des Bundestreffens ein weiteres Mal betonen, dass die Integration der Deutschen aus Russland in ihrer Gesamtheit als Erfolgsgeschichte betrachtet werden kann.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Wir sollten ohne falsche Bescheidenheit ausführen, dass es gerade vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Verfolgungsgeschichte in der ehemaligen Sowjetunion erstaunlich und bewundernswert ist, mit welcher Konsequenz und Zielstrebigkeit sich die allermeisten unserer Landsleute hier in Deutschland eingelebt und welchen Lebens- und Leistungsstandard sie inzwischen aus eigener Kraft erreicht haben. Negativen Aussagen über Deutsche aus Russland sollten wir engagiert und gestützt auf objektive Fakten entgegentreten, aus denen deutlich hervorgeht, dass Deutsche aus Russland ein Gewinn für die Bundesrepublik Deutschland sind. Ein Gewinn, weil mit ihnen junge, kinderreiche und arbeitsame Menschen in eine Gesellschaft kommen, die sich zunehmend der Gefahr einer Überalterung gegenüber sieht. Ein Gewinn, weil sie sich mit ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Leistungsbereitschaft keinesfalls zu verstecken brauchen. Ganz im Gegenteil, wie beispielsweise die Erfolge unserer Sportler und Künstler beweisen, über die wir in den landsmannschaftlichen Publikationen immer wieder berichten können.

Es sind Menschen, deren Lebenswege in vielen Fällen als vorbildlich bezeichnet werden können. Den Finger auf die Wunden legen Wir sollten allerdings auch nicht davor zurückschrecken, Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten, beim Namen zu nennen. Wir sollten beispielsweise fragen, weshalb im vergangenen Jahr die Aussiedlerzahlen auf den tiefsten Stand seit 20 Jahren gesunken sind. Wir sollten fragen, weshalb der öffentliche Protest ausbleibt, wenn in gewissen Medien wieder einmal unsachlich und rufschädigend über Deutsche aus Russland berichtet wurde. Und wir sollten fragen, weshalb immer noch eher über Deutsche aus Russland als mit ihnen gesprochen wird, Wir sollten allerdings auch unseren Landsleuten ans Herz liegen, sich verstärkt in hiesige Vereine und Organisationen einzubringen und selbstbewusster die Chancen zu nutzen, die ihnen die deutsche Gesellschaft bietet. Februar 2007

“Chancen schaffen - Chancen nutzen!” unser Motto für der 29. Bundestreffen der Landsmannschaft am 26. Mai 2007 in den Wiesbadener Rhein-Main-Hallen ür ihr 29. Bundestreffen, das am 26. Mai in den Rhein-Main-Hallen der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden stattfindet, hat die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland das Motto “Chancen schaffen - Chancen nutzen!” ausgewählt. Unter diesem Leitgedanken hat die Landsmannschaft ihre Arbeit für Deutsche aus Russland zusammengefasst. Nicht zuletzt betrifft das ihren Einsatz für ein Ansteigen der Spätaussiedlerzahlen, die infolge des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes im vergangenen Jahr mit 7.747 auf den weitaus niedrigsten Stand seit beinahe 20 Jahren gesunken sind. Mehr als alles andere hat nach Auffassung der Landsmannschaft die Sprachprüfung zu diesem drastischen Rückgang geführt, wobei wir auch künftig betonen werden, dass der Verlust der deutschen Sprache ein wesentlicher Teil des kollektiven Kriegsfolgenschicksals ist, das alle maßgeblichen Parteien des Deutschen Bundestages der Volksgruppe nach wie vor attestieren. In diesem Zusammenhang werden wir auch darauf hinweisen, dass uns der nach wie vor nicht geregelte

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Zuzug von Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern große Sorgen bereitet, insbesondere was die zu befürchtende Zunahme von Familientrennungen betrifft. Sehr differenziert werden unsere Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit für die Deutschen aus Russland sein, die wir beim 29. Bundestreffen der breiten Öffentlichkeit präsentieren können. Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, und seine beiden Stellvertreter Adolf Braun und Waldemar Axt konnten diese Vorschläge im Übrigen bereits am 26. Februar 2007 im Rahmen des Arbeitskreises „Integration der Aussiedler“ der Bundesregierung einem kleineren Kreis von Fachleuten vorstellen. Um die Voraussetzungen der Integrationsarbeit zu verbessern, befürworten wir vor allem die Benennung von Aussiedlerbeauftragten in den einzelnen Bundesländern, gerade auch in den neuen Bundesländern, wo sich die Probleme, denen sich unsere Landsleute in den ersten Jahren nach ihrer Einreise gegenüber sehen, aus bekannten Gründen gravierender auswirken als im Westen der Bundesrepublik. Ergänzt werden sollte diese Institution durch hauptamtlich tätige Deutsche aus Russland, die in den

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Bundesländern als Schaltstellen zwischen den Bedürfnissen ihrer Landsleute und öffentlichen Ämtern und Behörden fungieren sollten. Um einen Weg aus den Schwierigkeiten zu finden, in die unsere Beratungs- und Betreuungsarbeit nach den Mittelkürzungen in diesem Bereich geraten ist, wären in erster Linie die drei folgenden staatlichen Maßnahmen nötig: - Ausweitung der finanziellen und institutionellen Unterstützung. - Verstärkte Anerkennung der speziellen Qualifikationen der landsmannschaftlichen Mitarbeiter, die zwar nicht dem gewünschten Anforderungsprofil entsprechen, sich in der Praxis aber als sehr nützlich erwiesen haben. - Übernahme der von unseren Mitarbeitern in der Praxis gewonnenen Formen und Inhalte einer sinnvollen Integrationsarbeit. Wir werden außerdem betonen, dass für die Landsmannschaft die Kulturarbeit und insbesondere die kulturelle Breitenarbeit ein unverzichtbarer Bestandteil der Integrationsarbeit für und mit Spätaussiedlern ist. Eine Förderung dieses Bereiches trägt zudem in ganz erheblicher Weise zur Steigerung der Akzeptanz unserer Landsleute durch die einheimische Bevölkerung bei - durch die Darstellung ihres kulturellen, sozialen und politischen Hintergrundes ebenso wie durch die Präsentation ihres kulturellen Erbes, das sie über all die schicksalsschweren Jahre bewahrt und mit nach Deutschland gebracht haben. Stellvertretend für eine Reihe konkreter Vorschläge im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit seien zwei genannt, die wir im Rahmen des Bundestreffens ausführlichen behandeln werden: - Unmittelbare Reaktionen von politisch Verantwortlichen auf unhaltbare Äußerungen über Spätaussiedler. Es darf nicht sein, dass – aus welchen Gründen auch immer – das Thema “Spätaussiedler” tabuisiert oder aber tendenziöser Berichterstattung überlassen wird. - Behandlung des Themas „Russlanddeutsche/Deutsche aus Russland“ als selbstverständlicher Bestandteil des Lehrplans deutscher Schulen. Schließlich werden wir uns zu Möglichkeiten der Förderung der sozialen und kulturellen Belange sowie der Verbesserung der Lebensbedingungen der Deutschen in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion äußern. Diese Aufgabe gewinnt immer mehr an Bedeutung, es müssen jedoch unter Berücksichtigung der aktuellen Situation neue inhaltliche Schwerpunkte gesetzt werden.

Feierstunde, Heimatabend und viel mehr Gegenwärtig sind die ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter der Landsmannschaft selbstverständlich noch mitten in den Vorbereitungen zum Bundestreffen, so dass wir Ihnen vorläufig nur einen groben Überblick über das Programm geben können, das Sie in Wiesbaden erwartet. Traditioneller Höhepunkt ist die Feierstunde, bei der außer der bereits in der letzten Ausgabe vorgestellten hessischen Sozialministerin Silke Lautenschläger der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, und Bundesvorsitzender Adolf Fetsch Festreden halten werden. Würdiger Abschluss der Feierstunde wird die Ehrung der Toten unserer Volksgruppe sein, die zu Opfern der Verfolgung in einem Unrechtsstaat wurden. Als zweiter Höhepunkt steht wie immer der Heimatabend auf dem Programm. der den Besuchern eine breite Palette unserer musikalischen und darstellerischen Begabungen vorführen wird. Für viele werden der “heimliche” Höhepunkt aber auch diesmal die Begegnungen mit Freunden und Nachbarn von früher an den Tischen der Siedlungsgebiete sein, bei denen die Zeit wie im Flug vergehen wird. Breiten Raum werden verschiedene Ausstellungen einnehmen, die unsere Mitarbeiter vorbereiten und betreuen: Die Wanderausstellung “Volk auf dem Weg. Geschichte und Gegenwart der Deutschen aus Russland” wird ergänzt durch eine weitergehende Dokumentation zur Geschichte der Volksgruppe. Unter dem Titel “Die Landsmannschaft präsentiert sich” informieren Tafeln über die Geschichte und Gegenwart des Vereins; dabei werden auch unsere Landes-, Orts- und Kreisgruppen sowie die im Bundesgebiet laufenden Integrationsprojekte die Möglichkeit haben, sich den Besuchern vorzustellen. Hinzu kommen Ausstellungen mit Werken russlanddeutscher Künstler sowie Tische, an denen Bücher der Landsmannschaft und anderer Verlage zum Verkauf angeboten werden. Über die hier aufgeführten Punkte werden wir Sie in unseren nächsten Ausgaben ausführlicher informieren und Ihnen mitteilen, was wir für den Kultur- und Sozialbereich, für die Jugend, für Gruppen, die aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Übersee angereist sind, und für alle weiteren Bereich der Arbeit für die Deutschen aus Russland vorbereiten. März 2007

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Stellungnahme der Landsmannschaft zum drastischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen m vergangenen Jahr gingen die Spätaussiedlerzahlen ganz erheblich zurück. Nachdem die Zahlen bereits 2005 von 59.093 im Jahr 2004 auf 35.522 gesunken waren, wurde 2006 mit nur mehr 7.747 ein Besorgnis erregender Wert erreicht. Dass nicht mit einer Trendwende zu rechnen ist, zeigt die erste Monatsstatistik des Jahres 2007, die einen weiteren Rückgang befürchten lässt - 545 Spätaussiedler im Januar des vergangenen Jahres stehen demnach 461 im Januar dieses Jahres gegenüber. Mit nachstehendem Artikel nimmt die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zu dieser Entwicklung Stellung. Immer wieder hat die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland betont, dass sich das Zuwanderungsgesetz ausdrücklich auf die “Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und die Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern” bezieht. Die Deutschen aus Russland gehören jedoch zu keiner dieser Personengruppen. Artikel 116 des Grundgesetzes spricht ihnen vielmehr bewusst die Eigenschaft als “Deutsche im Sinne des Grundgesetzes” zu und nimmt sie bewusst vom Status eines Ausländers aus. Demzufolge war es ein großer Fehler, die Deutschen aus Russland in das Zuwanderungsgesetz mit einzubeziehen. Es ist politisch unglaubwürdig, einerseits zu behaupten - und das tun alle Parteien und Fraktionen des Bundestages -, man stehe zum schweren Kriegsfolgenschicksal der Deutschen aus Russland, andererseits aber bewusst die Tatsache zu ignorieren, dass der Verlust der deutschen Muttersprache eine Folge von Vertreibung und Diskriminierungen ist. Den Deutschen aus Russland nunmehr vorzuhalten, sie würden ihre Muttersprache nur unzureichend beherrschen, und die Sprachkenntnisse somit zur unüberwindlichen Hürde zu machen, bestraft sie als Opfer ein weiteres Mal. Die Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes bewirken in erheblichem Maße Familientrennungen bzw. verhindern sogar bewusst die Einreise der Deutschen aus Russland. Dass Familienangehörige, die den Sprachtest nicht bestanden haben, nach dem Ausländerrecht einreisen dürfen, legt ihren Status in unzulässiger Weise fest und verschärft zudem die Integrationsproblematik in den Kommunen.

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Die einseitige Betonung deutscher Sprachkenntnisse entspricht weder der Realität in den Aussiedlungsgebieten noch den Erkenntnissen der modernen Sprachwissenschaft, die überzeugend dargelegt hat, dass ein Bekenntnis zu einem Volkstum auch ohne ausreichende Sprachkenntnisse einer Ethnie möglich und üblich ist (so zum Beispiel das Institut für deutsche Sprache in Mannheim). Selbstverständlich erkennt auch die Landsmannschaft die Wichtigkeit der Beherrschung der deutschen Sprache für die Eingliederung. Sie sieht aber nicht ein, dass ausländische Zuwanderer die deutsche Sprache im Rahmen ihrer Integration erlernen dürfen, während bei Deutschen im Sinne des Artikels 116 GG jeder für sich - also auch der fremdvölkische Ehegatte - als Voraussetzung für die Einreise deutsche Sprachkenntnisse nachweisen muss. Diese Ungleichbehandlung ist umso unverständlicher, als die Russlanddeutschen angesichts ihres Schicksals und der aktuellen Probleme in den Herkunftsländern eine schwerere Ausgangsposition haben als zuwanderungswillige Ausländer. Die Landsmannschaft hat bezüglich der Einreise der Kernfamilie bereits im vergangenen Herbst in ihrer Stellungnahme zum Entwurf eines siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes folgenden Vorschlag gemacht: § 27 Abs. 1 Satz 2: Der im Aussiedlungsgebiet lebende Ehegatte und/oder der Abkömmling einer Person im Sinne des Satzes 1 werden zum Zweck der gemeinsamen Ausreise vorläufig nach § 27 Abs. 2 einbezogen. Nach Einreise erfolgt nach einer mehrmonatigen (ca. neun Monate) Sprachförderung in Friedland und nach erfolgten Sprachtest die Statusfeststellung und die Ausstellung der Bescheinigung nach § 7 Abs. 2 BVFG. Als Begründung führte die Landsmannschaft Folgendes aus: “Das Erlernen der deutschen Sprache in den GUSStaaten scheitert meist am fehlenden bzw. äußerst begrenzten Angebot der Hilfsmittel zum Spracherwerb. Des Weiteren leben die Betroffenen in einem deutschfremden, mancherorts sogar in einem deutschfeindlichen Umfeld. Gerade auf dem Land entstehen weitere Mängel beim Erlernen der Sprache durch die fehlende Infrastruktur; die Landbewohner haben demzufolge nur geringe Möglichkeiten, die Sprache durch Kurse zu

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews erlernen bzw. mangelhafte Kenntnisse zu vertiefen und auszubauen. Bei vielen scheitert der Spracherwerb an den hohen Kosten, die für Fahrten und Kursbesuch anfallen. Ebenfalls zu berücksichtigen sind Unterschiede in der Sprachbegabung sowie Unterschiede im Bildungsstand und Bildungsniveau, die sogar innerhalb derselben Familie auftreten. Die oben angeführte Regelung würde den enormen psychischen Druck, dem die Bezugspersonen ausgesetzt sind, in vielerlei Hinsicht verringern: 1. Keine Trennung von der Familie. 2. Die Bezugsperson muss sich keine Gedanken darüber machen, ob der Ehegatte bzw. der Abkömmling einen evtl. weiteren Test besteht oder nicht. 3. Keine Gedanken über die allgemeine und gesundheitliche Lebenssituation der Familie. 4. Keine Gefahr der Vereinsamung der Bezugsperson durch die lange Trennung von der Familie. 5. Die Familie kann den Integrationskurs gemeinsam besuchen. Nicht vergessen werden sollte außerdem, dass die Angehörigen der deutschen Volksgruppe in der ehemaligen Sowjetunion aufgrund des Zweiten Weltkrieges kaum die Möglichkeit hatten, die deutsche Sprache zu erlernen, geschweige denn, die deutsche Sprache in der Öffentlichkeit zu benutzen. Die bisherige Regelung ignoriert und verkennt, dass die mangelhafte Beherrschung bzw. Nichtbeherrschung der deutschen Sprache eine Spätfolge des Zweiten Welt-

krieges ist. Mit dem Vorschlag der Landsmannschaft fände das besondere Kriegsfolgenschicksal der Volksgruppe, zu dem sich die Bundesregierung bekannt hat, die Beachtung, die es verdient. Zugleich wäre die Ungleichbehandlung gegenüber den anderen Zuwanderungsgruppen, denen die Möglichkeit geboten wird, hier in einem deutschen Umfeld die deutsche Sprache zu erlernen, vom Tisch, und es würde kein Verstoß gegen Art. 6 des Grundgesetzes mehr vorliegen, der den besonderen Schutz von Ehe und Familie vorschreibt. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, dass man einerseits eine Sprachförderung in der Zentralen Aufnahmestelle Friedland einführt (Punkt 2 unseres Vorschlags), andererseits aber Punkt 1 ignoriert, nämlich die gemeinsame Einreise der Kernfamilie, um endlich die Tragödie der Familientrennung unserer leidgeprüften Volksgruppe zu beenden. Die Landsmannschaft appelliert noch einmal an die politischen Kräfte in Deutschland, unseren oben genannten Vorschlag zu übernehmen, um damit die Familientrennung zu beenden und der Ungleichbehandlung gegenüber anderen Zuwanderungsgruppen Einhalt zu gebieten. Die Haltung und Größe der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich gerade dann, wenn sie in Zeiten allgemeiner Einschränkungen zu ihrer von den Kriegsfolgen am stärksten betroffenen Volksgruppe der Deutschen aus Russland steht und dadurch ihrer historischen, politischen und humanitären Verpflichtung nachkommt. März 2007

Die aktuelle Situation der Fremdrenten as Bundesverfassungsgericht hat in seinen Beschlüssen vom 13. Juni 2006 entschieden, dass die 40-Prozent-Kürzung grundsätzlich nicht verfassungswidrig ist; ebenso hat es die Begrenzung auf 40 Entgeltpunkte für Ehepaare und auf 25 Entgeltpunkte für Alleinstehende als nicht verfassungswidrig angesehen. Bei diesen Gerichtsverfahren hat meine Anwaltskanzlei viele Betroffene aus den hierfür gebildeten Interessengemeinschaften als Präzedenzfälle vertreten – insbesondere auch eine große Reihe von betroffenen Deutschen aus Russland. Dabei wurde immer der Instanzenzug durch die gerichtliche Hierarchie eingehalten, und es wurden sämtliche Fälle so weit wie möglich “nach oben” gebracht. Wir haben hier alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft: Wenn der normale Rechtsweg erschöpft war, haben wir für mehrere Präzedenzfälle der Deutschen aus Russland dann auch Verfassungsbeschwerden direkt beim

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Bundesverfassungsgericht erhoben. Dabei wurde alles dafür getan, dass die Fälle so umfassend wie möglich und an höchster Stelle geprüft werden konnten. Damit wird auch die lange Dauer der zehnjährigen Auseinandersetzung eher verständlich: Auch die beteiligten höchsten Gerichte, das Bundessozialgericht und Bundesverfassungsgericht, haben die gesamte Fremdrentenproblematik in ihren großen Entscheidungen so umfassend wie möglich herangezogen, und das anhand von allen relevanten und erforderliche Einzelfällen. Man möge bitte nicht glauben, dass diese Gerichte und die übrigen Beteiligten hier irgendwelche Einzel-, Ausnahme- oder Sonderfälle außer Acht gelassen hätten: Die gesamte Problematik ist so umfassend wie möglich geprüft, durchdacht und endgültig entschieden worden, ohne jegliche Möglichkeit zum “Nachtarocken”.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Nur die Frage der Übergangsregelung hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht endgültig entscheiden können, weil hier dem Bundesgesetzgeber die primäre Entscheidungsmöglichkeit eingeräumt werden musste (Prinzip der Gewaltenteilung). Das Bundesverfassungsgericht konnte nur feststellen, dass die ursprüngliche Regelung zum Inkrafttreten schon ab Oktober 1996 eindeutig verfassungswidrig war, weil viel zu kurz bemessen. Der Gesetzgeber muss nun bis zum Jahresende 2007 eine Übergangsregelung gesetzlich festlegen für die Betroffenen, die 1996 schon nahe am Rentenbezug waren: Was ist rentennah, wie lange soll die Übergangszeit dauern, soll der Übergang fließend erfolgen? Das alles sind die Fragen, die der Gesetzgeber jetzt zu entscheiden hat und die dann im schlimms-

ten Fall nochmals vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden müssen. Rechtsanwalt Ernst Bruckner Mit diesen Fragen darf man die Politik nicht “allein” lassen, und es gibt noch vieles, was es hier für die Betroffenen zu verbessern gibt. Wir werden die Politik so weit wie möglich entsprechend beeinflussen und in den nächsten Tagen eine entsprechende, auf die Belange der Deutschen aus Russland abgestimmte Petition beim Bundestag einreichen, über die wir in der nächsten Ausgabe von VadW berichten werden. Ihre Landsmannschaft März 2007

Gesprächsthemenvorschläge zur Tagung des Arbeitskreises „Integration der Aussiedler“ am 26. Februar 2007 in Berlin I. Benachteiligungen der Deutschen aus Russland infolge des Zuwanderungsgesetzes Mit seiner Einführung am 1. Januar 2005 kam es durch das Zuwanderungsgesetz für die Deutschen aus Russland zu den Benachteiligungen, vor denen die Landsmannschaft gewarnt hatte. Neben Familientrennungen aufgrund des nicht geregelten Zuzuges von Ehegatten und Abkömmlingen seien genannt: - Schlechterstellung gegenüber anderen Zuwanderern, die in Deutschland die Möglichkeit haben, Deutsch zu lernen. - Keine Berücksichtigung von Randgruppen (Analphabeten, hohes Alter, Taubstumme usw.). - Keine Übergangsbestimmungen, wodurch einige Familien das zweite Mal in eine Gesetzesänderung fallen und die Welt nicht mehr verstehen. - Unzumutbare Härten, etwa wenn der Einbezogene mit der Auflösung des Haushaltes beschäftigt ist und die Bezugsperson verstirbt. Mehr als alles andere hat jedoch die Sprachprüfung zu dem drastischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen geführt, der durch eine Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern und die dort geleisteten Hilfen der Bundesregierung nur zu einem geringen Teil erklärt werden kann. Die Landsmannschaft hat in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hingewiesen, dass der Verlust der deutschen Sprache ein wesentlicher Teil des kollektiven Kriegsfolgenschicksals ist, das den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor

als einziger deutschen Volksgruppe aus den Ländern Ost- und Südosteuropas attestiert wird. Eine Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Aufnahmeverfahren ignoriert deshalb die Tatsache, dass die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion seit den Vertreibungsmaßnahmen meist verstreut und in einer ihnen feindlich gesinnten Umwelt leben, abgeschnitten vom deutschen Kulturraum, der Möglichkeit beraubt, gemeinsam als Volksgruppe ihr kulturelles Erbe zu pflegen, ihre Kinder in deutschsprachigen Schulen zu erziehen und ihren Glauben in der Muttersprache zu bekennen. Gegenwärtig bereitet uns der nach wie vor nicht geregelte Zuzug von Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern große Sorgen, wobei wir insbesondere befürchten, dass es in verstärktem Maße zu Familientrennungen kommen wird. Der Grund für unsere Befürchtungen findet sich im Paragraphen 28 des Zuwanderungsgesetzes, der einerseits zu begrüßen ist, da er den Familiennachzug zu Deutschen ermöglicht, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Landsmannschaft ist mit diesem Paragraphen dennoch nicht einverstanden und macht sich für eine Regelung stark, die eine gleichzeitige Ausreise des Spätaussiedlers (gemäß § 4 Bundesvertriebenengesetz) und den Mitgliedern seiner Kernfamilie ermöglicht. Die Landsmannschaft hat deshalb bezüglich der Einreise der Kernfamilie bereits im vergangenen Herbst in ihrer Stellungnahme zum Entwurf eines siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenenge-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews setzes folgenden Vorschlag gemacht: § 27 Abs.1 Satz 2: Der im Aussiedlungsgebiet lebende Ehegatte und/oder der Abkömmling einer Person im Sinne des Satzes 1 werden zum Zweck der gemeinsamen Ausreise vorläufig nach § 27 Abs.2 einbezogen. Nach Einreise erfolgt nach einer mehrmonatigen (ca. neun Monate) Sprachförderung in Friedland und nach erfolgten Sprachtest die Statusfeststellung und die Ausstellung der Bescheinigung nach § 7 Abs. 2 BVFG. Diese Regelung würde den enormen psychischen Druck, dem die Bezugspersonen ausgesetzt sind, in vielerlei Hinsicht verringern: - Keine Trennung von der Familie. - Die Bezugsperson muss sich keine Gedanken darüber machen, ob der Ehegatte bzw. der Abkömmling einen evtl. weiteren Test besteht oder nicht. - Keine Gedanken über die allgemeine und gesundheitliche Lebenssituation der Familie. - Keine Gefahr der Vereinsamung der Bezugsperson durch die lange Trennung von der Familie. - Die Familie kann den Integrationskurs gemeinsam besuchen. Nicht vergessen werden sollte außerdem, dass die Angehörigen der deutschen Volksgruppe in der ehemaligen Sowjetunion aufgrund des Zweiten Weltkrieges kaum die Möglichkeit hatten, die deutsche Sprache zu erlernen, geschweige denn, die deutsche Sprache in der Öffentlichkeit zu benutzen. Die bisherige Regelung ignoriert und verkennt, dass die mangelhafte Beherrschung bzw. Nichtbeherrschung der deutschen Sprache eine Spätfolge des Zweiten Weltkrieges ist. Mit dem Vorschlag der Landsmannschaft fände das besondere Kriegsfolgenschicksal der Volksgruppe, zu dem sich die Bundesregierung bekannt hat, die Beachtung, die es verdient. Zugleich wäre die Ungleichbehandlung gegenüber den anderen Zuwanderungsgruppen, denen die Möglichkeit geboten wird, hier in einem deutschen Umfeld die deutsche Sprache zu erlernen, vom Tisch, und es würde kein Verstoß gegen Art. 6 des Grundgesetzes mehr vorliegen, der den besonderen Schutz von Ehe und Familie vorschreibt.

landes zu haben. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass sich die Institution eines Aussiedlerbeauftragten in den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, NordrheinWestfalen, Hessen und Niedersachsen sehr positiv auf die Integrationsarbeit für Spätaussiedler ausgewirkt hat. In allen diesen Bundesländern bestehen regelmäßige Kontakte zwischen den Aussiedlerbeauftragten und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die für beide Seiten von sehr großem Nutzen waren und sind.

II. Aussiedlerbeauftragte in den Bundesländern

IV. Unterstützung der ehrenamtlichen Sozialarbeit

Für besonders wichtig halten wir die Benennung von Aussiedlerbeauftragten in den einzelnen Bundesländern, gerade auch in den neuen Bundesländern, wo sich die Probleme, denen sich unsere Landsleute vor allem in den ersten Jahren nach ihrer Einreise gegenüber sehen, aus bekannten Gründen gravierender auswirken als im Westen der Bundesrepublik. Gerade dort wäre es also für sie wichtig, einen zentralen Ansprechpartner und Interessenvertreter in Gestalt eines Aussiedlerbeauftragten des jeweiligen Bundes-

III. Schaltstellen zur Unterstützung der Integrationsarbeit Um einen möglichst hohen Integrationserfolg zu gewährleisten, halten wir es darüber hinaus für nützlich, in den einzelnen Bundesländern hauptamtlich tätige Landsleute einzusetzen, die als Schaltstellen zwischen den Bedürfnissen der russlanddeutschen Aussiedler und Spätaussiedler, ihrer Landsmannschaft, den jeweiligen Länderregierungen sowie den auf Länder- und Kommunalebene installierten Netzwerken für Integration fungieren sollen. Als Beispiel für die Überbeanspruchung unserer ehrenamtlichen Mitarbeiter sei der Vorsitzende der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Johann Engbrecht, genannt, der darauf hinweist, dass er neben seinen repräsentativen Aufgaben auch rund um die Uhr als Berater, Betreuer und Organisator gefordert sei – wohlgemerkt auf ehrenamlicher Basis. Wir zitieren dazu aus einem Brief, den wir im vergangenen Jahr an den Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Herrn Dr. Bergner, geschickt haben: „Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist in Nordrhein-Westfalen mit 32 Orts- und Kreisgruppen sehr gut vertreten und kann dort auf eine Reihe besonders aktiver ehrenamlicher Mitarbeiter zurückgreifen, denen es jedoch ohne zentrale Anlaufstellen des öfteren am nötigen organisatorischen Zusammenhalt mangelt, für den nach unserer Auffassung nur hauptamtliche Kräfte sorgen können.“

Wir begrüßen es, dass nach dem Zurückfahren der Mittel im Jahr 2005 für die Jahre 2006 und 2007 Erhöhungen im Bereich der Ehrenamtlichkeit realisiert bzw. in Aussicht gestellt wurden. Wir befürchten allerdings, dass auch diese Erhöhungen nicht ausreichen werden, um die anstehenden Aufgaben in angemessener Weise bewältigen zu können. Gegenwärtig sieht sich die Landsmannschaft in ihrer ehrenamtlichen Sozialarbeit nach einigen Entscheidungen, die

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews in den letzten Jahren getroffen wurden, schier unlösbaren Schwierigkeiten gegenüber: Bedingt durch das erhebliche Ansteigen der Aussiedlerzahlen vor etwa 15 Jahren und dem damit verbunden Anwachsen der Integrationsprobleme, rückte die landsmannschaftliche Beratungs- und Betreuungsarbeit noch stärker als zuvor in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen. 45.000 Beratungsfälle, die von unseren Mitarbeitern vorwiegend auf ehrenamtlicher Basis in letzter Zeit Jahr für Jahr behandelt wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Neben dem Streichen finanzieller Mittel sehen wir die landsmannschaftliche Sozialarbeit vor allem durch die Neukonzeption der Migrationserstberatung gefährdet. Durch die veränderte Formulierung des Anforderungsprofils der hauptamtlichen Mitarbeiter im Integrationsbereich werden die speziellen Qualifikationen unserer Mitarbeiter nicht mehr anerkannt bzw. abgewertet. Dabei hat sich in unzähligen Fällen gezeigt, dass die Mitarbeiter der Landsmannschaft, die nicht nur im linguistischen Sinne die Sprache der Spätaussiedler sprechen, für die Betreuung der betroffenen Personengruppe geeigneter sind als Sozialarbeiter, die ihre Ausbildung an bundesdeutschen Universitäten und Fachhochschulen absolviert haben. Mit Bedauern müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass in der Praxis allzu selten auf das von der Landsmannschaft favorisierte „Huckepack-System“ zurückgegriffen wird, das eine Kombination des Knowhows einheimischer Sozialarbeiter mit dem Insiderwissen russlanddeutscher Spezialisten vorsieht. Die Erfolge in Orten, in denen dieses System praktiziert wird, sprechen eine eindeutige Sprache. V. Stärkung der Arbeit im Kulturbereich und VI. Pflege und Bewahrung des geschichtlichen Erbes Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat ihre Kulturarbeit stets in erster Linie als Beitrag zur Festigung bzw. Wiedergewinnung der kulturellen Identität der Mitglieder einer Volksgruppe verstanden, die nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung orientierungslos geworden ist. Inzwischen leben rund 2,8 Millionen Deutsche aus Russland hier in der Bundesrepublik, die aufgrund ihrer günstigen Altersstruktur und ihrer großen Integrationsbereitschaft einen Gewinn für die hiesigen Renten- und Sozialversicherungen darstellen. Es sind ganz gewiss Menschen, die es verdient haben, hierher nach Deutschland zu kommen und gemäß ihrer rechtlichen Position gefördert zu werden – auch und vor allem auf kulturellem Gebiet, um die Ausprägung bzw. Wiedererlangung eines stimmigen Selbstbildes zu er-

leichtern. Für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist die Kulturarbeit, insbesondere auch die kulturelle Breitenarbeit, ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil der Integrationsarbeit für und mit Spätaussiedlern. Eine Förderung dieses Bereiches trägt zudem in ganz erheblicher Weise zur Steigerung der Akzeptanz unserer Landsleute durch die einheimische Bevölkerung bei. Durch die Darstellung ihres kulturellen, sozialen und politischem Hintergrundes ebenso wie durch die Präsentation ihres kulturellen Erbes, das sie über all die schicksalsschweren Jahre bewahrt und mit nach Deutschland gebracht haben. In gleicher Weise würde eine verstärkte Einbindung von Spätaussiedlern aus der GUS in das Projekt „Integration durch Sport“ dazu führen, der bundesdeutschen Bevölkerung ein positiveres Bild unserer Volksgruppe zu vermitteln. Durchaus erwähnen sollte man in diesem Zusammenhang, dass Deutsche aus Russland in zahlreichen Sportarten weit überdurchschnittliche Leistungen erbringen und durch ihre vorbildliche Einsatzbereitschaft überzeugen. (Im vergangenen Jahr haben Mitarbeiter der Landsmannschaft umfangreiche Listen mit Deutschen aus Russland zusammengestellt und an Herrn Dr. Bergner geschickt, die in den Bereichen Kunst und Kultur, Wissenschaft, Arbeitswelt und Sport besondere Leistungen erbracht haben.) Ziehen wir jedoch konkrete Zahlen zu Rate, müssen wir leider Folgendes feststellen: Standen im Jahr 1998 noch umgerechnet 23,5 Millionen Euro für die Kulturarbeit der Vertriebenen und Aussiedler zur Verfügung, so wurde dieser Betrag schrittweise auf nur mehr 12,9 Millionen Euro im Bundeshaushalt des Jahres 2004 reduziert. Das entspricht einer Kürzung von 45 Prozent innerhalb von sechs Jahren. Trotz dieser finanziellen Einschnitte ist es der Landsmannschaft dank des vorbildlichen Einsatzes ihrer ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter gelungen, ihre Kulturarbeit zu intensivieren. Ohne ein Mindestmaß an öffentlicher finanzieller Förderung lässt sich jedoch kaum eine Kulturmaßnahme der Landsmannschaft realisieren. Besonders nachteilig auf die landsmannschaftliche Kulturarbeit hat sich die Streichung der Posten hauptamtlich tätiger Kulturreferenten ausgewirkt. Zu Beginn der 90er Jahre hatte die Landsmannschaft noch zwei hauptamtliche Kulturreferentinnen, einige Jahre später wurde eine der beiden Stellen gestrichen, und seit etwa fünf Jahren gibt es diese Einrichtung überhaupt nicht mehr. In diesem Zusammenhang sei Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble zitiert, der bei einem Gespräch mit Vertretern der Landsmannschaft im vergangenen Jahr sein Erstaunen darüber zum Ausdruck

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews brachte, dass eine große Volksgruppe wie die Deutschen aus Russland ohne hauptamtliche Förderung des Kulturbereichs geblieben ist. Da wir – wie bereits angedeutet - die Hauptaufgabe der landsmannschaftlichen Kulturarbeit und ihrer hauptamtlichen Kulturreferenten in der Schaffung einer Basis für die Entwicklung einer kulturellen und somit sozialen Identität der Aussiedler und Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion erblicken, halten wir es für sinnvoll, diesen Bereich aus Integrationsmitteln des Bundes zu fördern. *** Eng mit dem Ausbau der Kulturarbeit der Landsmannschaft hängt die Pflege und Bewahrung des geschichtlichen Erbes der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion zusammen. Für beide Bereiche müssen wir jedoch mit Bedauern das Fehlen einer hauptamtlichen Mitarbeiterbasis konstatieren, so dass wir bei der Verwirklichung der folgenden (und ähnlicher) Vorhaben fast vollständig auf ehrenamtliche Kräfte angewiesen sind: - Koordination der ehrenamtlichen Kulturarbeit in den rund 150 Orts- und Kreisgruppen der Landsmannschaft und Ausbildung der dortigen Mitarbeiter. - Aufbau eines Archivs und eines Museums, in denen die Kulturgeschichte der Russlanddeutschen umfassend und für die Öffentlichkeit zugänglich dargestellt wird. - Verfassen von Publikationen zur Kulturgeschichte der Russlanddeutschen, die Wissenschaftlern wie Laien einen wichtigen, aber bisher weitgehend vernachlässigten Teil der deutschen Geschichte näher bringen würden. - Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen und anderen Einrichtungen, die sich im In- und Ausland mit der Geschichte der Russlanddeutschen beschäftigen. - Aufbau von kulturellen Einrichtungen zur Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen in Deutschland und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. - Vorbereitung und Durchführung von landsmannschaftlichen Maßnahmen der kulturellen Breitenarbeit auf allen Ebenen. - Einbindung von auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet tätigen und erfolgreichen Landsleuten in die Arbeit der Landsmannschaft. - Schließlich als generelles Ziel: Unterstützung der Deutschen aus Russland bei der Wiederherstellung ihrer kulturellen Identität, die in den Jahren der Verfolgung beschädigt bzw. zerstört wurde.

VII. Erfordernisse der Öffentlichkeitsarbeit Es ist nach unserer Auffassung nur bedingt effektiv, über Verbesserungen bei der Integration von Deutschen aus Russland nachzudenken und zu beraten, solange das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihnen macht, durch die einseitige und negative Berichterstattung in den Medien beeinflusst wird. Die Landsmannschaft schlägt deshalb die folgenden personellen und sachlichen Maßnahmen vor: - Weiterer Ausbau der Wanderausstellung „Volk auf dem Weg. Geschichte und Gegenwart der Deutschen aus Russland“, der in den letzten Monaten durch die Unterstützung des Bundesministeriums des Innern bereits zum Teil bewerkstelligt wurde. - Unmittelbare Reaktion von politisch Verantwortlichen auf unhaltbare Äußerungen über Spätaussiedler. Es darf nicht sein, dass – aus welchen Gründen auch immer – das Thema „Spätaussiedler“ tabuisiert wird und seine Behandlung tendenziöser Berichterstattung überlassen wird. - Behandlung des Themas „Russlanddeutsche/Deutsche aus Russland“ als selbstverständlicher Bestandteil des Lehrplans deutscher Schulen. - Finanzielle und evtl. auch institutionelle bzw. personelle Unterstützung der Presse- und Informationsarbeit der Landsmannschaft, um die Integrationsprobleme sowie die Ansätze zu ihrer Lösung auf breiterer Grundlage in kompetenter Weise in die Öffentlichkeit bringen zu können. Damit könnte auch der Tendenz russischsprachiger Presseorgane entgegengewirkt werden können, Spätaussiedler auf eine Politik einzuschwören, die den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft widersprechen. - Fortsetzung und Ausbau der Förderung von kulturellen, Geschichts- und Informationsbroschüren im Aussiedlerbereich sowie Unterstützung bei der Herstellung und Verbreitung unmittelbar landsmannschaftlicher Publikationen, vor allem des Vereinsblattes „Volk auf dem Weg“. IX. Grenzüberschreitende Maßnahmen Gemäß ihrer Satzung sieht die Landsmannschaft eine weitere Aufgabe in der Förderung der sozialen und kulturellen Belange sowie der Verbesserung der Lebensbedingungen der Deutschen in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Das soll beispielsweise durch die Unterstützung des Baus und Wiederaufbaus bzw. der Erhaltung und Pflege von Kirchen und Einrichtungen, die mildtätigen oder gemeinnützungen Zwecken dienen, erreicht werden. Konkrete Hilfe soll Altenwohnheimen ge-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews leistet werden, außerdem Kinderheimen, Kindergärten und Schulen, Einrichtungen der Krankenpflege, Sozialstationen, Bibliotheken, Archiven, Kulturhäusern und sonstigen Kultureinrichtungen. Außerdem wird die Landsmannschaft ihren Beitrag

leisten, die Deutschen, die noch in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion leben, mit Informationsmaterial und sonstigem Material zu versorgen, das ihnen das Leben erleichtert. Februar 2007

Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zur Änderung des Art. 16 im Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) Mit Beschluss vom 13. Juni 2006, veröffentlicht am 30. Juni 2006, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass die durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25. September 1996 eingeführte Regelung in § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes (FRG), wonach die nach dem FRG erworbenen Entgeltpunkte bei einem Rentenbeginn nach dem 30. September 1996 um 40% zu mindern sind, zwar mit dem Grundgesetz vereinbar ist, jedoch für rentennahe Jahrgänge, die ihren Aufenthalt in der BRD vor dem 1. Januar 1991 genommen haben, eine entsprechende Übergangsregelung fehlt. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes hätte der Gesetzgeber eine Übergangszeit vorsehen müssen, die es Betroffenen ermöglicht hätte, ihre Lebensführung darauf einzustellen, dass ihnen auf Dauer nur noch niedrigere Rentenbeträge zur Verfügung stehen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat daher dem Gesetzgeber aufgegeben, bis zum 31. Dezember 2007 eine geeignete Übergangsregelung zu erlassen. Mit dem nunmehr vorliegenden Entwurf der Bundesregierung ist eine Übergangsregelung geplant, die vorsieht, durch Zahlung eines einmaligen Ausgleichsbetrages an die Berechtigten die auf Grund der fehlenden Übergangsregelung zu niedrig gezahlten bzw. berechneten Rentenbeträge auszugleichen. Dieser Ausgleichsbetrag soll in Form eines Zuschlags an persönlichen Entgeltpunkten ermittelt werden. Der Zuschlag soll durch eine durchgeführte Vergleichsbewertung einmalig zum Rentenbeginn, ohne Anwendung des § 22 Abs. 4 FRG ermittelt werden. Die sich aus der Vergleichsbewertung ergebenden persönlichen Entgeltpunkte sollen dann mit den persönlichen Entgeltpunkten der bisher gezahlten Rente (ggf. gehören die sich aus einer Vorrente ergebenden besitzgeschützten persönlichen Entgeltpunkt dazu) verglichen werden.

Die sich ergebende Differenz der Vergleichsberechnung soll den Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten ergeben. Durch die Nichtanwendung des §§ 88 SGB VI soll der Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten nicht in die Besitzschutzprüfung einbezogen werden. Von der Regelung sollen Berechtigte erfasst werden, bei denen über die Rente bis zum 30. Juni 2006 (Verkündigung des Urteils) noch keine rechtskräftige Entscheidung (Widerspruch, Klage) getroffen wurde, sowie der Personenkreis, der bis zum 31. Dezember 2004 einen Antrag auf Überprüfung seiner Rente gem. § 44 des Zehnten Sozialgesetzbuches (SGB X) gestellt hat. Die Minderung des Rentenbetrags soll schrittweise unter Anwendung des §§ 22 Abs. 4 FRG (40% Kürzung) dadurch erreicht werden, dass der Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten in vier Teilschritten erfolgt. Der Monatsbetrag der Rente für den jeweiligen Bezugszeitraum ergibt sich, indem die persönlichen Entgeltpunkte um den aus der Vergleichsbewertung errechneten Zuschlag erhöht und mit dem Rentenartfaktor der gezahlten Rente und dem im Bezugsraum gültigen aktuellen Rentenwert vervielfältigt werden. Dabei soll bereits nach neun Monaten eine Reduzierung um 25% und nach jeweils einem Jahr eine weitere Reduzierung um 25% erfolgen, so dass ab dem 1. Juli 2000 der Zuschlag völlig und auf Dauer wegfällt und die 40% Kürzung für alle Betroffenen angewandt wird. Nach Ansicht der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist diese Übergangsregelung für den Personenkreis der Deutschen aus Russland nicht ausreichend, um Benachteiligungen auszugleichen und die Verfassungsmäßigkeit herzustellen. Um eine Ungleichbehandlung der Deutschen aus Russland mit Betroffenen aus anderen Staaten, wie z.B. Rumänien, zu verhindern, müsste das Datum der Einreise für den Personenkreis der Deutschen aus

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Russland auf den 30. Juni 1996 gesetzt und bis zum Juni 2006 keine Kürzung vorgenommen werden. Danach könnte, wie in Abs. 2 vorgesehen, eine stufenweise Einführung der Kürzung vorgenommen werden und 2014 die volle 40% Kürzung erfolgen.

Begründung: Bereits durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem ausgeführt wird, dass lediglich eine Übergangsvorschrift für Berechtigte, die vor dem 1. Januar 1991 eingereist sind, zu schaffen ist, wie auch durch den neu vorgesehenen Abs.2 des Art. 6 § 4c des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes wird dieser Personenkreis ungleich behandelt. Die Deutschen aus Russland konnten zum größten Teil erst Anfang der 90er Jahre aus den Herkunftsgebieten ausreisen und ihren gewöhnlichen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland nehmen. Von der beabsichtigten Neuregelung des FRG ist gerade die Erlebnisgeneration und auch die erste Nachkriegsgeneration besonders hart betroffen. In den im Entwurf der Bundesregierung vorgeschlagenen Übergangsregelungen ist eine gesetzliche Unterstellung des Kriegsfolgenschicksals nicht zu erkennen. Beide Gruppen gehören jedoch nach den gesetzlichen Vorschriften zum Personenkreis des § 1 FRG. Zur Differenzierung bzw. zur Ungleichbehandlung hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen (BVerfGE 23, 327 (344)) Folgendes ausgeführt: “Bei einer ungleichen Behandlung zweier Gruppen, bei der lediglich eine von ihnen begünstigt wird, ist der Gleichheitssatz demzufolge, wie das BVerfG betont hat, dann verletzt, wenn das Ausmaß der Vergünstigungen von Umständen abhängt, die in keiner Beziehung zu dem aufgezeigten Unterschied zwischen den beiden Gruppen stehen.”

cherheit zum Gegenstand haben, sind die Anforderungen des Sozialstaatsprinzips in die Gleichheitsprüfung einzustellen (BVerfGE 36, 237 (248)). Wie bereits o.a. unterscheiden sich die Berechtigten lediglich durch den Einreisezeitpunkt, der zudem nicht im Willen und Ermessen der Betroffenen (hier: Deutsche aus Russland) lag, sondern am jeweiligen Staatsregime. Mit den Änderungen durch die Rentenreformgesetze 1992 und 1996 haben sich die Benachteiligungen der Berechtigten nach dem FRG gravierend vergrößert. Der Gesetzgeber entfernt sich immer mehr vom Eingliederungsgedanken. Dabei hat der Gesetzgeber eines vergessen, nämlich dass das Eingliederungsprinzip nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht, sondern ein Verfassungsprinzip bildet. Durch die von der Landsmannschaft vorgeschlagene Übergangsregelung würde die Regelung nicht mit voller Kraft und ganzer Härte den Personenkreis der Deutschen aus Russland treffen, sondern diese kurzbis mittelfristig schonen. Das Kriterium für die Frage, ab wann Kurzfristigkeit beendet und mittelfristige Auswirkung gegeben ist, dürfte die Möglichkeit der Umstellung der Lebensführung sein. Vor allem würde es dem unterstellten Kriegsfolgenschicksal für diesen Personenkreis gerecht werden, gerade wenn man bedenkt, dass bei vielen Betroffenen auf Grund des Vertreibungsschicksals die Rente in der Regel die einzige Lebensgrundlage des Alters ist. Andere Vermögenswerte für die Alterssicherung sind durch die Vertreibung verloren gegangen. Die Umstellung der Lebensgrundlage kann zudem nicht innerhalb kürzester Zeit erfolgen, sondern erfordert einige Jahre. Viele der Betroffenen sind auf Grund schriftlicher Zusagen der Rentenversicherungsträger über die zu erwartende Anwartschaften Zahlungsverpflichtungen eingegangen. Die Bundesregierung hat in dem zu beschließenden Gesetzentwurf zu vielen weiteren geplanten Maßnahmen Übergangsvorschriften aufgenommen, die um ein Vielfaches über das hinausgehen, was einem kleinen und zahlenmäßig begrenzten Personenkreis, der zusätzlich zu allen Kürzungen ein weiteres Opfer kumulativ erbringen muss, zugestanden wird. Die zusätzliche 40% Kürzung führt bei diesem Personenkreis zu erheblichen Einschnitten in der geplanten Lebensführung, wie bereits ausgeführt Hier wäre es dringend erforderlich, ähnliche Übergangsvorschriften zu schaffen, wie der Gesetzentwurf diese für weit geringere Einschnitte bei den anderen Versicherten vorsieht.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen bei der Anwendung des Gleichheitssatzes die besonderen Wertentscheidungen des Grundgesetzes, soweit sie jeweils thematisch einschlägig sind, gebührend in Rechnung gestellt werden (vgl. z.B. BVerfGE 17, 148 (153); 22, 163 (172); 13,46 (49)). Diese besonderen Wertentscheidungen schränken die Freiheit des Gesetzgebers ein, selbst zu entscheiden, was gleich und was ungleich sein soll, indem sie Unterscheidungen verbieten, die den betreffenden Wertentscheidungen zuwiderlaufen würden (BVerfGE 36, 321 (330-31)). Soweit es sich, wie hier, speziell um Regelungen Daher wäre es unserer Ansicht nach gerecht, wenn handelt, die Fragen aus dem Bereich der sozialen Si- erst ab 2014 die 40%-ige Kürzung bei den Deut132

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews schen aus Russland voll zum Tragen käme. Die Kürzung, die zudem rückwirkend in Kraft getreten ist, verletzt nach unserer Meinung den Vertrauensschutz. In mehreren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: “Im Rechtsstaatsprinzip sind die Gebote der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verfassungskräftig verankert (BVerfGE 30, 392 (403); 50, 244 (250)). Das Bundesverfassungsgericht hat oft ausgesprochen, dass der Vertrauensschutz auch in Fällen einer unechten Rückwirkung, also bei einer Rechtsänderung zu beachten ist, die unmittelbar nur auf gegenwärtige, aber nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt. Auch in solchen Fällen kann ein entwertender Eingriff vorliegen, mit dem der Staatsbürger nicht zu rechnen brauchte. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes betrifft vor allem gesetzliche Neuregelungen, die auf die Rechtsstellung des Betroffenen mit Wirkung ‘ex nunc’ (= von jetzt an) einwirken." Weiterhin sind wir der Ansicht, bei der zu schaffenden Übergangsvorschrift auf die Ziffer 3 des Abs. 2 zu verzichten. Danach würden nur diejenigen von der Übergangsregelung erfasst, die Rechtsmittel gegen die ergangenen nachteiligen Bescheide eingelegt bzw. einen Überprüfungsantrag gem. § 44 SGB X gestellt haben. Alle anderen Betroffenen würden ausgenommen werden, und dies nur, weil sie rechtsunkundig sind. Bereits bei Bekanntwerden der Vorlagebeschlüsse des Bundessozialgerichtes wären die Rentenversicherungsträger gehalten gewesen, die Betroffenen eingehend zu informieren. Diese haben nämlich laut Bundesgerichtshof eine gesetzliche Belehrungs- und Aufklärungspflicht. Besonders gravierend wirkt es sich aus, dass sogar nur solche Betroffene, die bis zum 31. Dezember 2004 einen Überprüfungsantrag gestellt haben, in

den Genuss der Neuregelung kommen sollen. Tatsache ist, dass bis zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juni 2006, veröffentlicht am 30. Juni 2006, eine Vielzahl Betroffener Neuanträge gestellt hat. Es leuchtet nicht ein, dass von 1999, dem Jahr des Vorlagebeschlusses des Bundessozialgerichts, bis 2004 gestellte Überprüfungsanträge Geltung haben sollen, nicht jedoch solche, die in dem kurzen weiteren Zeitraum bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gestellt wurden. Die zeitliche Zäsur wirkt insoweit willkürlich und sollte wenigstens auf den Zeitraum bis zur Veröffentlichung des Urteils am 30. Juni 2006 ausgedehnt werden, dies jedenfalls im Hinblick darauf, dass die Rentenversicherungsträger – wie im Einkommenssteuerrecht üblich – auf die rechtliche Problematik von sich aus hätten hinweisen müssen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass viele der Betroffenen vertreibungsbedingt nur über eingeschränkte Kenntnisse des Hochdeutschen verfügen und weit überdurchschnittliche Schwierigkeiten beim inhaltlichen Erfassen von Bescheiden haben. Dies begründet eine besondere Fürsorgeverpflichtung des Rentenversicherers, deren Einhaltung aus Sicht der Betroffenen nur dann gewahrt erscheint, wenn wenigstens diejenigen der Betroffenen, die bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts ihre Rechte geltend gemacht haben, erfasst werden. Aufgrund der gemachten Ausführungen wird angeregt, alle Betroffenen in die Übergangsvorschriften einzubeziehen und eine Änderung bzw. Ergänzung der geplanten Übergangsregelungen in Betracht zu ziehen. Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender Adolf Braun stellvertretender Bundesvorsitzender, sozialpolitischer Sprecher des Bundesvorstandes

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April 2007

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Petition

Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. fordert für die Volksgruppe Gleichbehandlung und Gerechtigkeit Das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz hat 1996 das Fremdrentenrecht in verfassungswidriger Weise zu Lasten der von uns vertretenen Aussiedler aus Russland geändert. Dabei hat es insbesondere 40-Prozent-Kürzungen mit nahezu sofortiger Wirkung eingeführt. In einem zehn Jahre lang dauernden Gang durch alle Gerichtsinstanzen haben wir die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erreicht, die dieses Vorgehen als verfassungswidrig eingestuft hat. Das Gericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, eine neue Übergangsregelung zu erlassen, die das Vertrauen der 1996 schon rentennahen Beroffenen in ihre Altersversorgung - die Rente ist sicher -verfassungsgemäß berücksichtigt. Der Bundestag hat nun in seinem Gesetz über die Rente mit 67 u.a. auch eine solche Übergangsregelung normiert. Sie “zeichnet” sich dadurch “aus”, dass sie das Vertrauen in die Rente durch Rückvergütung der ungerechtfertigten Kürzungen nur ein dreiviertel Jahr lang voll schützt und wieder herstellt, danach ein Jahr lang nur mehr mit 75%-Rückvergütung, danach ein Jahr lang mit 50%-Rückvergütung und dann noch ein Jahr lang nur mehr mit 25%Rückvergütung. Damit werden die verfassungswidrigen Kürzungen

nur für die kürzest denkbare Zeit von knapp vier Jahren und nur zu dem geringst denkbaren Bruchteil von durchschnittlich 50 Prozent rückgängig gemacht – eine Lösung, die einer erneuten verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht standhalten wird. Wir appellieren deshalb eindringlich an die Politik und an die beteiligten Politiker, die Übergangsregelung auf alle Kürzungen zwischen 1996 und der Entscheidung des Bundesverfasssungsgerichts Juni 2006 auszuweiten und sie durch eine volle Rückvergütung auszugleichen. Die Übergangszeit von mehr als 20 Jahren bei der Rente mit 67 zeigt, wie behutsam die Politik bei Einschnitten in die soziale Absicherung vorgehen kann. Wir fordern, dass die entscheidenden Politiker bei der Übergangsregelung für Aussiedlerrenten in demselben Gesetz ein vergleichbare Behutsamkeit an den Tag legen und von dem unhaltbaren Vorschlag in unserem Sinn abweichen. Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender Adolf Braun stellvertretender Bundesvorsitzender, sozialpolitischer Sprecher des Bundesvorstandes April 2007

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Eine mehr als ärgerliche Studie! ür gehörigen Pressewirbel mit reißerischen Überschriften in der Bild-Zeitung und anderswo und Verärgerung unter unseren Landsleuten sorgte eine kürzlich veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit, in der u.a. von einer außergewöhnlich hohen Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern die Rede war. In seiner Presseerklärung führt das Institut aus: “Spätaussiedler sind bei einer Arbeitslosenquote von mehr als 30 Prozent dreimal so häufig arbeitslos wie hier aufgewachsene Deutsche. ... Sie sind damit sogar deutlich schlechter als Ausländer in den Arbeitsmarkt integriert. Deren Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent.” Um die Hintergründe dieser Studie und ihrer Ergebnisse auszuleuchten, haben die Vertreter der Landsmannschaft Kontakt mit den zuständigen Stellen, insbesondere auch mit der Bundesanstalt für Arbeit selbst, aufgenommen und werden Sie in unserer nächsten Ausgabe über die Ergebnisse ihrer Nachforschungen ebenso wie über die weitere Vorgehensweise der Landsmannschaft in dieser Angelegenheit informieren. Als ersten Erfolg dürfen wir ein Gespräch des Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, mit dem Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, bezeichnen, in dem dieser die Studie als fragwürdig bezeichnete und eine Überprüfung ankündigte. Ebenso erfreulich sind die positiven Stellungnahmen von Jochen-Konrad Fromme und des Hessischen Sozialministeriums, die nach weiteren Gesprächen mit Vertretern der Landsmannschaft verfasst wurden. Vorab äußerten sich Adolf Fetsch und der stellvertretende Bundesvorsitzende und sozialpolitische Sprecher des Bundesvorstandes, Adolf Braun, zu den politischen Aspekten des Falls: “Die Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung hat dem Bild, das sich die Öffentlichkeit von den Deutschen aus Russland macht, in erheblichem Maße geschadet. Dazu hat nicht zuletzt die plakative und undifferenzierte Aufmachung der Presseerklärung des Instituts beigetragen, die den Eindruck erweckt, als seien Spätaussiedler generell in weit überdurchschnittlichem Ausmaß von Arbeitslosigkeit betroffen und übten zudem vorwiegend unqualifizierte Berufe aus. Dass gewisse Presseorgane diese Untersuchung in sattsam bekannter Weise ausgeschlachtet haben, darf

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uns nach den Erfahrungen der Vergangenheit nicht verwundern. Schließlich berichten sie nur allzu gerne Negatives über die Deutschen aus Russland, während sie das Positive verschweigen. Dabei würde eine unvoreingenommene Betrachtungsweise zeigen, dass in der Studie des IAB die bis 1989 in der Bundesrepublik eingetroffenen Deutschen aus Russland und ihre hier geborenen Nachkommen überhaupt nicht und die zwischen 1989 und 1999 angekommenen nur unzureichend erfasst wurden. Analysiert wurden beinahe ausschließlich Spätaussiedler, die von 2000 bis 2004 gekommen sind und ihren Weg in dieser Gesellschaft häufig erst noch finden müssen. Zudem liegt der Studie ein grundsätzlich falscher Ansatz zugrunde, indem ganz unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung in methodisch unzulässiger Weise miteinander verglichen werden. Unsere erheblichen Bedenken hinsichtlich der Studie und unsere Empörung über die Negativschlagzeilen, die durch sie ausgelöst wurden, werden uns jedoch auch künftig nicht davon abhalten, den Finger auf die Wunde zu legen, wenn es um Benachteiligungen unserer Landsleute bei der Berufsausübung geht. Wir werden alle politisch Verantwortlichen darauf ansprechen, dass man sich von gesellschaftlicher Seite in den letzten Jahren nur in höchst unzureichendem Maße um das berufliche Fortkommen der Spätaussiedler gekümmert hat. Wir werden betonen, dass man hier in Deutschland offenbar zu wenig tut, um gerade unseren jüngeren Landsleuten einen angemessenen Ausbildungsabschluss zu ermöglichen. Und wir werden uns nicht damit abfinden, dass man offenbar immer noch nicht bereit ist, hoch qualifizierte Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion in den Arbeitsprozess zu integrieren - was kaum zu verstehen ist, da aus immer mehr Bereichen der Wirtschaft ein zunehmender Fachkräftemangel gemeldet wird. Für die Landsmannschaft sollten diese Erkenntnisse Ansporn und Auftrag sein, sich auch weiterhin dafür einzusetzen, dass unseren Landsleuten der Weg in diese Gesellschaft geebnet wird. Das bevorstehende Bundestreffen aber sollten wir nicht zuletzt dazu verwenden, die politisch Verantwortlichen in diesem Land an ihre Pflichten den Deutschen aus Russland gegenüber zu erinnern!” Mai 2007

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

“Chancen schaffen - Chancen nutzen”

Herzlich willkommen zum Bundestreffen der Landsmannschaft! ie Vorbereitungen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland auf ihr 29. Bundestreffen am 26. Mai in der RheinMain-Hallen von Wiesbaden laufen auf Hochtouren. Ehrenamtliche wie hauptamtliche Mitarbeiter sind bemüht, das Treffen, das unter der Schirmherrschaft des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch steht, zu einem nachhaltigen Ereignis in der Geschichte ihrer Landsmannschaft und im Leben der von ihr vertretenen Landsleute werden zu lassen. Das Programm nimmt von Tag zu Tag deutlichere Konturen an, so dass wir unseren Lesern bereits einen recht differenzierten Einblick in das verschaffen können, was sie am 26. Mai in der hessischen Landeshauptstadt erwartet. Politischer und gesellschaftlicher Höhepunkt wird wie bei allen bisherigen Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland die Feierstunde in Halle 1 sein, die bei modernster technischer Ausstattung Platz für 3.000 Zuschauer bietet. Nach dem Eröffnungsgebet, gesprochen von Pfarrer Anton Heinz, wird der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, in seiner Begrüßungsrede nicht zuletzt auf das Motto des Treffens

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“Chancen schaffen - Chancen nutzen” eingehen. Auf die Notwendigkeit also, Spätaussiedlern aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion den Start in ein neues Leben hier in Deutschland zu erleichtern, und ebenso darauf, welche Möglichkeiten sich unseren Landsleuten bereits heute in einem freien und wohlhabenden Land wie der Bundesrepublik Deutschland bieten. Die Festreden haben die Sozialministerin des Landes Hessen, Silke Lautenschläger, und der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, übernommen. Zwei Persönlichkeiten also, von denen wir wissen, dass wir in unserer landsmannschaftlichen Arbeit auf sie bauen können. Grußworte sprechen der designierte Oberbürgermeister der Stadt Wiesbaden, Dr. Helmut Müller, Edwin Grib und Dr. Jerry Siebert als Vertreter der Delegationen aus der GUS bzw. den USA sowie der Integrationsbeauftragte der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, Thomas Kufen. Bewegender Abschluss der Feierstunde, die das Kammerorchester der Familie Hubert aus Bayreuth musikalisch gestaltet, wird die Totenehrung sein, die Pastor Hans Freiherr von Niessen spricht. Mai 2007

“Brückenpfeiler” – I. Internationale Partnerschaftskonferenz der russlanddeutschen Dachverbände m Rahmen ihres Bundestreffens und dieses ergänzend veranstaltet die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 27. Mai in Wiesbaden die I. Internationale Partnerschaftskonferenz der russlanddeutschen Dachverbände.

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Dazu hat sie Vertreter der russlanddeutschen Dachverbände und Einrichtungen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion eingeladen, die auch an den Veranstaltungen des 29. Bundestreffens teilnehmen werden. Darunter der “Internationale Verband der deutschen Kultur” (Moskau), der “Jugendring der Russlanddeutschen” (Moskau), die “Föderale nationalkulturelle Autonomie” (Moskau), die “Assoziation der Deutschen in Kasachstan”, die “Assoziation der Deutschen in der Ukraine” und der “Volksrat der

Deutschen der Kirgisischen Republik”, um nur die größten zu nennen. Die Partnerschaftskonferenz soll den Auftakt für die internationale Arbeit und grenzüberschreitende Kooperation der russlanddeutschen Vereine und Verbände sowie die Entwicklung von Projekten und Maßnahmen mit grenzüberschreitendem Charakter zur Stärkung der Gemeinschaft der Russlanddeutschen bilden. Der Slogan “Russlanddeutsche sind Brückenmenschen” soll in gemeinsamer Anstrengung mit Leben erfüllt und durch konkrete Schritte und Maßnahmen umgesetzt werden. Startschuss für die zukünftige Zusammenarbeit wird ein Partnerschaftsabkommen zwischen der Landsmannschaft, dem Internationalen Verband der Deutschen Kultur und dem Jugendring der Russlanddeut-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews schen sein. Auch Möglichkeiten der Bildung regionaler Partnerschaften zwischen den Gliederungen der Landsmannschaft und Begegnungszentren der Russlanddeutschen in den Herkunftsländern sollen zur Diskussion kommen. In erster Linie geht es dabei um die folgenden Maßnahmen: - Unterstützung der Selbstorganisationen und Jugendstrukturen von Russlanddeutschen; - Aufbau von direkten Kontakten und Partnerschaften zwischen den Begegnungszentren der Russlanddeutschen und den Gliederungen der Landsmannschaft; - Herstellen von Kontakten zwischen Jugendclubs der Deutschen in Russland und Jugendgruppen der Spätaussiedler in Deutschland; - gemeinsame Jugend- und Kulturarbeit; - Fortbildungen für Fachkräfte und Bildungsseminare; - gemeinsame Informationsarbeit und Herausgabe von Publikationen; - Veranstaltung von Konferenzen, Symposien, Forschungsreisen u. a. Nach wie vor sieht sich die Landsmannschaft aufs engste mit den Deutschen in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion verbunden. Allein in der Russischen Föderation identifizieren sich laut letzter Volkszählung mehr als 570.000 Personen als

Deutsche. Die Mehrzahl von ihnen wird im Herkunftsland bleiben. Durch die Bemühungen und Hilfen der Bundesregierung der letzten Jahre haben sie neue Chancen zur Pflege ihrer kulturellen Identität bekommen. Künftig wird sich jedoch die Unterstützung der deutschen Minderheiten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die bisher fast ausschließlich über Projekte mit Dienstleistungsunternehmen (GTZ) geleistet wurde, immer mehr über direkte Kontakte und partnerschaftliche Projekte zwischen russlanddeutschen Verbänden gestalten. Nur so wird sie den Russlanddeutschen auf beiden Seiten, aber auch unseren Ländern zugute kommen. Voraussetzungen für eine eigenständige und gleichberechtigte Partnerschaftsarbeit der russlanddeutschen Verbände bestehen heutzutage sowohl in Deutschland als auch in Russland, Kasachstan und der Ukraine. Diese Zusammenarbeit hat eine große identitätsstiftende Bedeutung, weil durch sie den jüngeren Generationen der Russlanddeutschen das Interesse für die Kulturgeschichte ihrer Volksgruppe vermittelt werden kann. Vor allem junge Leute werden von den gemeinsamen Aktivitäten unserer Verbände profitieren, indem sie an Mobilität, internationalen Kontakten und Erfahrungen gewinnen. Mai 2007

Hilfe für Unternehmer, Selbständige und Freiberufler uf unseren Aufruf in VadW 2/2007 in dem wir zur Teilnahme an einer Vereinigung aufriefen, welche die Interessen der russlanddeutschen Unternehmer, Selbständigen und Freiberufler unterstützt, haben wir zahlreiche zustimmende Anrufe bekommen. Mehrere Landsleute erklärten sich bereit, mit uns in der angedeuteten Richtung zusammenzuarbeiten. Vor dem Hintergrund einer Analyse der Bedingungen für unsere Unternehmer, Selbständigen und Freiberufler unternehmen wir zur Zeit die ersten Schritte zur Problemlösung. Laut Schätzungen von Experten sind in Unternehmen, die von Deutschen aus Russland gegründet wurden, etwa 85.000 Arbeitsplätze entstanden. Dort, wo es formal möglich war und ist, werden in nicht unerheblicher Anzahl Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt. Dadurch ist ein Wirtschaftsfaktor entstanden, der nicht mehr wegzudenken ist. Dennoch fühlt sich diese Personengruppe zur Zeit noch nicht effektiv vertreten - sie werden weder angemessen wahrge-

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nommen noch mit ihren Zielen und Leistungen korrekt dargestellt.

Fehlende Fachkräfte Diese Vernachlässigung unserer Unternehmer und Freiberufler ist besonders erstaunlich, da überall vonseiten der Wirtschaft ein zunehmender Fachkräftemangel beklagt wird und die Industrie- und Handelskammer (IHK) eine neue Zuzugs- und Bleiberegelung für ausländische Spezialisten fordert. So zitiert etwa die “Süddeutsche Zeitung” in ihrer Ausgabe vom 23. April 2007 den Chef-Volkswirt der IHK München und Oberbayern, Robert Obermeier, mit der Aussage: “Allein im Dienstleistungsgewerbe klagt jedes zweite Unternehmen über einen Mangel an Fachkräften; das sind doppelt so viele wie im Vorjahr.” In der Konsequenz könnten die Aufträge nicht erfüllt werden. Mit einem Fachkräftemangel sieht sich laut “Süddeutscher Zeitung” beispielsweise auch das Hand-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews werk konfrontiert. So spricht Holger Seit, Geschäftsführer beim Landesverband Bayerischer Bauinnungen, von einem “partiellen Problem, ausreichend fähigen Nachwuchs zu finden”. Wie gesagt: Wir können es nicht verstehen, dass auf der einen Seite über Mangel an qualifizierten Kräften geklagt wird, auf der anderen Seite aber unsere Fachkräfte im Regen stehen gelassen werden!

Politische Unterstützung Schützenhilfe bei unseren Anliegen haben wir gerade erst vom Vorsitzenden der Gruppe der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jochen-Konrad Fromme, erhalten, der angesichts der Ergebnisse der Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit zur Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern (siehe Seite 2) in einer Presseerklärung die geplanten Maßnahmen seiner Fraktion zur Verbesserung der beruflichen Integration hoch qualifizierter Spätaussiedler vorstellt: “Die Vorschläge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Nationalen Integrationsplan liefern hier eine klare Vorwärtsstrategie für die deutschen Spätaussiedler, denn - sie setzen auf Intensivierung der Beratungsarbeit, Sprachförderung und das bewährte Akademikerprogramm der Otto-Benecke-Stiftung; - sie fordern, Anerkennungsverfahren für Bildungsund Berufsabschlüsse transparenter zu machen;

- sie fordern den Ausbau der Möglichkeiten, fehlende Qualifikationsbestandteile nachzuholen. Nachqualifikation ermöglicht, gut ausgebildete Menschen für den Arbeitsmarkt zu aktivieren, und ist erheblich effizienter als teure Programme der Umschulung.”

Unser Aufruf In diese Richtung wollen wir mit verantwortungsbewussten Vertretern der Politik zusammenarbeiten und unseren Beitrag dazu leisten, den Deutschen aus Russland den Platz in der Gesellschaft zu sichern, den sie aufgrund ihrer Lebensgeschichte und ihrer beruflichen Qualifikation verdient haben. Um die Grundlinien unserer Vereinigung weiter auszuarbeiten, rufen wir alle unsere Unternehmer, Selbständigen und Freiberufler dazu auf, mit uns unter den unten genannten Telefonnummern Kontakt aufzunehmen. Wir sind bestrebt, der genannten Zielgruppe Hilfe bei der Gründung und Finanzierung ihrer Unternehmen sowie bei der Werbung zu leisten. Tatkräftig helfen wir dort, wo im geschäftlichen Alltag Hilfe benötigt wird! Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Alexander Kühl Waldemar Axt, stellvertretender Bundesvorsitzender Albrecht Friedrich Mai 2007

Voll daneben! er Anfang April dieses Jahres die Nummer 14 des “Bayernkuriers”, der Parteizeitung der Christlich Sozialen Union also, aufschlug, mochte seinen Augen kaum trauen, fand sich doch dort unter der Überschrift “Spätaussiedler” und der Unterüberschrift “Für Straftäter schließt sich die Tür” die folgende Meldung: “Berlin - Der Bundesrat hat eine Gesetzesänderung gebilligt, mit der der Aufnahme von Kriminellen und Terroristen als angebliche ‘Spätaussiedler’ ein Riegel vorgeschoben wird. Künftig wird nicht mehr aufgenommen, wer einer terroristischen Vereinigung angehört oder sie unterstützt oder wer zu politischen Gewalttaten aufgerufen hat. Ausgeschlossen wird zudem, wer in seiner bisherigen Heimat ein Verbrechen

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im Sinne des deutschen Strafrechts begangen hat. Schon seit mehreren Jahren sind bis zu 80 Prozent der Spätaussiedler keine Deutschen mehr, sondern meist russische Familienangehörige. Mit ihrer Integration gibt es manche Probleme.” Ohne weitere Erklärungen werden also Spätaussiedler in einem Atemzug mit Kriminellen und Terroristen genannt, und abschließend findet sich eine “Analyse” des Spätaussiedlerzuzugs, die an Oberflächlichkeit nicht zu überbieten ist und zudem die Tatsachen verdreht. Was immer den Verfasser zu diesem Artikel verleitet hat - wir werden bei ihm nachfragen und Ihnen seine Antwort in der nächsten Ausgabe mitteilen. Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender Mai 2007

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

„Chancen schaffen – Chancen nutzen“ 29. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 26. Mai 2007 in Wiesbaden - Presseerklärung .- So werden sie beispielsweise fragen, weshalb es im Jahr 2006 zu einem dramatischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen auf 7.747 gekommen ist. Bei aller Anerkennung der Bleibehilfen der Bundesregierung für die deutsche Minderheit in den Ländern der GUS sieht die Landsmannschaft den Hauptgrund dieser Entwicklung in der Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren infolge der Bestimmungen des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes. Diese Überbetonung ist umso bedauerlicher, als die Landsmannschaft immer wieder betont hat, dass der Verlust der deutschen Sprache ein wesentlicher Teil des kollektiven Kriegsfolgenschicksals ist, das alle maßgeblichen Parteien des Deutschen Bundestages der Volksgruppe nach wie vor zuerkennen. - Sie werden fragen, weshalb sich in bestimmten Medien eine einseitige und negative Berichterstattung über Deutsche aus Russland breit machen konnte, die nur mit dem Wort „Aussiedlerfeindlichkeit“ zu beschrieben ist. Mit Bedauern musste die Landsmannschaft zur Kenntnis nehmen, dass der öffentliche Protest gegen diese Berichte ausgeblieben ist und nur sehr selten darauf verwiesen wird, dass die Integration der Deutschen aus Russland in ihrer Gesamtheit als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden kann. - Sie werden fragen, weshalb trotz zunehmender Klagen der Wirtschaft über einen Mangel an Fachkräften hoch qualifizierte russlanddeutsche Arbeitskräfte und Akademiker mit oftmals kaum zu überwindenden Hindernissen auf dem Weg der beruflichen Eingliederung zu rechnen haben. - Sie werden eine höchst fragwürdige Studie der Bundesanstalt für Arbeit zur Sprache bringen, die aufgrund inhaltlicher und methodischer Mängel den Eindruck vermittelt, Spätaussiedler seien in weit überdurchschnittlichem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen. Außerdem werden sie diesem falschen Eindruck mit offiziellen Untersuchungen begegnen, aus denen hervorgeht, dass von Spätaussiedlern als kritischer Gruppe keine Rede sein Mit deutlichen Worten werden die Vertreter der kann, insbesondere was die zweite und dritte GeLandsmannschaft der Deutschen aus Russland auf neration nach der Einreise angeht. Schwachstellen bei der Integration hinweisen und - Und sie werden schließlich fragen, weshalb immer unangenehme Fragen stellen. nter dem Motto „Chancen schaffen – Chancen nutzen“ findet am 26. Mai 2007 von 8 bis 24 Uhr in den Wiesbadener Rhein-Main-Hallen das 29. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland statt. Die Schirmherrschaft hat der Hessische Ministerpräsident Roland Koch übernommen. Die Landsmannschaft veranstaltet damit bereits zum 17. Mal ihr Bundestreffen in der Hauptstadt des Landes Hessen, das in der Auswanderungsgeschichte von Deutschen nach Russland eine besondere Rolle gespielt hat und sich gegenwärtig durch eine vorbildliche Aussiedlerpolitik auszeichnet. Die Festreden im Rahmen der Feierstunde halten die Hessische Sozialministerin Silke Lautenschläger und der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Christoph Bergner. Grußworte werden von Vertretern der Russlanddeutschen in der GUS und den USA sowie vom designierten Oberbürgermeister der Stadt Wiesbaden, Dr. Helmut Müller, und dem Integrationsbeauftragten der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, Thomas Kufen, überbracht. Für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland spricht ihr Bundesvorsitzender Adolf Fetsch. In ihrem Motto des Bundestreffens „Chancen schaffen – Chancen nutzen“ hat die Landsmannschaft die beiden Grundprinzipien einer Erfolg versprechenden Integrationsarbeit für Deutsche aus Russland zusammengefasst: - „Chancen schaffen“ als Aufforderung an die Öffentlichkeit und die politisch Verantwortlichen in Deutschland, den Spätaussiedlern aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion den Weg in diese Gesellschaft zu ebnen; - „Chancen nutzen“ als Appell an die Deutschen aus Russland, sich verstärkt in hiesige Vereine und Organisationen einzubringen und selbstbewusster die Möglichkeiten wahrzunehmen, die ihnen ein freies und demokratisches Land wie die Bundesrepublik zu bieten hat.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews noch eher über Deutsche aus Russland als mit ihnen gesprochen wird. Vor allem aber werden die Vertreter der Landsmannschaft im Rahmen ihres Bundestreffens darauf verweisen, dass Deutsche aus Russland einen Gewinn für die Bundesrepublik Deutschland darstellen, - weil mit ihnen junge, kinderreiche und arbeitsame Menschen in eine Gesellschaft kommen, die sich zunehmend der Gefahr einer Überalterung gegenüber sieht - und weil sie sich mit ihren Fähigkeiten und ihrer

Leistungsbereitschaft ganz gewiss nicht zu verstecken brauchen. Bei aller Kritik wird die Landsmannschaft jedoch nicht vergessen, dankbar zu erwähnen, dass dank des Entgegenkommens der jeweiligen Bundesregierungen und ihrer eigenen Bemühungen inzwischen rund 2,7 Millionen Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion Aufnahme in der Bundesrepublik gefunden haben, davon etwa 200.000 in Hessen. Mai 2007

“Sie sind Deutsche!” 6.000 Besucher beim 29. Bundestreffen in Wiesbaden Politiker bekennen sich zu den Deutschen aus Russland indeutige Bekenntnisse zu den Deutschen aus Russland standen im Mittelpunkt der Reden bei der Feierstunde des 29. Bundestreffens der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, das am 26. Mai unter dem Motto “Chancen schaffen - Chancen nutzen” in den Rhein-Main-Hallen der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden stattfand.

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Dank und Kritik Ungefähr die Hälfte der insgesamt 6.000 Besucher war zur Feierstunde erschienen und füllte die Ränge in Halle 1 fast bis auf den letzten Platz. Nach dem von Pfarrer Anton Heinz gesprochenen Eröffnungsgebet konnte der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, eine respektable Anzahl von Ehrengästen aus den verschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens begrüßen. Ehe er im weiteren Verlauf seiner Rede kritisch auf die gegenwärtige Situation im Spätaussiedlerbereich einging, bedankte sich Fetsch bei der einheimischen Bevölkerung und allen maßgeblichen Politikern für die Aufnahme von über 2,5 Millionen Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion in der Bundesrepublik. Dabei erwähnte er ohne falsche Bescheidenheit, dass die Landsmannschaft seit Jahren der Motor der Ausreisebewegung ist. Ohne die Landsmannschaft würde immer noch ein erheblicher Teil unserer Landsleute gegen ihren Willen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion leben. Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 sei es jedoch, so Fetsch, zu einem mehr als bedauerlichen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen gekommen, der sich durch die Bleibehilfen der

Bundesregierung für die Deutschen in der GUS nur unzureichend erklären lasse. Der Hauptgrund für den Rückgang liege vielmehr in der Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren. Wörtlich sagte der Bundesvorsitzende: “Vor allem aber haben wir kein Verständnis dafür, dass Menschen, die den Verlust ihrer deutschen Muttersprache als wesentlichen Bestandteil ihres Kriegsfolgenschicksals beklagen, heute mangelhafte Deutschkenntnisse als Ausreisehemmnis in den Weg gelegt werden. Wir wissen doch, dass Deutsch in der Sowjetunion als Sprache des Feindes galt und wegen der zu erwartenden Diskriminierung nicht gepflegt und in der Öffentlichkeit gesprochen werden konnte!” Wenig Verständnis habe die Landsmannschaft auch für die nicht mehr zu übersehende Entwicklung, über Deutsche aus Russland in den Medien vorwiegend Negatives zu berichten, während das Positive ausgespart bleibe. Fetsch zitierte in diesem Zusammenhang den Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation “Gesellschaft für bedrohte Völker”, Tilman Zülch, der sich am Historikerforum im Rahmen des Bundestreffens beteiligte: “Aussiedlerfeindlichkeit ist nicht besser als Ausländerfeindlichkeit.” Dem sei vonseiten der Landsmannschaft nichts hinzufügen.

Grußworte aus nah und fern Aus Deutschland ebenso wie aus den Vereinigten Staaten von Amerika und der Russischen Föderation waren die Überbringer von Grußbotschaften gekommen. Der designierte Oberbürgermeister von Wiesbaden,

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Dr. Helmut Müller, hob in seiner Ansprache die Bedeutung Hessens in der Auswanderungsgeschichte der Russlanddeutschen hervor und würdigte den Beitrag der Landsmannschaft zur Integration der in den letzten Jahren gekommenen Deutschen aus den Staaten der GUS. Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, ging auf den Schicksalsweg der Volksgruppe ein, der zu der historischen Verpflichtung der Bundesrepublik geführt habe, unsere Landsleute auch weiterhin bei sich aufzunehmen. Im Spätaussiedleraussiedleraufnahme dürfe es daher keine weiteren Verschärfungen geben, und es sei erforderlich, dass Familien gemeinsam ausreisen dürften. Weitere Grußworte sprachen der Vorsitzende der Gruppe der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jochen-Konrad Fromme, und der Integrationsbeauftragte der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, Thomas Kufen. Eine erheblich weitere Anreise als die bisher Genannten hatte der stellvertretende Vorsitzende des “Internationalen Verbandes der deutschen Kultur in Russland”, Edwin Grib, der sich am Tag nach dem Bundestreffen auch an der I. Internationalen Partnerschaftskonferenz beteiligte. Er beendete sein Grußwort mit dem Bekenntnis: “Heute werden wir durch ein gemeinsames historisches Gedächtnis, durch gemeinsame Familienschicksale und durch das Zugehörigkeitsgefühl mit unserem Volk verbunden. Trotz durchgemachter Leiden und erlittener Ungerechtigkeit haben viele von uns bewusst Russland zur Heimat gewählt. Wir sind bestrebt, unsere kulturelle Identität als Deutschstämmige in Russland wieder zu erlangen und sie den Jugendlichen anzuerziehen, indem wir Staatsbürger der Russischen Föderation bleiben.” Mit einer ungewöhnlichen Mischung aus deutschsprachigem Beginn, amerikanischem Mittelteil und zwei russischen Schlusswörtern stellte schließlich der Präsident der Amerikanischen historischen Gesellschaft der Deutschen aus Russland, Dr. Jerry Siebert, die Forschungsarbeit seiner Organisation und anderer Organisationen in den USA vor.

Besonderer Stellenwert der Integrationsarbeit Die Hessische Sozialministerin Silke Lautenschläger überbrachte in ihrer Festrede die Grüße des Ministerpräsidenten des Landes und Schirmherrn der Veranstaltung, Roland Koch, der sich am selben Tag gemeimsam mit dem Hessischen Aussiedlerbeauftragten Rudolf Friedrich beim Sudetendeutschen Treffen in Augsburg aufhielt, wo ihm der renommierte Karlspreis verliehen wurde. Die Ministerin er-

innerte daran, das die Integrationspolitik seit 1999 einen besonderen politischen Schwerpunkt in der Arbeit der Hessischen Landesregierung bilde. “Ein wichtiger Punkt dieser Integrationspolitik war die Schaffung der Funktion des Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, Rudolf Friedrich. Er vertritt die Interessen der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler, intensiviert, koordiniert und bündelt die Eingliederung der Spätaussiedler in die Gesellschaft”, so die Ministerin. Mit dem im März 2000 beschlossenen Integrationskonzept habe die Hessische Landesregierung die Grundlagen für die Integrationsarbeit gelegt. Die Landesregierung habe die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und die Deutsche Jugend aus Russland mit Projekten erfolgreich in die Integrationsarbeit eingebunden. Sie seien am besten in der Lage, Kontakte zu den Spätaussiedlern herzustellen.

“Sie sind Deutsche!” Seinen emotionalen Höhepunkt hatte die Feierstunde erreicht, als der Parlamentarische Staatssekretär und Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Dr. Christoph Bergner, mit diesen Worten seinen Zuhörern aus dem Herzen sprach: “Sie sind Deutsche! Sie sind Deutsche, so lange Sie es sein wollen! Ihre Familien haben lange genug gelitten - allein das verbietet es, ihr Deutschsein in Frage zu stellen.” In diesem Zusammenhang würdigte der Aussiedlerbeauftragte die Politik der Landsmannschaft, die dieses Deutschsein bis hinein in die Sprache ihres Verbandsorgans immer betont habe. Im weiteren Verlauf seiner Rede ging er mit sehr persönlichen Worten auf drei Punkte ein, die ihn im Laufe seiner Arbeit besonders berührt und motiviert hätten: Erschüttert sei er von der Armut gewesen, die er bei einem Besuch von Familien ehemaliger Trudarmisten in Barnaul angetroffen habe. Diese Armut dürfe man niemals aus den Augen verlieren, wenn man über Russlanddeutsche und Hilfen der Bundesregierung für die Volksgruppe spreche. Sehr zu denken habe ihm auch ein Artikel in “Volk auf dem Weg” gegeben, in dem von einem rapiden Bildungsverlust der deutschen Volksgruppe in der Sowjetunion infolge der Unterdrückungsmaßnahmen des stalinistischen Terrorregimes die Rede war. Daraus nehme er den Auftrag, sich mit voller Kraft auch für die kulturelle Integration der Volksgruppe einzusetzen und alles zu tun, um die Jahre der Demütigung in den Herkunftsstaaten zu beenden. Als Drittes nannte der Aussiedlerbeauftrage das Vorurteil, der Verlust der deutschen Sprache sei das Er-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews gebnis von Gleichgültigkeit. Dieser Verlust sei vielmehr das Ergebnis von Unterdrückung, und gerade deshalb sei es sehr ärgerlich, dass deutsche Sprachkenntnisse in diesem Ausmaß zum Aufnahmekriterium geworden seien.

Mit den bewegenden Worten, die Pastor Hans Freiherr von Nießen zur Totenehrung sprach, “Großer Gott, wir loben dich” und dem Deutschlandlied ging die Feierstunde zu Ende. Mai 2007

29. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Begrüßungsrede (Auszüge) Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender ... Eine Feierstunde wie diese sollte gewiss kein Forum bieten für lautstarke Proklamationen und heftige politische Attacken. Ganz auf Politisches will und kann ich jedoch nicht verzichten. Wir haben diesem Bundestreffen ganz bewusst das Motto „Chancen schaffen – Chancen nutzen“ gegeben, in dem die beiden Grundprinzipien der landsmannschaftlichen Arbeit zusammengefasst sind. Mit „Chancen nutzen“ wenden wir uns an unsere eigenen Landsleute und appellieren an sie, sich in verstärktem Maße am gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland zu beteiligen und bewusster und selbstbewusster die Möglichkeiten zu nutzen, die ihnen ein freies und demokratisches Land wie dieses zu bieten hat. Der Unterstützung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland dürfen sie sich dabei gewiss sein. Mit „Chancen schaffen“ wenden wir uns dagegen vor allem an die politisch Verantwortlichen mit der Aufforderung, den Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion auch weiterhin und in verstärktem Maße den Weg in ihre neue Heimat zu ebnen. Bei aller Kritik an gegenwärtigen Missständen – und das schicke ich meinen weiteren Ausführungen ganz bewusst voraus! - will ich jedoch nicht vergessen, mich bei der einheimischen Bevölkerung, den Bundes- und Länderregierungen und den Parteien dafür zu bedanken, dass inzwischen rund 2,7 Millionen meiner Landsleute in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme gefunden haben. Dass die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland seit Jahrzehnten der Motor dieser Ausreisebewegung ist, sei an dieser Stelle ohne falsche Bescheidenheit erwähnt! Und es dürfte sich kaum Widerspruch regen, wenn ich behaupte, dass ohne die Landsmannschaft ein erheblicher Teil unserer Landsleute noch immer gegen ihren Willen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion leben würde! Allen, die sich innerhalb der Landsmannschaft – auf Orts- und Kreisebene ebenso wie in den Landes- und Bundesvorständen – in dieser Angelegenheit engagiert haben, sage ich meinen herzlichen Dank, und

ich denke, sie haben sich den Beifall von uns allen verdient. Wie Sie wissen, erkennen die Parteien des Deutschen Bundestages nach wie vor das kollektive Kriegsfolgenschicksal unserer Volksgruppe an und schaffen damit die rechtliche Voraussetzung für eine Fortsetzung der Ausreise. Umso bedauerlicher ist der drastische Rückgang der Spätaussiedlerzahlen seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005, der sich nach Auffassung der Landsmannschaft durch die Bleibehilfen der Bundesregierung für die Deutschen in der GUS nur unzureichend erklären lässt. Den Hauptgrund für diesen Rückgang sehen wir vielmehr in der Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren, und ich erkläre deshalb für die Landsmannschaft mit aller Deutlichkeit: Es darf nicht sein, dass Mitglieder einer Volksgruppe, die vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten massiv an der Ausreise in die Heimat ihrer Vorfahren gehindert wurden, heute dafür bestraft werden. Ohne jeden Zweifel wären die allermeisten meiner Landsleute bereits vor Jahrzehnten nach Deutschland ausgereist, wenn die Machthaber das zugelassen hätten. Ein Blick auf die minimalen Ausreisezahlen der 50er und 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts spricht Bände! Vor allem aber haben wir kein Verständnis dafür, dass Menschen, die den Verlust ihrer deutschen Muttersprache als wesentlichen Bestandteil ihres Kriegsfolgenschicksals beklagen, heute mangelhafte Deutschkenntnisse als Ausreisehemmnis in den Weg gelegt werden. Wir wissen doch, dass Deutsch in der Sowjetunion als Sprache des Feindes galt und wegen der zu erwartenden Diskriminierung nicht gepflegt und in der Öffentlichkeit gesprochen werden konnte! Trotz allem sind wir zuversichtlich, dass wir gemeinsam mit der Bundesregierung und Herrn Dr. Bergner eine Lösung finden werden, die Familientrennungen endgültig zu einem Thema der Vergangenheit werden lässt.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Wenig Verständnis haben wir auch für die nicht mehr zu übersehende Entwicklung, über Deutsche aus Russland in den Medien vorwiegend Negatives zu berichten, während das Positive ausgespart bleibt. Ich darf in diesem Zusammenhang den Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation „Gesellschaft für bedrohte Völker“, Tilman Zülch, zitieren, der prominentester Teilnehmer des Historikerforums dieses Bundestreffens ist. Er sagte – und dem ist von unserer Seite nichts hinzuzufügen: „Aussiedlerfeindlichkeit ist nicht besser als Ausländerfeindlichkeit.“ Leider ist der öffentliche Protest gegen diese Art der Berichterstattung bis zum heutigen Tage weitgehend ausgeblieben. Unverständlich ist das auch deshalb, weil wir mit guten Gründen darauf verweisen können, dass die Integration der Deutschen aus Russland in ihrer Gesamtheit einen erfolgreichen Verlauf nimmt. Mit unserer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit teilen wir den Menschen dagegen mit, - dass mit den Deutschen aus Russland junge, kinderreiche und arbeitsame Menschen nach Deutschland kommen, - die keineswegs schlechter sind als der bundesdeutsche Durchschnitt - und sich mit ihren Fähigkeiten und ihrer Leistungsbereitschaft ganz gewiss nicht zu verstecken brauchen. In besonderem Maß gilt das für den Kultur- und Sportbereich. Ich erinnere Sie etwa an die Olympischen Sommerspiele von Athen 2004, wo die Deutschen aus Russland am Gewinn von 13 der insgesamt 53 deutschen Medaillen beteiligt waren – bei einem Bevölkerungsanteil von nur knapp 3,5 Prozent! Sehr geschadet hat dem Ansehen der Deutschen aus Russland in der Öffentlichkeit auch eine Studie der Bundesagentur für Arbeit, in der aufgrund inhaltlicher und methodischer Mängel der Eindruck vermittelt wird, Spätaussiedler und vor allem die Akademiker unter ihnen seien stark überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Dass davon in dieser Allgemeinheit keine Rede sein kann, haben wir in einer Stellungnahme und mehreren Briefen ausgeführt, mit denen wir bei den Verfassern der Studie auf Resonanz stießen. Einem Gespräch, das wir in dieser Angelegenheit vor wenigen Tagen mit der Bundesagentur für Arbeit geführt haben, wird ein weiteres Fachgespräch Mitte Juni folgen, bei dem wir auf Rücknahme oder zumindest Modifikation der Studie drängen werden. Erfreulicherweise haben sich bezüglich dieser Studie sowohl Herr Dr. Bergner als auch die Herren From-

me, Friedrich und andere auf unsere Seite gestellt und gleichfalls eine Überprüfung angemahnt. Bei allen Schwächen, die die Studie aufweist, hat sie doch in einem Punkt den Finger auf die Wunde gelegt und – wenn auch in höchst fragwürdiger Weise – das quantifiziert, was die Landsmannschaft schon seit Jahren beklagt: Ich meine die Tatsache, dass hoch qualifizierte russlanddeutsche Arbeitskräfte und Akademiker mit völlig unnötigen Hindernissen bei ihrer beruflichen Eingliederung in Deutschland rechnen müssen. Und das trotz zunehmender Meldungen aus der Wirtschaft über einen Mangel an Fachkräften. Wir können daher Herrn Fromme nur Recht geben, wenn er in seiner Stellungnahme zu besagter Studie Vorschläge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwähnt, die darauf hinaus zielen - Anerkennungsverfahren für Bildungs- und Berufsabschlüsse transparenter zu machen - und die Möglichkeiten auszubauen, fehlende Qualifikationsbestandteile nachzuholen. Am Tag nach unserem Bundestreffen findet hier in Wiesbaden die I. Internationale Partnerschaftskonferenz statt, an der sich Vertreter der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und der russlanddeutschen Dachverbände in den Ländern der GUS beteiligen. Neben Möglichkeiten der Intensivierung der Zusammenarbeit wird dabei sicherlich auch ein Thema zur Sprache kommen, das uns allen seit Jahren auf dem Herzen liegt: Die Frage nämlich, weshalb die Regierungen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Russlanddeutschen, die in dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 pauschal und völlig grundlos des Verrats bezichtigt wurden und zu Hunderttausenden der Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt waren, noch immer nicht faktisch und vollständig rehabilitiert haben. Lassen Sie mich zum Schluss kommen: Die ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland haben in den letzten Wochen und Monaten das ihnen Mögliche getan, um ein eindrucksvolles Bundestreffen auf die Beine zu stellen. Ihnen allen sage ich meinen herzlichen Dank, in den ich auch das Bundesinnenministerium und die Hessische Landesregierung mit einschließe, die uns großzügige Hilfe bei der Realisierung des Bundestreffens und der Partnerschaftskonferenz geleistet haben. Mai 2007

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“Brückenpfeiler” – I. Internationale Partnerschaftskonferenz der russlanddeutschen Dachverbände um ersten Mal veranstaltete die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland eine Internationale Partnerschaftskonferenz der russlanddeutschen Dachverbände. Dazu versammelten sich im Wiesbadener Haus der Heimat am Tag nach dem Bundestreffen Vertreter der Landsmannschaft selbst und der russlanddeutschen Dachverbände aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (Internationaler Verband der Deutschen Kultur, Moskau; Jugendring der Russlanddeutschen, Moskau; Föderale National-Kulturelle Autonomie, Russland; Assoziation der Deutschen in Kasachstan; Assoziation der Deutschen in der Ukraine; Volksrat der Deutschen der Kirgisischen Republik). Hinzu kamen Teilnehmer aus den USA (American Historical Society of Germans from Russia, Germans from Russia Heritage Collection, Germans from Russia Heritage Society) und Vertreter deutscher Kulturzentren und Russisch-Deutscher Häuser aus mehreren Regionen und Städten Russlands. In seinem Begrüßungswort ging der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft Adolf Fetsch auf den aktuellen Stand der grenzübergreifenden Zusammenarbeit der Landsmannschaft ein. Gleiches taten Heinrich Martens (Vorsitzender des Internationalen Verbandes der Deutschen Kultur, Moskau) und Dr. Jerry Siebert (Präsident der “American Historical Society of Germans from Russia”, USA) für ihre Organisationen. Zur “Hilfenpolitik der Bundesregierung als Brückenbildung zwischen Zivilgesellschaften” sprach Dr. Christoph Bergner, Parlamentarischer Staatssekretär und Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. Die Veranstaltung hatte unter anderem zum Ziel, die russlanddeutschen Vereine und Verbände in die internationale Zusammenarbeit einzubinden sowie durch

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grenzüberschreitende Projekte und Maßnahmen die Gemeinschaft der Russlanddeutschen zu stärken. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Zusammenarbeit gehören unter anderem: - Auf- und Ausbau von direkten Kontakten und Partnerschaften zwischen den Begegnungszentren der Russlanddeutschen und den Gliederungen der Landsmannschaft, zwischen Jugendclubs der Deutschen in Russland und Jugendgruppen der Spätaussiedler in Deutschland; - gemeinsame Jugendarbeit; - Jugend-, Kultur- und Fachkräfteaustausch; - gemeinsame Informationsarbeit und Publikationen. Nach den Startmaßnahmen und Impulsveranstaltungen soll der Schwerpunkt der Zusammenarbeit in die unteren Gliederungen und regionalen Begegnungszentren verlegt werden. Im Laufe des Tages wurden einige regionale Partnerschaften festgelegt und erste Gespräche geführt, darunter Niedersachsen – Tjumen, Halle/Saale – Ufa, Stuttgart – Samara, Augsburg – Solikamsk, Hessen – Engels und NRW – Altairegion. Später sollen Partnerprojekte erarbeitet werden. Frank Willenberg, Ministerialdirigent im Bundesministerium des Innern, klärte die Versammelten über die Voraussetzungen und Möglichkeiten der Projektumsetzung auf. Zum Schluss wurde ein Partnerschaftsabkommen zwischen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Adolf Fetsch), dem Internationalen Verband der Deutschen Kultur (Heinrich Martens) und dem Jugendring der Russlanddeutschen (Andrej Rotermel) unterzeichnet. Mai 2007

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Kritischer Dialog in sachlicher Atmosphäre Bundesvorstand der Landsmannschaft trifft sich mit Verfassern der IAB-Studie zur Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern ie äußerst umstrittene Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zur Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern, über die wir in unserer Mai-Ausgabe 2007, Seite 2, berichtet haben, war Gegenstand eines Gesprächs zwischen Mitgliedern des Bundesvorstandes der Landsmannschaft und den Autoren der Untersuchung am 20. Juni in der Stuttgarter Bundesgeschäftsstelle. Demselben Thema waren zwei weitere Gespräche mit den IAB-Mitarbeitern gewidmet, die nicht zuletzt auf Anregung der Landsmannschaft beim Vorsitzenden der Gruppe der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jochen-Konrad Fromme, und beim Aussiedlerbeirat der Bundesregierung unter Leitung des Aussiedlerbeauftragten Dr. Christoph Bergner stattfanden. Der Bundesvorstand der Landsmannschaft war bei diesen Gesprächen durch den Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch, seinen Stellvertreter Adolf Braun und Lilli Bischoff vertreten. Jochen-Konrad Fromme wandte sich ebenso wie Dr. Bergner und die Mitglieder des Bundesvorstandes energisch gegen die Ergebnisse der Studie und bezeichnete diese als methodisch fragwürdig mit fatalen Auswirkungen auf die Akzeptanz der Deutschen aus Russland in der Öffentlichkeit. Eine Revision bzw. Rücknahme der Studie sei dringend notwendig.

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Modifizierungen angekündigt Ihre Auffassung wiederholten die Vertreter der Landsmannschaft beim Gespräch in der Stuttgarter Bundesgeschäftsstelle. Vorab hatten sie den IAB-Autoren einen Katalog von 16 kritischen Fragen übermittelt, die sich mit Schwachpunkten der Studie und der Art und Weise ihrer vorschnellen Veröffentlichung beschäftigten. In weitgehend sachlicher Atmosphäre – wobei nicht unerwähnt bleiben sollte, dass einige Gesprächsteilnehmer vonseiten der Landsmannschaft ihre Empörung über die Studie nur schwer unterdrücken konnten! - kam es immerhin bezüglich dreier Punkte zu gewissen Zugeständnissen der Studienverfasser: - In einer Pressemitteilung des Institutes soll ausdrücklich betont werden, dass Gegenstand der Untersuchung nicht sämtliche Spätaussiedler waren – wie in der ursprünglichen Pressemitteilung des In-

stitutes ausgeführt -, sondern lediglich diejenigen, die in den Jahren 2000 bis 2004 nach Deutschland gekommen sind, was verallgemeinernde Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Volksgruppe verbietet. Vorschlägen, sämtliche Aussiedler und Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion hinsichtlich ihres Beschäftigungsgrades zu untersuchen, erteilten die Mitarbeiter des IAB jedoch eine klare Absage, da es unmöglich sei, sämtliche Deutsche aus Russland in der Bundesrepublik statistisch zu erfassen. Mehr als bedauerlich, denn nach Auffassung der Landsmannschaft würde eine Untersuchung der russlanddeutschen Aussiedler, die bereits länger in Deutschland leben, zu ganz anderen Ergebnissen führen und belegen, dass es sich bei unseren Landsleute um ausgesprochen fleißige und arbeitswillige Menschen handelt! - Erläuterndes soll die Pressemitteilung auch zur Problematik des Vergleichs der Arbeitslosigkeit einer zeitlich begrenzten Gruppe von Spätaussiedlern mit einheimischen Deutschen und Ausländern ohne diese zeitliche Begrenzung enthalten. - Und schließlich wird es ein exklusives Interview für die Landsmannschaft und die Leser von “Volk auf dem Weg” geben, in dem Auskunft zu weiteren Kritikpunkten gegeben werden wird. Leider sind weder die Pressemitteilung noch die Antworten auf unsere Interviewfragen rechtzeitig vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe bei uns eingegangen, so dass wir Sie auf die August-Ausgabe vertrösten müssen. Zufriedenstellend war die positive Reaktion der IAB-Mitarbeiter auf den Vorschlag der Landsmannschaft, künftig beim Erstellen der theoretischen Grundlagen zur historischen, kulturellen und sozialpolitischen Definition von Aussiedlern bzw. Spätaussiedlern zusammenzuarbeiten. So gab es als prompte Reaktion der Studienverfasser bereits am Tag nach dem Treffen eine Einladung zur Vorbereitung bzw. Teilnahme an einer einschlägigen Tagung, die im Herbst dieses Jahres stattfinden wird.

Ziele der Studie Befragt nach den Zielen, nannten die IAB-Autoren als Ausgangspunkt der Studie die Feststellung, dass es kaum verwertbare Informationen über Spätaussiedler gebe, die nach 2000 eingereist sind. Ein

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Hauptgrund dafür sei in den Identifizierungsproblemen von Spätaussiedlern in der Statistik zu sehen. Verschiedene Untersuchungen seien jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass es insbesondere seit den 90er Jahren zu Problemen bei der Arbeitsmarktintegration von Spätaussiedlern gekommen ist. So besage eine OECD-Studie, dass die Beschäftigungsquote von Spätaussiedlern über die Jahre hinweg rückläufig ist. Ziel der Untersuchung sei deshalb die Aktualisierung der Aussagen über die Arbeitsmarktintegration von Spätaussiedlern als Grundlage für die Ermittlung von effizienten Maßnahmen zur Verbesserung ihres Beschäftigungsgrades gewesen. Eindeutig setzten sich die Verfasser der Studie gegen Vorwürfe der Vertreter der Landsmannschaft zur Wehr, sie seien für negative Wirkungen der Veröffentlichung der Untersuchung in der Öffentlichkeit verantwortlich. Die publizistische bzw. politische Weiterverwertung der Ergebnisse ihrer Studie gehörten nicht zu ihrem Aufgabengebiet als Wissenschaftler. Sie legten allerdings Wert auf die Feststellung, dass von einer nennenswerten Reaktion der allgemeinen Medien auf ihre Studie keine Rede sein könne. Dem hielten die Vertreter der Landsmannschaft entgegen, dass eine negative Veröffentlichung in der BILD-Zeitung, und sei sie auch noch so klein, von verheerender Außenwirkung sei. Aufgabe der IABMitarbeiter wäre es durchaus gewesen, gegen die darin enthaltene verzerrte Darstellung der Studienergebnisse vorzugehen.

Gründe für diese verzerrte Darstellung fänden sich in der Studie selbst und vor allem in der Pressemitteilung, da darin keine differenzierten Angaben zu der untersuchten Gruppe von Spätaussiedlern enthalten seien. Zudem mache die Studie an mehreren Stellen einen halbgaren Eindruck, weshalb es besser gewesen wäre, mit ihrer Veröffentlichung zu warten, bis endgültige Ergebnisse vorliegen. So aber habe man sich mit der übereilten Veröffentlichung auf ein von negativen Vorurteilen geplagtes Gebiet begeben und dem Ansehen der Deutschen aus Russland in erheblichem Maße geschadet.

Folgerungen Zum Abschluss des Treffens wiederholten die Mitarbeiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die Zielrichtung ihrer Studie, die zwar vor allem eine wissenschaftliche gewesen sei, was aber eine praktische Verwertung ihrer Ergebnisse keinesfalls ausschließe. Insbesondere gelte das für die Hinweise auf das ungenutzte Potential russlanddeutscher Akademiker und das Paradoxon, dass Spätaussiedler durch höhere Bildung nur sehr bedingt vor Arbeitslosigkeit geschützt seien. Um diese Missstände zu beseitigen, seien verstärkte Integrationsbemühungen seitens der Politik nötig. Juni 2007

Kein Einsatz von russischen Polizisten gegen Spätaussiedler! aut Berichten zweier niedersächsicher Tageszeitungen hat sich der Polizeipräsident von Hannover, Hans-Dieter Klosa, in kaum zu glaubender Weise über die Kriminalität von Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion geäußert und Sondermaßnahmen zu ihrer “Behandlung” angekündigt. Für die Landsmannschaft waren diese Äußerungen Anlass, sich mit der folgenden scharf formulierten Pressemitteilung an die Öffentlichkeit zu wenden und juristische Schritte anzukündigen. Rechtliche Schritte wegen des Tatbestandes der Volksverhetzung haben inzwischen die Menschenrechtsorganisation “Gesellschaft für bedrohte Völker” mit ihrem Generalsekretär Tilman Zülch und Rechtsanwalt Prof. Dr. Edgar Weiler eingeleitet. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hält es für einen ungeheuerlichen Vorgang, dass laut

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Meldungen des “Göttinger Tageblatts” und der “Hannoverschen Allgemeinen Zeitung” vom 31. Mai 2007 die Stadt Hannover die Zusammenarbeit mit russischen Polizisten aus Iwanowo suche, um “mehr über den Umgang mit russischen Spätaussiedlern zu erfahren”. Mit Polizisten also aus einem Land, das weit vom Niveau westlicher Demokratie entfernt ist und in dem Kritiker zunehmend unterdrückt werden! Begleitet werden diese Pläne von diskrimierenden und rassistischen Äußerungen des hannoverschen Polizeipräsidenten Hans-Dieter Klosa über russlanddeutsche Spätaussiedler. So beleidigt er diese als “Klientel”, die durch “Gewaltbereitschaft auffalle”, bei der “Freundlichkeit im Umgang leider oft nicht zum Ziel führe”. Besonders verwerflich sind diese Aussagen auch deshalb, weil sie in eklatanter Weise der objektiven Faktenlage widersprechen, in bestimmten Kreisen

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews der Bevölkerung vorhandene Vorurteile schüren und damit der Aussiedlerfeindlichkeit Vorschub leisten. Es sei in diesem Zusammenhang nämlich daran erinnert, dass laut offiziellen Untersuchungen in BadenWürttemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und verschiedenen norddeutschen Städten von einer überdurchschnittlichen Kriminalitätsneigung russlanddeutscher Spätaussiedler keine Rede sein kann. So ergab eine Studie des Nordrhein-Westfälischen Ministeriums für Gesundheit, Soziales, Frauen und Fa-

milien vor zwei Jahren, dass der Anteil tatverdächtiger Spätaussiedler mit 2,4 Prozent deutlich unter ihrem Bevölkerungsanteil liegt. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wird die Angelegenheit bei einem Treffen mit dem Niedersächsischen Innenminister Uwe Schünemann zur Sprache bringen und behält sich rechtliche Schritte gegen Polizeipräsident Klosa wegen Volksverhetzung vor. Juni 2007

Verkaufen Sie Ihre Identität nicht unter Wert! Rede des Aussiedlerbeauftragten Dr. Christoph Bergner beim 29. Bundestreffen der Landsmannschaft u einem der politischen und emotionalen Höhepunkte des Bundestreffens wurde die Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs und Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, der eingangs die Grüße von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble überbrachte und als Grundlage seines Handelns die Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung zitierte: “Wir bekennen uns auch weiterhin zu der Verantwortung sowohl für diejenigen Menschen, die als Deutsche in Ost- und Südosteuropa sowie in der Sowjetunion unter den Folgen des II. Weltkrieges gelitten haben und in ihrer jetzigen Heimat bleiben wollen, als auch für jene, die nach Deutschland aussiedeln. Dies gilt insbesondere für die Deutschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, bei denen das Kriegsfolgenschicksal am längsten nachwirkt.” Nachstehend der Wortlaut des größten Teiles seiner weiteren Rede:

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Sie haben die klaren Aussagen der Koalitionsvereinbarung gehört. Meine Aufgabe als Beauftragter für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten besteht darin, mich für die Umsetzung dieser Vorgaben und deutlichen Bekenntnisse einzusetzen. Dies ist nicht immer einfach. Über 60 Jahre nach Kriegsende widmet sich die öffentliche Aufmerksamkeit lieber anderen Fragen. Wer aber den Russlanddeutschen gerecht werden will, der muss bereit sein, auch heute noch über ihr Kriegsfolgenschicksal und seine Nachwirkungen nachzudenken, sowohl mit Blick auf die Deutschen aus Russland, die hier ihren Weg in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland suchen, als auch hinsichtlich der Deutschen in Russland, die Russlanddeutschen in der Russischen Föderation und in anderen GUS-Staaten, die dort als

nationale Minderheit leben Nachfolgewirkungen des Kriegsfolgenschicksals – wie zeigen sie sich heute? Lassen Sie mich drei solcher Nachwirkungen erwähnen, die mir nach meinen Erfahrungen besonders wichtig erscheinen: Da ist zunächst einmal das Problem der Armut, das wir uns hier in unserer Wohlstandsgesellschaft kaum noch angemessen vorstellen können, das mir aber beim Besuch ehemaliger Trudarmisten und ihrer Angehörigen in Barnaul, in Pawlodar und andernorts immer wieder begegnet ist. Noch immer leben in den Herkunftsgebieten Deutsche im Ergebnis der Deportationen und des Kriegsfolgenschicksals in beklagenswerter Armut und brauchen unsere Hilfe. Deshalb wird humanitäre Unterstützung auch in Zukunft noch Teil unserer Hilfenpolitik bleiben müssen. Da sind zweitens die Folgen der Ausgrenzung von gesellschaftlicher Teilhabe: Ein Artikel der Verbandszeitschrift “Volk auf dem Weg” aus dem letzten Jahr hat mich nachhaltig beschäftigt. Es war eine Übersicht, in der die Bildungsabschlüsse der unterschiedlichen Völkerschaften der früheren Sowjetunion zu unterschiedlichen Zeitpunkten miteinander verglichen wurden. Während noch in den 20er Jahren die Deutschen (neben den Juden) zu den am besten ausgebildeten Völkern der Sowjetunion gehörten, ist nach den Repressionen Ende der 30er Jahre und vor allem während und nach dem II. Weltkrieg der Qualifikationsstand der Deutschen dramatisch gesunken. Sie rangieren 40 Jahre nach dem ersten Vergleich in der Rangfolge der 18 verglichenen Völkerschaften auf den letzten Plätzen. Unterdrückung und Diskriminierung haben den Deutschen gerade das genommen, was ihnen zuvor

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews besondere Teilhabe in der russischen Gesellschaft ermöglichte: Bildung und entwickelte Fähigkeiten in Wirtschaft und im öffentlichen Leben. Gewiss, es gibt inzwischen Beispiele höchst qualifizierter Russlanddeutscher in hervorgehobenen Positionen, aber die Folgen von Entmündigung und Demütigung, die im ehemaligen kommunistischen Großreich Sowjetunion noch vielfältig erkennbar sind, treffen keine der Völkerschaften so nachhaltig wie die Russlanddeutschen. Überwindung des Kriegsfolgenschicksals heißt deshalb für mich auch: Wir müssen uns für eine kulturelle Emanzipation der Russlanddeutschen einsetzen. Ich danke allen, die dazu beitragen: der Landsmannschaft hier in Deutschland, dem IVDK und anderen Verbänden in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Hier übe auch ich Kritik an der Studie des Nürnberger Institutes für Arbeitsmarktforschung IAB, die in den bisherigen Reden ja bereits ausführlich Erwähnung fand. Ich vermute, dass die Statistik, die ihr zugrunde liegt, fehlerhaft ist. Wir werden uns damit im erweiterten Aussiedlerbeirat noch auseinandersetzen. Aber was mich am meisten ärgert, ist, dass diese IAB-Studie diskriminierende Urteile in die Öffentlichkeit trägt, ohne die komplizierte Ausgangssituation der russlanddeutschen Spätaussiedler auch nur ansatzweise in den Blick zu nehmen und mit der Überschrift “Arbeitslosigkeit bei Aussiedlern viel höher als bei Ausländern” genau die Tugenden in Zweifel zieht, die sich die Russlanddeutschen über die Jahre der Unterdrückung bewahrt haben: Fleiß und Arbeitswille.

Erniedrigt mußt’ ich in die Welt hinaus… Doch deiner Lieder traute Melodien Ließ leise ich in meine Seele zieh’n. Als deinetwegen ich im Staube lag, warst du es doch, die neue Kraft mir gab. Und wenn man deinetwegen mich verhöhnt, hab ich mit meiner Liebe dich gekrönt. Und als der Tod durch Menschenreihen schlich und Grab um Grab sich öffnete für dich, du bliebst mir nah, ich habe dich geliebt, du warst für mich mein allerschönstes Lied. Und ich lese noch die letzte Strophe dieses Gedichtes: Wenn ich im Staub auch deinetwegen lag, bliebst du die Kraft, die neue Hoffnung gab, wenn ich auch tausendmal durch dich verlor, ein Hoch dem Glück, das ich durch dich erkor!

Soweit das Gedicht von Erna Hummel, das belegt, wie Russlanddeutsche um ihre Muttersprache gekämpft und für sie gelitten haben. Es könnte auch Damit komme ich zur dritten Nachwirkung des manchem Deutschen, der hier im Lande aus der beKriegsfolgenschicksals, die ich ansprechen möchte, quemen Mehrheitssprachsituation heraus sich einem den Verlust der deutschen Sprache. laxen Sprachumgang hingibt, mahnend an den Wert Zu den ärgerlichsten Vorurteilen gegenüber Russ- der eigenen Muttersprache erinnern. landdeutschen, die übrigens selbst bei einigen Landesinnenministern anzutreffen sind, gehört die Mei- Für mich ist es fatal, dass die deutsche Sprachkenntnung, der erhebliche Verlust deutscher Sprachkennt- nis durch unsere Rechtsprechung und Gesetzgebung nisse unter Russlanddeutschen sei ein Ergebnis von zur Voraussetzung für die Aufnahme von RusslandGleichgültigkeit oder Nachlässigkeit im Verhältnis deutschen als Spätaussiedler (bzw. deren Angehörizur eigenen sprachlichen Herkunft. Dies ist falsch! ge) geworden ist, denn der Verlust an Sprache ist Der Verlust der deutschen Sprachkenntnis ist eindeu- doch Teil des Kriegsfolgenschicksals, das unsere betig eine Folge der Unterdrückung. Für alle, die das sondere Verantwortung begründet. noch immer nicht begreifen wollen, zitiere ich gern Gewiss, ich sehe keine Chance, diese Entscheidunaus einem Gedicht der russlanddeutschen Dichterin gen zu revidieren, aber ich fühle mich verpflichtet, Erna Hummel, das eine Liebeserklärung und eine die Probleme, die damit verbunden sind, offen anzuLeidensgeschichte im Verhältnis zur eigenen Sprache sprechen. So hat die nachträgliche Einführung immer beschreibt. Ich darf wenige Strophen aus diesem Ge- höherer Aufnahmehürden durch immer neue Sprachdicht zitieren: kriterien zu teilweise bitteren Familientrennungen geführt, von denen ich fast bei jeder Sprechstunde durch die Schilderungen von Betroffenen erfahre. Erna Hummel: An meine Muttersprache Ich möchte Ihnen wenigstens versichern, dass ich nach Wegen suche, wie man irgendwann in der ZuDurch dich verlor ich kunft zumindest die schlimmsten dieser Trennungseinst mein Vaterhaus. 148

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews tragödien überwinden kann. Fataler als die Auswirkung auf die Aufnahme von Russlanddeutschen als Spätaussiedler ist ein falsches Bild der Russlanddeutschen, das in Verbindung mit dem unsachgemäßen Pochen auf die Sprachvoraussetzung entsteht und sich meist so ausdrückt: “Sie kennen die deutsche Sprache nicht oder nur unzureichend, also sind sie keine Deutschen.” So oder ähnlich lässt sich ein weit verbreiteter Irrtum beschreiben. Dieser Irrtum führt zu irreführenden, oft kränkenden Begriffen, wenn es um die Bezeichnung Ihrer Volksgruppe geht: “Deutschrussen”, “Russen” oder, wie bis vor kurzem im Bundesvertriebenengesetz, “nichtdeutsche Abkömmlinge deutscher Spätaussiedler”- was soll das denn sein? Sie sind Deutsche! Sie sind jedenfalls Deutsche, wenn Sie es sein wollen. Ihre Familien haben wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit schwer gelitten. Der Blick auf die Geschichte, vor allem aber der Respekt vor diesem Leid verbietet jeden Zweifel an ihrer deutschen Volkszugehörigkeit. Lassen Sie sich Ihre deutsche Volkszugehörigkeit also nicht in Abrede stellen! Lassen Sie sich nicht zum Opfer einer Oberflächlichkeit machen, die in Deutschland in Fragen nationaler Bindungen und Geschichte leider weit verbreitet ist. Lassen Sie aber auch nicht zu, dass eine solche Oberflächlichkeit unter Ihnen Raum gewinnt. Das heißt zuerst und vor allem – lernen und pflegen Sie die deutsche Sprache! Hier in Deutschland wie in Russland, Zentralasien, der Ukraine. Ich weiß, dass mit diesem Appell ein kulturelles Dilemma verbunden ist, das ich mit zwei Zitaten beschreiben will: Zitat Nr. 1 :”Die russische Sprache ist groß und gewaltig” – so lese ich es bei Turgenjew. Und er hat Recht. Die russische Sprache ist eine großartige Sprache, so wie übrigens auch die deutsche Sprache großartig ist. Niemand muss also die russische Sprache vergessen, um seine deutsche Volkszugehörigkeit zu beweisen. Aber es gilt auch das zweite Zitat, das ich letzte Woche beim Heimatfest der Banater Schwaben in Rumänien lernte: “Wenn die eigene Sprache verloren geht, zerfällt die Volksgruppe.” Das Zitat stammt von Adam Müller-Guttenbrunn, einem Poeten, der vor dem I. Weltkrieg im Banat dem Druck der Madjarisierung der Banater Schwaben durch das ungarische Herrschaftshaus entgegentrat und die kulturelle Eigenart seiner deutschen Volksgruppe zu bewahren half. “Wenn die eigene Sprache verloren geht…” Ich glaube, Müller-Guttenbrunn hat Recht. Wer seine eigene Identität bewahren will, wer eigene kulturelle

Bindungen pflegen und erhalten möchte, der muss die eigene Sprache bewahren, die ja im Zentrum kultureller Bindungen steht. Wenn Sie als Russlanddeutsche Ihre eigene kulturelle Identität, für die Ihre Familien so viel gelitten haben, zukünftig nicht verlieren wollen, wenn Sie heute nicht zulassen wollen, dass diese Identität zum Opfer oberflächlicher Geringschätzung wird, dann brauchen Sie Bindung an die deutsche Sprache: in Russland und in der GUS als Minderheitssprache, hier in Deutschland aber letztlich als eine wieder gewonnene Muttersprache. Ich habe dabei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ausdrücklich Dank zu sagen, dass sie ihre Verbandszeitschrift “Volk auf den Weg” immer in deutscher Sprache veröffentlichte, auch wenn die Entscheidung für eine ausschließlich deutsche Zeitung angesichts der Zuwanderung vieler Russlanddeutscher mit geringer Sprachkenntnis sicher schwer gefallen ist. Sie haben damit ein Zeichen gesetzt, das Würdigung verdient, denn es geht letztlich um die Bewahrung der russlanddeutschen Identität. Verkaufen Sie Ihre eigene Identität nicht unter Wert! Was meine ich damit? Es macht sich ein Begriff breit, der mir problematisch erscheint, der Begriff der “russischsprachigen Diaspora”. So wird immer häufiger gesprochen, wenn es um Menschen geht, die aus der ehemaligen Sowjetunion zu uns gekommen sind. Ich finde diesen Begriff unpassend, ja sogar unwürdig, wenn die 2,3 Millionen russlanddeutschen Spätaussiedler gemeint sein sollen. Hier wird geschichtslos kategorisiert. Ich glaube, es wäre nicht gut und Ihrer Geschichte nicht angemessen, wenn Sie sich in die Rolle eines kulturellen Vagabunden drängen ließen, der für mich jedenfalls in dieser amorphen Zuordnung zur russischsprachigen Diaspora zum Ausdruck kommt. Verkaufen Sie also Ihre Identität nicht unter Wert! In der Vielfalt der deutschen Volksgruppen verdienen Sie einen geachteten und hervorgehobenen Platz! Keine deutsche Volksgruppe hat so unmittelbare Begegnungen und kulturelle Erfahrungen im Umgang mit den Völkern Russlands und der Ukraine, aber auch mit den Völkern Zentralasiens und Sibiriens. Diese kulturelle Erfahrung ist eine Bereicherung für die deutsche Kultur insgesamt. In den Listen der Reiseveranstalter, die in den letzten Jahrzehnten Millionen unternehmungslustiger Tou-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews risten aus der Bundesrepublik Deutschland in viele Teile der Welt brachten, spielten Reiseziele in dem flächenmäßig größten Land der Erde, der Sowjetunion bzw. jetzt Russland und GUS-Länder, kaum eine Rolle. Selbst unter den ehemaligen DDR-Bürgern war das Interesse wie die Möglichkeit, das große Land im Osten und seine Mentalitäten kennen zu lernen, beschränkter als man meist erwartet. Die Basis für “zivilgesellschaftliche Kontakte”, die auf den deutsch-russischen Gipfeltreffen und Regierungskonsultationen der letzten Jahre vollmundig vereinbart wurden, ist viel schmaler, als es den meisten der Unterzeichner entsprechender Abkommen bewusst ist. Die Russlanddeutschen, die in der deutschen Kultur verwurzelt – und durch die russische Geschichte geprägt sind –, können in besonderer Weise helfen, zivilgesellschaftliche Brücken zwischen unseren Ländern zu bauen. Ich bin deshalb stolz darauf, dass es uns gelungen ist, auf der letzten gemeinsamen Regierungskommission für die Belange der Russlanddeutschen zu vereinbaren, dass Russlanddeutsche aus Russland wie Deutschland zukünftig stärker in den “Petersburger Dialog” einbezogen werden sollen. Sie werden morgen zu einer Partnerschaftskonferenz zusammenkommen, die unter der Überschrift “Brückenpfeiler” steht. Bei dieser Partnerschaftskonfe-

renz wird Ihre Landsmannschaft mit den angereisten russlanddeutschen Dachverbänden eine gemeinsame Vereinbarung unterzeichnen. Herr Fetsch, Sie wissen, wie sehr ich das begrüße. Dies ist im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung der Russlanddeutschen, hier können wir aber auch einen Beitrag leisten, der für die Beziehungen unserer Staaten wichtig ist. Wir wollen zivilgesellschaftliche Kontakte, und es gibt vielfältige Bemühungen, diese Kontakte zwischen den GUS-Staaten und Deutschland zu verbessern. Eine der authentischsten und natürlichsten zivilgesellschaftlichen Brücken vermitteln die Russlanddeutschen. Nutzen wir also diese Chance und leisten wir so einen Beitrag auch zur Verständigung zwischen den Staaten. Ich danke der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland für diese und andere Initiativen, für die Unterstützung bei der Integration von Spätaussiedlern, ich danke ihr für den Beitrag zur Bewahrung der Identität der russlanddeutschen Volksgruppe, einer Identität, deren Erhaltung und Pflege für uns alle bedeutsam ist. Ich wünsche für die weitere Arbeit alles Gute, der Volksgruppe hier in Deutschland wie in den Herkunftsstaaten der Spätaussiedler. Juni 2007

Ergebnisprotokoll - Gespräch von Vertretern der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland mit den Verfassern der IAB-Studie zur Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern Stuttgart (Bundesgeschäftsstelle der Landsmannschaft), 20. Juni 2007 Teilnehmer des Instituts für Arbeitsmarkt- und Adolf Braun (stellvertretender Bundesvorsitzender) Leontine Wacker (stellvertretende BundesvorsitzenBerufsforschung: de) Dr. Andreas Keller (Mitglied des Bundesvorstandes) Stefan Fuchs (Leiter IAB Regionalbüro) Andrea Brück-Klingberg (Autorin, IAB Niedersach- Alexander Rack (Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft) sen Bremen) Hans Kampen (Redakteur „Volk auf dem Weg“) Dr. Carola Burkert (Autorin, IAB Hessen) Dr. Holger Seibert (Autor, IAB Berlin-Brandenburg) Dr. Viktor Krieger (Mitglied des InnovationsausDr. Rüdiger Wapler (Autor, IAB Baden-Württem- schusses) berg) Ergebnisse, aufgelistet anhand von 16 Fragen, die Teilnehmer der Landsmannschaft der Deutschen den Verfassern der Studie im Vorfeld des Treffens von Mitarbeitern der Landsmannschaft übermittelt aus Russland: worden waren: Adolf Fetsch (Bundesvorsitzender der LandsmannFrage 1: Was war das Ziel der Studie, was wollte sie schaft) Waldemar Axt (stellvertretender Bundesvorsitzen- feststellen, zu welchen Konsequenzen sollten ihre Ergebnisse führen? der) 150

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Ausgangspunkt war die Feststellung des IAB, dass es kaum verwertbare Informationen über Spätaussiedler gibt, die nach 2000 eingereist sind. Ein Hauptgrund dafür ist in den Identifzierungsproblemen von Spätaussiedlern in der Statistik zu sehen Verschiedene Untersuchungen kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass es insbesondere seit den 90er Jahren zu Problemen bei der Arbeitsmarktintegration von Spätaussiedlern gekommen ist. Eine OECD-Studie sagt aus, dass die Beschäftigungsquote von Spätaussiedlern über die Jahre hinweg rückläufig ist. Angesichts der Tatsache, dass Daten über Spätaussiedler nach fünf Jahren gelöscht werden, ging es den Verfassern der Studie zunächst um die Erschließung einer neuen Datenbasis. Ein Mittel zu diesem Zweck wurde in der „Integrierten Erwerbsbiografie“ gefunden, die von den Verfassern im Kurzbericht zu ihrer Studie erläutert wird. Ziel der Untersuchung war die Aktualisierung der Aussagen über die Arbeitsmarktintegration von Spätaussiedlern als Grundlage für die Ermittlung von effizienten Maßnahmen zur Verbesserung ihres Beschäftigngsgrades. Frage 2: In wessen Auftrag wurde die Studie durchgeführt? Prinzipiell – und so auch in diesem Fall - handelt das Institut nicht im Auftrag von Ämtern oder Behörden, sondern als wissenschaftliche Einrichtung eigenständig und eigenverantwortlich. Frage 3: Inwieweit fühlen sich die Verfasser dafür verantwortlich, dass beispielsweise die BILD-Zeitung die Studie als Grundlage für eine aussiedlerfeindliche Berichterstattung benutzt hat? und Frage 4: Genügen in diesem Zusammenhang die lapidaren Sätze: „Wie bei der Veröffentlichung eines IAB-Kurzberichts üblich, erfolgt eine Meldung an die Deutsche Presseagentur (dpa). Inwieweit Zeitungen diese Meldung aufgreifen, liegt nicht in unserer Hand.“ Die Verfasser der Studie sehen sich als Wissenschaftler, die publizistische bzw. politische Weiterverwertung ihrer Ergebnisse gehört nicht zu ihren Aufgaben. Sie legen allerdings Wert auf die Feststellung, dass von einer nennenswerten Reaktion der allgmeinen Medien auf ihre Studie keine Rede sein könne. So habe der institutsinterne Pressedienst des Instituts lediglich eine einzige Presseveröffentlichung (ein „Dreizeiler“ in der BILD) zu der Studie gefunden.

Beispiel 1: „Möglicherweise spielen dabei tatsächliche oder vermutete Unterschiede zwischen den Arbeitsplatzanforderungen in Deutschland und den mitgebrachten Qualifikationen eine wichtige Rolle.“ Beispiel 2: „Bei dieser Qualifikationsgruppe dürften sich aber auch mangelnde Deutschkenntnisse besonders stark auswirken.“ Diese Vermutungen sind laut IAB wissenschaftlich zulässig als erste Annahmen bzw. Hypothesen, die aufgrund der wissenschaftlichen Vorkenntnisse der Verfasser geäußert wurden. In diese Annahmen sind auch Reaktionen auf den „Call for Papers“ des Instituts im Vorfeld der Studie eingeflossen. Frage 6: In ihrer Presseinformation ist ausschließlich von „Spätaussiedlern“ die Rede, ohne zeitliche Differenzierung. Dabei schreiben Sie selbst zur „Identifikation der Spätaussiedler“ in der Studie: „Die Identifikation der Spätaussiedler erfolgt in erster Linie über die BewA (= Bewerberangebots-Datei). In dieser wird der Spätaussiedlerstatus für einen Zeitraum von fünf Jahren nach der Einreise erfasst. Spätaussiedler können zusätzlich identifiziert werden, wenn sie entweder Eingliederungsgeld oder hilfe bekommen oder einen Deutsch-Sprachlehrgang mit Zielgruppe Aussiedler besucht haben. Allerdings sind die Daten der BewA systematisch erst ab dem Jahr 2000 in der benötigten Differenzierung vorhanden.“ Wie konnte es daher geschehen, dass eine Methode zur Datenerfassung, die laut Ihren eigenen Angaben nur für fünf Jahre wissenschaftlichen Kriterien genügt, auf die Erfassung von Spätaussiedlern über einen weitaus längeren Zeitraum angewendet wurde? Es liegt doch nahe, dass es dadurch zu negativen Verzerrungen hinsichtlich der Spätaussiedler kommen musste. und Frage 8: Warum hat man sich in der Studie auf eine zeitlich begrenzte Gruppe der Spätaussiedler beschränkt, während diese zeitliche Begrenzung auf Einheimische und Ausländer nicht angewendet wurde? Ohne jeden Zweifel hätte eine Untersuchung der zweiten oder gar dritten Generation der Aussiedler bzw. Spätaussiedler zu völlig anderen Ergebnissen geführt.

In dieser Frage kam es zu Zugeständnissen der Autoren der Studie: Hinsichtlich der Pressemitteilung zu der Studie, in der generell von „Spätaussiedlern“ die Rede war, ohne dass erwähnt wurde, dass Gegenstand der Untersuchung lediglich Spätaussiedler der Jahre 2000 bis 2004 waren, wird es (vermutlich) zu einer klarFrage 5: Wie kann es in einer wissenschaftlichen stellenden Ergänzung des IAB kommen. Studie zu Spekulationen der folgenden Art kommen: Klärende Aussagen hinsichtlich der Problematik ei151

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews nes Vergleichs dieser zeitlich abgegrenzten Gruppe von Spätaussiedlern mit Einheimischen und Ausländern ohne diese zeitliche Eingrenzung wird es (vermutlich) in einem Interview geben, das die Verfasser der Landsmannschaft und ihrem Presseorgan „Volk auf dem Weg geben“.

abschlüsse von hier geborenen Angehörigen der jüngeren Generation (ca. 16-24 Jahre) der drei untersuchten Bevölkerungsgruppen zu vergleichen?

Darüber hinaus geben die Verfasser der Studie allerdings zu bedenken, dass die für Spätaussiedler erhobenen Daten auch ohne den angestellten Vergleich mit Einheimischen und Ausländern ein sehr negatives Bild ergeben würden. Und sie geben zu bedenken, dass hier geborene Aussiedler/Spätaussiedler nicht mit der nötigen wissenschaftlichen Genauigkeit statistisch erfasst werden können.

Frage 12: Wie hoch ist der Prozentsatz von Erwerbspersonen, unterteilt in Altersgruppen, in den drei Bevölkerungsgruppen? und

Frage 7: Warum wurden nicht wenigstens die ersten beiden Jahre nach Ankunft der Spätaussiedler in Deutschland aus dem Datensatz herausgenommen, Jahre, in denen sich diese in einer Sondersituation befinden? In einer zusätzlichen Statistik haben die Verfasser diese beiden Jahre herausgerechnet, ohne dass sich an den Ergebnissen Entscheidendes geändert hätte. Hinzugefügt wurde auch eine Beschäftigungsstatistik für Ausländer nach Abzug der Gruppe der Saisonarbeiter, was jedoch an den gewonnenen Daten ebenfalls nichts Entscheidendes geändert habe.

Auch hier scheitert eine Gewichtung an fehlendem Datenmaterial.

Frage 13: Wäre es in unserem Fall nicht aussagekräftiger, eine Erwerbsstatistik zu erstellen, die zum Stichjahr 2004 die Beschäftigungsquoten von Ausländern und Aussiedlern entsprechend der Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland wiedergibt? und Frage 14: Warum hat man Spätaussiedler nicht mit Angehörigen anderer Bevölkerungsgruppen verglichen, die sich in einer ähnlichen Situation wie sie befinden (Kontingentflüchtlinge etwa)? Ein weiteres Mal scheitert eine Gewichtung an fehlendem Datenmaterial. Allgemeine Angaben zu den Beschäftigungsquoten finden sich in dem Bericht.

Frage 15: Warum hat man sich bei der historischen bzw. gesellschaftlichen Definition der Spätaussiedler auf einige nichtssagende Formeln beschränkt? Eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Analyse Frage 9: Inwieweit ist die Dauer des Aufenthalts der hätte evtl. auch Presseorgane wie BILD vor aussiedPersonen in den Kategorien „Ausländer“ bzw. „Aus- lerfeindlichen Attacken bewahrt. siedler“ im Bundesgebiet gewichtet? Wie groß ist beispielsweise der Anteil derjenigen, die bereits hier Die Vertreter der Landsmannschaft bieten den Verin Deutschland geboren wurden? fassern der Studie ihre Zusammenarbeit beim Erstellen der theoretischen Grundlagen zur historischen, Eine Gewichtung scheitert an fehlendem Datenmate- kulturellen und sozialpolitischen Definition von Ausrial. siedlern/Spätaussiedlern an. Prompte Reaktion der Studienverfasser war die Einladung zur Vorbereitung Frage 10: Es wird unterstrichen, dass Aussiedler bzw. Teilnahme an einer einschlägigen Tagung, die durch besondere Merkmale wie Sprachkurse oder im Herbst dieses Tages stattfinden wird. Eingliederungsgeld bzw. -hilfe identifiziert werden. Ist davon auszugehen, dass Personen, die nicht durch Frage 16: Mit dieser abschließenden Frage bringen diese Merkmale auffallen, als Aussiedler nicht in Be- wir das auf den Punkt, was einige Mitglieder der tracht gezogen werden können? Ist es möglich, dass Landsmannschaft bzw. der Volksgruppe vehement die in Deutschland geborenen und sozialisierten fordern: Wäre es nicht sinnvoller gewesen, eine StuBundesbürger russlanddeutscher, schlesischer, sie- die zu diesem vorurteilsgeplagten Komplex erst dann benbürgischer etc. Herkunft nicht in der Rubrik zu veröffentlichen, wenn umfassende Ergebnisse „Aussiedler“ auftauchen? vorliegen? Diese Frage wurde lediglich hinsichtlich der Tendenz Die Verfasser wiederholen die Zielrichtung ihrer Stubehandelt, von Jahr zu Jahr eine größer werdende die, die vor allem eine wissenschaftliche war, formuGruppe als Spätaussiedler identifizieren zu können. lieren aber in ihrem Fazit und Ausblick drei Wirkungen, die die Studie ihrer Auffassung nach haben sollFrage 11: Wurde in Betracht gezogen, die Bildungs- te: 152

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews beitslosigkeit geschützt sind. 1. Hinweis auf das ungenutzte Potential russland3. Um diese Missstände zu beseitigen, sind verstärkte deutscher Akademiker. Integrationsbemühungen seitens der Politik nötig. 2. Hinweis auf das Paradoxon, dass Spätaussiedler Juni 2007 durch höhere Bildung nur sehr bedingt vor Ar-

Integration der Deutschen aus Russland eine Erfolgsgeschichte Interview des Vorsitzenden der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Adolf Fetsch aussiedler in weiten Kreisen der Politik nach wie vor ein Tabuthema zu sein scheint und wir allzu oft im Regen stehen gelassen werden, wenn wieder einmal ein einseitiger, negativer und unsachlicher Bericht über Deutsche aus Russland in den Medien erschienen ist. Berichte, die nicht nur nach unserer Auffassung von Aussiedlerfeindlichkeit gekennzeichnet sind, die genauso verwerflich ist wie Ausländerddp: Ist Ihr Verband an dem Treffen am vergangenen feindlichkeit. Wochenende in Nürnberg (“Bundesweiter Kongress der russländischen Landsleute”; Anm. d. Red.) betei- ddp: Ist die Bundesregierung mit ihrem Integrationsligt gewesen oder war dieser Gipfel russischen resp. konzept auf dem richtigen Weg? Gibt es von Ihrer Seite ernsthafte Kritikpunkte? russischsprachigen Zuwanderern vorbehalten? m Vorfeld des Integrationsgipfels der Bundesregierung gingen bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland eine Reihe von Interviewwünschen seitens Pressemedien und Rundfunkanstalten ein. Nachstehend das Interview, das der Bundesvorsitzende Adolf Fetsch dem Deutschen Depeschendienst gegeben hat:

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Fetsch: Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat sich an dieser Veranstaltung nicht beteiligt, da wir Menschen vertreten, die als Deutsche nach Deutschland gekommen sind und sich hier als solche integrieren wollen. Gleichzeitig betonen wir aber immer wieder, dass die russischen Sprachkenntnisse unserer Landsleute ein wertvolles Gut darstellen, das ihnen unter anderem auch bei ihrem beruflichen Fortkommen von Nutzen sein kann. ddp: Wie bewerten Sie die Situation der Russlanddeutschen vor dem Integrationsgipfel? Fetsch: Die Angehörigen der zweiten und dritten Generation der deutschen Aussiedler und Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion haben sich – wie aus zahlreichen Statistiken und Untersuchungen hervorgeht – in vorbildlicher Weise integriert. Sie sind nicht zuletzt dank ihrer sehr günstigen Altersstruktur, ihres Kinderreichtums und ihrer ausgeprägten Leistungsbereitschaft ein Gewinn für dieses Land. Ohne jede Übertreibung dürfen wir die Integration dieser Menschen als Erfolgsgeschichte bezeichnen. In gleicher Weise wurde unseren Landsleute von mehreren Studien bescheinigt, dass gewisse Integrationsschwierigkeiten der in den letzten Jahren nach Deutschland gekommenen Spätaussiedler aus der GUS lediglich vorübergehender Natur sind. Umso bedauerlicher ist der Umstand, dass das Thema Spät-

Fetsch: Zentraler Bestandteil des Integrationskonzepts der Bundesregierung ist und bleibt das Zuwanderungsgesetz, gegen das wir uns von Anfang an vehement gewehrt haben, ohne es in den Teilen, die sich auf Spätaussiedler beziehen, grundsätzlich verhindern zu können. Wir haben immer betont, dass unsere Landsleute nicht in ein Gesetz gehören, das sich ausdrücklich auf die Integration von EU-Bürgern und Ausländern bezieht. Deutsche aus Russland gehören jedoch zu keiner dieser Gruppen; laut Artikel 116 des Grundgesetzes handelt es sich bei ihnen vielmehr um Deutsche. Eine Auffassung, die im Übrigen von allen maßgeblichen Parteien des Deutschen Bundestages getragen wird. Wie von der Landsmannschaft befürchtet und vorhergesagt, kam es infolge des Zuwanderungsgesetzes zu einem drastischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen, so dass man beinahe von einer stillschweigenden Beendigung der Ausreise reden kann. Den Hauptgrund für diese Entwicklung sehen wir in der Übertonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren, wodurch die Tatsache ignoriert wird, dass es den Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion ab 1938, spätestens aber seit 1941 – nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegs nicht mehr möglich war, ihre deutsche Muttersprache öffentlich zu benutzen und – da sämtliche deutschen Schulen und Einrichtungen geschlossen wurden und die Deportation der deutschen Volksgruppe ihrem Höhepunkt zustrebte - zu pflegen, ohne mit erhebli-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews cher Diskriminierung rechnen zu müssen. Diese Auffassung hat jedoch nichts damit zu tun, dass wir den Erwerb deutscher Sprachkenntnisse als eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen der Integration unserer Landsleute hier in Deutschland betrachten. Umso bedauerlicher ist es deshalb, dass die Dauer der integrativen Sprachkurse seit Jahren systematisch heruntergefahren wird. ddp: Wie bewerten Sie die anhaltende Kritik türkischer Einwandererverbände am Zuwanderungsgesetz? Ist diese berechtigt? Fetsch: Es gehört nicht zu unserem Verständnis von Solidarität, uns über die Berechtigung bzw. Nichtberechtigung der Kritik anderer Zuwanderergruppen zu äußern. Wir bedauern es allerdings, dass angesichts der Diskussionen über diese Kritik die Anliegen der

von uns vertretenen Menschen in der allgemeinen Berichterstattung viel zu kurz kommen. ddp: Wie viele Menschen in Deutschland vertritt Ihr Verband resp. wie viele gehören zu der Gruppe der Deutschen aus Russland? Fetsch: In den Jahren seit 1950 sind knapp 2,4 Millionen Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion als Aussiedler bzw. Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Hinzu kommt eine nicht genau zu beziffernde Anzahl von Flüchtlingen der Nachkriegsjahre sowie von Landsleuten, denen die Ausreise in die damalige DDR ermöglicht wurde. Gegenwärtig geht die Landsmannschaft davon aus, dass sie rund 2,8 Millionen Deutsche aus Russland vertritt. Juli 2007

Ein skandalöser Vorgang! Hannovers Polizeipräsident Klosa hält am Einsatz russischer Polizisten gegen Spätaussiedler fest ie Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wendet sich empört gegen die Pläne des Polizeipräsidenten von Hannover, Hans-Dieter Klosa, gegen angeblich besonders kriminelle russlanddeutsche Spätaussiedler russische Polizisten aus Iwanowo einzusetzen. Trotz geharnischter Proteste und Strafanzeigen wiederholte Klosa bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, seine Vorwürfe einer weit überdurchschnittlichen Kriminalitätsrate deutscher Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, die ein entschlossenes Auftreten der Polizei erfordere. Im Rahmen dieser Pressekonferenz zauberte der Polizeipräsident negative Zahlen aus dem Hut, die all dem widersprechen, was wir bisher von offzieller Seite über die Kriminalitätsneigung von Spätaussiedlern erfahren haben. Nach den uns bekannten Zahlen – die in Untersuchungen in Bayern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und vor allem auch in Hamburg und anderen norddeutschen Städten festgestellt wurden – kann keine Rede davon sein, dass Spätaussiedler krimineller sind als die einheimische Bevölkerung. Wir bezweifeln deshalb die Korrektheit und den repräsentativen Gehalt der von Hans-Dieter Klosa genannten Zahlen ganz energisch und fordern eine Offenlegung der Daten, um überprüfen zu können, in-

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wieweit es sich bei den untersuchten “Spätaussiedlern” tatsächlich um solche handelt oder ob einfach jeder, der im Osten Europas geboren wurde bzw. einen russischen Namen trägt, diesem Personenkreis zugerechnet wurde. Hans-Dieter Klosa klagen wir vor allem deshalb an, weil er mit der provokativen Bekanntgabe der Zahlen im Rahmen einer Pressekonferenz Stimmung gegen unsere Volksgruppe erzeugt und Vorurteile in der Bevölkerung geschürt hat. Wenn er zudem Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion als „Klientel“ bezeichnet, die durch „Gewaltbereitschaft“ auffalle, erfüllt er damit den Straftatbestand der Volksverhetzung. Geradezu unbegreiflich ist das selbstherrliche Beharren des Polzeipräsidenten auf dem Vorhaben, Polizisten aus Russland gegen russlanddeutsche Spätaussiedler einzusetzen. Er hält an diesem Vorhaben fest, obwohl er inzwischen verstanden haben müsste, dass damit Deutsche aus Russland mit Polizisten aus einem Nachfolgestaat der ehemaligen Sowjetunion konfrontiert werden, die für sie und ihre Vorfahren über Jahrzehnte hinweg ein schrecklicher Ort der Verfolgung und Unterdrückung war! Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wird diesen skandalösen Vorgang nicht hinnehmen und alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass es zu diesem Einsatz kommt. Skandalös wäre es auch, wenn Hans-Dieter Klosa angesichts ei-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews ner Handlungsweise, die ohne Zweifel von Ignoranz und Aussiedlerfeindlichkeit geprägt ist, weiter im Amt bleiben dürfte. Wir fordern deshalb seine Absetzung und werden uns auch dadurch nicht beruhigen lassen, dass er im November des Jahres ohnehin in Pension gehen wird. Mit völligem Unverständnis haben wir schließlich einen Bericht der “Hannoverschen Allgemeinen Zeitung” zur Kenntnis genommen, laut dem sich sowohl die Gewerkschaft der Polizei als auch Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann ausdrücklich hinter Klosas Vorschläge des Einsatzes russischer

Polizisten gegen Spätaussiedler gestellt haben. Sollte dieser Bericht korrekt sein, tauchen in uns erhebliche Zweifel daran auf, ob die in Reden immer wieder geäußerten Bekenntnisse von Vertretern der Niedersächsischen Landesregierung zu den Deutschen aus Russland mehr sind als bloße Lippenbekenntnisse. Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Juli 2007

Gemeinsame Strategie in Rentenfragen Landsmannschaften erörtern Vorgehen zur gerechten Gestaltung der Renten m 10. Juli fand in der Bundesgeschäftsstelle der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in München eine Besprechung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen statt. Erörter wurde das weitere gemeinsame Vorgehen in der Frage der Rentenkürzungen für Spätaussiedler sowie bei der Umsetzung des europäischen Sozialrechtes bei Rentenfällen mit Bezug zu den neuen EU-Beitrittsländern. Die Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland war durch den stellvertretenden Bundesvorsitzenden, RA Dr. Bernd Fabritius, der zu diesem Treffen eingeladen hatte, und Bundesrechtsreferent RA Ernst Bruckner vertreten. Für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland waren der Bundesvorsitzende Adolf Fetsch und der stellvertretende Bundesvorsitzende Adolf Braun, MdL a.D., nach München angereist. Seitens der Landsmannschaft der Banater Schwaben in Deutschland war der bayerische Landesvorsitzende und Bundesgeschäftsführer Peter Dietmar Leber zugegen. Die Teilnehmer erörterten einleitend die Ergebnisse der Gespräche, die am 20. Juni mit dem zuständigen Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Franz Thönnes, und dem Präsidenten der Deutschen Rentenversicherung Bund, Dr. Herbert Rische, in Berlin stattgefunden hatte. Die Übergangsregelungen zur 40%-Kürzung wirken sich sehr unterschiedlich auf die Betroffenen aus. So wollen die Landsmannschaften jene Fälle weiter verfassungsrechtlich überprüfen lassen, in denen die restriktiven Übergangsvorschriften zu keinen oder nur sehr geringen Ausgleichszahlungen führen. Es wurde vereinbart, dass die Landsmannschaft der Siebenbür-

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ger Sachsen in Deutschland, wie bisher, in gemeinsamer Abstimmung mit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und der Landsmannschaft der Banater Schwaben in Deutschland federführend tätig wird und geeignete Fälle unabhängig von einer landsmannschaftlichen Zugehörigkeit als Musterverfahren weiterverfolgt. Fälle, die von der Anwendung der Übergangsvorschriften ausgeschlossen werden, weil Anträge nicht oder nicht rechtzeitig gestellt worden sind, werden dahingehend überprüft, ob aufgrund von Beratungsversäumnissen der Rententräger ein Anspruch auf Einbeziehung besteht. Da die Übergangsvorschriften zurzeit nur für solche Fälle gelten, die nicht rechtskräftig abgeschlossen sind, wird Betroffenen empfohlen, gegen Ablehnungsbescheide Widerspruch einzulegen bzw. bei nicht ausreichender Abhilfe in bereits offenen Prüfungsverfahren entweder ein weiteres Ruhen zu beantragen oder Vergleiche dahingehend zu schließen, dass die Rentenbehörde sich bereit erklärt, bei einer erneuten Änderung der Rechtslage über den Fall unter Berücksichtigung des ursprünglichen Antrages erneut zu entscheiden. Die landsmannschaftlichen Vertreter waren sich einig, auch weiterhin gemeinsam und in enger Abstimmung auf eine bestmögliche Lösung der offenen Rentenfragen hinzuarbeiten und den konstruktiven Dialog fortzusetzen. Gemeinsamer Bericht der Landsmannschaften der Siebenbürger Sachsen, der Deutschen aus Russland und der Banater Schwaben

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Weiteres Vorgehen beim Fremdrentenrecht, insbesondere nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2006 Bericht aus dem Sozialausschuss der Landsmannschaft aut dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist die 40%-ige Kürzung nicht verfassungswidrig. Es besteht jedoch Vertrauensschutz für Personen, die - vor dem 1. Januar 1991 in die Bundesrepublik eingereist sind, - deren Rente nach dem 30. September 1996 begonnen hat und - die zum damaligen Zeitpunkt zu den rentennahen Jahrgängen zu zählen sind. Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, für diesen Personenkreis geeignete Übergangsregelungen zu schaffen. Diese liegen nunmehr vor. Danach erhalten Betroffene eine einmalige Ausgleichszahlung, - die vor dem 1. Januar 1991 in die Bundesrepublik eingereist sind, - deren Rente in der Zeit vom 1. Oktober 1996 bis 30. Juni 2000 begonnen hat und - die rechtzeitig vor dem 31. Dezember 2004 Rechtsmittel eingelegt oder einen Überprüfungsantrag gestellt haben.

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Fallvarianten: A) Zuzug nach dem 1. Januar 1991 Da Sie nach dem 1. Januar 1991 nach Deutschland zugezogen sind, werden Sie von der Rechtsänderung leider nicht erfasst, da die 40%-ige Kürzung laut Verfassungsgericht nicht verfassungswidrig ist.

stellt haben. Zur Feststellung, ob Ihr Fall in die Überprüfungsvorschriften einbezogen werden kann, muss geprüft werden, ob die Behörde Sie auf eine erforderliche Antragstellung hätte hinweisen müssen und dies vielleicht versäumt hat. Ein eingeleitetes Verfahren könnte dann weitergeführt werden. D) Zuzug bis 31. Dezember 1990 und Rente nach dem 30. Juni 2000 (laufende Verfahren) Da Ihre Rente erst nach dem 30. Juni 2000 beginnt, werden Sie von den Übergangsvorschriften in der aktuellen Fassung nicht erfasst. Wir sind jedoch der Auffassung, dass die Übergangsvorschriften nicht ausreichend sind und auch Betroffene, deren Rente erst nach dem 1. Juli 2000 begonnen hat, davon erfasst werden müssen. Ob eine Ausweitung der Übergangsregeln rechtlich geboten und möglich ist, wird derzeit verfassungsrechtlich geprüft. Wir empfehlen daher, anhängige Verfahren bis zum Abschluss dieser Prüfung noch nicht zu beenden (laufende Verfahren). Wenn die Prüfung ergeben sollte, dass die Überprüfungsvorschriften zu erweitern sind, könnte Ihr Verfahren entsprechend weitergeführt werden. E) Zuzug bis 31. Dezember 1990 und Rente nach dem 30. Juni 2000 Hier gilt das Gleiche wie unter D) ausgeführt. Hinzugefügt werden muss noch: Es kann auch geprüft werden, ob die Behörde Sie auf eine erforderliche Antragstellung hätte hinweisen müssen und das vielleicht versäumt hat.

B) Zuzug bis 31. Dezember 1990 und Rente bis 30. Juni 2000 Sie erfüllen die Voraussetzung der Übergangsregelungen. Diese werden von der Behörde voraussicht- In den oben genannten Fällen C) bis E) gibt es unterlich Ende des Jahres oder Anfang 2008 umgesetzt. schiedliche Fallgestaltungen. Wenn Sie zu diesem Personenkreis gehören bzw. nicht wissen, ob Sie Sie erhalten dann weitere Mitteilung. dazu gehören, nehmen Sie bitte Kontakt mit der Bundesgeschäftsstelle in Stuttgart oder mit ihrem SoC) Zuzug bis 31. Dezember 1990 zialberater auf. und Rente bis 30. Juni 2000 Adolf Braun, (keine Kenntnis über Notwendigkeit Vorsitzender des Sozialausschusses eines Überprüfungsantrages) Nach Aktenlage erfüllen Sie die Voraussetzungen der Juli 2007 Übergangsregelungen, wenn Sie rechtzeitig Rechtsmittel eingelegt oder einen Überprüfungsantrag ge-

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Bemühung um Klarheit Interview mit den Verfassern der IAB-Studie zur Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern ie in unseren letzten Ausgaben bereits mehrfach berichtet, sorgte eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), in der von einer weit überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern die Rede war, für große Aufregung unter unseren Landsleuten. Nach unseren kritischen Beiträgen in VadW 5/2007 und 7/2007 geben wir diesmal den Verfassern der Studie die Chance, mit ihren Antworten auf Fragen der Landsmannschaft Klarheit in strittige Fragen zu bringen.

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LMDR: Für Verwirrung und Ablehnung unter unseren Landsleuten hat Ihre Studie vor allem deshalb geführt, weil die von Ihnen herausgegebene Pressemitteilung den Eindruck vermittelt, die negativen Ergebnisse hinsichtlich der Beschäftigungssituation würden auf Spätaussiedler allgemein zutreffen. Erläutern Sie bitte, welche Gruppe von Spätaussiedlern durch Ihre Studie erfasst wurde und wie Sie diesen Personenkreis ermittelt haben. IAB: Rund die Hälfte der Spätaussiedler in unseren Daten sind vor dem Jahr 2000 nach Deutschland eingereist, die andere Hälfte im Jahr 2000 oder später. Unserer Studie liegen die so genannten “Integrierten Erwerbsbiografien” zugrunde. Dabei handelt es sich um eine relativ neue Datenbank des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, in die die Prozessdaten aus verschiedenen Quellen der Bundesagentur für Arbeit einfließen – beispielsweise Maßnahmeteilnahme, Leistungsempfang, Arbeitssuche und Beschäftigung. Unsere wichtigste Quelle ist das so genannte “Bewerberangebot”, in dem die Meldungen zur Arbeitssuche enthalten sind. Bei einer Meldung bei der Arbeitsagentur innerhalb von fünf Jahren nach Einreise wurde der Spätaussiedlerstatus erfasst. Diese Meldung bei der Arbeitsagentur war gleichzeitig Voraussetzung, um an den Sprachkursen für Spätaussiedler teilnehmen zu können oder Eingliederungshilfe zu erhalten. LMDR: Weshalb haben Sie in Ihrer Studie eine zeitlich begrenzte Gruppe von Spätaussiedlern mit einer zeitlich unbegrenzten Gruppe von Einheimischen und Ausländern verglichen? IAB: Die Gegenüberstellung von Spätaussiedlern mit Ausländern und in Deutschland aufgewachsenen Einheimischen ist in der Wissenschaft üblich. Sie finden entsprechende Vergleiche beispielsweise im jüngsten Ausländerbericht der Beauftragten der Bun-

desregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration oder bei der OECD. Nur anhand eines solchen Vergleiches ist es möglich, differenzierte Empfehlungen an die Politik zu geben, in welchen Bereichen Maßnahmen für Spätaussiedler erforderlich sind und in welchen Bereichen verstärkt etwas für andere Migrantengruppen zu tun ist. Leider ist in den Daten kein Einreisejahr für Ausländer vorhanden. LMDR: Weshalb haben Sie in Ihrer Studie keine Vergleiche von Spätaussiedlern mit anderen Bevölkerungsgruppen angestellt, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden? IAB: Sehr gerne hätten wir Spätaussiedler mit Ausländern nach Einreisejahren verglichen. Weil aber bei Ausländern weder die Geburt in Deutschland noch, sofern sie nicht hier aufgewachsen sind, das Einreisejahr in den Daten erfasst wird, können wir diesen Vergleich nicht anstellen. LMDR: Inwieweit fühlen Sie sich für aussiedlerfeindliche Reaktionen auf die Veröffentlichung der Studie verantwortlich? IAB: Bislang haben wir keinen Presseartikel gesehen, in dem die Studie für aussiedlerfeindliche Zwecke benutzt wurde. Im Gegenteil, bei den anschließenden Pressegesprächen, die wir geführt haben, ging es stets um die Frage, was zu tun ist, um die Situation dieser Gruppe zu verbessern. Sowohl in der Studie als auch in der dazugehörigen Presseinformation wurde großer Wert darauf gelegt, dass nicht der Eindruck entsteht, die Spätaussiedler seien für ihre Situation selbst verantwortlich. Wir haben bewusst von Arbeitslosigkeitsrisiko gesprochen und davon, dass Spätaussiedler von Arbeitslosigkeit besonders stark betroffen sind. LMDR: Wird es nach Ihrer Auffassung möglich sein, eine ähnliche Untersuchung durchzuführen, bei der sämtliche Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion erfasst werden, also auch bereits früher gekommene Spätaussiedler und Aussiedler sowie Angehörige der zweiten oder dritten Generation der Ausgereisten? IAB: Wir bemühen uns sehr darum, weitere Identifikationswege zu erschließen, um somit noch mehr Spätaussiedler zu erfassen, die vor dem Jahr 2000 eingereist sind. Dann könnten wir beispielsweise einen Vergleich zwischen verschiedenen Spätaussiedler-Einreisekohorten durchführen. Ob das gelingen wird, lässt sich derzeit aber noch nicht sicher sagen.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Aussagen zur zweiten oder dritten Generation sind gen als andere Zuwanderungsgruppen. Wie in der anhand der Prozessdaten der Bundesagentur für Ar- Wissenschaft üblich, müssen wir die Ergebnisse aber beit (BA), die wir benutzen, definitiv nicht möglich. nochmals gründlich prüfen, bevor wir sie veröffentlichen können. LMDR: Welches sind die politischen Konsequenzen, die sich nach Ihrer Auffassung aus den Ergebnissen LMDR: Könnten Sie sich bei künftigen UntersuIhrer Untersuchung ergeben? chungen auf diesem Gebiet eine Zusammenarbeit mit IAB: In allererster Linie, dass die Politik diese Grup- der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland pe mit ihren vorhandenen Potenzialen und Ressour- vorstellen, und wie sollte diese nach Ihrer Auffascen bei ihren Arbeitsmarktbemühungen nicht überse- sung aussehen? hen darf und vor allem die Arbeitsmarktintegration IAB: Wir werden selbstverständlich auch zukünftig unterstützen muss. Gegebenenfalls sind spezielle In- sehr gerne unsere Ergebnisse mit Ihnen besprechen. tegrationsmaßnahmen für diese Gruppe zu entwi- Einen regen Informationsaustausch würden wir sehr ckeln und bereitzustellen. begrüßen. Wir bitten aber um Verständnis, dass wir Erste vorläufige Ergebnisse unsererseits deuten dar- als unabhängiges Forschungsinstitut die Hoheit darüauf hin, dass arbeitsmarktpolitische Maßnahmen bei ber behalten müssen, was letztendlich von uns publiSpätaussiedlern durchaus erfolgversprechend sind. ziert wird. So scheinen verschiedene Maßnahmen der BA arJuli 2007 beitslose Spätaussiedler schneller in Arbeit zu brin-

Intensivierung der landsmannschaftlichen Kulturarbeit Hessenpark - Engels - Karlsruhe - Speyer er Bundesvorstand der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat in mehreren Besprechungen mit Experten, Förderern und dem Hilfswerk der Russlanddeutschen die Ziele für die Kulturarbeit für die nächsten Jahre beraten und auf dieser Grundlage eine Reihe von Projekten entwickelt. Diese Projekte wurden vom Kulturreferenten der Landsmannschaft, Dr. Alfred Eisfeld, im Rahmen der I. Partnerschaftskonferenz mit Vertretern der Vereine der Deutschen aus der Russländischen Föderation und der Ukraine sowie unseren Landsleuten aus den USA (American Historical Society of Germans from Russia) am 27. Mai 2007 in Wiesbaden vorgetragen. Die Landsmannschaft wird die Federführung bei den Projekten in Deutschland übernehmen, während die Betreuung der Projekte in der Ukraine und in Russland vom Kulturwerk der Russlanddeutschen wahrgenommen wird. In Deutschland soll es vor allem um die Schaffung eines zentralen Museums der Deutschen aus Russland in Stuttgart und ein Wolgadeutsches Haus im Freilichtmuseum Hessenpark (Neu-Aspach) gehen. Regionale und lokale Initiativen zur Schaffung von Ausstellungen, insbesondere in Detmold und Berlin, werden weiter im Rahmen des Möglichen unterstützt, doch gilt das Hauptinteresse den beiden zentralen Museen.

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Das Land Baden-Württemberg hat die Patenschaft über alle Deutschen aus Russland übernommen und unterstützt uns seit vielen Jahren. Mit der Schaffung des Russlanddeutschen Kulturpreises hat BadenWürttemberg ein sichtbares und einzigartiges Zeichen gesetzt. Das zentrale Museum der Deutschen aus Russland soll seinen Sitz folgerichtig in der Hauptstadt unseres Patenlandes finden. Bei seinen Bemühungen zählt der Bundesvorstand auf die Unterstützung der Regierung von Baden-Württemberg, allen voran seines Ministerpräsidenten, Günther Oettinger, und des Aussiedlerbeauftragten, Innenminister Heribert Rech. Ein geeignetes Gebäude wird noch gesucht. Ein wolgadeutsches Haus für den Hessenpark Der größte Teil der Wolgadeutschen ist hessischen Ursprungs. Das Land Hessen hat diese Verbundenheit mit der Übernahme der Patenschaft über die Wolgadeutschen zum Ausdruck gebracht. Im Freilichtmuseum Hessenpark sind Bauten versammelt, die für die einzelnen hessischen Landschaften typisch sind. In einigen dieser Gebäude sind Dauerausstellungen aufgebaut. Dieses Museum hat eine herausragende Bedeutung für die Festigung des Zusammengehörigkeitsgefühls aller Hessen. Eine logische Konsequenz

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews aus dem Bekenntnis der Wolgadeutschen zu Hessen und Hessens zu seinen wolgadeutschen Landsleuten ist, im Hessenpark ein wolgadeutsches Haus aufzubauen und darin ein wolgadeutsches Museum einzurichten. Es soll dabei nicht um einen Neubau oder einen Nachbau gehen, sondern darum, ein Holzhaus aus dem Wolgagebiet in den Hessenpark zu bringen und dort aufzubauen. Technisch ist das nicht kompliziert, da Holzbauten ohnehin in Einzelteile zerlegt und ohne Substanzverlust wieder aufgebaut werden können. Silke Lautenschläger, Hessische Sozialministerin, und der Aussiedlerbeauftragte des Landes, Rudolf Friedrich, haben die Unterstützung der Hessischen Landesregierung im Vorfeld und im Rahmen des 29. Bundestreffens der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 26. Mai 2007 in Wiesbaden bekräftigt. Die Regierungen der Gebiete Saratow und Wolgograd sollen dafür gewonnen werden, ein wolgadeutsches Haus so rechtzeitig für den Hessenpark zur Verfügung zu stellen, dass dieses zum 250. Jahrestag der Einwanderung hessischer Kolonisten nach Russland (2014) aufgebaut und als Museum eingerichtet werden kann. Das wird ein Zeichen der Wertschätzung und der Anerkennung des Beitrags der Wolgadeutschen zur Erschließung und Entwicklung der Wolgaregion sein. Engels, Karlsruhe, Speyer In den früheren Siedlungsgebieten in der Wolgaregion und im Schwarzmeergebiet wird sich das Hilfswerk der Russlanddeutschen um den Ausbau des Archivs in Engels zum wolgadeutschen Zentralarchiv und die Unterstützung der Renovierung der ehemals katholischen Kirchen in Karlsruhe und Speyer, Gebiet Nikolajew, kümmern. Das Archiv in Engels beherbergt einen Großteil der Archivalien der wolgadeutschen Kolonien und ihrer Einrichtungen. Andere befinden sich entsprechend dem Territorialprinzip der Zuordnung von Archivalien in Wolgograd und Samara. Das Archiv Engels hat dank der Hilfe der Bundesregierung ein neues Gebäude bekommen, so dass es möglich ist, alle wolgadeutschen Archivalien im Original oder in Kopie

an einem Ort zu vereinen, zu restaurieren, zu erschließen und für die Forschung bereit zu halten. Die Kirchengebäude in Karlsruhe und Speyer gehören zu den architektonisch interessantesten erhalten gebliebenen Bauten. Sie wurden, wie alle anderen Kirchen auch, über Jahrzehnte zweckentfremdet und beschädigt. Beide Kirchengebäude wurden Christen zurückgegeben. In den beiden Ortschaften gibt es keine Deutschen mehr, auch keine katholischen Gemeinden. Russisch-orthodoxe Gemeinden des Moskauer Patriarchats sind die neuen Eigentümer. Damit können diese Bauten wieder als Gotteshäuser genutzt werden. Die Kirche in Speyer wurde mit Mitteln der armen Gemeinde und Spendengeldern wieder als Gotteshaus eingerichtet. Das Dach musste nach Sturmschäden in diesem Jahr repariert werden. Der Kirchturm soll wieder hergestellt werden. Der ehemalige Friedhof wird bereits von dem über Jahrzehnte dort liegen gelassenen Schrott befreit und soll als Grünanlage mit einem Gedenkstein an die früheren deutschen Einwohner erinnern. Das Gebäude der Kirche in Karlsruhe steht derzeit ohne Dach. Die Bauzeichnungen und die erforderlichen Genehmigungen für die Renovierung des Gebäudes sind vorhanden. Es fehlt an Geld. Angesichts der Dürre im dritten Jahr nacheinander wird es auch in diesem Jahr ohne Hilfe von außen zu keinem Fortschritt bei der Renovierung kommen können. Im Herbst 2009 werden es 200 Jahre seit der Gründung der deutschen Kolonien Landau, Speyer und Rohrbach. Die Verwaltung des Gebietes Nikolajew, die Geistlichen und die Gemeinden in Karlsruhe und in Speyer sind sich der Notwendigkeit der Instandsetzung der Kirchengebäude als Teil des gemeinsamen Erbes der ehemaligen deutschen und gegenwärtigen ukrainischen und russischen Bewohner dieser Ortschaften bewusst. Sie bemühen sich nach Kräften darum, dies zu tun. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und das Kulturwerk der Russlanddeutschen wollen diese Bemühungen fortsetzen und ihrerseits bei Landsleuten in Deutschland und in Übersee sowie bei der Industrie und bei Stiftungen um Unterstützung dieser Projekte werben. Juli 2007

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Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zum Integrationsgipfel der Bundesregierung am 12. Juli 2007 Wir bedanken uns herzlich für die Einladung zur Teilnahme am Integrationsgipfel am 12. Juli 2007, der es den von uns vertretenen Aussiedlern und Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion ermöglichen wird, ihre Anliegen und ihre Probleme einer breiteren Öffentlichkeit ebenso zu präsentieren wie ihre über Jahrzehnte unter Beweis gestellte Bereitschaft zur Integration. Mit Bedauern mussten wir allerdings zur Kenntnis nehmen, dass im Vorfeld des Integrationsgipfels einer besonders lautstarken Teilgruppe von Menschen mit Migrationshintergrund, die Integrationsanforderungen ablehnen, deren Erfüllung wir als Selbstverständlichkeit betrachten, weitaus mehr Beachtung geschenkt wurde als den Aussiedlern und Spätaussiedlern aus den Ländern Ost- und Südosteuropas, die mit einem Anteil von rund 6 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung erlangt haben. Wir hoffen deshalb sehr, dass diesen Menschen im Rahmen der Tagung selbst die nötige Aufmerksamkeit gewidmet wird. Für die Deutschen aus Russland fassen wir die folgenden Punkte zur Lage im Spätaussiedlerbereich zusammen: I Rückgang der Spätaussiedlerzahlen: Infolge des Zuwanderungsgesetzes ist es zu einem dramatischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen gekommen. Anders als die Bundesregierung, die diese Entwicklung als Resultat der verbesserten Bleibehilfen für die deutsche Minderheit in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ansieht, machen wir für den Rückgang in allererster Linie die Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren verantwortlich. Dadurch wird ignoriert, dass der Verlust der deutschen Sprache ein wesentlicher Teil des kollektiven Kriegsfolgenschicksals ist, das den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor von allen maßgeblichen Parteien des Deutschen Bundestages zuerkannt wird. Eine Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Aufnahmeverfahren ignoriert die Tatsache, dass die

Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion seit den Vertreibungsmaßnahmen meist verstreut und in einer ihnen feindlich gesinnten Umwelt leben, abgeschnitten vom deutschen Kulturraum, der Möglichkeit beraubt, gemeinsam als Volksgruppe ihr kulturelles Erbe zu pflegen, ihre Kinder in deutschsprachigen Schulen zu erziehen und ihren Glauben in der Muttersprache zu bekennen. Durch die Behinderung der Ausreise wird es auch weiterhin zu Familientrennungen kommen, die nach unserer Auffassung längst ein beklagenswertes Phänomen der Vergangenheit sein sollten. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei jedoch erwähnt: Während wir die zentrale Bedeutung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren ablehnen, sprechen wir uns mit Nachdruck für den Erwerb deutscher Sprachkenntnisse im Integrationsprozess aus, der ohne diese Sprachkenntnisse nicht gelingen kann. II Situation auf dem Arbeitsmarkt Für Aufsehen und Empörung unter den Mitgliedern der Landsmannschaft sorgte eine kürzlich veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Sozialforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit, in der von einer weit überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit der in den Jahren 2000 bis 2004 gekommenen Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion die Rede war, von der vor allem auch die Akademiker unter ihnen betroffen seien. Bei aller inhaltlichen, methodischen und publizistischen Fragwürdigkeit wirft die Studie dennoch einige wesentliche Fragen auf, die sich auf die Beschäftigungssituation von Spätaussiedlern beziehen, und verlangt Reaktionen der Bundesregierung: - Eine Analyse und sinnvolle Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungssituation von Spätaussiedlern scheitern häufig daran, dass über diese Bevölkerungsgruppe kein zuverlässiges und vollständiges Zahlenmaterial vorliegt, so dass Spekulationen jeweder Art Tür und Tor geöffnet wird. Es fällt uns schwer, der immer wieder zu hörenden Aussage Glauben zu schenken, wonach es nicht möglich sei, diesen Missstand zu beseitigen. - Wer, wie die Bundesregierung, immer wieder die

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Bedeutung deutscher Sprachkenntnisse im Ausbildungs- und Arbeitsprozess hervorhebt, darf nicht, wie das seit Jahren der Fall ist, die Dauer der Sprachkurse für Spätaussiedler zurückfahren. - Hürden, die vor der Anerkennung ihrer Zeugnisse und Diplome aufgebaut werden, erwecken bei zahlreichen deutschen Akademikern und anderen Fachkräften aus der ehemaligen Sowjetunion den Eindruck, als stünden hinter diesen Maßnahmen weniger sachliche Argumente als vielmehr Standesinteressen. - Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und die von ihr vertretenen Menschen haben kein Verständnis dafür, dass in der Bundesrepublik Deutschland auf der einen Seite über einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften geklagt wird, auf der anderen Seite jedoch die Fachkräfte aus ihren Reihen im Regen stehen gelassen werden. - Wir unterstützen deshalb die Vorschläge der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion zum Nationalen Integrationsplan, die den deutschen Spätaussiedlern zugute kommen würden, nämlich: - Intensivierung der Beratungsarbeit und der Sprachförderung sowie verstärkter Einsatz des Akademikerprogramms der Otto-Benecke-Stiftung; - transparentere Anerkennungsverfahren für Bildungs- und Berufsabschlüsse; - Ausbau der Möglichkeiten, fehlende Qualifikationsbestandteile nachzuholen. In diesem und den anderen genannten Punkten können wir auf eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedler und Minderheiten, Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, bauen, dem wir für sein Engagement zu herzlichem Dank verpflichtet sind. III. Öffentlichkeitsarbeit Wie bereits eingangs angedeutet, ist es eine bedauerliche Tatsache, dass die Anliegen der deutschen Aussiedler und Spätaussiedler aus Ost- und Südosteuropa nur selten den Widerhall in der deutschen Öffentlichkeit finden, der ihrem Bevölkerungsanteil und ihrer Bedeutung gerecht wird. Berichte in den Medien heben zudem allzu oft in einseitiger Weise auf negative Einzelerscheinungen im Spätaussiedlerbereich ab und entwerfen so ein Bild, das nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat und zu einer Stärkung bestehender Ressentiments und Vorurteile in der Bevölkerung beiträgt. Einige der Maßnahmen, die dieser Tendenz entgegenwirken könnten, seien an dieser Stelle ein weiteres Mal skizziert: - Unmittelbare Reaktion von politisch Verantwortlichen auf unhaltbare Äußerungen über Spätaussiedler. Es darf nicht sein, dass – aus welchen Gründen

auch immer – das Thema „Spätaussiedler“ tabuisiert wird und seine Behandlung tendenziöser Berichterstattung überlassen wird. - Behandlung des Themas „Russlanddeutsche/Deutsche aus Russland“ als selbstverständlichen Bestandteil des Lehrplans deutscher Schulen. - Unterstützung der Presse- und Informationsarbeit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, um die Integrationsprobleme sowie die Ansätze zu ihrer Lösung auf breiterer Grundlage in kompetenter Weise in die Öffentlichkeit bringen zu können. - Fortsetzung und Ausbau der Förderung von kulturellen, Geschichts- und Informationsbroschüren im Aussiedlerbereich. Für den heutigen Integrationsgipfel erhoffen wir uns eine zeitlich und inhaltlich angemessene Behandlung der Spätaussiedlerproblematik – sowohl während der Tagung selbst als auch in den Verlautbarungen der Bundesregierung und den Berichten der Medienvertreter. IV. Arbeit im Kulturbereich Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat ihre Kulturarbeit stets in erster Linie als Beitrag zur Festigung bzw. Wiedergewinnung der kulturellen Identität der Mitglieder einer Volksgruppe verstanden, die nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung orientierungslos geworden ist. Wir haben es in unserer Arbeit mit Menschen zu tun, die sich ein Anrecht darauf erworben haben, in angemessener Weise gefördert zu werden – auch und vor allem auf kulturellem Gebiet, um die Ausprägung bzw. Wiedererlangung eines stimmigen Selbstbildes zu erleichtern. Für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist die Kulturarbeit, insbesondere auch die kulturelle Breitenarbeit, ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil der Integrationsarbeit für und mit Spätaussiedlern. Eine Förderung dieses Bereiches trägt zudem in ganz erheblicher Weise zur Steigerung der Akzeptanz unserer Landsleute durch die einheimische Bevölkerung bei. Durch die Darstellung ihres kulturellen, sozialen und politischen Hintergrundes ebenso wie durch die Präsentation ihres kulturellen Erbes, das sie über all die schicksalsschweren Jahre bewahrt und mit nach Deutschland gebracht haben. Wir hoffen also, dass es uns beim Integrationsgipfel der Bundesregierung und in den Monaten danach gelingen wird, die politisch Zuständigen davon zu überzeugen, dass es sich bei einer Kulturarbeit, wie wir sie uns vorstellen, vor allem um einen Beitrag zur Integration handelt und diese Form der Kulturarbeit nicht als Selbstzweck zu betrachten ist, sondern

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews als integraler Bestandteil des Selbstheilungsprozesses einer Volksgruppe, die im Verlauf der tragischen Ereignisse des vorigen Jahrhunderts nicht nur Hunderttausende Opfer des stalinistischen Terrors zu beklagen hatte, sondern auch die Gefährdung und Auflösung dessen, was für sie mit all dem Wertvollen, das sie über beinahe zwei Jahrhunderte hinweg in Russland geschaffen hatte, kennzeichnend war.

Wir wünschen dem Integrationsgipfel einen produktiven Verlauf, der uns auf dem Weg zu einer gelungenen Integration einen wesentlichen Schritt voranbringt. Juli 2007

Sitzung des Bundesvorstandes der Landsmannschaft am 11. August 2007 in Stuttgart Bericht des Öffentlichkeitsausschusses (Adolf Fetsch) ie ich bereits bei der Bundesdelegiertenversammlung der Landsmannschaft im November des vorigen Jahres ausgeführt habe, widme ich dem Bereich der Öffentlichkeitsarbeit meine besondere Aufmerksamkeit. Ich tue das deshalb, weil ich der Auffassung bin, dass die Integrationsarbeit der Landsmannschaft nur zum Teil erfolgreich sein kann, solange das Bild, dass sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit von den Deutschen aus Russland macht, durch eine fehlerhafte Berichterstattung in den Medien negativ beeinflusst wird. Im Rahmen unserer Möglichkeiten haben wir uns in den letzten Monaten verstärkt darum bemüht, diesem Negativbild korrekte Informationen entgegenzusetzen. Wir haben uns erfolgreich dafür eingesetzt, dass die landsmannschaftliche Wanderausstellung in erweiterter und aktualisierter Form nach wie vor im ganzen Bundesgebiet gezeigt werden kann und dabei auf großes Interesse stößt. Sehr gut kommen auch die gründlich überarbeiteten Neuauflagen der Geschichts- und Integrationsbroschüre sowie des Ausstellungskataloges an. Einschnitte mussten wir leider hinsichtlich des Seitenumfangs unseres Vereinsorgans „Volk auf dem Weg“ hinnehmen, das jedoch nach meiner Auffassung wieder mit einer Seitenzahl von 64 erscheinen sollte. Fortgesetzt haben wir unsere Bemühungen, Politiker und andere Vertreter der Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass es nicht angeht, das Thema „Spätaussiedler“ zu ignorieren und seine Behandlung tendenziöser Berichterstattung zu überlassen. Auf einzelne Schwerpunkte dieser Arbeit gehe ich im späteren Verlauf meiner Ausführungen ein Nicht so recht vorangekommen sind wir leider in zwei Bereichen, die ich in meiner Rede bei der Bun-

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desdelegiertenversammlung genannt hatte. Immer noch sind wir nämlich weit davon entfernt, dass die Geschichte und Gegenwart unserer Volksgruppe in adäquater Weise Gegenstand des hiesigen Schulunterrichts ist. Und davon, dass die Presse- und Informationsarbeit der Landsmannschaft eine institutionelle bzw. personelle Unterstützung erfährt, kann ebenfalls noch keine Rede sein. Um die Öffentlichkeitsarbeit der Landsmannschaft auf eine breitere Basis zu stellen, habe ich vor, für Ende September 2007 eine Sitzung des Öffentlichkeitsausschusses einzuberufen. Trotz gewisser Schwierigkeiten ist es uns gelungen, in den letzten Monaten eine stattliche Anzahl von Stellungnahmen, Presseerklärungen und Briefen an einflussreiche Politiker und andere Persönlichkeiten auf den Weg zu bringen. Von den Terminen, die ich allein oder gemeinsam mit Mitgliedern des Bundesvorstandes wahrgenommen habe, seien nur die wichtigsten erwähnt: - Pressekonferenzen in Wiesbaden im Vorfeld bzw. während des Bundestreffens. - Teilnahme am Integrationsgipfel der Bundesregierung. - Teilnahme an einer Sitzung des BdV-Präsidiums mit Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. - Teilnahme an einer Sondersitzung des BMI zur IAB-Studie. - Teilnahme an Sitzungen der Katholischen Bischofskonferenz (Aussiedlerbeirat). - Teilnahme am Spätaussiedlerkongress und Kulturfest der OMV Schleswig-Holstein. - Mehrere Gesprächstermine mit Herrn Dr. Bergner, Herrn Fromme, Herrn Schünemann und anderen. - Auftritte bei Veranstaltungen im Rahmen der Wanderausstellung und bei Ortsgruppenfeierlichkeiten. Auf alle diese Termine waren wir sowohl in schriftlicher als auch mündlicher Form sorgfältig vorbereitet.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Die zentralen Themen dieser Veranstaltungen entnehmen Sie bitte dem Bericht des Öffentlichkeitsausschusses, der Ihnen ebenso vorliegt wie ein Bericht zum Ausmaß der Verfolgung der Russlanddeutschen in der ehemaligen Sowjetunion, den der Historiker Dr. Viktor Krieger aus gegebenem Anlass für die August-Ausgabe von „Volk auf dem Weg“ verfasst hat. Lassen Sie mich stichpunktartig diese zentralen Themen zusammenfassen:

C) Sehr intensiv – und in Teilbereichen auch kontrovers – wurde in unseren Reihen die IAB-Studie zur Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern diskutiert. Ich denke, dass wir mit unserer letztendlich fairen und sachlichen Vorgehensweise ein gutes Bild abgegeben haben und als Gesprächspartner auch künftig ernst genommen werden. Erfreulich die Resonanz seitens führender Politiker und die Tendenz, die Ergebnisse der Studie zum Anlass zu nehmen, Verbesserungen im Integrationsbereich von Spätaussiedlern verstärkt A) Für die Tagung des Arbeitskreises „Integration der in Angriff zu nehmen. Aussiedler“ am 26. Februar des Jahres in Berlin haD) ben wir die folgenden Vorschläge zur Verbesserung Für einen ungeheuerlichen Vorgang halten wir den der Integrationsarbeit eingereicht: - Maßnahmen zur Abmilderung der negativen Aus- Vorschlag des Polizeipräsidenten von Hannover, ruswirkungen des Zuwanderungsgesetzes auf die sische Polizisten gegen Spätaussiedler einzusetzen. Ausreise und Aufnahme von Deutschen aus der In dieser Angelegenheit hielten wir es nicht für angebracht, auf Emotionen in unseren Stellungnahmen ehemaligen Sowjetunion. - Benennung von Aussiedlerbeauftragten für die und Briefen zu verzichten, da wir der Auffassung sind, dass durch diesen Vorschlag die gesamte Volkseinzelnen Bundesländer. - Einstellung hauptamtlich tätiger Landsleute als gruppe in einer bisher kaum gesehenen Weise diskriSchaltstellen zur Unterstützung der Integrationsar- miniert wird. beit. E) - Maßnahmen im Bereich der Kultur-, GeschichtsFür den Integrationsgipfel der Bundesregierung am und Öffentlichkeitsarbeit sowie hinsichtlich der internationalen Arbeit und der grenzüberschreiten- 12. Juli 2007 bereiteten wir die Stellungnahme vor, die Sie dem ausführlichen Bericht des Öffentlichden Zusammenarbeit. keitsausschusses entnehmen können. Wir mussten allerdings erkennen, dass unsere Themen im medienB) Mit dem Motto unseres Bundestreffens „Chancen wirksamen Rummel um die Boykottdrohung einiger schaffen – Chancen nutzen“ konnten wir recht erfol- türkischer Verbände untergingen. Immerhin konnte greich und öffentlichkeitswirksam die Dualität unse- ich jedoch die Stellungnahme bei einer Sitzung des rer Arbeit zum Ausdruck bringen: „Chancen schaf- BdV-Präsidiums am 17. Juli 2007 vortragen und sie fen“ als Aufforderung an die Öffentlichkeit und die der teilnehmenden Bundeskanzlerin in schriftlicher politisch Verantwortlichen in Deutschland, den Spät- Form überreichen. aussiedlern aus den Nachfolgestaaten der SowjetuniWie wir eine vergleichbare Aufmerksamkeit erreion den Weg in diese Gesellschaft zu ebnen; „Chancen nutzen“ als Appell an die Deutschen aus chen können, ohne den Boden sachlicher ArgumenRussland, sich verstärkt in hiesige Vereine und Orga- tation zu verlassen, sollte ebenfalls Gegenstand der nisationen einzubringen und selbstbewusster die künftigen Arbeit des Öffentlichkeitsausschusses sein. August 2007 Möglichkeiten wahrzunehmen, die ihnen ein freies und demokratisches Land wie die Bundesrepublik zu bieten hat.

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“Es ist nötig, daran zu erinnern, wie tief das Leid war!” Feier zum Gedenken an die Vertreibung der Russlanddeutschen in Friedland uf dem Gelände des Grenzdurchgangslagers Friedland, das bis zum heutigen Tag für die deutschen Vertriebenen und Aussiedler Symbol des Neubeginns ihres Lebens in der Bundesrepublik Deutschland geblieben ist, fand am 1. September die Gedenkfeier der Landsmannschaft anlässlich des 66. Jahrestages der Vertreibung der Russlanddeutschen nach dem Erlass des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 statt. Die Organisation der Feier lag in den Händen der Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft, deren Vorsitzende Lilli Bischoff in ihrer Begrüßung ihre tiefe Verbundenheit mit den Opfern der Vertreibung zum Ausdruck brachte. Um die Deutschen aus Russland zu verstehen und ihre Akzeptanz durch die einheimische Bevölkerung zu fördern, sei es nötig, immer wieder auf das schwere Schicksal der Russlanddeutschen aufmerksam zu machen. Der Friedländer Pastor Martin Steinberg hatte für sein Eröffnungsgebet den beziehungsreichen Psalm 126 ausgewählt, in dem es heißt: “Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Seligkeit, und unsre Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen unter den Heiden: der Herr hat Großes an ihnen getan!” Die stellvertretende Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Leontine Wacker, begrüßte in ihrer Ansprache besonders herzlich diejenigen ihrer Landsleute, “für die der 28. August 1941 nicht nur ein historisches Datum markiert, sondern vor allem auch den tragischen Höhepunkt ihres eigenen Leidensweges, der sie und ihre Angehörigen in den schrecklichen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu Opfern der stalinistischen Verfolgung und Vernichtung in der ehemaligen Sowjetunion machte”. “Diese Landsleute”, so Leontine Wacker weiter, “haben am eigenen Leib erfahren müssen, was dieser Erlass für unsere Volksgruppe bedeutete, der die in der Wolgarepublik lebenden Deutschen zwei Monate nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941 ohne jeden Grund pauschal der Kollaboration mit Deutschland bezichtigte.” Der Vorsitzende der Gruppe der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jochen-Konrad Fromme, betonte, dass es für diese Gedenkfeier keinen besseren Ort geben

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könne als Friedland. Mit ihrer Feier unterstreiche die Landsmannschaft die Notwendigkeit, daran zu erinnern, wie tief das Leid der vertriebenen Russlanddeutschen war. Der Respekt vor diesem Leid verbiete es auch heute noch, die kollektive Anerkennung des kollektiven Kriegsfolgenschicksals der Volksgruppe durch die Regierung der Bundesrepublik Deutschland in Frage zu stellen. Fromme betonte in diesem Zusammenhang, dass sich die allermeisten Spätaussiedler gut in die Gesellschaft integriert hätten, weshalb es nicht zulässig sei, sie über negative Einzelfälle zu definieren, wie dies leider allzu oft in den Medien geschehe. Aufgabe der Politik sei es, den weiteren Erfolg der Integrationsarbeit durch verlässliche Rahmenbedingungen zu garantieren. Die Notwendigkeit, gemeinsam die Erinnerung an die Geschichte aufrecht zu erhalten und diese an die gegenwärtige Generation zu vermitteln, betonte auch der Beauftragte der Niedersächsischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, Rudolf Götz. Die Festrede hatte der Innenminister der Landes Niedersachsen, Uwe Schünemann, übernommen. Er begrüßte es, dass die Gedenkfeier der Landsmannschaft zum ersten Mal in Niedersachsen stattfand, und dankte der Landesgruppe Niedersachsen für die gute Zusammenarbeit und ihr vorbildliches Engagement im Dienste der Integration der Deutschen aus Russland. Der 28. August 1941, so Schünemann, stehe für den verbrecherischen Gewaltakt des kommunistischen Regimes der damaligen Sowjetunion. Vom Ausmaß der Verfolgungen und des Leids habe er sich durch erschütternde Erzählungen von Trudarmisten bei einem Besuch in Kasachstan ein Bild machen können. Menschen seien damals bestraft worden, die nichts mit dem Krieg zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion zu tun hatten. Nicht zuletzt deshalb sei es für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass das Land Niedersachsen zu seiner historischen Verantwortung den Deutschen aus Russland gegenüber stehe Zum Abschluss der Feierstunde wurden Grußworte des Aussiedlerbeauftragten der Hessischen Landesregierung, Rudolf Friedrich, und der Aussiedlerbeauftragten der niedersächsischen CDU-Landtagsfraktion, Editha Lorberg, verlesen, während Frieda Der-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews cho, Vorsitzende der Ortsgruppe Osnabrück der Landsmannschaft, ein Gedicht über den Erlass vom 28. August 1941 rezitierte. Für den musikalischen Rahmen sorgten der Chor der Ortsgruppe Wolfsburg, ein Jugend-Blasorchester aus Wolfsburg sowie Christina Hein, die ihr Lied zur Geschichte der Russlanddeutschen a capella sang.

Gemeinsam mit Lilli Bischoff legte Uwe Schünemann anschließend einen Kranz an der Friedlandglocke nieder, ehe die Teilnehmer nach guter landsmannschaftlicher Tradition gemeinsam “Großer Gott, wir loben dich” und die deutsche Nationalhymne sangen. September 2007

Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland attraktiver - effizienter - transparenter Workshop in Würzburg mit neuen Akzenten und neuen Methoden uf Initiative des landsmannschaftlichen Organisationsausschusses fand am 22. und 23. September im Würzburger Technikum-Hotel ein Workshop unter dem Leitmotiv “Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland - attraktiver - effizienter - transparenter” statt, der neue Akzente setzte und mit neuen Methoden aufwartete. Moderiert vom Aussiedlerbeauftragten der Evangelischen Kirche von Westfalen, Pastor Edgar L. Born, begann der Work-shop jedoch ganz klassisch mit einer Begrüßungsansprache des Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Adolf Fetsch. Zahlreiche Gespräche, so Fetsch, die er im Vorfeld des Workshops geführt habe, hätten ihn von der Notwendigkeit der Veranstaltung überzeugt. Das Ziel der Tagung, die Arbeit der Landsmannschaft attraktiver, effizienter und transparenter zu gestalten, werde man aber nur erreichen, wenn es gelinge, möglichst viele Mitstreiter ins Boot zu holen. “Als oberstes Ziel sollten wir uns setzen,” erklärte der Bundesvorsitzende weiter, “den Bekanntheitsgrad und damit den Einfluss der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ganz erheblich zu steigern – sowohl unter der einheimischen Bevölkerung als auch unter unseren Landsleuten selbst. Es sollte zu einer Selbstverständlichkeit werden, dass Vertreter der Landsmannschaft mit am Tisch sitzen, wenn auf politischer und behördlicher Ebene über Deutsche aus Russland verhandelt und entschieden wird. Und wenn in den Medien das Thema Spätaussiedler behandelt wird, sollten wir die ersten Ansprechpartner sein.”

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Teilnehmern des Workshops knapp zwei Wochen zuvor in komprimierter Form zugeschickt worden war. An den intensiven Diskussionen des Organisationsausschusses hatten sich über Monate hinweg folgende Mitglieder der Landsmannschaft beteiligt: Leontine Wacker, Waldemar Axt und Dr. Andreas Keller vom Bundesvorstand, der frühere stellvertretende Bundesvorsitzende Waldemar Neumann, die Vorsitzenden der Ortsgruppen Augsburg und Regensburg, Juri Heiser und Waldemar Eisenbraun, sowie Dr. Ludmilla Kopp und Hans Kampen als hauptamtliche Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle. Ausgehend von der negativen Entwicklung der Mitgliederzahlen der Landsmannschaft in den letzten Jahren, ging das Referat zunächst auf äußere und innere Ursachen für diese Entwicklung ein, um dann konkrete Ansatzpunkte zu umreißen, mit deren Hilfe dieser Trend gestoppt werden könnte. Diese Punkte betrafen sowohl die Inhalte und Strukturen der landsmannschaftlichen Arbeit als auch Methoden und Spielregeln der Zusammenarbeit sowie konkrete Werbemaßnahmen.

Die Arbeitsweise

Im Anschluss daran erläuterte Pastor Born die Arbeitsweise des Workshops, die für den einen oder anderen vielleicht etwas ungewohnt war, sich inzwischen aber bei vielen Seminaren durchgesetzt hat. Demnach sollte im weiteren Verlauf der Tagung eine Konferenzmethode angewendet werden, die weniger auf Vorträge einzelner Referenten setzt als vielmehr auf die Dynamik der Selbstorganisation, der Mitverantwortung, des Engagements und der Solidarität der Teilnehmer. Die Vorarbeit Konkret bedeutete das unter anderem, dass jedem Die Ergebnisse der Vorarbeit hatte Hans Kampen als Teilnehmer die Gelegenheit gegeben wurde vorzutraVertreter des Organisationsausschusses in einem Po- gen, was ihm besonders unter den Nägeln brennt. wer-Point-Vortrag zusammengefasst, der den 28 Sämtliche Anregungen wurden schriftlich erfasst und 165

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews dienten als Grundlage für die Bildung von fünf Arbeitsgruppen, die in den restlichen Nachmittagsstunden des ersten Workshop-Tages Anregungen, Vereinbarungen und Ergebnisse zu ihrem Themenbereich erarbeiteten, die sie am nächsten Tag dem Plenum vortrugen.

Bei der Behandlung sämtlicher Aspekte stieß die Gruppe immer wieder auf die Schwierigkeit, die eigentliche Zielgruppe landsmannschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit korrekt zu benennen. Als konkrete Aktion für die unmittelbare Zukunft wurde die Schaffung eines russlanddeutschen Integrationspreises der Landsmannschaft vorgeschlagen.

Die Arbeitsgruppen Folgende Themen wurden in den Arbeitsgruppen behandelt (bei der Darstellung der Ergebnisse müssen wir uns jeweils auf einige wenige Punkte beschränken; wesentlich Ausführlicheres können Sie auf der Homepage der Landsmannschaft - www.deutscheausrussland.de - nachlesen): I. Jugendarbeit / Nachwuchs (Waldemar Eisenbraun, Ludmilla Holzwarth, Theodor Thyssen, Paul Listau, Olga Knaub, Erna Pacer): Als eines der Ergebnisse der Arbeit sei die Notwendigkeit erwähnt, bei der landsmannschaftlichen Jugendarbeit bewusst zwischen unterschiedlichen Gruppen von Jugendlichen zu unterscheiden. So habe man es auf der einen Seite mit Jugendlichen zu tun, die der Hilfe bedürften und die man nur mit Unterstützung von Experten betreuen könne, während es auf der anderen Seite Jugendliche gebe, die hervorragend integriert seien und als Vorbild für andere dienen könnten. II. Politik und Landsmannschaft (Sergej Köhler, Alla Weber, Valentina Ruppert, Rosa Emich): Die Teilnehmer der Gruppe hatten den gegenwärtigen Zustand der politischen Arbeit der Landsmannschaft mit dem verglichen, was ihrer Meinung nach anzustreben wäre. Insbesondere wurde die Bildung eines politischen Ausschusses genannt, in dem Vertreter aller Richtungen vertreten sind.

IV. Verbesserung der Verbandsorganisation / Finanzlage (Waldemar Axt, Ira Geier, Johann Anselm, Viktor Sieben): Als sehr einfach zu realisierende Maßnahme schlug die Gruppe eine Verbesserung des Informationsaustausches zwischen den einzelnen landsmannschaftlichen Gliederungen vor. V. Arbeitsklima in den Vorständen / Kommunikation (Lilli Bischoff, Waldemar Neumann, Johann Engbrecht, Magdalena Merdian, Dr. Ludmila Kopp): Oft fehle es, so Johann Engbrecht in seinem Gruppenbericht, an Harmonie innerhalb der Vorstände. Grundsätzlich gelte für jede landsmannschaftliche Arbeit, dass persönliche Interessen nicht über denen der Landsmannschaft stehen dürften. Auf jeden Fall müsse das Problem gelöst werden, geeignete Personen für die Vorstandsarbeit der Ortsgruppen zu finden.

Die weitere Arbeit

Ebenso harmonisch wie der gesamte Workshop verlief auch die abendliche Andacht, die Pastor Born und Magdalena Merdian in ökumenischer Eintracht abhielten. Um die Ergebnisse der konzentrierten Arbeit nicht versanden zu lassen, werden die Gruppen ihre Tätigkeit auch über den Workshop hinaus fortsetzen und zunächst zwei Mitarbeitertagungen vorbereiten, die III. Öffentlichkeitsarbeit vermutlich im November dieses Jahres stattfinden (Lilli Hartfelder, Josef Schleicher, Frieda Dercho, werden. Nina Paulsen, Hans Kampen, Rita Heidebrecht, Juri September 2007 Heiser):

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Workshop der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 22./23. September 2007 in Würzburg Begrüßung Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender ... Ich danke Ihnen für Ihr Kommen und begrüße Sie herzlich zu unserem Workshop, mit dem wir den ernsthaften Versuch unternehmen, neue Wege in unserer landsmannschaftlichen Arbeit zu gehen. Über Einzelheiten der Veranstaltung werden Sie anschließend der Aussiedlerbeauftragte der Evangelischen Kirche von Westfalen, Herr Pfarrer Edgar Born, und Herr Kampen als Vertreter des Organisationsausschusses der Landsmannschaft informieren. Durch meine eigene Teilnahme will ich ganz bewusst zum Ausdruck bringen, dass mich der geplante Ablauf und die in dem Referat, das Ihnen allen zugeschickt wurde, angesprochenen Punkte zur Verbesserung der landsmannschaftlichen Arbeit neugierig gemacht haben. Und nicht nur das: Zahlreiche Gespräche, die ich im Vorfeld des Workshops geführt habe, haben mich davon überzeugt, dass eine Veranstaltung wie diese längst überfällig war. Leider müssen wir heute auch auf die Teilnahme einiger meiner Kollegen vom Bundesvorstand verzichten. Ich darf Ihnen jedoch vor allem die Grüße meiner Stellvertreterin Leontine Wacker ausrichten, die als Mitglied des Organisationsausschusses selbst an der Ausarbeitung des Konzepts des Workshops beteiligt war, sich gestern jedoch einer Augenoperation unterziehen musste und heute und morgen nicht dabei sein kann. *** Wie Sie dem Programm entnommen haben, werden Reden und Referate lediglich den Auftakt der Tagung bilden – dementsprechend kurz werde ich mich auch fassen. Im Mittelpunkt wird Ihre Arbeit, werden Ihre Meinungen und Ihre Vorschläge stehen. Auch das begrüße ich ausdrücklich. Wir werden das Ziel dieser Tagung, die Arbeit der Landsmannschaft attraktiver, effizienter und transparenter zu gestalten, nur erreichen, wenn es uns gelingt, möglichst viele Mitstreiter ins Boot zu holen. Landsleute, die über letztlich unbedeutende Meinungsunterschiede hinweg bereit sind, unsere Landsmannschaft inhaltlich reicher zu machen und in solidarischer Weise zusammenzuarbeiten. *** Wie ich bereits eingangs erwähnt habe, sollen diesmal Referate und Ansprachen nur eine Nebenrolle spielen. Ich will mich daher bei den Ausführungen

zu den zentralen Orientierungspunkten landsmannschaftlicher Arbeit auf das Allernotwendigste beschränken. Als oberstes Ziel sollten wir uns setzen, den Bekanntheitsgrad und damit den Einfluss der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ganz erheblich zu steigern – sowohl unter der einheimischen Bevölkerung als auch unter unseren Landsleuten selbst. Es sollte zu einer Selbstverständlichkeit werden, dass Vertreter der Landsmannschaft mit am Tisch sitzen, wenn auf politischer und behördlicher Ebene über Deutsche aus Russland verhandelt und entschieden wird. Und wenn in den Medien das Thema Spätaussiedler behandelt wird, sollten wir die ersten Ansprechpartner sein. Wir sollten aber auch gegenüber Landsleuten, die noch nicht Mitglied unseres Verbandes sind oder sich von ihm abgewendet haben, selbstbewusster und prägnanter auftreten. Mit dem, was die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in den über 55 Jahren ihres Bestehens geleistet hat, brauchen wir uns – bei aller Bescheidenheit! - ganz gewiss nicht zu verstecken! Sagen wir deshalb unseren Landsleuten: Ohne die Landsmannschaft hätte es in den Nachkriegsjahrzehnten keine Gleichstellung der Deutschen aus Russland mit der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung gegeben, und ohne die unermüdliche und zumeist ehrenamtliche Arbeit der Landsmannschaft würde es den meisten unserer Landsleute hier in Deutschland erheblich schlechter gehen. Und sagen wir doch voller Stolz: Ohne die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wären Hunderttausende Mitglieder unserer Volksgruppe, die heute in Deutschland leben, noch immer in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Nicht zu verstecken brauchen wir allerdings auch nicht, was die Leistungen und den Integrationswillen der Deutschen aus Russland anbetrifft. Negativen Äußerungen in den Medien und der Öffentlichkeit, die häufig nicht allzu weit von Aussiedlerfeindlichkeit entfernt sind, sollten wir ein realistisches Bild unserer Volksgruppe gegenüber stellen. Wir sollten also laut und deutlich sagen, dass die Integration der Deutschen aus Russland in der Bundes-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews republik als Erfolgsgeschichte anzusehen ist und spätestens in der zweiten Generation nach der Aussiedlung von Problemen keine Rede mehr sein kann. *** Zur vereinsinternen Arbeit sei Folgendes gesagt: Auch nach den gesetzlichen Änderungen der letzten Jahren mit der Neuformulierung des Beraterprofils wird die Sozialarbeit zwar vorläufig wichtigster Bestandteil unserer Bemühungen bleiben. Die nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes ganz erheblich zurückgegangenen Spätaussiedlerzahlen werden uns jedoch schon sehr bald zwingen, die Schwerpunkte unserer Arbeit zu verlagern, wenn wir als Organisation überleben wollen. Eine erheblich größere Bedeutung als in den späten 90er Jahren werden wir also wieder der landsmannschaftlichen Kulturarbeit beimessen müssen, wobei wir diese Arbeit vor allem als Beitrag zur Wiedergewinnung der kulturellen Identität einer Volksgruppe auffassen, die in den stalinistischen Lagern beinahe vernichtet wurde und deren Mitglieder nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung oftmals den festen Boden unter den Füßen und ihre Orientierung verloren haben. Wir müssen daher nicht nur die ehrenamtliche Arbeit in den landsmannschaftlichen Gliederungen besser koordinieren, sondern beispielsweise auch gemeinsam den Aufbau eines Archivs und eines Museums in Angriff nehmen, in denen die Kulturgeschichte der Russlanddeutschen umfassend und für die Öffentlichkeit zugänglich dargestellt wird. *** Auf andere Aspekte landsmannschaftlicher Arbeit will ich im Rahmen meiner Begrüßung nicht eingehen – Sie selbst werden an diesen beiden WorkshopTagen ausreichend Gelegenheit dazu haben. Die Anwesenheit von Herrn Pfarrer Born - der sich uns als Moderator zur Verfügung gestellt hat und der heute Abend mit Frau Merdian eine kleine Andacht

halten wird – will ich jedoch benutzen, um ein paar Worte zu unserer Zusammenarbeit mit den christlichen Kirchen und der Bedeutung zu sagen, die wir der tiefen Religiosität der Deutschen aus Russland beimessen sollten. Vielleicht vergessen wir hin und wieder, dass die Landsmannschaft hauptsächlich von Vertretern der evangelisch-lutherischen und katholischen, der mennonitischen und baptistischen Kirche gegründet wurde und von diesen über Jahrzehnte hinweg ganz entscheidend geprägt wurde. Diesen Halt haben wir, wie ich leider eingestehen muss, im Alltagsgeschäft landsmannschaftlicher Arbeit ein wenig verloren. Nicht vergessen haben wir dagegen, dass der christliche Glaube für die Angehörigen unserer Volksgruppe immer eine besondere Rolle gespielt hat. Bereits vor über zwei Jahrhunderten waren es nicht zuletzt religiöse Gründe, die unsere Vorfahren zur Auswanderung nach Russland bewegten, in den schweren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Glaube oft der einzige Trost, und heute finden nach wie vor viele ihre eigentliche Heimat im Glauben, sei es hier in Deutschland oder in der ehemaligen Sowjetunion. *** Ich bin der festen Überzeugung, dass die Deutschen aus Russland nicht nur durch das gemeinsame Schicksal geeint werden, sondern auch durch den Glauben, an dem sie und ihre Vorfahren treu festgehalten haben. Diese Gemeinsamkeiten aber sollten uns dazu führen, die Lösung der Probleme unserer Landsleuten und auch die der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ebenso gemeinsam in Angriff zu nehmen. In diesem Sinne wünsche ich dem Workshop einen produktiven und harmonischen Verlauf. September 2007

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Workshop der Landsmannschaft am 22. und 23. September 2007 in Würzburg Ergebnisse der Arbeitsgruppen Folgende Themen wurden in den Arbeitsgruppen be- III. Öffentlichkeitsarbeit handelt und werden in nächsten Wochen weiter aus- (Lilli Hartfelder, Josef Schleicher, Frieda Dercho, geführt: Nina Paulsen, Hans Kampen, Rita Heidebrecht, Juri Heiser): Fazit: I. Jugendarbeit / Nachwuchs (Waldemar Eisenbraun, Ludmilla Holzwarth, Theo- Bei der Behandlung sämtlicher Aspekte stieß die dor Thyssen, Paul Listau, Olga Knaub, Erna Pacer): Gruppe immer wieder auf die Schwierigkeit, die eigentliche Zielgruppe landsmannschaftlicher ÖffentFazit: Als eines der Ergebnisse der Arbeit sei die Notwen- lichkeitsarbeit korrekt zu benennen. Als konkrete digkeit erwähnt, bei der landsmannschaftlichen Ju- Aktion für die unmittelbare Zukunft wurde die gendarbeit bewusst zwischen unterschiedlichen Schaffung eines russlanddeutschen IntegrationspreiGruppen von Jugendlichen zu unterscheiden. So ses der Landsmannschaft vorgeschlagen. habe man es auf der einen Seite mit Jugendlichen zu Stichpunkte: tun, die der Hilfe bedürften und die man nur mit Un- - Volk auf dem Weg in den freien Verkauf (abgespeckte Variante) terstützung von Experten betreuen könne, während es auf der anderen Seite Jugendliche gebe, die her- - Nützen zusätzlicher Publikationsmöglichkeiten vorragend integriert seien und als Vorbild für andere - Schaffung eines russlanddeutschen Integrationspreises („Katharinenpreis“) dienen könnten. - Umstrukturierung bzw. Umbenennung der LandsStichpunkte: mannschaft („Dachverband der Deutschen aus - Bestandsaufnahme des in der einschlägigen JuRussland“) gendarbeit bereits Vorhandenen - zielgruppenorientierte Präsentation der Jugendar- - Weg vom Negativen – hin zum Positiven! - Weg vom Passiven – hin zum Offensiven! beit - Schaffung positiver Symbole und Einrichtungen - differenziertes Vorgehen (Bundesgeschäftsstelle als Haus der Russlanddeut- Schaffen von Anreizen für ehrenamtliches Engaschen, Archiv, Museum usw.) gement - aktive Starthilfe - Tandemprinzip – Zusammenarbeit einheimischer IV. Verbesserung der Verbandsorganisation / Finanzlage und russlanddeutscher Fachleute - Zusammenarbeit mit Parallelverbänden (Waldemar Axt, Ira Geier, Johann Anselm, Viktor Sieben): Unmittelbar zu Realisierendes: II. Politik und Landsmannschaft (Sergej Köhler, Alla Weber, Valentina Ruppert, Rosa Als sehr einfach zu realisierende Maßnahme schlug die Gruppe eine Verbesserung des InformationsausEmich): tausches zwischen den einzelnen landsmannschaftliFazit: Die Teilnehmer der Gruppe hatten den gegenwärti- chen Gliederungen vor. gen Zustand der politischen Arbeit der Landsmann- Stichpunkte: schaft mit dem verglichen, was ihrer Meinung nach - praxisorierentierte Schulung der landsmannschaftlichen Mitarbeiter (Tätigkeitsbericht, wirtschaftlianzustreben wäre. Insbesondere wurde die Bildung cher Geschäftsbericht usw.) eines politischen Ausschusses genannt, in dem Ver- Informationsaustausch über zusätzliche Finanzietreter aller Richtungen vertreten sind. rungsmöglichkeiten (Veranstaltungen, interkultuStichpunkte: relle Märkte, Werbemaßnahmen, kommunale Zu- Aufbau eines politischen Ausschusses wendungen für Kultur- und Jugendarbeit, Kultur- Öffentlichkeitsarbeit in den allgemeinen Medien, stiftungen, BdV, SOS-Kinderdörfer, Friedlandhilim Internet und in Volk auf dem Weg fe, DJO) - politische Beteiligung auf allen Ebenen

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews V. Arbeitsklima in den Vorständen / Kommunikation (Lilli Bischoff, Waldemar Neumann, Johann Engbrecht, Magdalena Merdian, Dr. Ludmila Kopp): Fazit: Oft fehle es, so Johann Engbrecht in seinem Gruppenbericht, an Harmonie innerhalb der Vorstände. Grundsätzlich gelte für jede landsmannschaftliche Arbeit, dass persönliche Interessen nicht über denen der Landsmannschaft stehen dürften. Auf jeden Fall müsse das Problem gelöst werden, geeignete Personen für die Vorstandsarbeit der Ortsgruppen zu finden.

- persönliche Interessen dürfen nicht über landsmannschaftlichen stehen - fehlende Harmonie unter den Vorstandsmitgliedern – kann ein Supervisor helfen? - Notwendigkeit eines Kommunikationstrainings für Vorstandsmitglieder - Schwierigkeit, verantwortliche Personen für die Ortsgruppenvorstände zu finden - Nutzen von Möglichkeiten, Ehrenamtliche mit Aufmerksamkeiten zu motivieren - Probleme müssen offen besprochen und aufgearbeitet werden September 2007

Stichpunkte: - Kommunikation zwischen Ehrenamtlichen und Bundesgeschäftsstelle krankt

Aufruf zur Mitarbeit im

Arbeitskreis für politische Integration der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. emäß einem Beschluss des Bundesvorstan- - Ausarbeitung der politischen Ziele der landsmannschaftlichen Arbeit; des der Landsmannschaft wurde in seinem Öffentlichkeitsausschuss ein Arbeits- - Unterstützung einer selbstbewussten politischen Arbeit der Deutschen aus Russland auf kommunakreis für politische Integration gegründet. ler, Landes- und Bundesebene; Die Ereignisse der letzten Jahre verlangen von uns, - Aufstellen eines politischen Kommunikationsnetzes unter den russlanddeutschen Mandatsträgern dass wir uns zu einer wirkungsvollen politischen Inund Mitgliedern aller demokratischen Parteien in teressenvertretung zusammenschließen. Einige dieder Bundesrepublik Deutschland; ser Ereignisse seien genannt: - Förderung eines konstruktiven politischen Dialogs sowohl nach innen als auch nach außen. - Einbeziehung der Heimatvertriebenen und Aussiedler in das Zuwanderungsgesetz; Wir sind für - Einordnung als “Migranten”; - überzogene und realitätsfremde negative Darstellung in den Massenmedien (Rolle des “Prügelkna- - eine landsmannschaftliche Politik nach parlamentarischen Grundsätzen und den Grundsätzen einer ben” und des “Sündenbocks”); demokratischen Gesellschaft; - “Das Tor ist zu” - Politik/Tragödie der Familientrennung durch Überbewertung der deutschen - die Familienzusammenführung der Deutschen aus Russland, die nicht kurzfristigen politischen EntSprachkenntnisse beim Aufnahmeverfahren, wohl scheidungen geopfert werden darf; wissend, dass der Verlust der Muttersprache eine der schwersten Kriegsfolgen für unsere Volksgrup- - eine transparente und konstruktive Politik und gegen die Mentalität eines so genannten Revoluzzers pe ist. oder Untergrundkämpfers; Wir setzen uns für diese Vertretung der Interessen - ein friedliches, vereintes und wohlhabendes Europa, in dem es für Intoleranz, Rassismus und Extreunserer vom Schicksal schwer geprüften Volksgrupmismus keinen Platz gibt. pe sowohl innerhalb der Parteien als auch darüber hinaus, sprich überparteilich, ein. Wir bitten alle Landsleute, die bereits politisch aktiv Die Ziele des Arbeitskreises für politische Integrati- sind oder sich politisch engagieren wollen, sich beim Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft, Aleon sind die folgenden:

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews xander Rack ([email protected]), zu melden. Nach Eingang der Meldungen wird eine erweiterte Arbeitssitzung einberufen, an der alle teilnehmen werden, die sich gemeldet und ihre Vorschläge zur Arbeit des Arbeitskreises für politische Integration eingebracht haben. Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender und Vorsitzender des Öffentlichkeitsausschusses Adolf Braun MdL a.D., stellvertretender Bundesvorsitzender und Arbeitskreisvorsitzender

Dr. Arthur Bechert, Mitglied des Bundesvorstandes Dr. Andreas Keller, Mitglied des Bundesvorstandes Johann Thießen, Stadtrat, Vorsitzender der Landesgruppe Hessen Dr. Johannes Hörner, Stadtrat, Vorsitzender der Ortsgruppe Ingolstadt Oktober 2007

Zweimal zwei Tage konzentrierter Arbeit Ehrenamtliche Mitarbeiter der Landsmannschaft trafen sich in Nienburg und Würzburg chwerpunkte der ehrenamtlichen Arbeit standen im Mittelpunkt zweier Multiplikatorenschulungen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die für den Bereich Nord am 29. und 30. September in Nienburg an der Weser (Niedersachsen) und für den Bereich Süd am 6. und 7. Oktober in Würzburg (Bayern) stattfanden. Die intensiven Arbeitstagungen mit lebhaftem Gedankenaustausch, Vorträgen und Diskussionen über Probleme, die unseren Landsleuten unter den Nägeln brennen, wurden jeweils von Adolf Braun, stellvertretender Bundesvorsitzender und sozialpolitischer Sprecher des Bundesvorstandes, geleitet.

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zumeist ehrenamtliche Arbeit der Landsmannschaft den meisten unserer Landsleute hier in der Bundesrepublik Deutschland erheblich schlechter gehen würde. Betonen wir also, dass ohne die Landsmannschaft das Thema Deutsche in der Sowjetunion spätestens in den 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts vom Tisch gewesen wäre. Und sagen wir doch voller Stolz: Ohne die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wären Hunderttausende Mitglieder unserer Volksgruppe, die heute in Deutschland leben, noch immer in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.”

Die Aufgaben ändern sich Zusammenarbeit ist nötig Die Grundsatzreferate in Nienburg und Würzburg hielt der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, der einleitend die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit innerhalb des Vereins betonte. Das Ziel, die Arbeit der Landsmannschaft attraktiver zu gestalten, werde man nur erreichen, wenn es gelinge, möglichst viele Mitstreiter ins Boot zu holen, die bereit sind, in solidarischer Weise zusammenzuarbeiten. Bei der Werbung für eine Mitarbeit in der Landsmannschaft solle man ohne falsche Bescheidenheit auf das verweisen, was sie in den über 55 Jahren ihres Bestehens geleistet und erreicht hat. Wörtlich sagte der Bundesvorsitzende: “Erinnern wir also daran, dass es ohne die Landsmannschaft in den Nachkriegsjahrzehnten keine Gleichstellung der Deutschen aus Russland mit der bundesdeutschen Bevölkerung gegeben hätte. Sagen wir also, dass es ohne die unermüdliche und

Auf rechtliche Rahmenbedingungen und organistorische Fragen der alltäglichen Betreuungsarbeit gingen Nikolaus Rohlmann (Nord) und Nobert Metz (Süd) vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein. Insbesondere klärten sie die Teilnehmer über gesetzliche Änderungen im Aufenthaltsgesetz sowie hinsichtlich des Familiennachzugs auf. Angesichts weiterhin rapide sinkender Aussiedlerzahlen werde sich, so die beiden Referenten, bereits in allernächster Zeit die Aufgabenstellung der ehrenund hauptamtlicher Sozialbetreuer grundlegend ändern. Erheblich größere Bedeutung als bisher werde man der so genannten nachholenden Integration beimessen müssen, der Beratung und Betreuung von Deutschen aus Russland also, die bereits seit längerem in Deutschland sind. Von staatlicher Seite würden künftig verstärkt Projekte gefördert, die im unmittelbaren Wohnumfeld der Betreuten ansetzen und ihrer raschen Integration in das Gemeinwesen dienen.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Zuwanderungsgesetz, Rente und andere Probleme Wiederholt kam es zu Diskussionen über die Auswirkungen des Zuwanderungsgesetzes auf das Spätaussiedleraufnahmeverfahren und die Integration der Spätaussiedler. Für Fragen in diesem Bereich stand Adolf Braun zur Verfügung, der sich zudem gemeinsam mit Wendelin Jundt (Landesgruppe Niedersachsen) und Isolde Haase (Migrationserstberaterin) mit der Rentenproblematik befasste. Die Ausführungen von Isolde Haase sowie die Beschreibung von Einzelfällen konnten die Teilnehmer der beiden Schulungen auch in schriftlicher Form mit nach Hause nehmen. Über ihre Erfahrungen beim Aufbau der landsmannschaftlichen Arbeit vor Ort und ihre Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit Behörden und verschiedenen Institutionen berichtete die Vorsitzende der Ortsgruppe Karlsruhe, Erna Pacer. Seit 2006 läuft in Karsruhe das landsmannschaftliche Projekt “Alle unter einem Dach - Integration in das Gemeinwesen der Stadt Karlsruhe und Umgebung” (Leiterin Emilia Schmackow). Gefördert vom BAMF, will das Projekt mit vielfältigen Angeboten in den Bereichen Sport, Theater, Musik und Tanz jugendlichen und auch erwachsenen Zuwanderern Hilfestellung bei der Orientierung und Integration in der neuen Heimat geben.

Ein Teil der Gesellschaft werden! Dr. Arthur Bechert, Vorsitzender der Landesgruppe Bayern der Landsmannschaft, zeichnete mithilfe einer PowerPoint-Präsentation die Entwicklungsgeschichte der Deutschen in Russland bzw. der Sowjetunion nach - von den Anfängen bis zur Gegenwart in Deutschland mit allen Tiefen und vor allem bemerkenswerten Höhepunkten, auf die wir uns viel stärker besinnen sollten. Viel intensiver sollte auch die kulturelle Verbundenheit mit den Einheimischen hervorgehoben werden.

Anhand praktischer Beispiele beschrieb Dr. Bechert, wie sich die Deutschen aus Russland in das Gemeinwesen - das politische und soziale Leben der Kommunen - einbringen könnten. “Wir sind schwach, weil unsere Landsleute passiv sind und nicht in die Politik gehen”, so der Landesvorsitzende. “Unsere Landsleute sollten in allen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland vertreten sein, wenn wir ein Teil dieser Gesellschaft werden wollen.” In Ergänzung seiner Ausführungen schlugen Dr. Andreas Keller (Mitglied des Bundesvorstandes) und Theodor Habenstein (Orts- und Kreisgruppe Augsburg) konkrete Schritte zur Intensivierung der geschichtsbezogenen und politischen Arbeit vor.

Andacht am Gedenkstein in Nienburg Mit einer Andacht am Gedenkstein der Landsmannschaft in Nienburg und kurzen Ansprachen von Landrat Heinrich Eggers, Wendelin Jundt, Magdalena Merdian (Ortsgruppe Espelkamp) und Adolf Fetsch wurde der zweite Tag der Schulung Nord begonnen. Wendelin Jundt ging auf die Geschichte des Gedenksteins ein, der am 10. August 1986 mit einem ökumenischen Gottesdienst eingeweiht wurde. Der Stein trägt die Aufschrift “Zum Gedenken an die Deutschen aus Russland” und soll nicht nur an das tragische Schicksal unserer Volksgruppe erinnern, sondern auch mit dem daneben gepflanzten Baum die Hoffnung auf Ausreise der Deutschen zum Ausdruck bringen, die damals noch gegen ihren Willen in der Sowjetunion festgehalten wurden. Sowohl Landrat Eggers als auch Magdalena Merdian und Adolf Fetsch erinnerten an alle, die damals aus ihren Heimatorten in die lebensfeindlichsten Gebiete im Osten und hohen Norden der Sowjetunion verschleppt wurden, wo Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen, unerträgliche Kälte, Hunger und Tod auf sie warteten. Oktober 2007

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Multiplikatorenschulung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Nienburg, 29. September 2007 Referat Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender ...Ich will mich in meinem Referat auf die wichtigsten Themen beschränken, die gegenwärtig für die Landsmannschaft und die von ihr vertretenen Deutschen aus Russland von vorrangiger Bedeutung sind. Die Behandlung detaillierter Einzelfragen überlasse ich den für heute und morgen vorgesehenen Referenten und Arbeitsgruppen. Als Bundesvorsitzender der Landsmannschaft komme ich nicht umhin, auf einige Punkte einzugehen, die Gegenstand des Workshops waren, der auf Initiative des Organisationsausschusses der Landsmannschaft am vergangenen Wochenende in Würzburg stattgefunden hat und mit zwei Mitarbeitertagungen im November bzw. Dezember dieses Jahres seine Fortsetzung finden wird. Ausgangspunkt der Initiative des Organisationsausschusses war der nicht mehr zu übersehende rapide Rückgang der Mitgliederzahlen der Landsmannschaft. Laut den uns vorliegenden Zahlen haben wir in den letzten siebeneinhalb Jahren nicht weniger als 47 Prozent unserer Mitglieder verloren. Da sich diese Tendenz in beinahe allen Landes- und Ortsgruppen bemerkbar macht, müssen wir davon ausgehen, dass der Mitgliederrückgang nicht auf Fehler einzelner Gruppierungen zurückgeführt werden kann. Dieser Rückgang lässt es vielmehr als dringend notwendig erscheinen, gemeinsam über eine grundlegende Reform der Landsmannschaft nachzudenken, wenn wir als Organisation überleben wollen. Das Ziel der Tagung des Organisationsausschusses, die Arbeit der Landsmannschaft attraktiver, effizienter und transparenter zu gestalten, werden wir nach meiner Auffassung und derjenigen der Teilnehmer des Workshops nur erreichen, wenn es uns gelingt, möglichst viele Mitstreiter ins Boot zu holen, die bereit sind, unsere Landsmannschaft inhaltlich reicher zu machen und in solidarischer Weise zusammenzuarbeiten. Als oberstes Ziel hatte ich in meinem Referat anlässlich des Workshops formuliert, den Bekanntheitsgrad und damit den Einfluss der Landsmannschaft ganz erheblich zu steigern – sowohl unter der einheimischen Bevölkerung als auch unter unseren Landsleuten selbst. Es sollte nach meiner Auffassung zu einer Selbstverständlichkeit werden, dass wir als Landsmannschaft

mit am Tisch sitzen, wenn auf politischer und behördlicher Ebene über Deutsche aus Russland verhandelt und entschieden wird. Und wenn in den Medien das Thema Spätaussiedler behandelt wird, sollten wir die ersten Ansprechpartner sein. Wenn wir für unsere Landsmannschaft werben, sollten wir aber auch gegenüber Landsleuten, die noch nicht Mitglied unseres Verbandes sind oder sich – aus welchen Gründen auch immer! - von ihm abgewendet haben, selbstbewusster und prägnanter auftreten. Und wenn wieder einmal irgendeine Organisation die Landsmannschaft in sattsam bekannter Manier angreift, sollten wir davon absehen, uns zu verteidigen, vielmehr mit dem antworten, was die Landsmannschaft in den über 55 Jahren ihres Bestehens geleistet hat. Es sind Leistungen, mit denen wir uns vor keinem zu verstecken brauchen: Erinnern wir also unsere Kritiker daran, dass es ohne die Landsmannschaft in den Nachkriegsjahrzehnten keine Gleichstellung der Deutschen aus Russland mit der bundesdeutschen Bevölkerung gegeben hätte. Sagen wir also ohne falsche Bescheidenheit, dass es ohne die unermüdliche und zumeist ehrenamtliche Arbeit der Landsmannschaft den meisten unserer Landsleute hier in der Bundesrepublik Deutschland erheblich schlechter gehen würde. Betonen wir also, dass ohne die Landsmannschaft das Thema Deutsche in der Sowjetunion spätestens in den 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts vom Tisch gewesen wäre. Und sagen wir doch voller Stolz: Ohne die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wären Hunderttausende Mitglieder unserer Volksgruppe, die heute in Deutschland leben, noch immer in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Lassen Sie mich die von mir vorgeschlagene Vorgehensweise an einem aktuellen Beispiel erläutern: Gegenwärtig sorgt die Initiative einer gesellschaftlichen Vereinigung namens „Atlant“, die zum Ziel hat, einen gesellschaftlichen Verband zu gründen, der die Interessen der russländischen Landsleute in Deutschland vertritt, unter einigen unserer Landsleute für größere Aufregung. Forderungen werden aufgestellt, die Landsmannschaft müsse gegen die Initiatoren dieser „Vereinigung aller Russischsprachigen“ vorgehen, und in ei-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews nem offenen Brief meint der Vorsitzende der Schutzgemeinschaft „Deutsche Heimat der Deutschen aus Russland“, die Landsmannschaft sei überflüssig, wenn sie die Bildung dieser Vereinigung zulasse. Angesichts eines derartig abwegigen Verständnisses von Demokratie verschlägt es einem zunächst die Sprache – glauben die Verfasser des offenen Briefes denn wirklich, die Landsmannschaft habe das Mandat bzw. die Macht, die Bildung einer derartigen Vereinigung zu verhindern? Die Landsmannschaft hat sich an keiner der Aktionen dieser Vereinigung beteiligt und wird auch künftig jede Zusammenarbeit mit ihr ablehnen, da deren Ziele all dem zuwider laufen, was die Landsmannschaft in ihrer Integrationsarbeit befürwortet. Wir werden unsere Kräfte jedoch nicht mit irgendwelchen Rechtfertigungen unseres Handelns vergeuden, sondern schließen uns voll inhaltlich dem an, was der Vorsitzende der Landesgruppe NordrheinWestfalen, Johann Engbrecht, in seiner Stellungnahme zu der leidigen Angelegenheit zum Ausdruck gebracht hat. Ich zitiere einige Passagen aus dieser Stellungnahme: „Die Integrationsarbeit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland fußt auf der Basis der Anerkennung gesellschaftlicher und verfassungsmäßiger Grundwerte wie Demokratie oder Rechtstaatlichkeit. An erster Stelle steht bei uns das Erlernen der deutschen Sprache und der deutschen Kultur. Wir unterstützen aber auch die Zweisprachigkeit. Deutsche aus Russland sehen sich als Brückenbauer zwischen Deutschland und Russland. Bei den Veranstaltungen der Vereinigung „Atlant“ dagegen waren ganz offensichtlich russisch-nationalistische Töne zu hören. Die Vereinigung stellt Ziele auf, die weder integrationsfördernd sind noch den Interessen der Deutschen aus Russland entsprechen. Auch wir setzen uns für die Pflege des Mitgebrachten ein, wollen uns jedoch nicht von dieser Gesellschaft abgrenzen bzw. abtrennen. Unser eindeutiges Ziel ist, ein Teil der hiesigen Gesellschaft zu werden, und wir sind bereit, mit jedem zu kooperieren, der diese Ziele mit uns teilt.“ Dem ist von meiner und unserer Seite nichts hinzuzufügen! *** Ebenso wie sich die Landsmannschaft mit dem, was sie bisher erreicht hat und gegenwärtig durchführt, nicht zu verstecken braucht, brauchen wir uns auch nicht zu verstecken, was die Leistungen und den Integrationswillen unserer Landsleute angeht. Ich halte es jedoch für wenig sinnvoll, wenn wir uns gegen abwertende Äußerungen in der Öffentlichkeit und in den Medien immer nur verteidigen, zumal die Chancen, dass wir jemanden, der negative Vorurteile

gegen Deutsche aus Russland hat, vom Gegenteil überzeugen, nur äußerst gering sind. Statt uns zu verteidigen, sollten wir diesen negativen Äußerungen ein realistisches und positives Bild der Volksgruppe gegenüber stellen. Sagen wir also laut und deutlich und belegen es mit Zahlen, dass die Integration der Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik Deutschland als Erfolgsgeschichte anzusehen ist und spätestens in der zweiten Generation nach der Aussiedlung von Integrationsproblemen keine Rede mehr sein kann. Verteidigen wir uns nicht gegen Äußerungen, die häufig als aussiedlerfeindlich bezeichnet werden müssen, sondern wiederholen wir immer wieder, dass die Deutschen aus Russland in ihrer großen Mehrheit als junge, arbeitswillige und integrationsbereite Menschen nach Deutschland kommen, um hier nach Jahrzehnten der Verfolgung in der ehemaligen Sowjetunion endlich als Deutsche unter Deutschen leben zu dürfen. Wir müssen in unserer Landsmannschaft endlich die Position des ewigen Verteidigens verlassen und positive Zeichen setzen und positive Einrichtungen und Inhalte schaffen. Im Rahmen des eingangs erwähnten Workshops wurden eine Reihe konkreter Vorschläge hinsichtlich der inhaltlichen Arbeit der Landsmannschaft gemacht, mit deren Hilfe wir unsere Außendarstellung ganz erheblich verbessern könnten. Ich will einige dieser Vorschläge, die wir mit unseren personellen und finanziellen Mitteln durchaus bereits in allernächster Zeit in Angriff nehmen bzw. verwirklichen könnten, nennen: - So wurde beispielsweise die Schaffung eines russlanddeutschen Integrationspreises mit dem Arbeitstitel „Katharinenpreis“ vorgeschlagen, der in regelmäßigen Abständen in feierlichem Rahmen an eine prominente Persönlichkeit des öffentlichen Lebens verliehen werden sollte, die sich in besonderer Weise um die Deutschen aus Russland verdient gemacht hat. Andere Landsmannschaften, etwa die der Sudetendeutschen, erreichen mit ähnlichen Preisverleihungen eine Außenwirkung, die uns im Normalfall verwehrt ist. - Hinsichtlich der weiteren Verbreitung unseres Verbandsorgans „Volk auf dem Weg“ wurde der Vorschlag gemacht, zusätzlich zur Mitgliederzeitung ein stark abgespecktes Blatt herzustellen, das sich mit einem prozentual stark erhöhten Werbeteil selbst finanzieren würde und über ein landsmannschaftsinternes Verteilernetz an den Mann gebracht werden könnte. - Sehr leicht zu realisieren wäre auch der Aufbau eines internen Kommunikationsnetzes, auf das alle Mitarbeiter der Landsmannschaft Zugriff haben

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews und das ihnen für ihre alltägliche ehrenamtliche Arbeit ohne Zeitverzögerung wertvolle Informationen liefert. *** Ich bin im bisherigen Verlauf meines Referates ganz bewusst vor allem auf verbandsinterne Bereiche eingegangen, in denen wir eigenverantwortlich tätig werden können. Das soll jedoch bestimmt nicht heißen, dass wir in unserer landsmannschaftlichen Arbeit die drängenden Probleme der Gegenwart vergessen haben. Eine Multiplikatenschulung wie diese ist zwar nicht unbedingt der Ort für politische Einlassungen größeren Umfangs, dennoch will ich auf einen Punkt näher eingehen: Betrachten wir die monatlichen Spätaussiedlerstatistiken des Bundesverwaltungsamtes müssen wir feststellen, dass die Ausreise unserer Landsleute nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes praktisch Nullniveau erreicht hat. Und das trotz der immer wiederkehrenden Bekenntnisse von Politikern sämtlicher maßgeblicher Parteien, das Tor nach Deutschland offen zu lassen und die Anerkennung des kollektiven Kriegsfolgenschicksals der Russlanddeutschen nicht anzutasten. Wir werden uns mit dieser Entwicklung nicht zufrieden geben und nicht müde werden, auf tragische Fälle von Familientrennungen hinzuweisen, zu denen es durch diese faktische Beendigung der Ausreise kommt und die nach unserer Auffassung längst ein beklagenswertes Phänomen der Vergangenheit sein sollten. Vor allem aber werden wir den Kampf gegen die Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren fortsetzen und darauf hinweisen, dass durch diese Überbetonung Menschen, die den Verlust der deutschen Sprache infolge der stalinistischen Repressionen als wesentlichen

Teil ihres Kriegsfolgenschicksals betrachten, ein zweites Mal bestraft werden. *** Abschließend ein weiteres Wort zur verbandsinternen Arbeit. Ich brauche Ihnen als Fachleuten der landsmannschaftlichen Beratungs- und Betreuungsarbeit nicht zu erklären, zu welchen gravierenden Änderungen es in unserer Sozialarbeit nach den gesetzlichen Änderungen der letzten Jahre mit der Neuformulierung des Beraterprofils gekommen ist. Dennoch wird die Sozialarbeit zumindest vorläufig wichtigster Bestandteil unserer Bemühungen bleiben. Sollten die Spätaussiedlerzahlen jedoch ihre Talfahrt fortsetzen, werden wir schon sehr bald gezwungen sein, die Schwerpunkte unserer Arbeit zu verlagern – selbstverständlich ohne die Sozialarbeit zu vernachlässigen! Wir werden der landsmannschaftlichen Kulturarbeit wieder eine erheblich größere Bedeutung beimessen müssen, als dies seit den 90er Jahren der Fall ist. Dabei fassen wir diese Arbeit in ersten Linie als Beitrag zur Wiedergewinnung der kulturellen Identität einer Volksgruppe auf, die im vorigen Jahrhundert in den stalinistischen Lagern beinahe dem Untergang geweiht war und deren Mitglieder nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung oftmals den festen Boden unter den Füßen und ihre Orientierung verloren haben. Wir müssen daher nicht nur die ehrenamtliche Arbeit in den landsmannschaftlichen Gliederungen besser koordinieren, sondern beispielsweise auch gemeinsam den Aufbau eines Archivs und eines Museums in Angriff nehmen, in denen die Kulturgeschichte der Russlanddeutschen umfassend und für die Öffentlichkeit zugänglich dargestellt wird. Oktober 2007

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Tagung in Würzburg DJR / Kulturrat der Deutschen aus Russland 27. Oktober 2007 Rede: Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender ... Man hat mir für den heutigen Tag die nicht leichte Aufgabe übertragen, Ihnen in der gebotenen Kürze die Organisation vorzustellen, deren Geschicke ich seit über vier Jahrzehnten mitgestalte und als deren Bundesvorsitzender ich vor einem Jahr wieder gewählt wurde – die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Dem Wunsch des Veranstalters gemäß habe ich mein Referat deutlich unterscheidbar in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil widme ich mich der Entstehungsgeschichte der Landsmannschaft und ihrem Werdegang bis hinein in die späten 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Teil 2 befasst sich mit der Entwicklung hin zur Gegenwart. Und in den Teilen 3 und 4 gehe ich speziell auf aktuelle Fragen und Tendenzen der landsmannschaftlichen Jugend- und Kulturarbeit ein. Auf Wunsch der Teilnehmer kann ich nach jedem der einzelnen Teile eine kurze Pause machen und bereits zwischendurch auf Fragen eingehen. *** Teil 1, der Blick in die Geschichte, wird etwas umfangreicher als gewöhnlich ausfallen. Zum einen, weil ich erfahren habe, dass eine ganze Reihe meiner heutigen Zuhörer mit dem Begriff Landsmannschaft der Deutschen aus Russland noch nicht so recht etwas anfangen können Und zum anderen, um zu zeigen, dass die Landsmannschaft alles andere ist als eine kurzlebige Organisation, die heute gegründet wird, um sich morgen wieder aufzulösen. Als die Landsmannschaft zu Beginn der 1950er Jahre ins Leben gerufen wurde – zunächst unter der Bezeichnung „Arbeitsgemeinschaft der Ostumsiedler“ waren die allermeisten unserer Landsleute noch in der damaligen Sowjetunion. Dass sie dort nicht aus freien Stücken lebten, sondern gewaltsam an der Ausreise nach Deutschland gehindert wurden, brauche ich den meisten von Ihnen wohl nicht zu erklären. Bis Anfang der 70er Jahre durften im Schnitt lediglich 1.000 Deutsche pro Jahr aus der Sowjetunion nach Deutschland ausreisen – 1953 keine einziger und im Jahr darauf gerade einmal 18. Naturgemäß spielten diese Ausreisenden damals

kaum eine Rolle innerhalb unseres Vereins. Sie waren zahlenmäßig zu schwach, wussten oft kaum etwas von der Existenz der Landsmannschaft und hatten, ähnlich wie die Vertriebenen aus den anderen Gebieten Südost- und Osteuropas, andere Probleme existentieller Art. Den Stamm der Landsmannschaft bildeten stattdessen Russlanddeutsche, die als Flüchtlinge nach der Oktoberrevolution oder als Emigranten der 20er Jahre nach Deutschland gekommen waren. Im Mittelpunkt der landsmannschaftlichen Treffen zu Beginn der 50er Jahre stand die Frage der Ausreise. Allerdings nicht die Ausreise aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik, sondern die Weiterwanderung nach Übersee. Viele Landsleute, die nach der Flucht über das Wartheland nach Deutschland die Rückführungsaktionen der Sowjets heil überstanden hatten, fühlten sich nämlich auch noch Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nicht sicher. Auch für diese Landsleute galt: Konfrontiert mit Problemen existentieller Art, hatten sie mit landsmannschaftlicher Arbeit wenig am Hut. Die Hauptlast der Arbeit war bereits damals auf die Schultern einiger weniger verteilt. Ich möchte an dieser Stelle einen lapidaren Satz aus dem Protokoll der Gründungsversammlung der Landsmannschaft zitieren, der für unsere Arbeit leider bis zum heutigen Tag Gültigkeit hat. Dort lesen wir nämlich: „Im April 1950 wurde die Landsmannschaft bzw. Arbeitsgemeinschaft der Ostumsiedler (so lautete der ursprüngliche Name der Landsmannschaft) durch Beschluss gegründet – ohne einen Pfennig Geld...“ Dieses „ohne einen Pfennig Geld“ ist uns bis heute treu geblieben. Zwar konnte die Landsmannschaft zu allen Zeiten mit staatlicher Unterstützung rechnen, getragen wurde sie jedoch von den Mitgliedsbeiträgen und Spenden ihrer Mitglieder und deren ehrenamtlichem Engagement. Wer also die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland für eine quasistaatliche Institution hält, geht gründlich fehl! Doch zurück zur Geschichte. Von wesentlicher Bedeutung für die landsmannschaftliche Arbeit war die Moskau-Reise von Bundeskanzler Adenauer im September 1955. Auch wenn wir die Kirche beim Dorf

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews lassen sollten– die Reise galt in erster Linie den letzten deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, von Russlanddeutschen war höchstens am Rande die Rede -, konnte die Landsmannschaft damals doch einiges für die von ihr vertretenen Landsleute erreichen. So hatte man dem Bundeskanzler im Vorfeld des Besuches Listen mit Härtefällen auf dem Gebiet der Familienzusammenführung überreicht, von denen viele positiv gelöst werden konnten. Hierin zeigte sich ein besonders prägnantes Merkmal der Arbeit der Landsmannschaft: Von wenigen Ausnahme abgesehen, hat man immer auf Lautstärke verzichtet und mit stiller Diplomatie weitaus mehr erreicht als mit Forderungen, die an der gesellschaftlichen Realität vorbeigehen. Das Grundthema der landsmannschaftlichen Arbeit bis etwa 1987 ist in einem Appell enthalten, den die Landsmannschaft bereits im Mai 1955 an die bundesdeutsche Öffentlichkeit richtete. Ich zitiere diesen Appell, auch wenn er nach heutigem Geschmack vielleicht ein wenig zu pathetisch ausgefallen sein mag: „Es ist unsere heilige Pflicht, das harte Los unserer nach Sibirien Verschleppten auf Herz und Gewissen zu nehmen und im Namen der Menschlichkeit den Ruf in die Welt zu tragen: Gebt uns unsere Familienangehörigen, unsere Ehefrauen, unsere Männer, unsere Kinder frei; führt die unschuldig Getrennten und nach menschlichem und göttlichem Recht Zusammengehörenden wieder zusammen.“ Immer wieder der Kampf um die Ausreise also und der alles dominierende Begriff der Familienzusammenführung. Wer die damaligen Zustände in der Sowjetunion kennt, weiß, dass große politische Aktionen nicht nur sinnlos waren, sondern sogar den Erfolg von Einzelaktionen gefährdet hätten. Obwohl 1965 zum „Jahr der Menschenrechte“ erklärt worden war, durften die Russlanddeutschen in der Sowjetunion immer noch nicht in ihre Heimatorte vor dem Krieg zurück; sie wurden nur halbherzig von den unhaltbaren Vorwürfen freigesprochen, die man ihnen im Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 gemacht hatte; sie wurden massiv an der Ausreise gehindert, als „Volksfeinde“ beschimpft und sogar in Gefängnisse gesteckt. Mehr als je zuvor blieb der Landsmannschaft jedoch nicht viel anderes übrig, als im Stillen zu arbeiten. (Nur am Rande sei erwähnt, dass die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1. August 1975 in Helsinki so gut wie nichts am Alltag der Russlanddeutschen in der Sowjetunion änderte.) Zusammenarbeit mit dem Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, Hilfe bei der Ausstellung von Wysows, Beratungen und praktische Hilfe in Einzelfällen – all das war we-

nig spektakulär und für die öffentlichen Medien kaum von Interesse, für einzelne Landsleute aber von großer Bedeutung. Die Landsmannschaft kann durchaus für sich in Anspruch nehmen, dazu beigetragen zu haben, dass die Ausreisezahlen von wenigen hundert in den Jahren von 1968 bis 1970 auf immerhin fast zehntausend in den Jahren 1976 und 1977 stiegen. Wenn wir die Jahre 1950 bis etwa 1987 zusammenfassen, können wir der Landsmannschaft attestieren, dass sie trotz ihrer relativ schmalen Mitgliederbasis (erst 1986 hatte die Mitgliederzahl die Zehntausender-Marke erreicht) einiges für die Volksgruppe geleistet hat. Wie gesagt: unspektakulär, aber wirkungsvoll. *** Will man von einem Wendepunkt in der Arbeit der Landsmannschaft sprechen – und damit komme ich zu Teil 2 meiner Ausführungen -, so stößt man unwillkürlich auf das von mir bereits mehrfach genannte Jahr 1987, das Jahr, ab dem die Aussiedlerzahlen aufgrund der Veränderungen in der damaligen Sowjetunion sprunghaft anstiegen und mit 213.000 im Jahr 1994 Dimensionen erreichten, von denen bis dahin kein Deutscher aus Russland zu träumen gewagt hatte. Als der sowjetische Delegationsleiter beim KSZEFolgetreffen im Januar 1987 in Wien versicherte, demnächst würden Zehntausende deutscher Sowjetbürger die Ausreiseerlaubnis erhalten, hielten das die meisten für einen Propagandatrick Moskaus. Die Landsmannschaft, die es bis dahin mit der Betreuung einer relativ kleinen Gruppe zu tun gehabt hatte, sah sich binnen kurzem mit Aufgaben konfrontiert, für deren vollständige Bewältigung ihre Kapazitäten – vor allem im hauptamtlichen Bereich bei weitem nicht ausreichten. Und dennoch tat sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten das, was zu tun war, und traf eine Entscheidung, die vermutlich die wichtigste in ihrer langjährigen Geschichte war: Als die Mitglieder des Bundesvorstandes der Landsmannschaft gegen Ende der 80er Jahre von Vertretern der hohen Politik gefragt wurden, wofür man sich entscheiden solle, für eine begrenzte Anzahl von Aussiedlern mit leicht zu bewerkstelligender Integration oder für einen mehr oder weniger unbegrenzten Zuzug mit zu erwartenden Problemen bei der Integration, entschieden sie sich für die zweite Variante. Hunderttausende von Landsleuten, die seither ausreisen durften, wären also nicht hier, hätte sich die Landsmannschaft damals anders entschieden. Und noch viel weniger Deutsche aus Russland wären heute hier in der Bundesrepublik, hätte die Landsmannschaft nicht bereits in den 70er Jahren verhindert, dass das Thema „Deutsche in der Sowjetunion“

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews vom Tisch gewischt wurde. Trotz aller Anstrengungen konnten wir jedoch nicht verhindern, dass sich die Aussiedlerzahlen in den beiden letzten Jahren mit beängstigender Geschwindigkeit dem Nullpunkt angenähert haben. Anders als die Bundesregierung erblicken wir den Hauptgrund dieser Entwicklung in der Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren, die durch das neue Zuwanderungsgesetz festgeschrieben wurde. Ich will Sie in dieser Hinsicht nicht mit Einzelheiten unserer Arbeit strapazieren, darf Ihnen aber versichern, dass wir uns mit diesem Schwund der Aussiedlerzahlen nicht abfinden und alles in unserer Macht Stehende unternehmen werden, um insbesondere tragische Fälle von Familientrennungen zu verhindern. Nicht damit abfinden werden wir uns auch mit der sinkenden Akzeptanz unserer Landsleute in der bundesdeutschen Öffentlichkeit, zu der negative Berichte in den Medien ebenso beitragen wie die mangelhafte Rückendeckung vonseiten führender Politiker. Der landsmannschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit haben wir daher in den letzten Jahren einen besonderen Stellenwert zugewiesen, weil wir der Auffassung sind, dass es nur bedingt effektiv sein kann, über Verbesserungen bei der Integration der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion nachzudenken und sich dafür einzusetzen, solange das Bild, das sich die Einheimischen von ihnen machen, von negativen Klischees und Vorurteilen geprägt ist. Trotz der veränderten Voraussetzungen werden wir in unserem verbandspolitischen Handeln jedoch den Prinzipien treu bleiben, die dazu geführt haben, dass es die Landsmannschaft auch 57 Jahre nach ihrer Gründung immer noch gibt und sie nach wie vor von allen maßgeblichen Politikern der Bundesrepublik Deutschland als bei weitem wichtigste Vertreterin der Gesamtinteressen der Deutschen aus Russland akzeptiert und geachtet wird. Sowohl vor als auch nach dem Regierungswechsel in Berlin wurden wir als kompetente und verlässliche Verhandlungspartner angesehen und konnten mit einer Verbandspolitik, die auf Sachlichkeit setzt, erheblich mehr erreichen als mit lautstarken Parolen, die einige gerne hören würden, in einer Demokratie aber ohne Wirkung bleiben. *** Damit komme ich zu den Teilen 3 und 4 meines Referates, in denen ich mich mit den Themen Jugendund Kulturarbeit der Landsmannschaft auseinander setze, den beiden Themen also, die für Sie vermutlich am interessantesten sind. Ich will mit der Jugendarbeit beginnen. Es mag einige von Ihnen vielleicht überraschen, wenn ich sage, dass die Jugendarbeit innerhalb der

Landsmannschaft beinahe so alt ist wie der Verein selbst. So finden sich in unseren Annalen Berichte, dass die ersten Jugendveranstaltungen mit russlanddeutscher bzw. landsmannschaftlicher Beteiligung bereits 1951, ein Jahr nach Gründung der Landsmannschaft also, stattgefunden haben. Den Auftakt bildete eine Arbeitstagung der DJO – der „Deutschen Jugend des Ostens“ - am 24. und 25. April des Jahres in Bad Homburg, bei der junge Deutsche aus Russland mit von der Partie waren. Überhaupt war die Jugendarbeit der Landsmannschaft über Jahre von der Kooperation mit der DJO geprägt. So war der „Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russland“ als Jugendorganisation bis in die 70er Jahre hinein in die DJO integriert, und noch 1995 versuchte die damalige Jugendorganisation der Landsmannschaft, die RDJ, mit der DJO in gleicher Weise zusammenzuarbeiten wie mit der Landsmannschaft selbst. Der „Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russland“ hielt sich im Übrigen bis in die 80er Jahre und brachte einige Mitglieder hervor, die später innerhalb der Landsmannschaft Karriere machten. Auch die Existenz der Nachfolgeorganisation des Jugend- und Studentenrings, der „Russlanddeutschen Jugend“ oder RDJ, war nicht von Dauer. Ab Mitte der 90er Jahre trat an ihre Stelle die „Deutsche Jugend aus Russland“, die von dem damaligen Jugendreferenten der Landsmannschaft, Ernst Strohmaier, initiiert wurde. Über die Gründe, weshalb sich diese Organisation, die Ihnen allen bekannte DJR, und die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in den Folgejahren immer weiter voneinander entfernten, will ich mich an dieser Stelle nicht auslassen. Ich kann und will aber nicht verschweigen, dass sich die Landsmannschaft in den Jahren nach der Trennung wieder verstärkt der DJO, der heutigen „Deutschen Jugend in Europa“, angenähert hat, mit ihr ein Kooperationsabkommen auf Bundesebene geschlossen hat und gemeinsam mit ihr eine neue Jugendorganisation aufbaut, der wir den Namen JDR - „Junge Deutsche aus Russland“ gegeben haben. Gegenwärtig wird die landsmannschaftliche Jugendarbeit vor allem auf lokaler Ebene durchgeführt, in den Orts- und Kreisgruppe sowie innerhalb unserer Integrationsprojekte. Gerade in den letzten Monaten haben wir jedoch auch im Bereich der Jugendarbeit unseren Aktionsradius erweitert und haben mehrere Fortbildungsmaßnahmen durchgeführt, vor allem in Bayern, aber auch in Nordrhein-Westfalen und den neuen Bundesländern. Wir benutzen bei dieser Arbeit gerne die Strukturen, die von der DJO in jahrzehntelanger Arbeit bereits

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews geschaffen wurden – weshalb sollten wir denn das Rad ein zweites Mal erfinden? Dass wir trotzdem auch der „Deutschen Jugend aus Russland“ gegenüber gesprächsbereit sind, habe ich mit meinem heutigen Erscheinen zum Ausdruck gebracht. *** Lassen Sie mich zum letzten Punkt kommen, der Frage der Kulturarbeit innerhalb der Landsmannschaft und damit verbunden der Frage der Zusammenarbeit mit dem Kulturrat. Ich kann auch hier leider nicht verschweigen, dass es hinsichtlich dieser Zusammenarbeit in den letzten Jahren zu gewissen Störungen gekommen ist, die nach meiner Auffassung ebenso überflüssig wie schädlich waren. Ich habe mich deshalb sehr darüber gefreut, dass der Vorsitzende des Kulturrates, Herr Dr. Schwab, seine Bereitschaft zur Wiederannäherung an die Landsmannschaft bekundet hat. Was die Kulturarbeit der Landsmannschaft anbetrifft, müssen wir einräumen, dass sie in den letzten eineinhalb Jahrzehnten aufgrund der Entwicklungen im Spätaussiedlerbereich mit der damit verbundenen Zunahme der Integrationsprobleme ein wenig hinter unserer Arbeit im Sozialbereich zurückstehen musste. Zumindest vorläufig wird die Sozialarbeit der wichtigste Teil des landsmannschaftlichen Wirkens bleiben. Um der Landsmannschaft das Überleben zu sichern, werden wir jedoch angesichts des drastischen Rückgangs des Spätaussiedlerzuzugs bereits in absehbarer Zeit gezwungen sein, den Schwerpunkt unserer Arbeit wieder auf den Kulturbereich zu verlagern. Dabei fassen wir diese Arbeit in erster Linie als Beitrag zur Wiedergewinnung der kulturellen Identität einer Volksgruppe auf, die im vorigen Jahrhundert in den stalinistischen Lagern beinahe dem Untergang geweiht war und deren Mitglieder nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung oftmals den festen

Boden unter den Füßen und ihre Orientierung verloren haben. Wie groß das Feld ist, dass es zu bestellen gilt, mag eine Aufzählungen unserer wichtigsten Aufgaben im Kulturbereich beleuchten: Ohne hauptamtlich tätige Kulturreferenten werden wir uns verstärkt um die Koordination der ehrenamtlichen Kulturarbeit in den rund 150 Orts- und Kreisgruppen der Landsmannschaft und die Ausbildung unserer dortigen Mitarbeiter kümmern müssen. In einer ganzen Reihe von Sitzungen und Besprechungen haben wir uns mit den Möglichkeiten des Aufbaus eines Archivs und eines Museums befasst, in denen die Kulturgeschichte der Russlanddeutschen umfassend und für die Öffentlichkeit zugänglich dargestellt wird. In die gleiche Richtung geht das Verfassen von Publikationen zur Kulturgeschichte der Russlanddeutschen, die Wissenschaftlern wie Laien einen wichtigen, aber bisher weitgehend vernachlässigten Teil der deutschen Geschichte näher bringen würden. Um diese Ziele zu erreichen, müssen wir mit wissenschaftlichen und anderen Einrichtungen zusammenarbeiten, die sich im In- und Ausland mit der Geschichte der Russlanddeutschen beschäftigen, und den Aufbau von kulturellen Einrichtungen zur Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen in Deutschland und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion anstreben. Ferner werden wir nur dann erfolgreich sein, wenn es uns gelingt, möglichst viele Landsleute, die auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet erfolgreich tätig sind, in die Arbeit der Landsmannschaft einzubinden. Um diese Ziele zu erreichen, brauchen wir aber auch die Hilfe des Kulturrates der Deutschen aus Russland, dem wir gerne die Hand zur solidarischen Zusammenarbeit ausstrecken. Oktober 2007

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Selbstorganisation der Russlanddeutschen basiert auf starkem Netz von Begegnungszentren 6. Forum der Begegnungszentren der Russlanddeutschen in Moskau Landsmannschaft unterzeichnete Kooperationsabkommen mit regionalen Organisationen des IVDK nter dem Motto “Die Begegnungszentren sind Brücken der Freundschaft und Zusammenarbeit” verlief das 6. Forum der Begegnungszentren der Russlanddeutschen vom 28. Oktober bis 1. November im Deutsch-Russischen Haus Moskau, organisiert von der Assoziation der gesellschaftlichen Vereinigungen der Russlanddeutschen “Internationaler Verband der Deutschen Kultur” (IVDK) mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Regionalentwicklung der Russischen Föderation und des deutschen Bundesinnenministeriums. Etwa 250 Teilnehmer (Leiter deutscher Begegnungszentren, regionaler Deutsch-Russischer Häuser, der regionalen NKA oder Wiedergeburt-Organisationen) aus rund 75 Regionen, Gebieten und Republiken Russlands, Gäste aus den russlanddeutschen Partnerorganisationen der GUS, Vertreter der entsprechenden Ministerien und Behörden Russlands und Deutschlands sowie eine Delegation der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hatten vielfältige Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch und zur gemeinsamen Arbeit. Das groß angelegte Programm des Forums wurde mit dem 1. Kongress der Begegnungszentren der Russlanddeutschen im Moskauer Regierungshaus abgerundet, in dessen Rahmen sechs Kooperationsabkommen zwischen der Landsmannschaft und ihren regionalen Partnern in Russland unterzeichnet wurden. Im Mittelpunkt der Diskussionen in den Arbeitsgruppen und bei weiteren Veranstaltungen stand die Bedeutung der Begegnungszentren für die Selbstorganisation der Russlanddeutschen. Nach etwa zehn Jahren haben sich die meisten der ca. 400 Begegnungszentren in Russland zu “Brücken der Freundschaft und Zusammenarbeit” entwickelt. Dennoch ist ihre Zukunft nach wie vor nicht vollständig abgesichert. Deshalb verfolgte das Forum das Ziel, die Öffentlichkeit und Regierungskreise in Russland und Deutschland auf die aktuellen Fragen der Deutschen in Russland aufmerksam zu machen. Präsident Wladimir Putin führte in seinem Begrüßungstelegramm aus: “Einige Generationen der Russlanddeutschen haben einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des russischen Staates geleistet ... Auch heute nehmen Vertreter der deutschen Diaspora in Russland aktiv am Leben unseres Landes teil.”

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Vertreter der Staatsduma, verschiedener Ministerien und Parteien sowie einige Gouverneure und Administrationsleiter bekundeten ebenfalls ihr Interesse durch Grußworte oder ihre Teilnahme. Die deutsche Seite war durch den Parlamtarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Ministerialdirektor Frank Willenberg vom Bundesinnenministerium sowie Vertreter der Deutschen Botschaft in Moskau und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland mit ihrem Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch vertreten. Für die musikalische Umrahmung und emotionale Höhepunkte sorgten die Auftritte zahlreicher Kulturgruppen aus den Regionen. Foto- und Bilderausstellungen regten ebenso wie Bücherstände aufschlussreiche Gespräche an. Mit der Präsentation “Die Welt des Künstlers” wurden die Künstler Bruno Diel (Krasnojarsk), Jürgen Nickel (Kostroma) und Inessa Harwardt (Smolensk) vorgestellt. Das deutsche Begegnungszentrum Marx zeigte unter dem Titel “Die Zarin hält Hof in Marx” ein Filmprojekt über die Geschichte und Eröffnung des Denkmals für Katharina II. in Marx. Maria Warkentin schließlich, Schauspielerin des Russlanddeutschen Theaters Niederstetten, brachte das Publikum mit Szenen aus dem Theaterstück “Der weite Weg zurück” und ihrem anheimelnden “Wolgadaitsch” nicht nur zum Lachen, sondern viele auch zum Weinen. Selbstorganisation der Russlanddeutschen und ihre Rehabilitierung stehen im Vordergrund Seit 1996 führt der IVDK, der sich inzwischen zu einer Assoziation der gesellschaftlichen Vereinigungen der Russlanddeutschen entwickelt hat, Zusammenkünfte der deutschen Begegnungszentren des Landes durch. Seit über 15 Jahren bemüht sich der Verband mit praktischen Aktivitäten in den Bereichen Kultur, Geschichtsforschung und Verlagswesen die Position der Russlanddeutschen als Volksgruppe zu stärken. Infolge jahrzehntelanger Diskriminierungen seien die Russlanddeutschen, so Martens bei der Eröffnung des Forums, auch heute noch nicht in der Lage, ihre kulturelle Identität selbständig zu erhalten und zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund benötige die deutsche Minderheit in Russland eine Fortsetzung

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews der Fördermaßnahmen von Seiten beider Staaten. Es liege es auf der Hand, “dass die unternommenen Bemühungen noch nicht zu den erwarteten Ergebnissen geführt haben; die Voraussetzungen für die Selbsterhaltung der Ethnie und eine stabile Entwicklung der deutschen Minderheit sind noch nicht in vollem Maße erreicht worden. Somit bleibt die Frage der rechtlich-politischen Rehabilitierung der Russlanddeutschen nach wie vor offen.” Der stellvertretende Vorsitzende des IVDK, Edwin Grieb, ergänzte: “Wir sollten die Erfahrungen unserer Vorfahren nutzen und im Rahmen der heutigen Gesetze, der heutigen Gegebenheiten ein System der Selbstorganisation aufbauen, zumal wir in dieser Richtung schon manches geleistet haben. Heute brauchen wir niemanden mehr um Gnade zu bitten; unsere Probleme können und sollen wir selbst lösen.” Dr. Bergner betonte die entscheidende Rolle der Jugend für die Zukunft der deutschen Minderheit in Russland: “In zwei Jahren hatte ich mehrmals die Möglichkeit, die deutschen Begegnungszentren zu besuchen. Die Arbeit der Enthusiasten hinterließ bei mir immer einen tiefen Eindruck. Die Bedeutung der Begegnungszentren rückt immer mehr in den Vordergrund. Was wir dort sehen, ist für uns eine wichtige Motivation, die Politik fortzusetzen. Vor allem freue ich mich für viele Jugendliche; von ihnen hängt es ab, ob wir in 20 Jahren noch eine deutsche Minderheit haben werden.” Begegnungszentren als tragende Säulen der Selbstorganisation – historische Erfahrungen in der Gegenwart nutzen Die eigentliche Arbeit des Forums fand in Arbeitsgruppen statt, die sich dem Thema Selbstorganisation der Russlanddeutschen widmeten und konkrete Vorschläge erarbeiteten. Im Rahmen des Forums wurden außerdem eine wissenschaftliche Konferenz und ein wissenschaftlich-praktisches Seminar durchgeführt. In der Arbeitsgruppe “Selbstorganisation und Koordination der Tätigkeit der Begegnungszentren” wurde die “Konzeption der Vervollkommnung der Tätigkeit der Begegnungszentren zur Erhaltung und Entwicklung der kulturellen Identität und der Einheit der Russlanddeutschen“ erörtert, die für die Arbeit in den Regionen richtungsweisend werden soll. Als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Selbstorganisation der Russlanddeutschen sind die regionalen Koordinierungsräte der deutschen Begegnungszentren anzusehen, die im August 2007 in Orenburg für die Regionen Sibirien, Wolga, Ural, Zentralrussland sowie Kaukasus und Südrussland gegründet wurden. Im Mittelpunkt der Gruppenarbeit zum Thema “Part-

nerschaften – Initiativen in Russland und Deutschland” stand die Zusammenarbeit zwischen den russlanddeutschen Verbänden in Russland und Deutschland (Auführlicheres weiter unten). Die Diskussionsrunde “Medien der Russlanddeutschen – Aussichten für die Zukunft” mit Teilnehmern aus Russland, weiteren Staaten der GUS und Deutschland befasste sich vor allem mit Informationsaustausch und der Rolle der russlanddeutschen Medien bei der Vermittlung und Popularisierung der deutschen Sprache. Zahlreiche Impulse für eine anregende Diskussion vermittelte Prof. Dr. Arkadij Germann (Saratow) der Arbeitsgruppe “Geschichte, Heimatkunde und Kultur – unser Erbe für Russland und Deutschland erhalten” mit seiner “Konzeption der historischlandeskundlichen Arbeit für IVDK, Jugendring und Begegnungszentren”, die durch ihre Verwirklichung zur Erhaltung der nationalen Identität der Russlanddeutschen und zur Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses beitragen soll. Die Wissenschaftliche Konferenz “Deutsche in Russland: Historische Erfahrungen und aktuelle Probleme der Selbstorganisation” unter der Leitung von Prof. Dr. Germann wurde in Zusammenarbeit mit der Internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen mit Unterstützung des Russischen Kulturministeriums durchgeführt. Auch hier wurden in erster Liniedie Probleme der Selbstidentifikation als Grundlage der Selbstorganisation der Russlanddeutschen diskutiert und bei Veranstaltungen am runden Tisch mit den Leitern der russlanddeutschen Begegnungszentren besprochen. Am wissenschaftlich-praktischen Seminar “Bildung und Sprache - Strategie und konkrete Aufgaben” beteiligten sich Vertreter der BIZ und der GTZ, des VDA und Deutschlehrer aus zahlreichen Regionen der GUS, die in den Begegnungszentren Deutsch unterrichten. Bei der abschließenden Tagung (1. Kongress der Begegnungszentren der Russlanddeutschen) wurden sämtliche Vorschläge der Arbeitsgruppen, der wissenschaftlichen Konferenz und des wissenschaftlichpraktischen Seminars vorgestellt, um dann in die Schlussdokumente des Forums (Resolution zur Selbstorganisation und Beschlüsse zu wichtigen Tätigkeitsbereichen) einzufließen. Jugendprojekt Avantgarde – “Die junge Generation der Russlanddeutschen wird bestimmen, wer wir sind – Deutsche oder Russen.” Teilnehmer des Jugendprojekts Avantgarde und Vertreter des Jugendringes der Russlanddeutschen stell-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews ten sich dem Forum mit einer Podiumsdiskussion zum Thema “Wir – unsere Zukunft” vor, die von Olga Martens moderiert wurde. Mit den Worten “Die junge Generation der Russlanddeutschen wird bestimmen, wer wir sind – Deutsche oder Russen.” brachte Olga Hartmann, stellvertretende Vorsitzende des Jugendringes der Russlanddeutschen, den Sinn der Jugendarbeit in den Begegnungszentren auf den Punkt. An dem Jugendprojekt vom 26. Oktober bis 7. November beteiligten sich etwa 30 engagierte junge Leute aus verschiedenen Regionen des Landes, die aus zahlreichen Bewerbern ausgewählt wurden. Zum Programm des Projekts gehörten ein DeutschIntensivkurs sowie eine Einführung in die Geschichte, Kultur und Traditionen der Russlanddeutschen über einen Theaterworkshop mit der russlanddeutschen Schauspielerin und Theaterpädagogin Maria Warkentin. Weitere Beiträge der Diskussionsrunde kreisten um Themen wie “Die jungen Leute kennen die Geschichte Deutschlands besser als die der Russlanddeutschen“, “Enkel erzählen heute ihren Großeltern, wie es war”, “Ich bin stolz, eine Russlanddeutsche zu sein” und “Die Familie gibt uns das Gefühl, Deutsche zu sein”. 1. Kongress derBegegnungszentren der Russlanddeutschen: “Egal, wo wir leben, wir bleiben ein Volk, das eine Geschichte hat; wir sollten das nicht vergessen.” Höhepunkt des Forums war der 1. Kongress der Begegnungszentren der Russ-landdeutschen im Regierungshaus Moskau mit zahlreicher Politprominenz von beiden Seiten, Teilnehmern und Gästen aus dem Ausland. Wie ein roter Faden zog sich der Gedanke von Olga Hartmann vom Jugendring der Russlanddeutschen durch die Veranstaltung: “Egal, wo wir leben, wir bleiben ein Volk, das eine Geschichte hat; wir sollten das nicht vergessen.” “Als Grundlage der kulturellen Identität und der Gemeinsamkeit der Russlanddeutschen dienen in erster Linie das gemeinsame Schicksal, das historische Gedächtnis, das Zugehörigkeitsgefühl, die Familientraditionen, die Überlieferungen der Vertreter der älteren Generation, insbesondere die über lange Jahre durchgemachten Leiden und die erlebte Ungerechtigkeit. Von großer Bedeutung sind auch die kulturelle Anziehungskraft der historischen Heimat und die bestehenden persönlichen Kontakte zu Verwandten in Deutschland”, hob Heinrich Martens hervor. Alexander Schurawskij vom Russischen Ministerium für Regionalentwicklung betonte die Brückenfunktion der Russlanddeutschen: “Die Russlanddeutschen

waren immer und bleiben ein Verbindungsglied in den Beziehungen zwischen den beiden großen Staaten – Russland und Deutschland.” Er verwies auf die Bedeutung der Konzeption des Föderalen Zielprogramms “Entwicklung des sozialökonomischen und ethnokulturellen Potentials der Russlanddeutschen in den Jahren 2008-2012”, die von seinem Ministerium in Zusammenarbeit mit dem IVDK erarbeitet und im August dieses Jahres vom russischen Ministerpräsident Fradkow unterzeichnet wurde. Mit einem 80 Millionen-Euro-Programm soll sie vor allem die klassischen Siedlungsgebiete der Russlanddeutschen fördern: an der Wolga (Gebiete Uljanowsk und Samara) und in Westsibirien (Nowosibirsk, nationale Landkreise Halbstadt und Asowo). Mehrfach wurden die Leistungen der Russlanddeutschen erwähnt, die “eine bleibende Spur in der russischen Geschichte” hinterlassen haben. “Gleichzeitig ist anzumerken, dass Russlanddeutsche in vollem Maße auch von Leiden betroffen wurden”, so der Vorsitzende der Partei “Einiges Russland”, Gryslow, in seinem Grußwort, das von Konstantin Kosatschow, Vorsitzender des Ausschusses für internationale Beziehungen in der Staatsduma, verlesen wurde. Diesbezüglich erinnerte Martens: “Es liegt in der Verantwortung der Russischen Föderation gegenüber ihren Staatsbürgern deutscher Abstammung, gegenüber dem Andenken an die Bürger und Völker Russlands, die den politischen Repressionen zum Opfer gefallen sind, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um die Folgen dieser stalinistischen Repressionen endgültig zu überwinden.” Neben der Etablierung der Selbstorganisation stellte Martens zwei weitere Tätigkeitsrichtungen – das Projekt “Partnerschaften” und die Intensivierung der Kinder- und Jugendarbeit – in den Mittelpunkt der gemeinsamen Bemühungen, wobei der sprachlichen und ethnischen Komponente bei der Durchführung von Veranstaltungen in den Begegnungszentren und insbesondere bei der Jugendarbeit mehr Bedeutung zukommen solle. Daran knüpfte Dr. Christoph Bergner an, indem er die Begegnungszentren als “Netzwerk der ethnischen Identität” bezeichnete. “Die Begegnungszentren sind ein Stück Heimat für die Russlanddeutschen geworden; sie sollen erhalten und gefördert werden”, so der Aussiedlerbeauftragte, der weiter erklärte: “Ich freue mich, dass sich Deutschland und Russland zu ihrer gemeinsamen Verantwortung gegenüber den Russlanddeutschen bekennen. Wir begrüßen, dass mit dem Föderalen Zielprogramm zur Stärkung der kulturellen Identität der Deutschen in Russland beigetragen und damit aktive Minderheitenpolitik gemäß dem Rahmenübereinkommen des Europarates geleistet wird.” Auch der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft,

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Adolf Fetsch, begrüßte das von Russland verabschiedete Föderale Zielprogramm zugunsten der Russlanddeutschen, bemerkte aber: “Wir sollten diese Konferenz zum Anlass nehmen, an die Regierung der Russischen Föderation zu appellieren, die Russlanddeutschen endlich – 62 Jahre nach Kriegsende! faktisch zu rehabilitieren und sie nicht nur auf dem Papier von den Vorwürfen freizusprechen, die ihnen in dem verhängnisvollen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 gemacht wurden und die dazu führten, dass sie zu Hunderttausenden zu Opfern der Deportation wurden.” Zur Bedeutung der Konferenz führte Fetsch aus: “Mit meiner Teilnahme stelle ich mich ganz bewusst hinter die Ziele dieser Konferenz und befürworte noch einmal die Prinzipien unserer Zusammenarbeit, wie sie in dem Projekt ‘Brückenpfeiler’ formuliert und durch die Unterzeichnung des Partnerschaftsabkommens zwischen dem Internationalen Verband der Deutschen Kultur, dem Jugendring der Russlanddeutschen und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland bestätigt wurden. Eine Stärkung der Brückenfunktion der Deutschen aus Russland und die Einbeziehung der in Russland und den anderen Herkunftsgebieten lebenden Deutschen in den Ausbau der Beziehungen zwischen Deutschland und der GUS kann für uns alle nur von Nutzen sein. Eine Intensivierung unserer Zusammenarbeit wird gerade auch für die jüngeren Deutschen aus Russland von Nutzen sein.” Kooperationsabkommen der Landsmannschaft mit regionalen Organisationen der Russlanddeutschen in Russland unterzeichnet Zur Teilnahme an dem Forum waren als Vertreter der Landsmannschaft außer Adolf Fetsch und seinen Bundesvorstandskollegen Leontine Wacker, Waldemar Axt und Lilli Bischoff auch sechs Vertreter von Landes- und Ortsgruppen eingeladen, die bereits Partnerschaften mit regionalen Strukturen des IVDK aufgebaut haben oder kurz vor dem Abschluss von Partnerschaftsabkommen standen. Beleg für das lebhafte Interesse am Eingehen von Partnerschaften zwischen Gliederungen der Landsmannschaft und regionalen Organisationen der Russlanddeutschen in Russland war die hohe Beteiligung an der Arbeitsgruppe, die dem Thema “Partnerschaften – Initiativen in Russland und Deutschland” gewidmet war. Unter der Leitung der Moderatorinnen Ludmila Kopp, Projektleiterin der Landsmannschaft, und Sofia Wenzel vom koordinationsmethodischen Zentrum des IVDK wurden in der Arbeitsgruppe verschiedene Aspekte der Partnerschaftsarbeit disku-

tiert, Erfahrungen ausgetauscht und Vorschläge gesammelt. Waldemar Axt berichtete über die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, ihre Aufgaben und Tätigkeitsbereiche. Vertreter des Jugendringes der Russlanddeutschen mit der stellvertretenden Vorsitzenden Olga Hartmann stellten erfolgreiche Partnerschaftsprojekte des Jugendringes vor, während Ivan Kasper aus Ufa mit einem Film das Beispiel einer erfolgreichen Partnerschaft zwischen Schulen in Ufa und Halle/Saale illustrierte. Zur Verbesserung der Kommunikation zwischen den Partnerschaftsorganisationen in Deutschland und Russland wurden fünf Kontaktpersonen empfohlen, die in einem Forum zusammenarbeiten werden. Die Landsmannschaft ist darin durch Waldemar Axt, Lilli Bischoff und Ludmilla Kopp vertreten, der IVDK durch Sofia Wenzel und der Jugendring der Russlanddeutschen durch Olga Hartmann. In feierlicher Atmosphäre wurden am 31. Oktober sechs Kooperationsabkommen unterzeichnet, die gemeinsam ausgearbeitet worden waren: - Landesgruppe Niedersachsen (Lilli Bischoff) und Deutsches Kulturzentrum Gebiet Tjumen (Natalja Matschuga); - Landesgruppe Baden-Württemberg (Leontine Wacker) und Regionales Bildungs- und Kulturzentrum Gebiet Swerdlowsk, Nischnij Tagil (Valerij Dell); - Kreis- und Ortsgruppe Stuttgart (Ludmilla Holzwarth) und Deutsches Kulturzentrum “Hoffnung” Samara (Irma Belenina); - Ortsgruppe Halle/Saale (Olga Ebert) und NKA der Deutschen der Republik Baschkortostan Ufa (Ivan Kasper); - Kreis- und Ortsgruppe Augsburg (Juri Heiser) und Deutsches Kulturzentrum Solikamsk, Gebiet Perm (Edwin Grieb); - Kreis- und Ortsgruppe Offenburg/Ortenaukreis (Georg Stößel) und NKA der Russlanddeutschen der Republik Komi (Oleg Strahler). Diese Partnerschaftsabkommen sollen den Weg für einen direkten Informations-, Kultur- und insbesondere Jugendaustausch ebnen. Es war ein festlicher Akt nicht nur für die Vertreter der Landsmannschaft und ihre Partner aus den Regionen, sondern auch für Dr. Bergner, der den Teilnehmern zur Geburt der Partnerschaften gratulierte. “Für mich als Beauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten ist es ein besonders bewegender Augenblick, Russlanddeutsche als Aussiedler in Deutschland und Russlanddeutsche als nationale Minderheit in Russland zusammenzuführen. Bei solchen Treffen merkt man besonders, wie wichtig und gefährdet die Verbindung zwischen den Russlanddeutschen in beiden Ländern ist”, sagte er mit Blick

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews auf Fragen und Wünsche aus dem Saal, die hauptsächlich Erleichterungen für Besuche der Verwandten in beiden Ländern betrafen. Anschließend reisten einige Vertreter der Landsmannschaft in die Partnerregionen, um sich dort über die Möglichkeiten der weiteren Partnerschaftsentwicklung zu informieren. Georg Stößel beteiligte

sich u.a. mit einer Fotoausstellung an den Feierlichkeiten in Syktywkar anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der National-Kulturellen Autonomie der Deutschen in der Republik Komi. Waldemar Axt, Lilli Bischoff und Dr. Alfred Eisfeld besuchten das Wolgagebiet. November 2007

Eine Reise in das Wolgagebiet Treffen mit Landsleuten in Saratow, Engels und Marx ach Abschluss des 6. Forums der Begegnungszentren der Russlanddeutschen in Moskau unternahmen Waldemar Axt, stellvertretender Bundesvorsitzender, Lilli Bischof, Mitglied des Bundesvorstandes, und Dr. Alfred Eisfeld, Nordost-Institut Göttingen, gemeinsam eine Reise in die Wolgaregion. Ziel der Reise war es, Informationen über den Fortgang einiger Projekte einzuholen und mit interessierten Behörden und Persönlichkeiten über das 250-jährige Jubiläum der Wolgadeutschen in Kontakt zu treten. Über den Zustand des Archivs Engels, in dem der größte Teil der Archivakten über die Wolgadeutschen lagert, hat VadW in seiner Ausgabe Nr. 5/2005, S. 47, berichtet. Die Vereinbarung der russischen und der deutschen Regierung über die Errichtung eines Anbaus zum bestehenden Getreidespeicher, der bis dahin als Archiv genutzt wurde, dafür aber nicht geeignet war, wurde umgesetzt. Unsere Delegation konnte die neuen Magazin- und Arbeitsräume, zu deren Ausstattung auch die Verwaltung des Gebiets Saratow beigetragen hat, besichtigen. Die Akten lagern nun trocken, bei regulierter Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Um die Lebensdauer der Dokumente zu verlängern und die Benutzungsmöglichkeiten zu verbessern, sind jetzt Restaurierungsarbeiten und zum Teil auch die Mikroverfilmung von Akten erforderlich. Dazu gehören vor allem die Orts- und Gemarkungspläne der Kolonien, Kirchenbücher und Akten der Orts- und Kreisverwaltungen. Die Direktorin des Archivs, Jelisaweta Jerina, sprach mit Blick auf das Nordost-Institut den Wunsch auf Fortsetzung der bisherigen Forschungs- und Publikationsprojekte aus. Gerne würde man auch mit der Landsmannschaft zusammenarbeiten. Für das bevorstehende Jubiläum regte Frau Jerina mehrere Projekte an, die sicher auf das Interesse unserer Landsleute stoßen werden. Über das bevorstehende Jubiläum fand ein eingehender Meinungsaustausch mit Prof. Dr. Igor Plewe, Mi-

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nister für das Bildungswesen in der Regierung des Gebietes Saratow, statt. Prof. Plewe ist vielen unserer Landsleute und Leser als Historiker bekannt, der sich mit der Geschichte der Wolgadeutschen befasst und mehrere Bücher und Aufsätze darüber veröffentlicht hat. Seiner Vorarbeit waren die Unterredung in der Rayonverwaltung in Engels und der Besuch in Marx zu verdanken. Die Besprechung mit der für den sozialen und humanitären Bereich zuständigen Stellvertreterin des Gouverneurs von Saratow musste wegen des überraschend erfolgten Rücktritts des Oberbürgermeisters der Stadt Saratow verschoben werden. Es wird bei nächster Gelegenheit nachgeholt. Prof. Plewe unterstützt das Vorhaben der Landsmannschaft, ein Wolgadeutsches Haus im Hessenpark aufzubauen, und war unserer Delegationen in diesem Sinne sehr behilflich. Auch Anregungen für eine gemeinsame Vorbereitung auf das 250-jährige Jubiläum der Wolgadeutschen, an denen das Land Hessen, die Gebiete Saratow und Wolgograd, unsere Landsmannschaft und die Landsmannschaft der Wolgadeutschen in Saratow sowie Vereine der Wolgadeutschen in Übersee und Persönlichkeiten aus den Kirchen, aus Wissenschaft, Kunst und Politik beteiligt werden sollten, fanden seine volle Unterstützung. Die Unterredung mit dem 1. Stellvertreter des Verwaltungschefs des Rayons Engels, Andrej Rutschkin, verlief in sachlicher und freundschaftlicher Atmosphäre. Das Projekt eines wolgadeutschen Hauses im Hessenpark war ihm bereits bekannt. Die Verwaltung des Landkreises hat uns für die nächsten Wochen Informationen über geeignete Gebäude in ehemaligen Kolonien zugesagt. Dass es solche Häuser noch gibt, konnte man zum Beispiel in Orlowskoje sehen. Das Abbauen eines Holzhauses und dessen Aufbau an einem anderen Ort ist bautechnisch kein Problem. Davon konnte sich die Delegation im Freilichtmuseum in Saratow überzeugen: Dort wurde gerade ein wolgadeutsches Haus aufgebaut.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Der Besuch in Marx hat nachdenklich gemacht. Wie nah beieinander (auch räumlich!) Licht und Schatten sind, konnte man in der evangelisch-lutherischen Kirche und, wenige hundert Meter weiter, im Deutsch-Russischen Haus und am neu errichteten Denkmal für Katharina II. sehen. Das Denkmal konnte dank einer privaten Initiative errichtet werden. Nun schaut Katharina auf die auf einer Anhöhe stehende evangelisch-lutherische Kirche, der nicht nur der Glockenturm fehlt. Bislang konnten einige Instandsetzungsarbeiten mit Hilfe aus Deutschland durchgeführt werden. Im Innenraum wird angesichts des bröckelnden Putzes, verursacht durch Wasserschäden, klar: Diesen Bau kann die Gemeinde in Marx nicht alleine Retten. Das Gustav-Adolf-Werk der Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz hat zu Spenden für die Kirche aufgerufen. Das allein wird wohl auch nicht reichen. Die Kirche in Marx ist der städtebauliche Mittelpunkt der Stadt. Sie steht unter Denkmalschutz, und das ist eine staatliche Aufgabe. Der Staat ist auch verantwortlich für die durch zweckentfremdende Nutzung als Kinosaal aufgetretenen Schäden und die ausgebliebene Instandhaltung des Gebäudes.

Es muss daher ein gemeinsames Anliegen der Verwaltungen des Gebietes Saratow, der Stadtverwaltung Marx, der Evangelisch-Lutherischen Kirche, der Landsmannschaft der Wolgadeutschen und unserer Landsmannschaft sein, diese Kirche zu renovieren. Über geeignete Schritte wird bereits in den nächsten Wochen zu beraten sein. Einen insgesamt guten Eindruck hinterließ der Besuch des Deutsch-Russischen Hauses in Marx. Sprach-, Computer- und Bastelkurse sind gefragt, eine kleine Bibliothek ist vorhanden. Will man nach der Anzahl und dem guten Zustand der Ruderboote urteilen, so ist nicht nur der Bericht über die Aktivitäten der Jugendgruppe überzeugend, sondern auch die Einladung an Jugendgruppen unserer Landsmannschaft zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit und zum Jugendaustausch. Zum Schluss seien zwei Fragen gestattet: Hat sich die Reise gelohnt? Was hat sie gebracht? Vor allem neue Informationen und Kontakte. Manches sieht und versteht man nach einer solchen Reise besser und wird daher auch mit mehr innerer Überzeugung und Einsatz für die Verwirklichung unserer Vorhaben arbeiten können. Dr. Alfred Eisfeld, November 2007

Forum des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur (IVDK) in Moskau Rede Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender ... Ich bedanke mich herzlich für die Einladung zur Teilnahme am Forum des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur und darf Ihnen im Namen aller Landsleute und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland die besten Wünsche zum Gelingen unserer gemeinsamen Konferenz überbringen. Ich hoffe, dass ich nicht den Rahmen meines Vortrages sprenge, wenn ich ihn mit einem Blick auf die Geschichte der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland beginne, aus dem hervorgehen wird, wie sie sich zu dem entwickelt hat, was sie heute ist – eine Organisation mit Tradition, die nach wie vor die bei weitem größte Interessenvertreterin der Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik ist. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland zu verschiedenen Zeiten zehn russlanddeutsche Organisationen – den Ausschuss der deutschen Gruppen Altrusslands, den Verein der Wolgadeutschen, Vereine der Deutschen aus dem Schwarzmeergebiet und dem Kaukasus, die Mennonitische Flüchtlingsfürsorge und andere. 1933 gab es in Deutschland sogar bereits zwei Dachorganisationen der Deutschen aus Russland, das „Zentralkomitee

der Deutschen aus Russland“ und die „Arbeitsgemeinschaft der Deutschen aus Russland und Polen“. Als wichtigste Vorläuferorganisation der Landsmannschaft nach dem Krieg kann das „Hilfskomitee der evangelisch-lutherischen Ostumsiedler“ angesehen werden, das sich 1947 konstituiert hatte. Drei Jahre später lud Pfarrer Heinrich Römmich russlanddeutsche Vertreter der Kirchen und bekannte Repräsentanten der Volksgruppe nach Stuttgart zur Gründung einer Organisation für alle Deutschen aus Russland ein, die in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin lebten. Zehn Männer der allerersten Stunde beschlossen die Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft der Ostumsiedler“, womit, wie Pfarrer Römmich später schrieb, die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland unter einem anderen Namen Wirklichkeit geworden war. Im gleichen Jahr gehörte die Landsmannschaft zu den Mitunterzeichnern der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“, die seither von diesen als ihr „Grundgesetz“ angesehen wird. Die Arbeit der Landsmannschaft in den Gründerjah-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews ren bis 1955 war geprägt von den folgenden Themen: - Pflege der heimatlichen Kultur und der Verbundenheit der Landsleute; - Geltendmachung des Rechts auf Menschenwürde und Gerechtigkeit; - Wahrnehmung der sozialen und wirtschaftlichen Belange (Renten, Berufsausbildung, Jugendfragen usw.); - Mitwirkung in Fragen der Schadensfeststellung und des Lastenausgleichs; - wissenschaftliche Arbeit sowie Suchdienst und Beschaffung von Dokumenten. Im Jahr 1955 versorgte die Landsmannschaft Bundeskanzler Konrad Adenauer vor seinen schicksalhaften Gesprächen in Moskau mit umfangreichen Daten über die in der Sowjetunion an der Ausreise nach Deutschland gehinderten Russlanddeutschen. Die darauf folgenden Jahre standen ganz im Zeichen des Kampfes um gleiche Rechte für die Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik. Es war damals durchaus nicht selbstverständlich, dass unsere Landsleute in die allgemeine Vertriebenen- und Sozialgesetzgebung mit einbezogen wurden. Die Landsmannschaft war vielmehr gefordert und erreichte die Einbeziehung erst nach einer Reihe von Sozialprozessen in den Jahren 1957 bis 1966. Bereits damals konnte also keine Rede davon sein, dass den Deutschen aus Russland irgendetwas in den Schoß fiel. Ohne das Wirken der Landsmannschaft hätten sie vermutlich niemals die Gleichstellung mit anderen Vertriebenen erreicht. Nicht zuletzt der Landsmannschaft haben wir es auch zu verdanken, dass sich Ende der 50er Jahre maßgebende deutsche Politiker wie Theodor Heuss, Konrad Adenauer oder Willy Brandt in einem viel beachteten Appell für die Öffnung des Tors aus der Sowjetunion nach Deutschland einsetzten. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Ausreise nach Deutschland für die in der Sowjetunion lebenden Deutschen praktisch nur im Rahmen der Familienzusammenführung möglich. Wer keine näheren Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland hatte, war chancenlos. Trotz aller Bemühungen der Landsmannschaft waren die Ausreisezahlen in manchen Jahren nur minimal und abhängig von der politischen Großwetterlage der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Die Phase der Stagnation der Ausreisezahlen benutzte die Landsmannschaft, um ihre Strukturen zu stärken und die Öffentlichkeit auf das Schicksal der in der Sowjetunion festgehaltenen Deutschen aufmerksam zu machen. Eine entscheidende Wende in der Geschichte der Volksgruppe und auch der Landsmannschaft trat ein, als nach 1987 die Zahlen russlanddeutscher Aussied-

ler und Spätaussiedler sprunghaft anstiegen und in den Jahren 1993 bis 1995 sogar die Marke von 200.000 überschritten. In diesen Jahren wuchsen die Aufgaben der Landsmannschaft, die es bis dahin mit einer überschaubaren Anzahl von russlanddeutschen Heimkehrern zu tun gehabt hatte, in erheblichem Maße an. Natürlich war man über diesen Anstieg der Ausreisezahlen erfreut, andererseits war man mit einer relativ kleinen Schar ehrenamtlicher Helfer und noch viel weniger hauptamtlichen Mitarbeitern vor allem in den ersten Jahren kaum in der Lage, allen Aufgaben gerecht zu werden. Und dennoch tat die Landsmannschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten das, was zu tun war, und traf eine Entscheidung, die vermutlich die wichtigste in ihrer langjährigen Geschichte war: Als die Mitglieder des Bundesvorstandes der Landsmannschaft gegen Ende der 80er Jahre von Vertretern der hohen Politik gefragt wurden, wofür man sich entscheiden solle, für eine begrenzte Anzahl von Aussiedlern mit leicht zu bewerkstelligender Integration oder für einen mehr oder weniger unbegrenzten Zuzug mit zu erwartenden Problemen bei der Integration, entschieden sie sich für die zweite Variante. Hunderttausende von Landsleuten, die seither ausreisen durften, wären also nicht in der Bundesrepublik Deutschland, hätte sich die Landsmannschaft damals anders entschieden. Und noch viel weniger Deutsche aus Russland wären heute in der Bundesrepublik, hätte die Landsmannschaft nicht bereits in den 70er Jahren verhindert, dass das Thema „Deutsche in der Sowjetunion“ vom Tisch gewischt wurde. Dabei sei jedoch eines in aller Deutlichkeit gesagt: Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat zu keiner Zeit den Bleibewillen derjenigen Landsleute in Frage gestellt, die nicht nach Deutschland ausreisen wollten. Abwerbemaßnahmen waren und sind uns fremd, und wer in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion bleiben will, hat dazu das gleiche Recht wie derjenige, der nach Deutschland ausreisen möchte! So dankbar wir den jeweiligen Bundesregierungen auch sind, dass inzwischen rund 2,7 Millionen Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion Aufnahme im Bundesgebiet gefunden haben, so sehr bedauern wir jedoch den dramatischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen in den beiden letzten Jahren nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005. Im vergangenen Jahr sind gerade einmal siebeneinhalbtausend Deutsche aus den Staaten der GUS nach Deutschland gekommen, und in diesem Jahr werden es vermutlich noch weniger sein. Nach unserer Überzeugung hat zu dieser Entwicklung vor allem die Überbetonung deutscher Sprach-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews kenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren geführt. Wir haben wenig Verständnis für diese Überbetonung, wissen wir doch ebenso wie Sie, meine Damen und Herren, mit welchen Schwierigkeiten der Gebrauch und die Pflege der deutschen Sprache in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion verbunden waren und sind. Und wir können nicht oft genug daran erinnern, dass unsere Landsleute eben diesen Sprachverlust als wesentlichen Teil ihres Kriegsfolgenschicksals ansehen und sie sich durch die genannte Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse ein zweites Mal als Opfer des Zweiten Weltkrieges bestraft fühlen. Für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wird es daher darum gehen, Regelungen im Aussiedlungsverfahren durchzusetzen, die dem besonderen Schicksal unserer Volksgruppe gerecht werden - Regelungen, die vor allem dazu beitragen, dass tragische Fälle von Familientrennungen endgültig der Vergangenheit angehören. Wir sind zuversichtlich, dieses Ziel erreichen zu können, da wir dabei auf die Unterstützung der Bundesregierung und ihres Aussiedlerbeauftragten, Herrn Dr. Christoph Bergner, bauen können. Widerstände, die von einigen Länderregierungen signalisiert wurden, halten wir für überwindbar. Wenn wir uns gegen diese Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Aufnahmeverfahren wenden, bedeutet das selbstverständlich nicht, dass wir die Bedeutung der deutschen Sprache für die Eingliederung der Deutschen aus der GUS in der Bundesrepublik verkennen. Und es bedeutet auch nicht, dass wir der Bundesregierung nicht dankbar sind für die Sprachfördermaßnahmen, die sie sowohl in Deutschland als auch in den Herkunftsländern zur Verfügung stellt. Und wenn ich Schwierigkeiten erwähne, mit denen wir es in Deutschland bei unserer Arbeit im Bereich der Aufnahme und Eingliederung von Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion zu tun haben, so bin ich mir durchaus bewusst, dass diese Schwierigkeiten nur gering sind im Vergleich zu den Problemen, mit denen Sie es hier in der Russischen Föderation zu tun haben. Gerade deshalb begrüße ich ausdrücklich das von Russland verabschiedete Föderale Zielprogramm zugunsten der Russlanddeutschen in der Russischen Föderation. Wir wissen, dass es sich dabei nur um einen Anfang handeln kann, wir werden uns aber nicht an der Kritik beteiligen, die in verschiedenen Kreisen unserer Landsleute in Deutschland daran laut wurde und die in Verkennung der wahren Verhältnisse weit über das Ziel hinaus schießt. Mit meiner Teilnahme stelle ich mich ganz bewusst hinter die Ziele dieser Konferenz und befürworte

noch einmal die Prinzipien unserer Zusammenarbeit, wie sie in dem Projekt „Brückenpfeiler“ formuliert und durch die Unterzeichnung des Partnerschaftsabkommens zwischen dem Internationalen Verband der Deutschen Kultur, dem Jugendring der Russlanddeutschen und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland bestätigt wurden. Es gibt nach meiner Auffassung keinen Grund, auf grenzüberschreitende Maßnahmen zwischen russlanddeutschen Organisationen zu verzichten. Eine Stärkung der Brückenfunktion der Deutschen aus Russland und die Einbeziehung der in Russland und den anderen Herkunftsgebieten lebenden Deutschen in den Ausbau der Beziehungen zwischen Deutschland und der GUS kann für uns alle nur von Nutzen sein. Eine Intensivierung unserer Zusammenarbeit wird gerade auch für die jüngeren Deutschen aus Russland von Nutzen sein, die ihre deutsch-russische Zweisprachigkeit als Plus in den Qualifizierungsprozess für den deutschen Arbeitsmarkt einbringen können. Für besonders sinnvoll halte ich in diesem Zusammenhang außerdem den Aufbau regionaler Partnerschaften, der bei der I. Internationalen Partnerschaftskonferenz der russlanddeutschen Dachverbände besprochen wurde. Konkret wurden Beziehungen zwischen - Niedersachen und Tjumen, - Halle an der Saale und Ufa, - Stuttgart und Samara, - Augsburg und Solikamsk, - Hessen und Engels - sowie Nordrhein-Westfalen und der Altairegion behandelt. Und wenn ich unter den Zielen des Projektes „Brückenpfeiler“ die Absicht finde, die deutschen Heimatvertriebenen voll in das Werk der europäischen Aussöhnung und Verständigung einzubeziehen, fühle ich mich unwillkürlich an die bereits erwähnte Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 erinnert. Dort findet sich eingangs der Satz, der bis zum heutigen Tag unser Handeln maßgeblich mitbestimmt. Ich zitiere: „... im Bewusstsein ihres deutschen Volkstums und in der Erkenntnis der gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Völker haben die erwählten Vertreter von Millionen Heimatvertriebenen nach reiflicher Überlegung und nach Prüfung ihres Gewissens beschlossen, dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit gegenüber eine feierliche Erklärung abzugeben, die die Pflichten und Rechte festlegt, welche die deutschen Heimatvertriebenen als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die Herbeiführung eines freien und geeinten Europas ansehen.“

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews 57 Jahre nach der Erklärung der deutschen Heimatvertriebenen leisten wir mit dieser Konferenz – über die unmittelbaren Inhalte hinaus – einen wertvollen Beitrag zur Erreichung des Ziels eines freien und geeinten Europas, in dem es auch möglich ist, Probleme der gemeinsam verursachten und erlebten geschichtlichen Ereignisse aufzuarbeiten. Damit komme ich abschließend zu dem Punkt, der mir besonders am Herzen liegt: Wir sollten diese Konferenz zum Anlass nehmen, an die Regierung der Russischen Föderation zu appellieren, die Russlanddeutschen endlich – 62 Jahre nach Kriegsende! faktisch zu rehabilitieren und sie nicht nur auf dem Papier von den Vorwürfen freizusprechen, die ihnen in dem verhängnisvollen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 gemacht wurden und dazu führten, dass sie zu Hunderttausenden zu Opfern der Deportation wurden. Ohne auch nur im entferntesten an Rache und Vergeltung zu denken, sollten wir daran erinnern, dass diese Opfer bis in die Gegenwart schwer auf den Seelen unserer Landsleute lasten. Für uns ist das Ausbleiben einer faktischen Rehabilitierung der Russlanddeutschen durch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht zu verstehen, zumal

die in dem Erlass vom 28. August 1941 erhobenen Vorwürfe bereits durch einen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 29. August 1964 aufgehoben wurden, in dem es unter anderem heißt: „Das Leben hat erwiesen, dass diese pauschal erhobenen Anschuldigungen haltlos und Ausdruck der angesichts des Personenkults um Stalin herrschenden Willkür waren.“ Dass von einer faktischen Rehabilitierung der Russlanddeutschen nach wie vor keine Rede sein kann, zeigt allein die Tatsache, dass die allermeisten Spätaussiedler nicht aus den ursprünglichen Ansiedlungsgebieten ihrer Familien nach Deutschland kommen. Ich appelliere deshalb an die Regierung der Russischen Föderation, in dieser Angelegenheit den anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion ein Vorbild zu sein und den Russlanddeutschen historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es kann doch keinen Zweifel geben, dass diese Menschen nichts weiter waren als Opfer eines Krieges, mit dessen Zustandekommen sie nicht das Geringste zu tun hatten. November 2007

Baden-Württemberg: Jugendverband gegründet m 8. Dezember 2007 wurde unter dem Dach der Landesgruppe Baden-Württemberg der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ein Jugendverband gegründet. Der Verband trägt den Namen “Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russland. Landesverband Baden-Württemberg” (JSDR-BW).

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Wie die meisten unserer Leser wissen, ist die Landesgruppe Baden-Württemberg die bei weitem mitgliederstärkste Landesgruppe der Landsmannschaft. Mit ihren 26 Orts- und Kreisgruppen bildet sie seit Jahrzehnten ein Netzwerk, das kulturelle Angebote für Spätaussiedler bereithält und eine große Integrationsarbeit für die Zuwandererfamilien aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion leistet. 1979 hat Baden-Württemberg die Patenschaft über die Landsmannschaft übernommen und damit die Bedeutung ihrer Integrationsarbeit unterstrichen.

Bei der Veranstaltung am 8. Dezember wurde ein aus fünf Personen bestehender Vorstand gewählt. Vorsitzende ist Julia Scheidt (28 J.), Lehramtsstudentin an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd. Stellvertretende Vorsitzende sind Xenia Weimann (23), Studentin der Fachhochschule in Ravensburg, und Paul Eschov (26) aus Offenburg. Zum Schatzmeister wurde Dominik Imankus (19) gewählt, der eine Ausbildung zum Kaufmann absolviert und sich im Bereich Sport engagiert. Beisitzerin ist Anna Peschko (28), Studentin der PH Schwäbisch Gmünd. Den fünf Gruppen, die bereits Mitglieder des Verbandes sind, werden sich in der nächsten Zukunft weitere anschließen. Es ist beabsichtigt, dass der JSDR-BW dem djo-Landesverband beitritt. Als erste gemeinsame Maßnahme ist für März 2008 eine Schulung mit Begegnungsabend geplant. Dezember 2007

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Fehlentwicklungen in der Aussiedlerpolitik der tragische Fall der Familie Genzel Pressemitteilung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ersäumnisse bei der gesetzlichen Regelung der Aufnahme von Mitgliedern der Kernfamilie eines Spätaussiedlers führen immer wieder zu vermeidbaren Fällen von Familientrennung. Besonders tragisch sind die Folgen für die Familie des 41-jährigen Alexander Genzel. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat sich daher mit dem folgenden Brief an Vertreter der Bundesregierung sowie die Innenminister und Aussiedlerbeauftragten der Bundesländer gewandt: In den Tagen vor Weihnachten 2007 haben wir vom tragischen Schicksal der russlanddeutschen Spätaussiedlerfamilie Genzel aus Ibbenbüren (NordrheinWestfalen) erfahren, das uns sehr zu Herzen gegangen ist und das nach unserer Auffassung Resultat schwerwiegender Fehlentwicklungen im Bereich der Aufnahme von Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion ist. Inzwischen hat sich die Situation der Familie weiter verschlechtert, so dass dringender Handlungsbedarf vonseiten der politisch Verantwortlichen besteht. Lassen Sie uns die Situation der Familie in kurzen Worten schildern: Alexander Genzel reiste Ende des letzten Jahres als deutscher Spätaussiedler zusammen mit seinen fünf minderjährigen Kindern (1, 3, 5, 7 und 10 Jahre) nach Deutschland aus, obwohl seine Frau, eine Nichtdeutsche, den Sprachtest nicht bestanden hatte und gemäß Gesetz keine Einreisegenehmigung erhielt. Doch weil die Familie fest entschlossen war, den Weg nach Deutschland anzutreten, wurde das Risiko einer Trennung, die, so hoffte man, nicht für lange sein würde, in Kauf genommen. Damit war die Familie aber, ohne es zu ahnen, zwischen die Mühlsteine der deutschen Bürokratie geraten, die in Sachen Familienzusammenführung streng nach gesetzlichen Vorschriften vorgeht, wobei sich an Fällen wie dem der Familie Genzel zeigt, dass die vorgesehenen Regelungen für Härtefälle nicht ausreichen und einer Modifizierung in Richtung kurzfristiger Realisierbarkeit bedürfen. Bisher sieht der Gesetzgeber folgendes Verfahren vor: Für die Familienzusammenführung muss die Familie im Ausländeramt einen Antrag stellen. Ohne die Spätaussiedlerbescheinigung ist das nicht möglich, und im Bundesverwaltungsamt dauert diese Prozedur bis zu zwei Monaten und länger. Danach geht die Angelegenheit im Ausländeramt weiter.

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Wir sollten uns besser nicht ausmalen, was in diesen Monaten geschehen kann, geben aber zu bedenken, dass wir es hier mit Menschenschicksalen zu tun haben und nicht mit EU-Richtlinien zum Weizenanbau oder dergleichen! Inzwischen ist der überforderte Vater jedenfalls selbst seiner unzumutbaren Belastung – allein mit fünf kleinen Kindern und getrennt von deren Mutter! – zum Opfer gefallen und liegt nach einem Herzanfall im Krankenhaus. Die Kinder werden von der Tante betreut, die das Ende der schlimmen Zeit herbeisehnt. Neben der menschlichen Dimension hat der Fall aber auch eine politische: Bereits im Vorfeld der von der Bundesregierung initiierten Tagung des Arbeitskreises “Integration der Aussiedler” am 26. Februar 2007 in Berlin hat die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland auf Benachteiligungen russlanddeutscher Spätaussiedler infolge des Zuwanderungsgesetzes hingewiesen. Insbesondere wies die Landsmannschaft damals auf den drastischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen hin, der seine Erklärung in der durch nichts zu rechtfertigenden Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren findet, und auf zu befürchtende Familientrennungen aufgrund des nicht geregelten Zuzuges von Ehegatten und Abkömmlingen der Spät-aussiedler. Um Familientrennungen zu vermeiden, hat die Landsmannschaft bereits mehrfach Vorschläge unterbreitet, die den Boden für eine gleichzeitige Ausreise der Mitglieder der Kernfamilie eines Spätaussiedlers bereiten würden. Im Herbst 2006 wurde dieser Vorschlag in einer Stellungnahme zum Entwurf eines siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes wie folgt formuliert: “§ 27 Abs.1 Satz 2: Der im Aussiedlungsgebiet lebende Ehegatte und/oder der Abkömmling einer Person im Sinne des Satzes 1 werden zum Zweck der gemeinsamen Ausreise vorläufig nach § 27 Abs. 2 einbezogen. Nach Einreise erfolgt nach einer mehrmonatigen (ca. neun Monate) Sprachförderung in Friedland und nach erfolgten Sprachtest die Statusfeststellung und die Ausstellung der Bescheinigung nach § 7 Abs. 2 BVFG.” Eine Annahme dieses Vorschlages würde den enor-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews men psychischen Druck, dem die Bezugspersonen ausgesetzt sind, in ganz erheblicher Weise verringern und außerdem die Ungleichbehandlung gegenüber anderen Zuwanderungsgruppen beseitigen, denen die Möglichkeit geboten wird, hier in einem deutschen Umfeld die deutsche Sprache zu erlernen. Vom Tisch wäre auch der Verstoß gegen Art. 6 des Grundgesetzes, der den besonderen Schutz von Ehe und Familie vorschreibt. Erfreulicherweise wissen wir hinsichtlich dieser Argumente die Bundesregierung mit Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble und dem Beauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, ebenso auf unserer Seite wie die meisten der 16 Bundesländer. Leider haben es jedoch bis zum heutigen Tag die Regierungen dreier Bundesländer (Niedersachsen als federführendes Land, aber auch Bayern und Hamburg) verstanden, eine Regelung dieser Angelegenheit, die im Sinne der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und der von ihr vertretenen Menschen läge, zu verhindern. Besonders enttäuscht sind wir vom Verhalten der Niedersächsischen Landesregierung und des Innenministers des Landes, Uwe

Schünemann, deren auch bei Veranstaltungen der Landsmannschaft immer wieder zu hörenden Bekenntnisse zu den Deutschen aus Russland gegenwärtig kaum noch ernst genommen werden können. Nicht unerwähnt sei, dass diese Politik zu einer Zeit stattfindet, da die Ausreisezahlen von Deutschen aus der GUS ohnehin beinahe den Nullpunkt erreicht haben (gerade einmal etwa 7.000 im Jahr 2006!). Wir fordern deshalb insbesondere die Regierung des Landes Niedersachsen und ihren Innenminister auf, ihre Aussiedlerpolitik zu überdenken, die immer wieder zu Familientrennungen führen wird, um endlich im Rahmen der Innenministerkonferenz der Länder eine Regelung schaffen zu können, die eine Ausreise von Spätaussiedlern und ihren Familien auf menschlicher und mitfühlender Basis ermöglicht – zumal mit unseren Landsleuten Menschen nach Deutschland kommen, auf die wir stolz sein können und die in jeglicher Hinsicht einen Gewinn für unser Land darstellen. Wir sind zuversichtlich, dass wir in den von uns angesprochenen Punkten mit Ihrer Unterstützung rechnen können. Januar 2008

Familie Genzel wieder vereint! inen glücklichen Ausgang nahm der Fall der getrennten Familie von Alexander Genzel. Nach 70 schmerzhaften Tagen bekam Alexander Genzels Ehefrau Anna endlich das ersehnte Visum, konnte nach Deutschland fliegen und ihre Lieben umarmen. Alexander und Anna Genzel haben ausdrücklich gebeten, die Namen derjenigen in “Volk auf dem Weg” zu nennen, die zum Gelingen ihrer Familienzusammenführung beigetragen haben. Beteiligt waren vor allem: - der Beauftragte der Bunderegierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Dr. Christoph Bergner; - Adolf Fetsch und Waldemar Axt, Bundesvorsitzender und stellvertretender Bundesvorsitzender der Landsmannschaft;

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- Johann Engbrecht, Vorsitzender der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen der Landsmannschaft; - Dr. Heinrich Neugebauer, stellvertretender Vorsitzender des BdV-Landesverbandes NordrheinWestfalen; - Alexander Kühl, Vereinigung zur Integration der russlanddeutschen Aussiedler (VIRA); - außerdem “Volk auf dem Weg” und eine Reihe weiterer russlanddeutscher Zeitungen. Wir freuen uns mit der Familie Genzel und wünschen ihr ein frohes Osterfest! Februar 2008

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Spätaussiedler besser in Arbeitsmarkt integriert als andere Zuwanderer nlässlich der Behandlung des 7. Berichts der Beauftragten der Bundesregierung zur Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland im Bundeskabinett erklärte der Vorsitzende der Gruppe der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jochen-Konrad Fromme: Die erstmalig durch Mikrozensus vom Statistischen Bundesamt erhobenen Daten über die Lebenssituation der Spätaussiedler in Deutschland hat deutlich gemacht: Die deutschen Spätaussiedler sind besser in Schule, Ausbildungs- und Arbeitsmarkt integriert als andere Zuwanderergruppen. Die Erhebung hat erneut belegt, dass deutlich zwischen der Gruppe der deutschen Spätaussiedler und anderen Zuwanderergruppen unterschieden werden muss. So wurde in den vom Statistischen Bundesamt erhobenen Daten des Mikrozensus festgestellt, dass mit 5,9 % Schulabbrechern die Gruppe der deutschen Spätaussiedler deutlich besser dasteht als die Gruppe der zugewanderten oder in Deutschland geborenen Ausländerinnen und Ausländer, bei denen 18,7 % ohne Abschluss die Schule verlassen haben. Allerdings verlassen von den einheimischen Deutschen im Vergleich nur 1,8 % die Schule ohne Abschluss. Bei der beruflichen Qualifikation stehen die deutschen Spätaussiedler ebenfalls besser da als zugewanderte und in Deutschland geborene Ausländerinnen und Ausländer. Bei den Spätaussiedlern bleiben laut Mikrozensus 25,6 % ohne beruflichen Abschluss, während die Gruppe der Ausländerinnen

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und Ausländer hier im Umfang von 46,7 % betroffen ist. Die einheimische Bevölkerung im Vergleich bleibt zu 12,3 % ohne beruflichen Abschluss. Bei der Erwerbsquote liegt die Gruppe der deutschen Spätaussiedler mit 73,7 % deutlich über der Gruppe der zugewanderten oder in Deutschland geborenen Ausländerinnen und Ausländer mit 65,9 % und reicht dabei fast an die Erwerbsquote der einheimischen Bevölkerung heran, die bei 75 % liegt. Die unter dem Strich deutlich besseren Zahlen bei den deutschen Spätaussiedlern dürfen allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass es im Bereich von Ausbildung und Arbeitsmarkt auch hier große Integrationsschwierigkeiten gibt. Vor allem die nach Deutschland gekommenen Spätaussiedler mit akademischem Ausbildungshintergrund sind davon betroffen. Viele sind heute in Deutschland aufgrund mangelnder Anerkennung in Beschäftigungsverhältnissen unterhalb ihres Ausbildungsniveaus beschäftigt. Hier muss dringend etwas geschehen. So müssen die Anerkennungsverfahren für die Ausbildungs- und Studienleistungen transparenter und nachvollziehbarer werden. Wichtiger ist noch, dass Programme geschaffen werden, mit denen den Menschen die Möglichkeit gegeben wird, fehlende Ausbildungs- und Qualifikationsbestandteile nachzuholen. Hier sind wir noch nicht gut genug. Die Weiterqualifizierung würde es den Betroffenen ermöglichen, in ihrem eigentlichen Ausbildungsberuf tätig zu sein. Januar 2008

Beirat für Spätaussiedlerfragen stellt fest:

Kriminalitätsauffälligkeit bei Aussiedlern nicht höher als bei einheimischen Deutschen nter Leitung des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Dr. Christoph Bergner, fand am 25. Februar eine erweiterte Sitzung des Beirates für Spätaussiedlerfragen zum Thema “Kriminalität von Spätaussiedlern” statt. Die Ergebnisse fasste das Bundesministerium des Innern in einer Pressemitteilung zusammen: An der Sitzung nahmen auch Vertreter des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, des Bundesmi-

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nisteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung teil. Unter dem Eindruck einzelner Medienberichte hatte sich das Gremium bereits im letzten Jahr eine eingehendere Beschäftigung mit der Frage der Kriminalitätshäufigkeit unter Aussiedlern vorgenommen. Im Ergebnis wurde deutlich, dass im Hinblick auf die Gruppe der Spätaussiedler für dramatisierende Darstellungen kein Anlass besteht.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Die Kriminalitätsbelastung ist bei Aussiedlern insgesamt nicht höher als bei einheimischen Deutschen. Allerdings tritt Aussiedlerkriminalität im Wesentlichen als Jugendlichenkriminalität in Erscheinung. Zu diesen Ergebnissen waren die Autoren einer Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gekommen, in der sie sowohl einschlägige Befunde unterschiedlicher Analysen aus dem Bereich der polizeilichen Kriminalitätsstatistik als auch die empirische Sozialforschung berücksichtigt hatten und die sie den Sitzungsteilnehmern vorstellten. Die Studie “Kriminalität von Spätaussiedlern” wird demnächst als Working Paper der Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge veröffentlicht. Die Teilnehmer der Sitzung stellten fest, dass für die Problemgruppe männlicher Jugendlicher, die die Brüche der Umsiedlung und des Milieuwechsels schwer verkraftet haben, auch weiterhin gezielte und bedarfsbezogene Integrationsmaßnahmen getroffen werden müssen. Dabei kommt es besonders auf präventive Ansätze an, die die Persönlichkeit der Jugendlichen stärken und sie befähigen, aktiv ihren Platz in unserer Gesellschaft zu übernehmen. Es wurde beschlossen, vor dem Hintergrund zahlreicher Beispiele erfolgreicher Entwicklungen jugendlicher Spätaussiedler in einer weiteren Beratung die Perspektiven nachwachsender Generationen der Spätaussiedlerfamilien zu erörtern. Zu ähnlichen Ergebnissen kam der Landesbeirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen des Landes Nordrhein-Westfalen in seiner ersten Vollversammlung des Jahres am 11. März in Düsseldorf. Die Ergebnisse der Sitzung fasste der Beirat wie folgt zusammen: Neben der umfangreichen Tagesordnung mit Berichten und Themen aus der Arbeit des Integrationsbe-

auftragten sowie der Ministerien und Behörden des Landes wurde schwerpunktmäßig über die Kriminalitätsbelastung unter Spätaussiedlern diskutiert. “Die Frage der Kriminalität unter Spätaussiedlern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wird fälschlicherweise oft in den Mittelpunkt gerückt, wenn es um diese Gruppe geht. Mir ist jedoch keine fundierte Studie bekannt, die diesen Menschen eine überdurchschnittliche Kriminalitätsbelastung bescheinigt. Einige Studien zeigen sogar, dass die Kriminalität unterdurchschnittlich ist”, sagte der Vorsitzende des Landesbeirats und Integrationsbeauftragter, Thomas Kufen. Erst kürzlich veröffentlichte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Ergebnisse der Studie “Kriminalität von Spätaussiedlern”, die zum gleichen Ergebnis kommt. “Vielmehr werden vereinzelte Fälle mit dem Hinweis auf die Täter mit diesem Hintergrund publiziert. Andererseits finden positive Beispiele nicht genügend Beachtung oder es wird nicht erwähnt, dass es sich um Angehörige dieser Gruppe handelt”, so Thomas Kufen zur Erklärung dieser Situation. Wichtig ist an dieser Stelle, die gelungene Integration des überwiegenden Teils der Spätaussiedler in die öffentliche Wahrnehmung zu tragen. Hierzu gehört auch eine gewisse Selbstverpflichtung aller Vertreter der Deutschen aus Russland in Nordrhein-Westfalen gute Beispiele deutlicher herauszustellen, damit ein positiver Zusammenhang mit dem Begriff “Spätaussiedler” hergestellt werden kann. Der Landesbeirat beschloss deshalb, sich in diesem Jahr verstärkt der Imageverbesserung der Spätaussiedler in der Öffentlichkeit zu widmen. “Unser Anliegen ist klar: Wir wollen die Bereicherung, die diese Menschen für unser Land darstellen, auch entsprechend mitteilen”, ergänzte der Integrationsbeauftragte abschließend. Februar 2008

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Arbeitsschwerpunkte und Positionen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland n einem schriftlichen Bericht für ein zentrales Treffen des Bundes der Vertriebenen fasste der Vorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und Vizepräsident des BdV, Adolf Fetsch, die Arbeitsschwerpunkte und wichtigsten Positionen der Landsmannschaft der letzten Jahre wie folgt zusammen:

len die Ausweitung der Bleibeihilfen für die Angehörigen der deutschen Minderheit in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nennt. Damit wäre ein langsamer Rückgang der Zahlen zu erklären, nicht aber ein Einbruch von rund 92 Prozent innerhalb von nur fünf Jahren.

1. Rückgang der Spätaussiedlerzahlen

2. Behinderungen des Zuzugs von Familienangehörigen

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Nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005, gegen das sich die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland von Beginn an gewehrt hat, ist es zu einem drastischen Rückgang des Spätaussiedlerzuzugs gekommen, der beinahe einem Absinken auf Nullniveau gleichkommt, wie die folgenden Zahlen beweisen: Waren 2003 noch 73.000 Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ausgereist, so waren es 2004 nur noch 59.000 und 2005 gerade einmal 35.000. Noch viel schlimmer wurde es jedoch 2006 und 2007 mit sage und schreibe 7.747 bzw. 5.792 Heimkehrern. Und rechnet man die Zahl von 198 im Januar 2008 auf das gesamte Jahr hoch, so werden es heuer nicht einmal 3.000 Landsleute sein, denen man die Ausreise nach Deutschland erlaubt, Die Hauptursache für diesen Rückgang erblicken wir in der Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren, die die Ursachen des Sprachverlustes der Volksgruppe ignoriert. Es wird nämlich nicht zur Kenntnis genommen, dass der Verlust der deutschen Sprache ein wesentlicher Teil des kollektiven Kriegsfolgenschicksals ist, das den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor von allen maßgeblichen Parteien des Deutschen Bundestages zuerkannt wird. Eine Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Aufnahmeverfahren übersieht die Tatsache, dass die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion seit den Vertreibungsmaßnahmen meist verstreut und in einer ihnen feindlich gesinnten Umwelt leben, abgeschnitten vom deutschen Kulturraum, der Möglichkeit beraubt, gemeinsam als Volksgruppe ihr kulturelles Erbe zu pflegen, ihre Kinder in deutschsprachigen Schulen zu erziehen und ihren Glauben in der Muttersprache zu bekennen. Nicht anschließen können wir uns deshalb der Argumentation des Bundesministeriums des Innern, das als Hauptgrund für den Rückgang der Aussiedlerzah-

Bereits seit längerer Zeit bereitet uns der nach wie vor nicht geregelte Zuzug von Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern große Sorgen, wobei sich inzwischen unsere Befürchtungen bestätigt haben, dass es in verstärktem Maße zu Familientrennungen kommen wird. Als Beispiel sei der Fall der siebenköpfigen Familie Genzel aus Nordrhein-Westfalen genannt: Im Vertrauen darauf, dass man seiner Frau einen raschen Nachzug gestatten würde, war der Familienvater mit fünf Kindern im Alter von einem, drei, fünf, sieben und zehn Jahren nach Deutschland ausgereist. Dort musste er jedoch erfahren, dass man diesem Nachzug völlig unnötige bürokratische Hindernisse in den Weg stellte und ihn und seine Kinder damit in erhebliche Schwierigkeiten brachte. Zum Glück konnte der Fall inzwischen dank der Intervention der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und anderer Einrichtungen zur Zufriedenheit der Familie gelöst werden. Vor dem Hintergrund derartiger Schicksale haben wir kein Verständnis für die Blockadehaltung einiger Bundesländer – Niedersachsen, Bayern und Hamburg, um sie beim Namen zu nennen -, die seit Jahr und Tag eine vernünftige Regelung des Familienzuzugs über eine Entscheidung der Innenministerkonferenz der Länder verhindern. 3. Mangelnde Solidarität Wir halten es für sehr bedauerlich, dass von der überwiegenden Mehrheit der Vertreter der Parteien des Deutschen Bundestages das Thema Deutsche aus Russland nur am Rande – wenn überhaupt! - beachtet wird. Dabei leben inzwischen rund 2,7 Millionen unserer Landsleute in der Bundesrepublik und sollten damit auch rein quantitativ einen nicht mehr zu vernachlässigenden Bevölkerungsfaktor darstellen. Als Beispiel für diese mangelhafte Beachtung sei der

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin im vorigen Jahr genannt, zu dem die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zwar dankenswerterweise eingeladen worden war, im Laufe der Konferenz aber feststellen musste, dass auf den Bereich Deutsche aus Russland mit keinem Wort eingegangen wurde. Ganz allgemein müssen wir feststellen, dass die Anliegen der deutschen Aussiedler und Spätaussiedler aus Ost- und Südosteuropa nur selten den Widerhall in der deutschen Öffentlichkeit finden, der ihrem Bevölkerungsanteil und ihrer Bedeutung gerecht wird. 4. Sinkende Akzeptanz Die Vernachlässigung der Volksgruppe setzt sich in zunehmendem Maße in der allzu oft einseitigen und von Vorurteilen geprägten Berichterstattung über Deutsche aus Russland in den Medien fort. Aus beklagenswerten Einzelfällen krimineller Auffälligkeit werden Vorwürfe an die Gesamtheit der Spätaussiedler konstruiert, positive Erscheinungen – die bei weitem überwiegen! - dagegen kaum zur Kenntnis genommen. Derartige Berichte, die bereits zur besten Sendezeit im Fernsehen zu sehen waren, haben dazu beigetragen, dass sich das Bild der Deutschen aus Russland in der deutschen Öffentlichkeit in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert hat. Sämtliche Integrationsbemühungen unserer Landsleute werden aber nur bedingt erfolgreich sein können, solange sie auf Schritt und Tritt mit diesem Negativbild konfrontiert werden. Einen Bärendienst hat uns in diesem Zusammenhang auch eine im vorigen Jahr veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit erwiesen, in der in unverantwortlicher Weise von einer weit überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit russlanddeutscher Spätaussiedler die Rede war. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat gemeinsam mit dem Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, dem Vorsitzenden der Gruppe der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jochen-Konrad Fromme, dem Aussiedlerbeauftragten der Hessischen Landesregierung, Rudolf Friedrich, und anderen vehement gegen diese Studie protestiert, ohne das Institut zur Rücknahme der Studie bewegen zu können. Zum Glück haben inzwischen die erstmalig durch Mikrozensus vom Statistischen Bundesamt erhobenen Daten über die Lebenssituation der Spätaussiedler in Deutschland deutlich gemacht, dass die deutschen Spätaussiedler besser in Schule, Ausbildungsund Arbeitsmarkt integriert sind als andere Zuwanderergruppen.

Damit den Mitgliedern unserer Volksgruppe nach Jahrzehnten der Diskriminierung und Verfolgung in der ehemaligen Sowjetunion hier in der Heimat ihrer Vorfahren endlich Gerechtigkeit widerfährt, erhoffen wir uns von den führenden Politikern des Deutschen Bundestages eindeutige Solidaritätsbekundungen und von der Bundesregierung die Schaffung verbesserter Bedingungen für die Integration der Deutschen aus Russland, wozu auch eine Intensivierung der Aufklärungsarbeit über die Vergangenheit und Gegenwart dieser Menschen gehört. Dabei sollten insbesondere die beiden folgenden Punkte erwähnt werden: Entgegen anders lautenden Meldungen belegen offizielle Statistiken (aus Nordrhein-Westfalen, BadenWürttemberg, verschiedenen norddeutschen Städten usw.) eine nach wie vor unterdurchschnittliche Kriminalitätsneigung der Spätaussiedler aus den Staaten der GUS. Das trifft vor allem auf die Angehörigen der zweiten und dritten Aussiedlergeneration zu; gewisse Auffälligkeiten gibt es lediglich in der Gruppe der jungen Männer zwischen 18 und 27 Jahren. In ihrer Gesamtheit betrachtet, kann ebenfalls keine Rede davon sein, dass Deutsche aus Russland die Bundesrepublik in finanzieller Hinsicht belasten. Vielmehr belegen auch hier offizielle Statistiken exakt das Gegenteil. Demnach stellen Deutsche aus Russland aufgrund ihrer günstigen Altersstruktur, ihres Kinderreichtums und ihrer hohen Arbeitswilligkeit einen Gewinn für das Land dar. Wir erhoffen uns daher breite Unterstützung bei der Durchsetzung der folgenden Anliegen: - Politisch Verantwortliche müssen unmittelbar auf unhaltbare Äußerungen über Spätaussiedler reagieren. Es darf nicht sein, dass – aus welchen Gründen auch immer – das Thema “Spätaussiedler” tabuisiert wird und seine Behandlung tendenziöser Berichterstattung überlassen wird. - Es sollte selbstverständlich werden, das Thema “Russlanddeutsche bzw. Deutsche aus Russland” im Unterricht deutscher Schulen zu behandeln.. - Wir erwarten eine verstärkte Unterstützung der Presse- und Informationsarbeit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, um die Integrationsprobleme sowie die Ansätze zu ihrer Lösung auf breiterer Grundlage in kompetenter Weise in die Öffentlichkeit bringen zu können. - Dazu gehört auch die Fortsetzung und der Ausbau der Förderung von kulturellen, Geschichts- und Informationsbroschüren im Aussiedlerbereich. 5. Situation der Spätaussiedler auf dem Arbeitsmarkt Wie Jochen-Konrad Fromme in einer Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausführt,

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews dürfen die im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen deutlich besseren Zahlen nicht darüber hinweg täuschen, dass es auch bei meinen Landsleuten im Bereich von Ausbildung und Arbeitsmarkt große Integrationsschwierigkeiten gibt. Vor allem trifft das auf Deutsche aus Russland mit akademischer Ausbildung zu. Viele von ihnen sind hier in Deutschland aufgrund der fehlenden Anerkennung ihrer Qualifikationen weit unterhalb ihres Ausbildungsniveaus beschäftigt. Ein weiterer Grund für ihre missliche Situation findet sich in erheblichen Mängeln in den von Seiten des Staates angebotenen Weiterbildungsmaßnahmen. Gefordert ist aber nicht nur der Bund, sondern vor allem auch die Bundesländer, in deren Verantwortung die Schul- und Hochschulpolitik liegt. Und schließlich trifft Herr Fromme den Nagel auf den Kopf, wenn er den Standesorganisationen vorwirft, sie würden sich seit vielen Jahren gegen die berufliche Anerkennung von im Ausland erworbenen Studien- und Examensleistungen sträuben. Ausdrücklich befürworten wir daher die im Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausgeführten Vorschläge zum nationalen Integrationsplan: - gezielte Studienberatung für Studierende mit Migrationshintergrund; - Ausbau der Sprachförderangebote an den Hochschulen; - Intensivierung der Beratungsarbeit der Sprachförderung der Otto-Benecke-Stiftung für Aussiedler, Kontingentflüchtlinge und Asylberechtigte mit

Studienberechtigung oder akademischer Ausbildung; - Verbesserung der Transparenz bei den Anerkennungsverfahren für Bildungs- und Berufsabschlüsse; - Verbesserung der Möglichkeiten zum Nachholen fehlender Qualifikationsbestandteile. 6. Grenzüberschreitende Maßnahmen Gemäß den Bestimmungen ihrer Satzung hat die Landsmannschaft in den letzten beiden Jahren ihre Arbeit auf dem Gebiet grenzüberschreitender Maßnahmen erheblich intensiviert. Ziel dieser Maßnahmen ist der Auf- und Ausbau von direkten Kontakten und Partnerschaften zwischen den Begegnungszentren der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion und den Gliederungen der Landsmannschaft sowie zwischen Jugendclubs der Deutschen drüben und Jugendgruppen unserer Landsleute in Deutschland. Nach der I. Internationalen Partnerschaftskonferenz der russlanddeutschen Dachverbände im Anschluss an das Bundestreffen der Landsmannschaft am 27. Mai 2007 in Wiesbaden und dem 6. Forum der Begegnungszentren der Russlanddeutschen vom 28. Oktober bis 1. November 2007 in Moskau konnten bereits mehrere Kooperationsabkommen der Landsmannschaft mit regionalen Organisationen der Deutschen in Russland unterzeichnet werden. Februar 2008

Landsmannschaft erster Ansprechpartner Dr. Christoph Bergner zu Gast in der Bundesgeschäftsstelle it dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, hatte sich am 27. Februar hoher Besuch in der Bundesgeschäftsstelle der Landsmannschaft in Stuttgart angesagt. An dem Gespräch beteiligten sich vonseiten der Landsmannschaft ihr Bundesvorsitzender Adolf Fetsch, seine Stellvertreter Leontine Wacker und Waldemar Axt sowie die weiteren Bundesvorstandsmitglieder Dr. Arthur Bechert und Dr. Andreas Keller. Eingangs hatte Adolf Fetsch Gelegenheit, einige der drängendsten Probleme der Volksgruppe zur Sprache zu bringen. Der drastische Rückgang der Spätaussiedlerzahlen infolge des Zuwanderungsgesetzes gehöre dazu ebenso wie Probleme bei der Familienzusammenführung sowie erneut aufgetauchte Versuche, das kollektive Kriegsfolgenschicksal der Russ-

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landdeutschen in Frage zu stellen. Nicht geringer geworden seien aber auch, so Fetsch, die Schwierigkeiten unserer Landsleute, auf dem Arbeitsmarkt Stellen zu finden, die ihrer Qualifikation entsprechen. Dr. Bergner bezeichnete in seiner Antwort die Landsmannschaft als zentralen Ansprechpartner in allen Angelegenheiten, die Aussiedler und Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion betreffen. Gemeinsam mit der Landsmannschaft sehe er seine Aufgabe darin, die Identitätsbildung der Spätaussiedler als Deutsche zu unterstützen. Wenig Hoffnung machte er den Vertretern der Landsmannschaft bezüglich eines Wiederanstiegs der Aussiedlerzahlen. Ganz im Gegenteil müsse man sich darauf einstellen, dass sich der seit Jahren vollziehende Schwund verstetige. Sehr bedauerlich sei, so der Aussiedlerbeauftragte, die Tendenz, über Deutsche aus Russland in den Medien vorwiegend negativ zu berichten und positive

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Erscheinungen zu ignorieren. So habe eine vom Bundesministerium des Innern in Auftrag gegebene Untersuchung zur Kriminalität von Spätaussiedlern zwar erst vor kurzem ergeben, dass diese keinesfalls kriminalitätsanfälliger seien als der Durchschnitt der Bevölkerung, es sei jedoch zu befürchten, dass dieser Untersuchung kaum Beachtung geschenkt werde.

Ebenso wie Adolf Fetsch verwies auch Dr. Bergner auf Unzulänglichkeiten bei der beruflichen Integration insbesondere höher qualifizierter Deutscher aus Russland. In allzu vielen Fällen würde auf die Nutzung der Fähigkeiten verzichtet, die unsere Landsleute mit nach Deutschland gebracht haben. März 2008

Aufruf zur Bündelung der Kräfte Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender Liebe Landsleute, wir alle können stolz darauf sein, dass der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland als seinen ersten Ansprechpartner bezeichnet hat. Stolz auf die Anerkennung unserer sachlichen, zielorientierten und erfolgreichen Arbeit, die wir seit inzwischen 57 Jahren zum Wohle der Deutschen aus Russland leisten – eine Arbeit, die umso erfolgreicher ist, je geschlossener wir auftreten. Mit Sorge betrachten wir jedoch eine zunehmende Zersplitterung der Kräfte unserer Volksgruppe, die durch die Bildung kleinerer und mittlerer Organisationen zum Ausdruck kommt, die allzu häufig gegeneinander statt miteinander agieren. Wir haben deshalb bei der letzten Bundesvorstands-

sitzung beschlossen, unsere Bemühungen, diese Kräfte zu bündeln und bisher Getrenntes zu vereinen, zu intensivieren. Wir wollen ein Dach schaffen, unter dem alle zusammenfinden können – unter Wahrung ihrer Prinzipien, aber mit gemeinsamen Zielen. Nehmen Sie in dieser Angelegenheit mit uns Kontakt auf. Teilen Sie uns Ihre Meinung mit – konstruktive Kritik ist ebenso willkommen wie Zustimmung, Vorschläge und Angebote zur Mitarbeit sind erwünscht. Ihre Reaktionen werden uns helfen, in den nächsten Monaten detaillierte Modelle zu entwickeln, über die wir in „Volk auf dem Weg“ berichten werden. Als ersten Schritt und als Probe aufs Exempel wollen wir in diesem Jahr in Berlin gemeinsam der Opfer der Vertreibung der Russlanddeutschen gedenken. März 2008

Bundesvorstand beschließt gemeinsame Gedenkfeier in Berlin um ersten Mal nach 2001 wird die Gedenkfeier der Landsmannschaft anlässlich des Vertreibungserlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 in diesem Jahr wieder vor dem Reichstag in Berlin stattfinden. So lautet der Beschluss des Bundesvorstandes der Landsmannschaft, der als Termin den 30. August ansetzte. Ebenfalls beschlossen wurde, die Gedenkfeier gemeinsam mit einer möglichst großen Anzahl von Vereinen und Initiativen der Deutschen aus Russland durchzuführen, um sie zu einer machtvollen Demonstration der Geschlossenheit der Volksgruppe werden zu lassen und eine möglichst große Außenwirkung zu erzielen. Gespräche, die der Erreichung dieses Zieles dienten, wurden von Vertretern des Bundesvorstandes bereits mit der Vereinigung “Heimat” und anderen Verbänden geführt, die ihren Willen zur Zusammenarbeit erkennen ließen.

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Nachdem die Gedenkfeiern der Landsmannschaft in den letzten Jahren in Stuttgart, Wiesbaden, Augsburg und im Grenzdurchgangslager Friedland stattgefunden haben, kehren wir also zurück nach Berlin, wo das Gelände vor dem Reichstag vor sieben Jahren Schauplatz einer bewegenden Kundgebung war, mit der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, und dem damaligen Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Jochen Welt, als prominentesten Teilnehmern und zahlreichen Vertretern der Erlebnisgeneration, die über ihr Schicksal berichteten. Es war eine Gedenkfeier, die ebenso in unserem Gedächtnis geblieben ist wie die Feier anlässlich des 65. Jahrestages der Vertreibung der Russlanddeutschen vor zwei Jahren im Kursaal von Stuttgart-Bad Cannstatt, die durch die Teilnahme von Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble bundesweite Bedeutung erlangte. Unvergessen seine Worte: “Und

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews obwohl sie am weitesten von Deutschland entfernt lebten, waren die Deutschen in der Sowjetunion am längsten - und alles in allem auch am härtesten - von den Folgen des Zweiten Weltkrieges betroffen. Die über viele Jahre erheblich eingeschränkte Bewegungsfreiheit in den Deportationsgebieten, Repressalien im täglichen Leben, in der Ausbildung und im Beruf waren die Ursachen von fortdauerndem Leid und Not.”

Wir werden Sie in unseren nächsten Ausgaben detaillierter über die Gedenkfeier in Berlin informieren, bitten Sie aber jetzt schon, sich diesen Tag in Ihrem Terminkalender vorzumerken. Die in der letzten Ausgabe angekündigte Gedenkfeier in Friedland findet bereits am 23. August statt. Auch darüber Genaueres in unseren nächsten Ausgaben. März 2008

Bundesverband “Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russland” gegründet unge Deutsche aus Russland aus acht Bundesländern versammelten sich am 1. März in der Jugendherberge Heidelberg zur Gründung des Bundesverbandes “Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russland”. Eingeladen wurden sie von den Jugendlichen aus Baden-Württemberg, die bereits im Dezember des Vorjahres ihren Landesverband gründeten und nun mit der Gründungsinitiative auf Bundesebene aufgetreten waren. Trotz Unwetter und Orkanwarnung schafften 26 motivierte junge Teilnehmer den weiten Weg nach Heidelberg und arbeiteten zwei Tage intensiv. Einige von ihnen haben sich bereits in den Ortsgruppen der Landsmannschaft mit Jugendarbeit beschäftigt, und viele waren in ihrem Herkunftsland im Jugendring der Russlanddeutschen aktiv. Nun hieß es, einen Jugendverband zu gründen, der sich als Jugendorganisation der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. bundesweit etablieren soll. Die Idee wurde von den Teilnehmern einstimmig begrüßt und in der anschließenden Gesprächsrunde vielfach begründet. Unter anderem führten sie aus, dass viele Jugendliche bei der Landsmannschaft mitwirken wollten, sich damit aber manchmal schwer tun würden, weil dort meistens Erwachsene tätig seien. “Wir brauchen eine Jugendorganisation, um mit den Jugendlichen gemeinsam etwas Positives anzufangen”, so Walentina Stolarow. Ausführlich wurden die Aufgaben und Ziele des “Jugend- und Studentenrings der Deutschen aus Russland” diskutiert. Mehrere Teilnehmer berichteten über ihre Erfahrungen und sprachen sich für die Gründung des Vereins aus. Es wurde unter anderem betont, dass der Jugendverband als Jugendorganisation der Landsmannschaft die Vorteile der Mitgliedschaft bei der djo-Deutsche Jugend in Europa als Dachverband nutzen sollte. “Wir sehen uns als Brücke und Vermittler für russlanddeutsche Jugendliche. Unsere Aufgabe ist, den

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zugewanderten jungen Leuten bei ihrer Integration zu helfen”, sagte Waldemar Weiz. Durch die Öffentlichkeitsarbeit soll ein positives Bild der russlanddeutschen Jugendlichen vermittelt werden. Zahlreiche positive Erfahrungen vor Ort liegen bereits vor. So bemüht sich zum Beispiel eine Theatergruppe von Studenten und Kindern in Regensburg (Leitung Vitalij Schmidt), mit ihren Veranstaltungen in deutscher und russischer Sprache den Kulturdialog zwischen zwei Kulturen zu fördern. “Unsere Tätigkeit sorgt für ein positives Image der Deutschen aus Russland in der Stadt. Unterstützung bekommen wir nur von der Universität Regensburg. Wir wollen uns auch in anderen Orten bekannt machen und Vorurteile abbauen”, äußerte sich Viktoria Sabrodina. Auch die Tanzgruppe aus Lutherstadt Wittenberg, die innerhalb der Ortsgruppe Wittenberg der Landsmannschaft und im Rahmen des dortigen landsmannschaftlichen Projektes entstanden ist, tritt bei gemeinsamen Veranstaltungen für Aussiedler und Einheimische auf. “Wir würden unsere Tätigkeit gerne erweitern, dafür brauchen wir einen Jugendverband”, betonte Gulnara Shiller. Die jungen Deutschen aus Russland haben viele Stärken und Erfahrungen in der Jugendarbeit mitgebracht. “Diese Erfahrungen sollten wir beim Aufbau des neuen Verbandes nutzen. Durch die Unterstützung seitens der Landsmannschaft und der djo können wir mehr erreichen”, hob Elena Bechtold hervor. In diesem Zusammenhang standen insbesondere Themen wie “Stärken aufbauen”, “Mentalität nutzen, um die Zielgruppe zu erreichen”, “Die Partizipation der Zielgruppe fördern”, “Kräfte bündeln”, “Aktive Netzwerkarbeit entwickeln” und “Auf politischer Ebene präsent sein” im Mittelpunkt des anregenden Gesprächs. Anschließend wurde die Satzung umfassend beraten und einstimmig verabschiedet. Zur Vorsitzenden des Bundesverbandes wurde Elena Bechtold gewählt. Ihre Stellvertreter sind Julia Scheidt und Waldemar

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Weiz. Weitere Mitglieder: Viktor Schulz (Schatzmeister) und Gulnara Shiller (Beisitzerin). Darüber hinaus legten die Teilnehmer in vier Arbeitsgruppen zentrale Themen und Projektideen fest: - AG Öffentlichkeitsarbeit (Eleonora Faust, Julia Scheidt, Irma Kaufmann, Alexander Böttcher, Alexander Fink); - AG Kultur (Swetlana Tshywunskaja, Sergej Trusov, Walentina Stolarow, Gulnara Shiller, Viktoria Gaun, Viktoria Sabrodina, Veronika Wald); - AG Sport (Waldemar Weiz, Anna Weiz, Paul Eschov, Alex Spiridow, Konstantin Demin); - AG Bildung (Elena Bechtold, Viktor Schulz, Va-

lerij Denisenko, Anna Peschko, Ludmila Kopp). In der nächsten Zeit soll der Vorstand aufgrund der erarbeiteten Vorschläge einen Maßnahmenkatalog unter Einbindung der aktiven Ort- und Kreisgruppen und Jugendlichen aufstellen und über die Möglichkeiten der Umsetzung beraten. Generell wurde vorgeschlagen, dass sich die Ortsgruppen des Bundesverbandes an den laufenden oder geplanten Projekten der Landsmannschaft beteiligen und mit den jeweiligen Ortsgruppen der Landsmannschaft zusammenarbeiten. März 2008

BdV-Bundesversammlung übernimmt Positionen der Landsmannschaft ie Bundesversammlung des Bundes der Vertriebenen am 12. April in Berlin nahm in ihre Beschlussfassung ohne jegliche inhaltliche Änderung vier Anträge auf, die der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, den Delegierten vorgelegt hatte.

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Welchen Stellenwert der Bund der Vertriebenen den Deutschen aus Russland und der Politik ihrer Landsmannschaft beimisst, zeigt die Tatsache, dass keine andere Volksgruppe in der abschließenden Verlautbarung der Bundesversammlung in ähnlicher Ausführlichkeit behandelt wurde. Die Beschlüsse der Bundesversammlung zu den Deutschen aus Russland: 1. Alle Bundesregierungen haben bisher das kollektive Kriegsfolgeschicksal der Deutschen aus Russland anerkannt, das die Fortsetzung ihrer Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland ermöglicht. Die Ausreisezahlen sinken seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 gegen Null. Hauptgrund für den rapiden Rückgang ist die Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Aufnahmeverfahren, die vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ursachen des Sprachverlusts nicht zu rechtfertigen ist. Wir sprechen uns daher für die erneute Überprüfung des Kriteriums “deutsche Sprachkenntnisse” im Spätaussiedleraufnahmeverfahren aus. 2. Es gab manche Verbesserungen hinsichtlich des Nachzugs der Familienangehörigen von Spätaussiedlern. Unnötige Härtefälle, die insbesondere durch

Verzögerungen beim Nachzug von erwachsenen Familienmitgliedern entstehen, müssen jedoch vermieden werden. Wir erwarten daher eine raschere und weniger bürokratische Abwicklung dieser Fälle, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Deutsche aus Russland unter massiven Benachteiligungen aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit zu leiden hatten. 3. Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion stellen inzwischen rund 3,5 Prozent der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung. Sie sind weder im Deutschen Bundestag noch in einem Landtag vertreten und auch auf Stadt- und Bezirksebene nur selten politisch präsent. Wir appellieren daher an die maßgeblichen Parteien, Deutsche aus Russland verstärkt auf ihren Kandidatenlisten zu berücksichtigen. 4. Zu betonen ist die hohe Arbeitswilligkeit Deutscher aus Russland. Viele sind gezwungen, Arbeitsstellen anzunehmen, die weit unter ihrem mitgebrachten Qualifikationsniveau liegen. Nicht zu übersehen ist vor allem die Benachteiligung russlanddeutscher Akademiker bei ihrer beruflichen Integration in der Bundesrepublik. Wir unterstützen deshalb nachdrücklich - die Intensivierung der Beratungsarbeit und der Sprachförderung sowie den verstärkten Einsatz des Akademikerprogramms der Otto-BeneckeStiftung; - ein transparentes Anerkennungsverfahren für Bildungs- und Berufsabschlüsse und den Ausbau der Möglichkeiten, fehlende Qualifikationsbestandteile nachzuholen. VadW

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Erklärung der Landsmannschaft zu aktuellen Missständen bei der Aufnahme und Eingliederung von Deutschen aus Russland rotz jahrelangen Wirkens der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und eindeutiger Faktenlage ist es bis zum heutigen Tage bei einer ganzen Reihe von Missständen im Bereich der Aufnahme und Eingliederung von Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion geblieben. Benachteiligungen und Diskriminierungen müssen endlich beseitigt werden, damit die Angehörigen einer über Jahrzehnte in der ehemaligen Sowjetunion verfolgten Volksgruppe wenigstens in ihrer historischen Heimat Gerechtigkeit finden. Änderungen im Verhalten der politisch Verantwortlichen, der gesellschaftlich relevanten Gruppen, der Medien und der Öffentlichkeit verlangen wir daher vor allem hinsichtlich der folgenden Punkte:

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I. Degradierung in Ausbildung und Beruf Wir fordern den Bund zur Beseitigung von Missständen im Ausbildungsbereich ebenso auf wie die Bundesländer, in deren Verantwortung die Schul- und Hochschulpolitik liegt. Und wir verlangen von den Standesorganisationen, dass sie endlich ihre Blockadehaltung gegen die berufliche Anerkennung von im Ausland erworbenen Studien- und Examensleistungen der Deutschen aus Russland beenden. Aufgrund der fehlenden Anerkennung ihrer Qualifikationen sehen sich insbesondere Deutsche aus Russland mit akademischer Ausbildung Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt und sind gezwungen, Arbeitsstellen anzunehmen, die weit unterhalb ihres Ausbildungsniveaus liegen. Es klingt beinahe wie Hohn, wenn den Deutschen aus Russland von allen Seiten eine weit überdurchschnittliche Arbeitswilligkeit bei gleichzeitig hoher Qualifikation und günstiger Altersstruktur attestiert wird – um sie dann als Ärzte im Pflegedienst, als Lehrerinnen auf Putzstellen und als Ingenieure in Zeitarbeitsfirmen arbeiten zu lassen! Damit wir in gemeinsamer Anstrengung dem Ziel einer gerechten Behandlung unserer Landsleute näher kommen, mahnen wir nicht zuletzt die folgenden Punkte an, die sich zum Teil mit den im Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aufgeführ-

ten Vorschlägen zum nationalen Integrationsplan decken, deren Verwirklichung jedoch auf sich warten lässt: - Wollen wir verhindern, dass größere Teile der nachwachsenden Generation unserer Landsleute nicht bereits von vornherein ins zweite oder dritte Glied abgeschoben werden, muss das Angebot von Förderunterricht Pflicht sein, selbst wenn es sich nur um Gruppen von zwei oder drei Schülern handelt. Zur Unterstützung können jederzeit Lehrer aus den eigenen Reihen herangezogen werden. - Jugendlichen, die nicht mehr schulpflichtig sind, müssen Formen der Sprachintegration zur Verfügung gestellt werden, die effektiver sind als der allgemeine Sprachkurs. - Auszubauen sind die Angebote der Sprachförderung und Studienberatung an Hochschulen. - Ebenfalls zu intensivieren sind die Beratungsarbeit und die Sprachförderung der Otto-Benecke-Stiftung für Aussiedler, Kontingentflüchtlinge und Asylberechtigte mit Studienberechtigung oder akademischer Ausbildung. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass insbesondere die Fachsprachkurse der Otto-Benecke-Stiftung allein nicht ausreichen. - Zu verbessern sind die Transparenz bei den Anerkennungsverfahren für Bildungs- und Berufsabschlüsse sowie die Möglichkeiten zum Nachholen fehlender Qualifikationsbestandteile. - Die Arbeitsämter müssen gezielter auf Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion zugehen, sich an ihren Fähigkeiten und Kompetenzen orientieren und ihnen realistische Möglichkeiten aufzeigen, sich hier in ihrem früheren Beruf zu behaupten. Für die Versäumnisse im Ausbildungs- und Berufsbereich haben wir ebenso wenig Verständnis wie für die Tendenz, freie Stellen im Hochqualifikationsbereich unter Vernachlässigung der Kompetenzen der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion mit teuren Fachleuten aus dem Ausland zu besetzen. II. “Fremdrenten” unter dem Existenzminimum Wir fordern eine rasche politische Entscheidung, durch die bedrohliche Fehlentwicklungen im Fremdrentenbereich gestoppt und Deutsche aus Russland vor nicht zu verantwortender Altersarmut bewahrt werden.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Es ist nicht zu vertreten, dass Deutsche aus Russland selbst bei Lebensarbeitszeiten von 45 Jahren aufgrund sämtlicher Kürzungen im Fremdrentenbereich im Alter unter das Existenzminimum fallen. Und das, obwohl ihre Kinder und Enkel weitaus mehr in den deutschen Rentenkassen einbezahlen, als ihnen selbst aus diesen Kassen zufließt. Es lässt sich keine stichhaltige Erklärung finden, weshalb ausgerechnet für die Volksgruppe der Deutschen aus Russland der Generationenvertrag außer Kraft gesetzt wird. Wir verlangen von den politisch und juristisch Verantwortlichen Erklärungen für die folgenden Diskriminierungen unserer Rentner: - Um rentenrelevante Zeiten voll angerechnet zu erhalten, müssen Deutsche aus Russland Fehlzeiten wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit durch Archivbescheinigungen nachweisen. Die Anforderungen an diese Bescheinigungen sind mittlerweile jedoch derart hoch, dass sie von den meisten Betroffenen nicht erfüllt werden können. Teilweise werden – trotz des Wissens um die Verhältnisse in den Herkunftsländern! - bereits Originale verlangt. - Die Kürzung der Entgeltpunkte um 30 bzw. 40 Prozent bedeutet für die Betroffenen, dass sie zusätzlich Grundsicherung beantragen müssen. - Hinzu kommt, dass bei Alleinstehenden nur mehr 25 Entgeltpunkte und bei Ehepaaren insgesamt nur mehr 40 Entgeltpunkte angerechnet werden, was alles in allem dazu führt, dass unsere Rentner Kürzungen in einem Umfang von skandalösen 55 Prozent hinnehmen müssen! III. Drastischer Rückgang der Spätaussiedlerzahlen Wir fordern von der Bundesregierung eine realitätsgerechte Erklärung des drastischen Rückgangs der Spätaussiedlerzahlen und rufen die politisch Verantwortlichen zum wiederholten Male dazu auf, den Missbrauch deutscher Sprachkenntnisse als zentrales Anerkennungskriterium zu beenden und gleichzeitig das Angebot von Deutschkursen als Integrationsinstrument erheblich auszubauen. Wir können nicht akzeptieren, dass es nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 zur praktischen Beendigung des Spätaussiedlerzuzugs gekommen ist. Der dramatische Rückgang auf unter 6.000 Spätaussiedler 2007 und vermutlich unter 3.000 in diesem Jahr ist keinesfalls durch die Verbesserung der Bleibehilfen der Bundesregierung für die Deutschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu erklären. Die beinahe einzige Ursache für diesen Rückgang ist vielmehr in der Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren zu

erblicken. Nach wie vor nimmt die Bundesregierung die tatsächlichen Ursachen des Sprachverlustes der Volksgruppe nicht zur Kenntnis, der ein wesentlicher Teil des Kriegsfolgenschicksals ist, das den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion von allen maßgeblichen Parteien des Deutschen Bundestages zuerkannt wird. Eine Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Aufnahmeverfahren übersieht die Tatsache, dass die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion seit den Vertreibungsmaßnahmen meist verstreut und in einer ihnen feindlich gesinnten Umwelt leben, abgeschnitten vom deutschen Kulturraum, der Möglichkeit beraubt, gemeinsam als Volksgruppe ihr kulturelles Erbe zu pflegen, ihre Kinder in deutschsprachigen Schulen zu erziehen und ihren Glauben in der Muttersprache zu bekennen. IV. Behinderungen des Zuzugs von Familienangehörigen Auch wenn Verbesserungen im Bereich des Nachzuges der Familienangehörigen von Spätaussiedlern nicht zu übersehen sind, kommt es dabei nach wie vor zu unnötigen Härtefällen. Wir erwarten daher eine raschere und weniger bürokratische Abwicklung dieser Fälle, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion unter massiven Benachteiligungen aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit zu leiden hatten und in deren Nachfolgestaaten faktisch nach wie vor nicht gleichberechtigt sind. V. Fehlende Beachtung der Volksgruppe Wir appellieren an die politisch Verantwortlichen in diesem Land, den Deutschen aus Russland endlich die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihrem Bevölkerungsanteil von rund 3,5 Prozent und ihrer Bedeutung gerecht wird. Wir halten es für sehr bedauerlich, dass von der überwiegenden Mehrheit der Vertreter der Parteien des Deutschen Bundestages das Thema Deutsche aus Russland höchstens am Rande beachtet wird. Dabei leben inzwischen rund 2,8 Millionen unserer Landsleute in der Bundesrepublik Deutschland und sollten damit auch rein quantitativ einen nicht mehr zu vernachlässigenden Bevölkerungsfaktor darstellen. Als Beispiel für diese mangelhafte Beachtung sei der Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin im vergange-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews nen Jahr genannt, zu dem die Landsmannschaft der - Mit ihrem ausgeprägten Leistungswillen stellen Deutsche aus Russland vor allem auch auf kultuDeutschen aus Russland zwar dankenswerterweise rellem und sportlichen Gebiet eine Bereicherung eingeladen worden war, im Laufe der Konferenz für das Land dar. aber feststellen musste, dass auf den Bereich Deutsche aus Russland mit keinem Wort eingegangen - Die Kriminalität der Deutschen aus den Staaten der GUS liegt nach wie vor unter dem Bundeswurde. durchschnitt. Diese und andere Gründe sollten es zu einer SelbstVI. Mangelnde Solidarität verständlichkeit machen, tendenziösen Berichten in sinkende Akzeptanz den Medien und negativen Einstellungen in der BeWir fordern die politisch Verantwortlichen, sämt- völkerung das wirklichkeitsgetreue Bild unserer liche gesellschaftlichen Gruppierungen und die Landsleute entgegen zu halten. einheimische Bevölkerung auf, sich gegen eine allVII. Ausschluss zu oft einseitige und von Vorurteilen geprägte Bevon politischen richterstattung über Deutsche aus Russland in Entscheidungsprozessen den Medien zur Wehr zu setzen. Es darf nicht geduldet werden, dass aus beklagenswerten Einzelfällen krimineller Auffälligkeit Vorwürfe an die Gesamtheit der Spätaussiedler konstruiert werden, positive Erscheinungen – die bei weitem überwiegen! – dagegen kaum zur Kenntnis genommen. Derartige Berichte, die bereits zur besten Sendezeit im Fernsehen zu sehen waren, haben dazu beigetragen, dass sich das Bild der Deutschen aus Russland in der deutschen Öffentlichkeit in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert hat. Sämtliche Integrationsbemühungen unserer Landsleute werden aber nur bedingt erfolgreich sein können, solange sie auf Schritt und Tritt mit diesem Negativbild konfrontiert werden. Dabei belegen offizielle Statistiken und Untersuchungen eindeutig: - Die Integration der Deutschen aus Russland ist spätestens in der zweiten und dritten Aussiedlergeneration als Erfolgsgeschichte zu betrachten. - Deutsche aus Russland entlasten aufgrund ihrer günstigen Altersstruktur und ihres Kinderreichtums die Renten- und Sozialkassen der Bundesrepublik. - Trotz der weiter oben angeführten Bedingungen kann keine Rede davon sein, dass Deutsche aus Russland in überdurchschnittlichem Ausmaß von Arbeitslosigkeit betroffen sind.

Wir appellieren mit allem Nachdruck an die etablierten Parteien, Deutsche aus Russland in angemessenem Umfang und auf aussichtsreichen Plätzen auf ihren Kandidatenlisten zu berücksichtigen. Wir übersehen nicht, dass es in den letzten Jahren verstärkt zur Bildung von Aussiedlerausschüssen und ähnlichen Gremien gekommen ist, in denen auch die Meinung der Deutschen aus Russland zählt. Gleichzeitig müssen wir jedoch feststellen, dass nach wie vor kein einziger von ihnen im Deutschen Bundestag oder einem der Landtage vertreten ist, und selbst auf Stadt- und Bezirksebene findet man Deutsche aus Russland nur höchst selten. Wir haben den Eindruck, dass sich unsere Landsleute auf den Kandidatenlisten ganz weit hinten anstellen müssen und in den verkrusteten Strukturen der etablierten Parteien mit all den “älteren Rechten” und Erbhöfen noch auf Jahre hinaus ohne Chancen bleiben werden. Über eine Hinwendung zu Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums, die aus der Frustration heraus geschieht, sollte sich daher keiner wundern! Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Juni 2008)

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Erfolg in Rentensachen

Sozialgerichte verbieten Rentenbehörden Fiktivabzug m Rahmen der Anwendung von Vorschriften des Europäischen Sozialrechts nach dem Beitritt einiger Länder des ehemaligen Ostblocks zur Europäischen Union haben Rentenbehörden in Deutschland einen gesetzlich nicht vorgesehenen Abzug einer fiktiven Rente aus diesen Staaten von der Deutschen Rente geplant. Erste Kürzungsbescheide wurden bereits erlassen. Nun haben Sozialgerichte diese unzulässige Praxis der Rentenbehörden verboten und die Rechtsauffassung der Landsmannschaften der Deutschen aus Russland, der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen bestätigt. Nur wenn tatsächlich eine Rente im Herkunftsland ausgezahlt wird, darf die deutsche Rentenbehörde einen Abzug von der deutschen Rente durchführen.

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Nach der für Bürger der Europäischen Union geltenden Verordnung (EWG) 1408/71 gilt im Falle der Antragstellung auf Altersrenten in Deutschland dieser Antrag gleichzeitig auch als Antrag auf Rente aus dem Herkunftsgebiet, sofern dieses Herkunftsgebiet (zwischenzeitlich) Mitglied der EU ist. Gleichzeitig gibt es aber die Möglichkeit, den im Europäischen Sozialrecht vorgesehenen gleichzeitigen Beginn der Renten in allen anderen EU-Ländern, also auch in Rumänien oder den baltischen Staaten, durch eine schriftliche Erklärung gegenüber den Rentenbehörden aufzuschieben. Die meisten Landsleute haben zu Recht von dieser Möglichkeit durch Abgabe der Aufschuberklärung gegenüber der Deutschen Rentenbehörde Gebrauch gemacht, um einen Rentenbezug aus dem Herkunftsgebiet in Fremdwährung mit gleichzeitiger Kürzung ihrer deutschen Rente zu verhindern. Dies war für die Rentenbehörden Anlass, einen gesetzlich nicht zugelassenen fiktiven Abzug von der deutschen Rente vorzunehmen. Diese rechtswidrige Praxis haben viele Betroffenen mit dem Widerspruch und dann mit der Klage vor dem Sozialgericht angegriffen. Nun sind die ersten Gerichtsverfahren entschieden; den Rentenbehörden wurde diese rechtswidrige Praxis verboten. In einer am 6. Mai 2008 zugestellten Entscheidung hatte zuerst das Sozialgericht Landshut entschieden, dass “... die Altersrente der Klägerin ohne Abzug im Sinne von § 31 Fremdrentengesetz zu zahlen ist, solange die Klägerin eine Rente vom rumänischen Versicherungsträger nicht bezieht”. Die

Rentenbehörde wurde auch verpflichtet, die Kosten des Verfahrens zu erstatten (SG Landshut, S 5 R 1053/07 vom 10. Dezember 2007). Das Gericht begründete diese zutreffende Entscheidung damit, dass eine Anwendung des § 31 FRG auf den uns betreffenden Sachverhalt nicht erfolgen dürfe. “Die Kammer folgert Letzteres aus dem unzweideutigen Wortlaut der gesetzlichen Regelung, in welcher ausdrücklich die Voraussetzung aufgestellt wird, dass durch den ausländischen Versicherungsträger eine Rente oder andere Leistung ‘gewährt’ und ‘ausgezahlt’ wird. Angesichts des Wortlautes, der in keiner Weise auslegungsbedürftig ist, sondern vielmehr eine zweifelsfreie Regelung trifft, haben die der Auffassung der Beklagten (Rentenbehörden) zugrunde liegenden Bedenken rechtspolitischer Art letztendlich zurückzustehen. Stützen lässt sich die Ansicht der Beklagten schließlich auch nicht auf die Vorschriften des § 46 Abs. 2 Sozialgesetzbuch I, wonach ein Verzicht auf eine Sozialleistung unwirksam ist, soweit andere Personen oder Leistungsträger durch ihn belastet werden. Im Sinne des § 46 SGB I liegt ein Verzicht alleine dann vor, wenn dieser eine bereits bewilligte Sozialleistung betrifft....”, so die wörtliche Urteilsbegründung. Diese Auffassung wurde am 7. Mai 2008 vom Sozialgericht Koblenz bestätigt, welches ausführt: “Es wird festgestellt, dass die Beklagte nicht berechtigt ist, auf die Altersrente der Klägerin aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 31 Abs. 1 FRG eine in Euro umgerechnete fiktive Rente der Klägerin aus der rumänischen Rentenversicherung anzurechnen und die deutsche Rente in Höhe der fiktiven (rumänischen) Rente nicht auszuzahlen.” (Urteil vom 7. Mai 2008, AZ. S 1 R 1232/07.) Auch viele andere Sozialgerichte haben sich dieser Meinung angeschlossen. *** Damit ist die Position der Verbände der Betroffenen bestätigt. Bei einer gemeinsamen Besprechung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen in Deutschland hatten die Vertreter dieser Verbände die gemeinsame Position abgesprochen. Hiernach sollten die rechtswidrigen Bescheide durch Widersprüche und Klagen angegriffen werden. Nun haben die Gerichte diese Position und damit die Unzulässigkeit

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews der Praxis der Rentenbehörde in mehreren Entscheidungen bestätigt und damit die Rechte der Betroffenen anerkannt. Es ist trotzdem zu erwarten, dass die Rentenbehörden ihre unzulässige Praxis vorerst weiter fortsetzen werden, weil in allen Fällen, in welchen Betroffene sich nicht dagegen wehren, eine Kürzung bestandskräftig wird. Wir empfehlen daher allen Betroffenen, gegen die Kürzungsbescheide vorzugehen und fristgerecht Widersprüche und dann Klagen vor den Sozialgerichten einzulegen. Die Kosten dafür tragen bei Erfolg in der Sache die Rentenbehörden.

Zur Vermeidung unnötiger Verfahren weisen wir aber darauf hin, dass diese Wahlmöglichkeit (Rente im Herkunftsgebiet mit gleichzeitigem Rentenabzug in Deutschland oder nur Rente in Deutschland unter Berücksichtigung der Jahre im Herkunftsgebiet) nur bei Altersrenten besteht. Bezieher einer Rente wegen Erwerbsminderung oder einer Hinterbliebenenrente müssen die Rentenfeststellung im Herkunftsland durchführen lassen und alle Formulare ausfüllen, weil es bei diesen Renten keine Wahlmöglichkeit gibt. Hilfestellung erteilen Rechtsanwälte mit besonderer Erfahrung im Fremdrentenrecht. Rechtsanwalt Dr. Bernd Fabritius, München

Sie sind nicht vergessen! Gedenkfeiern der Deutschen aus Russland für die Opfer der Verfolgung und Vertreibung in der ehemaligen Sowjetunion it Gedenkfeiern am 23. August 2008 (14 bis 17 Uhr) auf dem Gelände des Grenzdurchgangslagers Friedland (Niedersächsisches Zentrum für Integration) und am 30. August 2008 (13 bis 16 Uhr) vor dem Berliner Reichstag erinnern die Deutschen aus Russland an die Verfolgung und Vertreibung der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion, für die der 28. August 1941 als markantestes und zugleich schicksalsschwerstes Datum steht.

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Die Festreden bei der Gedenkfeier in Friedland halten der Minister für Inneres und Sport des Landes Niedersachsen, Uwe Schünemann, und der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, der auch die Festansprache vor dem Berliner Reichtstag übernommen hat. Am 28. August 1941 wurde, zwei Monate nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941, der Erlass “Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen” des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion herausgegeben, der die deutschen Bewohner des Wolgagebietes in willkürlicher Weise beschuldigte, Aktionen gegen die Sowjetunion zu planen und “Feinde des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht” zu verstecken. Die in dem Erlass erhobenen Vorwürfe wurden zum Anlass genommen, sämtliche Deutschen des Wolgagebietes nach Sibirien und Kasachstan zu deportieren. In dem Erlass vom 28. August 1941 waren nur die Deutschen an der Wolga genannt, von der Vertrei-

bung und den sowjetischen Gulags (im sowjetischen Sprachgebrauch als “Arbeitsarmee” verbrämt) wurde jedoch kaum ein Deutscher in der Sowjetunion verschont, ganz gleich ob er am Schwarzen Meer, am Dnjepr, im Kaukasus, auf der Krim, in Wolhynien oder anderen Gebieten wohnte. Spätestens mit der Vertreibung des Jahres 1941 wurden die Deutschen in der Sowjetunion für rechtlos erklärt. Sie erlagen als völlig Unschuldige zu Hunderttausenden den unmenschlichen Bedingungen der Lagerhaft und der Zwangsarbeit, sie verhungerten und erfroren. Sie mussten hilflos mit ansehen, wie ihre Verwandten, Freunde und Arbeitskollegen starben, und es wurden ihnen Wunden geschlagen, die bis zum heutigen Tage nicht verheilt sind. Die Deutschen aus Russland haben das Leid, die Toten und Gequälten nicht vergessen. Sie fordern keine Vergeltung für erlittenes Unrecht von historischem Ausmaß, erklären aber in aller Deutlichkeit: - Wir haben kein Verständnis dafür, dass es selbst 63 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges in keinem der Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu einer faktischen Rehabilitation der Deutschen aus Russland gekommen ist und diese damit nach wie vor mit den Vorwürfen des Erlasses vom 28. August 1941 leben müssen. - Wir haben ebenfalls kein Verständnis dafür, dass es nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 zu einem dramatischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen gekommen ist, der mit der Anerkennung des kollektiven Kriegsfolgenschicksals der Deutschen aus Russland durch die politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik nicht in Einklang zu bringen ist. Und schließlich klagen wir an, dass sich gerade in

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews den letzten Jahren bedenkliche Fehlentwicklungen bei der Aufnahme- und Eingliederungspolitik der Bundesrepublik Deutschland abzeichnen: - Vor allem Deutsche aus Russland mit akademischer Ausbildung sehen sich aufgrund von Diskriminierungen im Ausbildungs- und Arbeitsbereich gezwungen, Arbeiten weit unterhalb ihrer Qualifikation anzunehmen. - Deutsche aus Russland, die unter die Fremdrentengesetzgebung fallen, müssen Rentenkürzungen von bis zu 55 Prozent hinnehmen und sind daher von Altersarmut bedroht. - Trotz Verbesserungen beim Nachzug der Familienangehörigen von Spätaussiedlern führen bürokratische Hindernisse immer wieder zu tragischen Fällen von Familientrennung. - Die Beachtung, die den Deutschen aus Russland seitens der Parteien des Deutschen Bundestages geschenkt wird, entspricht in keiner Weise ihrem Bevölkerungsanteil von 3,5 Prozent. - Insbesondere zeigt sich das daran, dass gegenwärtig kein einziger Deutscher aus Russland im Deutschen Bundestag oder einem der Landtage vertreten ist.

Anlässlich der Gedenkfeiern in Friedland und vor dem Berliner Reichstag appellieren wir daher - an die bundesdeutsche Bevölkerung, die Deutschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die erst jetzt als letzte Opfer des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland kommen dürfen, im Land ihrer Vorfahren willkommen zu heißen und ihnen hier eine wirkliche Heimat zu geben, - und an die Organisationen der Deutschen aus Russland und alle, die unseren Landsleuten nahe stehen, sich mit uns in solidarischer Gemeinsamkeit zusammenzuschließen – über alle Unterschiede hinweg, die an diesem Tag keine Bedeutung haben sollten! Gemeinsam setzen wir uns für die Errichtung eines Mahnmales ein, das an zentraler Stelle in Berlin an die Verfolgung und Vertreibung der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion erinnert! (Juli 2008)

Ein weiterer Erfolg in Sachen Rente:

Landessozialgericht bestätigt Verbandsposition um rechtswidrigen Fiktivabzug Umsetzung der Übergangsvorschriften zur 40%-Kürzung abgeschlossen entenbehörden in Deutschland haben im Rahmen der Anwendung von Vorschriften des Europäischen Sozialrechts nach dem Beitritt der baltischen Staaten zur Europäischen Union einen gesetzlich nicht vorgesehenen Abzug einer fiktiven Rente aus diesen Ländern von der deutschen Rente geplant. Sozialgerichte hatten diese unzulässige Praxis der Rentenbehörden übereinstimmend verboten. Durch eine Entscheidung vom 2. Juli 2008 (AZ. L 14 B 469/08 R ER) hat des Bayerische Landessozialgericht die Position der Landsmannschaften der Deutschen aus Russland, der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen bestätigt.

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Wie mehrfach berichtet, besteht im Falle der Antragstellung auf Altersrenten in der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit, den im Europäischen Sozialrecht vorgesehenen gleichzeitigen Beginn der Renten in allen anderen EU-Ländern, also auch in den baltischen Staaten, aufzuschieben. Die meisten Landsleute haben zu Recht von dieser

Möglichkeit durch Abgabe der Aufschuberklärung gegenüber der Deutschen Rentenbehörde Gebrauch gemacht, um einen Rentenbezug im Herkunftsland mit gleichzeitiger Kürzung ihrer deutschen Rente zu verhindern. Dies war für die Rentenbehörde Anlass, einen gesetzlich nicht zugelassenen fiktiven Abzug von der deutschen Rente vorzunehmen. Sozialgerichte haben dann diese rechtswidrige Praxis verboten. Die Rentenbehörde hatte dagegen Rechtsmittel eingelegt. Darüber hat das Bayerische Landessozialgericht nun positiv entschieden. In der Begründung führt das Landessozialgericht aus: “Für die von der Antragsgegnerin vorgenommene Herabsetzung des monatlichen Zahlbetrages der laufenden Altersrente der Antragstellerin um den Betrag einer fiktiven, tatsächlich nicht geleisteten Rente aus der (rumänischen) Rentenversicherung ist keine Rechtsgrundlage ersichtlich.” Die Behörde wurde verpflichtet, die Rente sofort ungekürzt zu zahlen. Dies begründete das Gericht wie folgt: “Die Antragstellerin hat angesichts der gerin-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews gen Höhe der monatlich ausgezahlten Rente (870,99 Euro) auch ein berechtigtes Interesse daran, ihre mit Bescheid vom (...) festgestellte Rente ungekürzt zu beziehen, um ihren laufenden Lebensunterhalt zu bestreiten. Dieses Erfüllungsinteresse ist in die Interessensabwägung unabhängig davon einzubeziehen, ob durch die Rentenkürzung eine besondere Härte, insbesondere im Sinne der Sozialhilfebedürftigkeit droht.” Wie das Gericht weiter ausführte, dürfen Betroffene auch nicht darauf verwiesen werden, die Kürzung gerade durch den Bezug der ausländischen Rente auszugleichen. Das würde dazu führen, dass ein nicht mehr rückgängig zu machender Rechtsverlust eintreten würde. Betroffenen wird daher weiterhin empfohlen, den ungerechten Fiktivabzug anzufechten.

ber.1996 bis zum 30. Juni 2000 begonnen hat, selbst oder durch Bevollmächtigte die Kürzung angegriffen, aber bis heute noch keinen Bescheid über die einmalige Nachzahlung bekommen hat, dann sollte er bei der Rentenbehörde oder seinem Bevollmächtigten daran erinnern, dass der Bescheid mit der Nachzahlung noch fehlt. In einigen Fällen haben Rentenbehörden das Schreiben mit dem Widerspruch oder dem Prüfungsantrag aus technischen Gründen nicht gespeichert. In diesen Fällen sind diese Stellen darauf angewiesen, an den Erlass des Bescheides erinnert zu werden. Dafür reicht ein einfacher Brief etwa mit dem Wortlaut: “Ich habe die Kürzung um 40% angefochten, bis heute aber keinen Bescheid bekommen. Ich bitte um Erlass des Bescheides mit der Nachzahlung.”

Hilfestellung erteilen bei Bedarf Rechtsanwälte mit Zur Frage der Kürzung der Rentenanwartschaften besonderer Erfahrung im Fremdrentenrecht. um 40 % sind die laufenden Verfahren zur EinbeRechtsanwalt Dr. Bernd Fabritius, München ziehung in die Übergangsvorschriften bei den Rententrägern weitgehend abgeschlossen. Wenn (Juli 2008) jemand, dessen Rente im Zeitraum vom 1. Okto-

Wir brauchen keine Geschichtsfälscher! Fehlerhafte Darstellung der Geschichte der Volksgruppe in nordrhein-westfälischem Schulbuch ür Aufregung und Empörung sorgte in den letzten Monaten die fehlerhafte Darstellung der Geschichte unserer Volksgruppe in einem Schulbuch (Geschichte und Gegenwart. Bd. 2. Herausgegeben von Hans-Jürgen Lendzian und Christoph Andreas Marx. Schöningh Verlag. ISBN 10: 3-14-024902-0), das in Nordrhein-Westfalen im Unterricht verwendet wird. Der berufene Kulturreferent der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und stellvertretende Direktor der Abteilung Göttingen des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa (Nordost-Institut), der Historiker Dr. Alfred Eisfeld, unterzog das Buch einer kritischen Prüfung und kam zu vernichtenden Ergebnissen:

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Die Aufnahme des Themas “Die Russlanddeutschen” in ein Schulbuch für den Unterricht im Fach Geschichte hat lange auf sich warten lassen. Die Landsmannschaft hat es deshalb begrüßt, dass die Bundeszentrale für politische Bildung 1989 ein Heft zum Thema “Aussiedler” in hoher Auflage für den Unterricht in den Schulen zur Verfügung stellte. Mit jenem Heft 222 und den nachfolgenden Heften von

Landeszentralen für politische Bildung zum selben Thema wurden Defizite der verfügbaren Schulbücher behelfsmäßig geschlossen. Auf eigene Initiative hat die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland inzwischen Hefte herausgegeben, in denen über die Aussiedler in Hessen und in Bayern berichtet wird. Ein Heft über Aussiedler in Niedersachsen ist in Vorbereitung. Mit dem oben genannten Schulbuch wurde das Thema “Russlanddeutsche” in den regulären Geschichtsunterricht aufgenommen. Ein längst überfälliger Schritt. Bedauerlicherweise haben sich nicht nur völlig unnötige Fehler in der Darstellung der Geschichte in den Text eingeschlichen. (Zum Beispiel: Auf Seite 368 wird das Dorf Halbstadt als Stadt bezeichnet, und auf Seite 372 heißt es: “Ihre Anteile an Ackerland, Wald, Wiesen- und Weideland waren oft gar nicht oder nur in weiter Entfernung oder am anderen Ufer der Wolga vorhanden.”. Das mit dem anderen Ufer der Wolga ist eine Erfindung der Autoren. Die lutherische Kirche in Kasan, mehrere hundert Kilometer nördlich des Gebietes der Wolgadeutschen gelegen, wird fälschlicherweise den Wolgadeutschen zugeordnet.)

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Die Aussage “Das neue politische System in Russland, der Sowjetstaat, brachte den russischen Deutschen zunächst Vorteile. An der Wolga entstand die ‘Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen’.” und die nachfolgende Aufzählung der angeblichen Wohltaten (S. 374) entspricht weder den tatsächlichen Verhältnissen in Sowjet-Russland (ab 1922: Sowjetunion) noch dem Forschungsstand in Deutschland oder in Russland. Richtig ist: Die Bildungsschicht aus der Zeit vor der Machtergreifung der Bolschewiki wurde physisch vernichtet bzw. ging in die innere Emigration oder (wer das schaffte) ins Ausland. Die Einführung des Deutschen als Amts- und Unterrichtssprache diente einzig und allein dem Zweck der Durchsetzung der Sowjetmacht. Landesweit galt das Motto: Der Form nach national, dem Inhalt nach – sozialistisch. Auf Letzteres kam es an. Welchen pädagogischen Wert hat es, wenn in der Überschrift von “Russlanddeutschen” die Rede ist, und im Text von “Deutschrussen”? Soll damit durch eine Konstruktion ähnlich “Deutschtürke”, “Deutschmarokkaner“, “Deutschpalästinenser”, “Deutschkurde” usw. suggeriert werden, es handle sich um Menschen einer fremden Abstammung, Sprache und Kultur? Schafft man damit Aufklärung oder eher doch Verwirrung? Geradezu verniedlichend fiel die Schilderung der Behandlung des größten Teils der Russlanddeutschen durch die sowjetischen Behörden aus: “Etwa 900.000 Deutschrussen wurden umgesiedelt. Alle arbeitsfähigen Männer und Frauen mussten Schwerstarbeit leisten; dabei wurden Familien getrennt, Kinder oft in Heimen oder in russischen Familien untergebracht.” Es war Deportation, nicht Umsiedlung. Die jahrelange Trennung von Frauen und Männern hatte einen rapiden Geburtenrückgang zur Folge. Die unmenschlich harten Arbeits- und Lebensbedingungen, unter denen Schwerstarbeit in den “Arbeitskolonnen” geleistet werden musste, wird auch von russischen Historikern als vorsätzliche Vernichtung, d.h. Genozid bezeichnet. Die Hunderttausenden von toten und gesundheitlich dauerhaft geschädigten Russlanddeutschen fanden in dem Schulbuch keine Erwähnung. Es wird nicht deutlich, worin das kollektive Kriegsfolgeschicksal begründet ist. Völlig unangemessen und sachlich falsch ist die Darstellung der Zeit während der deutschen Besatzung der Ukraine. Es ist zutreffend, dass die sowjetischen Behörden es wegen des schnellen Vormarsches der deutschen Truppen nicht geschafft hatten, die in westlichen Gebieten der Sowjetunion lebenden Deutschen nach Osten zu deportieren. Wohlgemerkt: Die

sowjetischen Behörden deportierten Deutsche! Die Buchautoren schreiben: “Sie (die zurückgelassenen Deutschen) wurden von den deutschen Besatzern zu Deutschen erklärt.” Dahinter steckt unausgesprochen die Erfassung mittels der “Deutschen Volksliste Ukraine”. Mit diesem rassistischen Verwaltungsinstrument wurden die Deutschen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion (wie zuvor beispielsweise in Polen) auf ihre Tauglichkeit für Siedlungsprojekte des national-sozialistischen Regimes gemustert. Die Musterung war von Behörden des Deutschen Reiches angeordnet und für jedermann obligatorisch durchgeführt worden. Der Satz “Ihnen wurde die Möglichkeit gegeben, in die bereits von den Deutschen eroberten Gebiete in Polen einzuwandern oder aber dort zu bleiben, wo sie waren.” zeugt vom Fehlen elementarer Kenntnisse über das Wesen eines totalitären Staates. Wer hatte im Dritten Reich unter Kriegbedingungen das Recht der Wahl seines Aufenthaltsortes? Für die unter deutsche Besatzung gekommenen circa 350.000 Deutschen in der Ukraine waren vor allem die “Neue Agrarordnung” vom 15. Februar 1942 und die Erfassung durch die “Deutsche Volksliste Ukraine” von Bedeutung. Eine Reprivatisierung des nach 1917 bzw. 1920 nationalisierten Grund und Bodens fand nicht statt. Es wurde lediglich der Umfang des Hoflandes von 0,5 ha auf 1 ha pro Hof erweitert. Gleichzeitig wurden die Abgaben erhöht. Kolchosen wurden in Gemeinwirtschaften umgewandelt und unter die Leitung reichsdeutscher Landwirtschaftsführer gestellt. Bis Mai 1942 waren in der Ukraine rund 20.000 Reichsdeutsche eingetroffen, die Führungsaufgaben in Land- und Forstwirtschaft, Industrie und Verkehr übernehmen sollten, “zu deren Durchführung die ortsansässige deutsche Bevölkerung als menschlich und fachlich ungeeignet oder ideologisch unzuverlässig befunden wurde”. Die nachfolgende Erfassung der deutschen Bevölkerung der Ukraine mittels der “Deutschen Volksliste Ukraine” diente in erster Linie der Feststellung der Tauglichkeit dieser Population für siedlungspolitische Vorhaben des Dritten Reiches (Generalplan Ost). Personen, die als für den Einsatz in der Ost-Kolonisation, d.h. der Ansiedlung zum Zwecke der “Germanisierung” von Gebieten Ostmittel- und Osteuropas, tauglich befunden wurden, bekamen die Bezeichnung “Ost-Fälle” oder “O-Fälle”. Personen, die nach Einschätzung des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS wegen ihrer rassischen, sozialen und politischen Merkmale als für den sofortigen Einsatz bei der Ost-Kolonisation nicht tauglich befunden wurden, sollten als so genannte “AltreichFälle” (A-Fälle) zur Festigung ihrer “völkischen”

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews pen und Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD durchgeführt wurden. Zur Wahrheit gehört, dass Abteilungen des “Selbstschutzes”, die unter der Leitung der SS für die Bewachung der russlanddeutschen Siedlungen gebildet wurden, eben von der SS bei der Durchführung von Exekutionen mitbenutzt wurden. Nach derzeitigem Forschungsstand handelte es sich dabei um wenige Dutzend Männer, von denen selbst von der sowjetischen Justiz nicht alle für schuldig befunden wurden. Während und nach den Gerichtsprozessen gegen diese “Selbstschutzmänner” wurde in der Sowjetunion zwischen Unschuldigen und Kriegsverbrechern unterschieden. Im Schulbuch wird dagegen eine Kollektivschuld suggeriert. Warum ist dann nicht auch die Rede von jenen Mischehen (Russlanddeutsche und Juden), die während der deutschen Besatzung gemeinsam in den Tod gingen? Warum nicht auch von Russlanddeutschen, die ihre jüdischen DorfbeDie während des Krieges ausgegebene Losung wohner vor dem Zugriff der rumänischen und deut“Heim ins Reich” war irreführend. Es ging keines- schen Besatzer versteckten? falls darum, die gefährdeten “Volksdeutschen” unter den “Schutz des Reiches” zu nehmen und auf dem Die unausgewogene Darstellung der Lage der Gebiet des Deutschen Reiches anzusiedeln. Das Russlanddeutschen während der deutschen BesatDeutsche Reich setzte siedlungspolitische Vorhaben zung stigmatisiert sie kollektiv und pauschal zu aus der Zeit des Kaiserreiches fort. Aus den zu ger- Kriegsgewinnlern und Kriegsverbrechern. Die Inmanisierenden Provinzen wurde ein Großteil der jü- tegration wird dadurch eher erschwert und bedischen und polnischen Bevölkerung vernichtet bzw. hindert. So darf in Schulen nicht “aufgeklärt” entfernt. Die Umsiedlung der Russlanddeutschen werden. wurde von deutschen Behörden angeordnet und durchgeführt. Durch diese administrative Umsied- Ein vom Verlag sicher so nicht gewollter Effekt muss lung wurden die Russlanddeutschen in der Ukraine noch angesprochen werden. Die NPD in NRW hat vorübergehend vor dem Zugriff der Sowjetbehörden die völlig überzogene Geschichtsklitterung zum Angerettet. Der Preis dafür war der Verlust der Heimat. lass genommen, sich als öffentlicher Anwalt der Dieser Verlust kann mit einer kurzlebigen, punktuel- Russlanddeutschen aufzuspielen. Die Landsmannlen Bevorzugung dieser “Volksdeutschen” niemals schaft distanziert sich von diesem Ansinnen ganz entschieden! Die Heimkehrer und die Aussiedler aus aufgewogen werden. der Sowjetunion bzw. aus den Ländern der GUS haFür die Entscheidung der Besatzungsbehörden, ben den Weg in die Freiheit, in ihr Vaterland geRusslanddeutschen Lebensmittel, Kleider usw. zuzu- wählt. Sie brauchen weder Geschichtsfälscher noch teilen, können die Russlanddeutschen nicht verant- braune Beschützer. (September 2008) wortlich gemacht werden. Ebenso wenig für die Massenmorde an Juden, die von rumänischen TrupWerte zuerst auf das Gebiet des Deutschen Reiches gebracht werden. Dort wurden sie dem Arbeitsdienst übergeben. Darüber hinaus gab es auch noch “Volksdeutsche”, “die als ungenügend qualifiziert für die Berührung mit Reichsdeutschen in Deutschland eingestuft wurden”. Diese “Sammellager-Fälle” (S-Fälle) waren in Sammellager zu bringen, in denen sie “durch Indoktrination und Zwangsarbeit auf das Zusammenleben mit dem national�sozialistischen Deutschland vorbereitet werden sollten”. Mitte Oktober 1943 wurde ernsthaft darüber beraten, einen Teil der aus dem RKU (Reichskommissariat Ukraine) auf Trecks befindlichen Deutschen zur “Sofortbesiedlung” der Westukraine zu verwenden. Nach Plänen der SS sollten “volksdeutsche Siedlungsperlen” entlang der großen Eisenbahnlinien und Eisenbahnknotenpunkte gebildet werden.

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Deutsche aus Russland von Altersarmut bedroht Stellungnahme der Landsmannschaft zur Fremdrentengesetzgebung ach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Fremdrentengesetzgebung vom 13. Juni 2006 sind zahlreiche Deutsche aus Russland von nicht zu verantwortender Altersarmut bedroht. Es kann und darf nach unserer Auffassung nicht sein, dass Deutsche aus Russland selbst bei Lebensarbeitszeiten von 45 Jahren aufgrund sämtlicher Kürzungen im Fremdrentenbereich im Alter unter das Existenzminimum fallen und als Bittsteller Grundsicherung beantragen müssen.

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Nach unserer Auffassung lässt es sich weder politisch noch moralisch rechtfertigen, dass Deutsche aus Russland im Ruhestand mit einer erheblich reduzierten Rente rechnen müssen, obwohl ihre Kinder und Enkel – wie aus offiziellen Statistiken hervorgeht – weitaus mehr in die deutschen Rentenkassen einbezahlen, als ihnen selbst aus diesen Kassen zufließt. Ursache für dieses Phänomen ist die ausgesprochen günstige Altersstruktur der Deutschen aus Russland, die sich treffend mit dem Ausdruck „halb so alt und doppelt so jung wie die einheimische Bevölkerung“ beschreiben lässt. Vor diesem Hintergrund haben wir kein Verständnis dafür, dass ausgerechnet für Deutsche aus Russland der Generationenvertrag außer Kraft gesetzt bzw. ausgehöhlt werden soll. Ausgehöhlt wird durch die Rentenregelung für unsere Landsleute auch das von der Bundesregierung nach wie vor anerkannte kollektive Kriegsfolgenschicksal der Deutschen aus Russland, das ihnen eine Fortsetzung der Ausreise aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ermöglicht – selbstverständlich unter Aufnahme- und Integrationsbedingungen, die dem allgemeinen Lebensniveau in der Bundesrepublik Deutschland angemessen sind. Um gegen die erwähnten Fehlentwicklungen vorzugehen, strengte die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland gemeinsam mit den Landsmannschaften der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an. Das Urteil des Gerichts untermauerte die in diesem Schreiben genannten Fehlentwicklungen und wirkte sich für die Deutschen aus Russland vor allem aber auch deshalb negativ aus, weil in ihm nicht der Tatsache Rechnung getragen wurde, dass sie jahrzehntelang gegen ihren erklärten Willen in der Sowjetunion festgehalten wurden und in ihrer

großen Mehrheit erst ab Ende der 1980er Jahre in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen durften. Zudem fallen rund 60 Prozent der Deutschen aus Russland wegen ihrer späten Ausreise nicht unter die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgesehenen Übergangsregelungen für Aussiedler, die bis 1990 in die Bundesrepublik eingereist sind. Menschen, die unter dem Ausreiseverbot durch die Sowjetunion mehr als zumutbar gelitten haben, werden hier in Deutschland also ein weiteres Mal bestraft! Verschärft wird die Situation dadurch, dass nur diejenigen Anspruch auf die in den Übergangsregelungen vorgesehenen Ausgleichszahlungen haben, die gegen ihren Rentenbescheid Einspruch eingelegt bzw. geklagt haben. Nur sehr wenige Rentenanstalten haben - wie es ihre Pflicht gewesen wäre - die hiervon Betroffenen von sich aus angeschrieben und sie auf ihre bestehenden rechtlichen Möglichkeiten hingewiesen. Es ist eine besondere Härte, dass Deutsche aus Russland, die im Vertrauen auf eine allgemeine Regelung oder aus Unwissenheit keine Klage eingereicht bzw. keinen Widerspruch eingelegt haben, nunmehr keinen Anspruch auf Ausgleichszahlungen haben. Das widerspricht unseres Erachtens der bisherigen Handhabung, wonach bei gesetzlichen Besserstellungen alle berücksichtigt werden und nicht nur diejenigen, die ihr Recht auf Klage bzw. Widerspruch wahrgenommen haben. Besonders ärgerlich ist des Weiteren, dass Anspruch auf Ausgleichszahlungen nur hat, wer bis Dezember 1990 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und vor dem 1. Juli 2002 seine Rente beantragt hat. Mit einer Festlegung der Renten der Deutschen aus Russland auf Armutsniveau wird den Benachteiligungen, denen sie nach ihrer Ankunft in Deutschland ausgesetzt sind (es sei hier nur an Schwierigkeiten im Ausbildungs- und Beschäftigungsbereich aufgrund mangelhafter Anerkennung von akademischen Abschlüssen sowie beruflichen Qualifikationen und Diplomen erinnert), eine weitere hinzugefügt, die sich besonders gravierend auswirkt. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist gegenwärtig damit beschäftigt, die negativen Auswirkungen der Fremdrentengesetzgebung für Deutsche aus Russland in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu dokumentieren. In aller Kürze haben wir daher in diesem Schreiben nur die fol-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews genden Benachteiligungen unserer Rentner zu- am 6. Mai 1996 als Rentner bzw. im rentennahen Alsammengefasst, für die wir von den politisch Ver- ter zugezogen sind und keine ausreichende bundesdeutsche Rente erarbeiten können. Bei Alleinstehenantwortlichen Erklärungen verlangen werden: den werden für diesen Personenkreis nur mehr 25 - Um rentenrelevante Zeiten voll angerechnet zu er- Entgeltpunkte und bei Ehepaaren insgesamt nur halten, müssen Deutsche aus Russland Fehlzeiten mehr 40 Entgeltpunkte angerechnet, wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit durch Archiv- Gerade für diese Deutschen aus Russland wird bescheinigungen nachweisen. Die Anforderungen Altersarmut in vielen Fällen zermürbende Wirkan diese Bescheinigungen sind mittlerweile jedoch lichkeit, und sie fragen sich zurecht, weshalb für derart hoch, dass sie von den meisten Betroffenen sie mit dem Generationenvertrag auch das Geeines demokratischen nicht erfüllt werden können. Teilweise werden - rechtigkeitssprinzip trotz des Wissens um die Verhältnisse in den Her- Rechtsstaates außer Kraft gesetzt wurde. Spezielle Probleme ergeben sich gegenwärtig für kunftsländern! - bereits Originale verlangt. - Das Bundesverfassungsgericht hat die Kürzung Deutsche, die aus den baltischen EU-Staaten eingeder Entgeltpunkte um 40 Prozent für nicht verfas- reist sind und sich ebenso wie die Siebenbürger Sachsen der Gefahr eines Fiktivabzugs auf ihre Rensungswidrig erklärt. te ausgesetzt sehen. Und schließlich müssen wir mit Diese Maßnahmen führen letztendlich dazu, dass Bedauern feststellen, dass der Bereich der Witwenunsere Rentner teilweise Kürzungen in einem rente nach wie vor nur unzureichend geregelt ist und Umfang von bis zu 55 Prozent hinnehmen müs- eine endgültige Regelung immer noch aussteht. Landsmannschaft sen! der Deutschen aus Russland Noch härter sind Deutsche aus Russland betroffen, (Oktober 2008) die nach der Neufassung des Fremdrentengesetzes

Förderung für Deutsche in Russland fortgesetzt 14. Sitzung der Deutsch-Russischen Regierungskommission habiltation der Russlanddeutschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bedankte.. Die Positionen der Landsmannschaft zu den im Rahmen der Sitzung behandelten Themen hatte er wie folgt zusammengefasst: Gemäß ihrer Satzung sieht die Landsmannschaft die Förderung der sozialen und kulturellen Belange sowie die Verbesserung der Lebensbedingungen der Deutschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an. Ebenso wie die Bundesregierung und unsere Partnerverbände in Russland und anderen Ländern der GUS sind auch wir der Auffassung, dass diese Aufgabe künftig immer mehr an Bedeutung gewinnen wird. Zur Entwicklung adäquater Lösungsansätze mussten wir jedoch unter Berücksichtigung der aktuellen Situation neue inhaltliche Schwerpunkte setzen. Dabei war unsere gemeinsame Arbeit vor allem an zwei Adolf Fetsch: Eckpunkten auszurichten: Neue Chancen für die Da war zum einen die Tatsache, dass sich allein in Deutschen in der GUS der Russischen Föderation laut der letzten Volkszählung mehr als 570.000 Menschen als Deutsche beTeilnehmer der Sitzung war auch der Bundesvorsit- trachten. Und es war und ist aber auch eine Tatsache, zende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, der sich dass die meisten dieser Menschen in ihrem Herbei Dr. Bergner insbesondere für seine Unterstützung kunftsland bleiben werden – die minimalen Ausreider landsmannschaftlichen Bemühungen um die Re-

m 22. und 23. Oktober fand in Berlin die 14. Sitzung der Deutsch-Russischen Regierungskommission für die Angelegenheiten der Russlanddeutschen statt. Im Mittelpunkt der Sitzung standen die Fördermaßnahmen beider Seiten zugunsten der Russlanddeutschen in der Russischen Föderation. Zum Abschluss unterzeichneten der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, mit dem stellvertretenden Minister im Ministerium für Regionalentwicklung der Russischen Föderation, Maxim Trawnikow, ein gemeinsames Kommuniqué zur weiteren Unterstützung der deutschen Minderheit. Wir zitieren daraus die folgenden gekürzten Passagen:

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews sezahlen der letzten Jahre sprechen eine deutliche Sprache! Gerade deshalb sind wir sehr dankbar, dass die Deutschen in der GUS durch die Hilfen der Bundesregierung neue Chancen und Instrumente bekommen haben, um ihre kulturelle Identität zu bewahren und zu pflegen. Und wir nehmen ebenso dankbar zur Kenntnis, in welchem Ausmaß sich die demokratischen Strukturen der Russlanddeutschen in der ehemaligen Sowjetunion weiterentwickelt haben – ich erwähne die bestehenden Kultur- und Jugendverbände, Begegnungszentren, Nationalkulturelle Autonomien und Russisch-Deutsche Häuser. Es sind Einrichtungen, die ihre Kultur- und Informationsarbeit häufig auf einem hohen fachlichen Niveau leisten. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland hat sich daher sehr gerne an der I. Internationalen Partnerschaftskonferenz der russlanddeutschen Dachverbände im Mai 2007 in Wiesbaden beteiligt und hat diese Zusammenarbeit Ende des letzten Jahres beim 6. Forum der Begegnungszentren der Russlanddeutschen in Moskau fortgesetzt. Heute dürfen wir mit Fug und Recht sagen, dass das im letzten Jahr unterzeichnete Kooperationsabkommen zwischen der Landsmannschaft hier in Deutschland und dem “Internationalen Verband der deutschen Kultur” sowie dem “Jugendring der Russlanddeutschen” in Russland trotz gewisser Anlaufschwierigkeiten, die nicht zuletzt mit den leidigen Finanzen zu tun hatten, mit Leben erfüllt wurde. Die Partnerverbände haben elf Projekte insbesondere mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendaustausch durchgeführt, es kam zur Unterzeichnung von Partnerschaftsabkommen zwischen Gliederungen der Landsmannschaft und Einrichtungen der Deutschen in Russland, und wir dürfen stolz bekannt geben, dass für 2009 zwanzig Partnerschaftsprojekte geplant sind, von denen einige die bestehenden deutsch-russischen Städtepartnerschaften ergänzen und erweitern werden.

Neu und sehr zu begrüßen ist die von russischer Seite in Aussicht gestellte Beteiligung an der Finanzierung der grenzüberschreitenden Maßnahmen. Ich bin daher sehr zuversichtlich, dass wir mit unserem Appell, der partnerschaftlichen Arbeit zentrale Bedeutung beizumessen, auf deutscher wie auf russischer Seite Gehör finden werden. Es sollte also auch möglich sein, Lösungen für die Finanzierung von Initiativen und Projekten des Jugend- und Kulturaustausches zu finden, die ja nicht über das Bundesministerium des Innern zu realisieren ist. Es sind Maßnahmen, die mit Sicherheit ihren nicht zu unterschätzenden Beitrag leisten, die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu vertiefen und zu verbessern. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wird sich deshalb gemeinsam mit ihren Partnern vom “Internationalen Verband der deutschen Kultur” und vom “Jugendring der Russlanddeutschen” an den Vorsitzenden des deutschen Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs, Dr. Lothar de Maizière, mit der Bitte wenden, das Thema der grenzüberschreitenden partnerschaftlichen Zusammenarbeit in die Tagesordnung der nächsten Sitzung des Petersburger Dialogs aufzunehmen. Es kann kaum einen Zweifel daran geben, dass die Intensivierung der Kooperation mit Einrichtungen und Verbänden der Deutschen in der Russländischen Föderation die Arbeit der Landsmannschaft wertvoller und effektiver gemacht hat. Allein schon aus diesem Grund verbinde ich große Erwartungen und Hoffnungen mit dem 7. Forum der Begegnungszentren der Russlanddeutschen, das im nächsten Jahr in Sankt Petersburg durchgeführt wird. Uns allen wünsche ich eine erfolgreiche Zusammenarbeit, die dazu beitragen soll, unsere Volksgruppe lebendig zu erhalten und ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – in der Gegenwart ebenso wie hinsichtlich der Darstellung ihres Schicksals in den Geschichtsbüchern Deutschlands und Russlands. (November 2008)

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Ausbaufähige Beziehungen Gesprächsrunde in der Botschaft der Republik Kasachstan in Berlin m 4. Dezember 2008 organisierte die Botschaft der Republik Kasachstan in Berlin eine Gesprächsrunde zum Thema “Migration und Integration: Erfahrungen Kasachstans und Deutschlands. Das Nationalprogramm ‘Nurly Kösch’ (‘Helle Heimkehr’)”. An der Veranstaltung nahmen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und des Bundesinnenministeriums sowie Vertreter deutscher Einrichtungen teil, die für Fragen der Migration und Integration zuständig sind. Die Landsmannschaft war durch ihren Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch vertreten.

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Stellungnahme des Bundesvorsitzenden Im Rahmen der Gesprächsrunde hatte Adolf Fetsch die Gelegenheit, den Teilnehmern über die Beziehungen der Landsmannschaft in Vergangenheit und Gegenwart zu den Deutschen in Kasachstan zu berichten. Wir zitieren Auszüge aus seiner Stellungnahme: “Was die Beziehungen der Landsmannschaft zu den in Kasachstan lebenden Russlanddeutschen angeht, müssen wir feststellen, dass diese noch ausbaufähig sind. Nachdem wir gerade in den letzten Jahren die Kontakte zu Organisationen der Deutschen in der Russischen Föderation intensiviert haben, wären wir sehr daran interessiert, dass uns das in nächster Zeit auch hinsichtlich der entsprechenden Verbände in Kasachstan gelingt. Gemäß ihrer Satzung sieht die Landsmannschaft die Förderung der sozialen und kulturellen Belange sowie die Verbesserung der Lebensbedingungen der Deutschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an. Ebenso wie die Bundesregierung sind auch wir der Auffassung, dass diese Aufgabe künftig immer mehr an Bedeutung gewinnen wird. Nicht verschweigen will ich aber auch gerade in diesem Rahmen, dass bei vielen meiner Landsleute die hohen Ausbürgerungskosten aus der kasachischen Staatsbürgerschaft für Verstimmung sorgen. Und ich füge hinzu, dass es einem Austausch zwischen Gruppen unserer Landsleute in Kasachstan und Deutschland sehr förderlich wäre, wenn die Visumsregelung flexibler gehandhabt werden könnte. Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit, so sehen wir, dass sich unser Wissen über die Deutschen in Kasachstan bereits früh aus mehreren Quellen

speiste. Nach der Aufhebung der Kommandanturaufsicht 1955 waren das zunächst Briefe unserer Verwandten, die nach Krieg, Deportation und Verbannung aus dem Westen der Sowjetunion nach Sibirien oder in den Hohen Norden des Landes bemüht waren, entweder in ihre alte Heimat an der Wolga bzw. in der Ukraine zurückzukehren oder in bessere Regionen in Mittelasien oder Kasachstan umzuziehen. An eine Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland wagten die meisten Deutschen in der Sowjetunion damals noch nicht zu glauben. Die minimalen Ausreisezahlen der 50er und 60er Jahre sprechen eine deutliche Sprache. Erst ab den späten 60er Jahren kamen die ersten Aussiedler mit frischen Informationen über die Lage der Volksgruppe in Kasachstan nach Deutschland. Viele engagierte Deutsche aus Kasachstan sind nunmehr seit zehn und mehr Jahren in Deutschland, wo leider nur wenige ihre in Kasachstan begonnene Laufbahn als Journalisten, Autoren, Musiker oder Schauspieler erfolgreich fortsetzen können, weil der Arbeits- und Kulturmarkt in Deutschland mit vielen Migranten aus dem Osten hart umkämpft ist. Die Landsmannschaft setzt sich daher seit Jahren für eine Verbesserung der Ausbildungs- und beruflichen Situation von Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion ein. Nachdem Kasachstan im Herbst 1990 seine Souveränität erklärt hatte, war es für die Landsmannschaft rasch klar, weshalb die unterstützenden Maßnahmen für die deutsche Minderheit in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion nicht mehr greifen konnten: Es war zu spät! Die dort lebenden Deutschen saßen nach vielen Enttäuschungen und falschen Versprechungen bezüglich Rehabilitation, Entschädigung und Autonomie bereits zu fest auf gepackten Koffern. Es ist daher gewiss kein Zufall, dass gerade in diesen Jahren die meisten Deutschen aus Kasachstan und den anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland aussiedelten. Und es nützte damals auch kaum etwas, dass die kasachische Regierung mit großzügigen gesellschaftspolitischen und sozialökonomischen Maßnahmen sowie Unterstützung in den Bereichen Bildung, Kultur, Tourismus und Sport einiges in Bewegung setzte, um den Strom der Auswanderung aufzuhalten. Es bestehen wohl seit Jahren Kontakte zu den Deutschen in Kasachstan, insbesondere auch mit Alexander Dederer, es haben sich daraus bis jetzt jedoch

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews noch keine gemeinsamen Projekte ergeben. Hinzu kommt, dass in der Bundesrepublik seit Jahren die Mittel für grenzüberschreitende Maßnahmen zurückgefahren werden. Als ersten Schritt, aus dieser Misere herauszukommen, schlagen wir die Konzipierung eines Kooperationsabkommens zwischen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und Organisationen der Russlanddeutschen in Kasachstan als Grundlage für

die Durchführung von Partnerschaftsprojekten und eine Intensivierung des Austausches vor allem im Kinder- und Jugendbereich vor. Die Tatsache, dass gemäß den mir zur Verfügung stehenden Angaben nach wie vor rund 230.000 Deutsche in Kasachstan leben, sollte für uns Anlass genug sein, unsere Bemühungen um diese Menschen zu koordinieren und zu vereinen! (Dezember 2008)

Gemeinsam in ein erfolgreiches neues Jahr! Liebe Landsleute, im Titelbild dieser Ausgabe unseres Vereinsblattes kommt symbolisch zum Ausdruck, was wir uns für die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland im neuen Jahr in erster Linie wünschen sollten:

Ich betrachte die Worte des Parlamentarischen Staatssekretärs auch als Appell, unsere von Sachlichkeit und Kompetenz geprägt Arbeit fortzusetzen fern aller großspurigen Parolen und globalen Forderungen, die vielleicht den einen oder anderen begeistern können, in einer demokratischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland aber nichts zu suchen haben und wirkungslos verpuffen.

Gemeinsamkeit und viele bereitwillig helfende Hände, die allen den Weg bereiten, die sich zum Wohle ihrer Landsleute in der Bundesrepublik Lautstärke sollten wir Leistung entgegensetzen Deutschland und den Ländern der ehemaligen dass wir dazu in der Lage sind, haben unsere ungezählten ehrenamtlichen Mitstreiter gemeinsam mit Sowjetunion einsetzen wollen! unseren wenigen hauptamtlichen Mitarbeitern auch Gemeinsamkeit nach einer Zeit, die sowohl inner- im letzten Jahr mehr als nur einmal unter Beweis gehalb der Landsmannschaft als auch in der Beziehung stellt. Ich erwähne die Gedenkfeiern in Berlin und zu einigen “konkurrierenden” Verbänden nicht frei Friedland, das bayerische Landestreffen in Augswar von völlig überflüssigen Querelen, die letztend- burg, den Aufbau des Jugend- und Studentenrings lich nichts anderes waren als Hemmschuhe für unse- der Deutschen aus Russland, die Durchsetzung von re landsmannschaftliche Arbeit. Ich biete daher al- Integrationsprojekten, grenzüberschreitende Maßlen, denen es ebenso wie mir ausschließlich um die nahmen, Fortbildungsveranstaltungen auf Orts-, Langerechte Sache geht, meine ungebrochene Bereit- des- und Bundesebene, die Herausgabe des Sammelbandes “Von der Autonomiegründung zur Verbanschaft zur Zusammenarbeit an. nung und Entrechtung”, Integrationsbroschüren in Ich biete diese Zusammenarbeit an als Bundesvorsit- Bayern und Niedersachsen und vieles, vieles mehr. zender der nach wie vor bei weitem einflussreichsten Organisation der Deutschen aus Russland in der Wer sich für die Deutschen aus Russland effektiv Bundesrepublik, die der Beauftragte der Bundesre- einsetzen will, ist bei der Landsmannschaft bestens gierung für Aussiedlerfragen und nationale Minder- aufgehoben! Das wird sich auch im nächsten Jahr, heiten, Dr. Christoph Bergner, bei einem Besuch der für das ich Ihnen und Ihren Lieben das Beste wünBundesgeschäftsstelle im Februar 2008 als seinen sche, nicht ändern! Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender zentralen Ansprechpartner in allen Angelegenheiten (Dezember 2008) bezeichnete, die Aussiedler und Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion betreffen.

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Deutsche aus Russland hervorragend integriert Ergebnisse einer Studie des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung bestätigen Einschätzungen der Landsmannschaft m 26. Januar wurde die Studie “Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland” des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung vorgestellt, die für einiges Aufsehen in der Öffentlichkeit sorgten und aufgrund der schlechten Ergebnisse einiger Zuwanderergruppen eine kontrovers geführte Diskussion über die Migrationspolitik der Bundesrepublik auslöste. Sehr gut haben hingegen die Aussiedler abgeschnitten, die gemeinsam mit den Migranten aus den EU-Ländern (ohne Südeuropäer) den Spitzenplatz in puncto Integrationsbereitschaft einnehmen. Laut Studie haben sie weniger Probleme auf dem Arbeitsmarkt und vermischen sich stark mit der einheimischen Bevölkerung. Die weitaus größten Integrationsprobleme haben Migranten aus der Türkei. Die Landsmannschaft ist sehr froh darüber, dass durch die Studie ihre Einschätzung bestätigt wurde, wonach die Integration der Aussiedler im Allgemeinen und der Deutschen aus Russland im Besonderen als Erfolgsgeschichte zu betrachten ist. Und sie darf ohne Frage stolz darauf sein, mit ihrer jahrzehntelangen beharrlichen Arbeit einen nicht unwesentlichen Beitrag zu dieser Erfolgsgeschichte geleistet zu haben. Nachstehend die Ausführungen der Studie zum Stand der Integration von Aussiedlern aus dem Osten und Südosten Europas, die unter dem Titel “Auf dem Weg zur Normalität” zusammengefasst wurden. Im Internet kann die gesamte Studie unter folgender Adresse heruntergeladen werden: http://www.berlin-institut.org/studien/ ungenutzte-potenziale.html

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Den Aussiedlern, insbesondere den jungen Menschen unter ihnen, wird häufig nachgesagt, sie würden sich nur schlecht in Deutschland integrieren. Dies lässt sich nach dem IMI* nicht bestätigen. Die größte aller Herkunftsgruppen schneidet im Integrationsvergleich gut ab. Zurückzuführen ist dies vor allem darauf, dass die hier Geborenen im Vergleich zu den Zugewanderten deutlich besser integriert sind. So haben in der ersten Generation nur 17 Prozent aller Verheirateten einen einheimischen Ehepartner. Damit liegt der Anteil immer noch hoch, denn viele Aussiedler sind im Familienverband eingewandert. In der zweiten Generation vervierfachen sich die Ehen mit einheimischen Deutschen jedoch auf 67 Prozent – das ist fast so häufig

Erhebliche Erfolge in der zweiten Generation Die Aussiedler sind eine sehr integrationsfreudige Herkunftsgruppe. Die in Deutschland Geborenen schneiden bei vielen Indikatoren deutlich besser ab als die Zugewanderten und weisen sogar bessere Werte auf als die Einheimischen. Bemerkenswert ist der Rückgang bei der Jugenderwerbslosigkeit, die sich von der ersten auf die zweite Generation fast halbiert hat. wie bei den in Deutschland geborenen Migranten aus den weiteren Ländern der EU-25. Auch in Sachen Bildung stehen die Aussiedler gut da. Ganz ohne Bildungsabschluss sind nur 3,3 Prozent. Von der ersten zur zweiten Generation der Aussiedler steigt der Anteil der Abiturienten stark an. Dabei besuchen mehr Mädchen als Jungen das Gymnasium, und Frauen schließen die Schule auch häufiger mit Abitur ab als Männer. Außerdem stellen sie anteilig genauso viele Akademiker wie die Männer ihrer Herkunftsgruppe. In den meisten anderen Gruppen und bei den Einheimischen dominieren dagegen die Männer unter den hoch Gebildeten. Wie bei der Bildung schneiden die Aussiedler auch auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich zu anderen Herkunftsgruppen besser ab, jedoch nie besser als die Einheimischen. Wie bei den Einheimischen liegt die Hausfrauenquote bei nur knapp 20 Prozent. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass es in den meisten Herkunftsländern der Aussiedler üblich ist, dass Frauen berufstätig sind. Dabei ist etwa ein Fünftel aller erwerbstätigen Aussiedlerinnen im öffentlichen Dienst beschäftigt. Insgesamt arbeiten dort 14 Prozent der Aussiedler – mehr als in den anderen Migrantengruppen. Ein Grund für diesen Erfolg ist mit Sicherheit die schnelle rechtliche Gleichstellung. Schlechter ist es um die Selbstständigenquote der erwerbstätigen Aussiedler bestellt. Sie liegt mit fünf Prozent am untersten Ende der Skala und steigt auch in der zweiten Generation kaum an. Womöglich liegt die Ursache ebenfalls in den Erfahrungen aus den Herkunftsländern, in denen es die Existenzform des freien Unternehmers kaum gab. Auch sind mit knapp acht Prozent anteilig nur halb so viele Aussiedler in einem Vertrauensberuf tätig wie unter den Einheimischen. Hier besteht noch deutlicher Nachholbedarf.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Vor dem Hintergrund der insgesamt positiven Leistungen auf dem Arbeitsmarkt fällt der Anteil der von öffentlichen Leistungen Abhängigen unter den Aussiedlern mit 13 Prozent relativ hoch aus. Das liegt vermutlich daran, dass unter den Aussiedlern viele Menschen mittleren Alters eingewandert sind, die

nur schwer Anschluss auf dem Arbeitsmarkt finden. Bei den in Deutschland Geborenen halbiert sich der Anteil der von öffentlichen Leistungen Abhängigen. Er fällt sogar geringer aus als bei den Einheimischen. (Januar 2009)

Für eine gerechtere Fremdrentenregelung – eine Initiative der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Liebe Landsleute,

seinen Rentenbescheid Widerspruch eingelegt bzw. geklagt hat. Nur sehr wenige Rentenanstalten haben wie Sie am eigenen Leib erleben mussten bzw. von die hiervon Betroffenen von sich aus angeschrieben den Erfahrungen Ihrer Familienangehörigen und und sie auf ihre bestehenden rechtlichen MöglichFreunde her wissen, haben die staatlich festgeleg- keiten hingewiesen. ten Regelungen im Fremdrentenbereich zu Kürzungen der Altersbezüge vieler unserer Landsleu- Wer im Vertrauen auf eine allgemeine Regelung bzw. te geführt, die wir nicht hinnehmen können und aus Unwissenheit keine Klage eingereicht bzw. keinen Widerspruch eingelegt hat, hat keinen Anspruch dürfen. Nachstehend haben wir für Sie die wichtigsten auf Ausgleichszahlungen. Das widerspricht der bisArgumente für Nachbesserungen im Fremdren- herigen Handhabung, wonach bei allen gesetzlichen tenbereich zusammengefasst, mit denen die Besserstellungen alle berücksichtigt werden und Landsmannschaft gegenwärtig bei den zuständi- nicht nur diejenigen, die ihr Recht auf Klage bzw. gen Politikern und Behörden auf Bundes-, Lan- Widerspruch wahrgenommen haben. des- und kommunaler Ebene vorstellig wird und Anspruch auf Ausgleichszahlungen hat nur, wer bis die Grundlage Ihres eigenen Wirkens in diesem Dezember 1990 in die Bundesrepublik eingereist ist Bereich sein könnten. und vor dem 1. Juli 2000 seine Rente beantragt hat.

I. Die Benachteiligungen summieren sich Nimmt man alle Benachteiligungen zusammen, müssen Deutsche aus Russland mit Rentenkürzungen von bis zu 55 Prozent rechnen. Dadurch sind viele von ihnen von Altersarmut bedroht, und sie beginnen zu Recht am Gerechtigkeitsprinzip, das in der Bundesrepublik Deutschland als demokratischem Rechtsstaat gelten sollte, zu zweifeln. Im Einzelnen sind Deutsche aus Russland von folgenden Benachteiligungen und Kürzungen betroffen: 60 Prozent der Deutschen aus Russland fallen wegen ihrer späten Ausreise nicht unter die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgesehenen relativ günstigen Übergangsregelungen für Aussiedler, die bis 1990 nach Deutschland eingereist sind.

Um rentenrelevante Zeiten voll angerechnet zu erhalten, müssen Deutsche aus Russland Fehlzeiten wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit durch Archivbescheinigungen nachweisen. Die Anforderungen an diese Bescheinigungen sind mittlerweile jedoch derart hoch, dass sie von den meisten Betroffenen nicht erfüllt werden können. Teilweise werden - trotz des Wissens um die Verhältnisse in den Herkunftsländern! - bereits Originale verlangt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Kürzung der Entgeltpunkte um 40 Prozent für nicht verfassungswidrig erklärt. Besonders hart sind Deutsche aus Russland betroffen, die nach der Neufassung des Fremdrentengesetzes am 6. Mai 1996 als Rentner bzw. im rentennahen Alter zugezogen sind und keine ausreichende bundesdeutsche Rente erarbeiten können. Bei Alleinstehenden werden für diesen Personenkreis nur mehr 25 Entgeltpunkte und bei Ehepaaren insgesamt nur mehr 40 Entgeltpunkte angerechnet.

Anspruch auf die in den Übergangsregelungen vor- Auch bei Anspruch auf Witwenrente ist die gesehenen Ausgleichszahlungen hat nur, wer gegen Gesamtrente auf 25 Entgeltpunkte begrenzt. 217

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Sowjetunion über 50 rentenzeitrelevante Jahre zurückgelegt. Ihre Altersrente wurde zusätzlich zur Wie sich die Benachteiligungen der Deutschen aus Kürzung um 40 Prozent auf zusammen 40 EntgeltRussland im Fremdrentenbereich in der Praxis punkte gekürzt (Peter S. hatte 36 Entgeltpunkte erworben, Anita S. 31). auswirken, zeigen die folgenden Beispiele: Die als Nettobetrag ausbezahlte Rente beträgt jeweils 477 Euro, insgesamt sind es also 954 Euro. Kürzung Die Familie ist auf Wohngeld und weitere Sozialder ermittelten leistungen angewiesen. Entgeltpunkte um 40%:

II. Fallbeispiele

Fallbeispiel 1: Anna M. reiste 1991 als Aussiedlerin ein. In der ehemaligen Sowjetunion hatte sie 30 Jahre lang gearbeitet, nach der Einreise arbeitete sie von 1991 bis 2004 und leistete Beiträge für die Rentenkasse. Bei ihrem Eintritt in den Ruhestand konnte sie also auf 43 rentenzeitrelevante Jahre zurückblicken, bekam aber eine Altersrente in Höhe von nur 731 Euro – angesichts ihrer zurückgelegten Zeiten als Pflegerin bzw. Pflegehelferin nur sehr wenig, zu wenig, um ein Leben ohne Unterstützung der Sozialträger führen zu können. Der niedrige Betrag ist auf die Kürzung der Entgeltpunkte um 40% zurückzuführen sowie auf die Kürzung der Tabellenwerte (fiktive Beiträge) um ein Fünftel, weil sie vom zuständigen Archiv in Kasachstan die erforderlichen Nachweise für ihre ganzjährige Tätigkeit nicht bekommt. Fallbeispiel 2: Waldemar H. kam 1987 als Aussiedler in die Bundesrepublik. Insgesamt legte er 49 Jahre rentenzeitrelevanter Arbeitszeiten zurück, 32 Jahre in der ehemaligen Sowjetunion und 17 Jahre in Deutschland. In diesen 49 Jahren leistete er zum Teil Schwerstarbeit unter Kommandantur, zum Teil war er als hoch qualifizierter Angestellter beschäftigt. Seit 2004 ist Waldemar H. Rentner und bekommt eine Altersrente von 941 Euro. Diese Rente ist nicht ausreichend, um den täglichen Lebensunterhalt zu bestreiten, und liegt sogar unter dem Pfändungsfreibetrag.

Kürzung der Witwenrente auf 25 Entgeltpunkte: Fallbeispiel 4: Ottilie K. reiste 1996 als Spätaussiedlerin im Rentenalter nach Deutschland ein. Ihr Ehemann, deutscher Volkszugehöriger wie sie, erlebte die Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland nicht. Ottilie K. erhielt eine eigene Altersrente in Höhe von 23 Entgeltpunkten, was 498 Euro entspricht. Für ihren verstorbenen Ehemann wurde ihr eine große Witwenrente zuerkannt; für seine über 45 rentenzeitrelevanten Jahre wurden 29 Entgeltpunkte ermittelt. Von diesen 29 Entgeltpunkten, die ohnehin bereits um 40 Prozent gekürzt wurden, kommen jedoch wegen der weiteren Kürzung auf insgesamt 25 Entgeltpunkte gerade einmal 2 Entgeltpunkte (25 Entgeltpunkte minus 23 Entgeltpunkte aus eigener Altersrente) zur Auszahlung, so dass ihre Witwenrente monatlich lediglich 7 Euro beträgt. Ottilie K ist damit trotz des Bezuges einer Altersrente auf Wohngeld und andere Sozialleistungen angewiesen. Fallbeispiel 5:

Elvira M. reiste 1997 als Spätaussiedlerin ein. Eine frühere Einreise war ihr aufgrund der langen Krankheit ihres Mannes, der kurz vor der Einreise verstarb, nicht möglich. Sie hat in der ehemaligen Sowjetunion 47 rentenzeitrelevante Jahre zurückgelegt. Zusätzliche Kürzung Ihre eigene Altersrente wurde von 32 auf 25 Entder um 40% gekürzten geltpunkte gekürzt und beträgt 540 Euro. Die ihr Entgeltpunkte dem Grunde nach zuerkannte große Witwenrente auf 40 pro Ehepaar: wird ihr nicht ausgezahlt, weil sie bereits eine eigene Rente in Höhe von 25 Entgeltpunkten beFallbeispiel 3: zieht. Sie ist, obwohl sie dem Grunde nach einen Anita und Peter S. reisten 2000 als Spätaussiedler im Anspruch auf Witwenrente hat, auf Wohngeld Rentenalter ein. Beide hatten in der ehemaligen und andere Sozialleistungen angewiesen.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

III. Forderungen der Landsmannschaft Um gegen die höchst bedauerlichen Fehlentwicklungen im Fremdrentenbereich vorzugehen, strengte die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland gemeinsam mit den Landsmannschaften der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an. Das Urteil des Gerichts zementierte jedoch die Benachteiligungen im Fremdrentenbereich und führte bei der Landsmannschaft zu der Überzeugung, dass auf juristischem Wege kaum mehr etwas zu erreichen sein dürfte. Die Landsmannschaft ist daher bemüht, die folgenden Verbesserungen auf der politischen bzw. der Verwaltungsebene durchzusetzen:

ausschließlich Verschlechterungen gebracht, was sich nachteilig auf eine erfolgreiche Integration auswirkt. Bei den Fremdrentenleistungen sollte sich der Gesetzgeber daher stärker am Eingliederungsgedanken orientieren – im Interesse der Betroffenen ebenso wie in dem des Staates, für den bei nicht gelungener Integration erhebliche Folgekosten entstehen. 4) Wir mahnen ein verstärktes Engagement der Kommunen im Bereich der Fremdrentenregelung an, zumal diese bei zu niedrigen Renten für die Grundsicherung aufkommen müssen. 5) Um Altersarmut einzuschränken bzw. zu verhindern, müssen die Übergangsregelungen weiter ausgelegt und flexibler gestaltet werden.

1) Bei Gesetzesänderungen muss eine ausführliche und detaillierte Aufklärung durch die zuständige Behörde bzw. Verwaltung erfolgen. Bisher wird bei einer Änderung nur über das Gesamtpaket und nicht über einzelne betroffene Bereiche informiert.

6) Es ist nicht zu verantworten, dass Deutschen aus Russland geraten wird, in den Nachfolgestaaten der UdSSR Rente zu beantragen, obwohl es dafür keine Sozialabkommen gibt bzw. eindeutige gesetzliche Grundlagen fehlen.

2) Dabei sollte so einfach wie möglich aufgeklärt werden, da die Betroffenen meist sach- und rechtsunkundig sind. Eine Aufklärung allein durch die Medien ist nicht ausreichend. Sollte dem nicht nachgekommen werden, liegt eine Aufklärungs- bzw. Belehrungspflichtverletzung vor.

7) Der Wunsch der Deutschen aus Russland nach einer gerechten Regelung ihrer Rentenbezüge darf seitens der Politik nicht mit dem Argument einer angeblich fehlenden „Sozialverträglichkeit“ dieses Wunsches abgewürgt werden. (März 2009)

3) Die zahlreichen Gesetzesänderungen im Fremdrentenbereich haben für den Großteil der Betroffenen

Allah Mikhel darf bleiben! Erfolgreiche Bemühungen der Landsmannschaft ank der Bemühungen der Landsmannschaft und des raschen Handelns des Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, konnte die Abschiebung der 48-jährigen Allah Mikhel verhindert werden. Der Fall Tätig wurde die Landsmannschaft mit ihrem Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch an der Spitze und zahlreichen Mitstreitern vor allem innerhalb der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen, nachdem der landsmannschaftliche Projektleiter Josef Schleicher auf den Fall aufmerksam gemacht hatte, über den die

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„Cellesche Zeitung“ am 2. April wie folgt berichtet hatte: „Die blinde Russin Allah Mikhel, die sich momentan illegal in Ovelgönne bei ihrer deutschrussischen Familie aufhält, muss Deutschland bis zum 16. April verlassen. Das hat das Verwaltungsgericht Lüneburg in der vergangenen Woche entschieden. Mikhel argumentierte in der Klage gegen den Landkreis Celle, aufgrund ihrer Behinderung kein Deutsch lernen zu können. Ihre Familie kam vor zwei Jahren nach Deutschland. Zunächst wurden Vater Ivan, Kinder und Enkelkinder im Durchgangslager Friedland untergebracht,

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews später in einer kleinen Wohnung in Ovelgönne. Sie alle sind deutschstämmige Russlanddeutsche, so genannte Spätaussiedler. Ehefrau Alla Mikhel ... ist hingegen keine ‘Wolgadeutsche’, sondern Russin, kann im Gegensatz zum Rest der Familie kein Deutsch und ist außerdem fast vollständig blind. Sie reiste später mit einem Besuchsvisum über Polen ein und hielt sich seitdem illegal hier auf. Aufgrund fehlender Sprachkenntnisse wurde ihr keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt. In der Begründung des Gerichts heißt es, dass ‘eine Sehbehinderung die Möglichkeit zur Erlernung der deutschen Sprache nicht ausschließt’. Der Blindenund Sehbehindertenverband Niedersachsen teilte aber mit, dass es für blinde Russen auf dem Markt kein Lernmaterial gibt, weder Computerprogramme noch Bücher in Blindenschrift.“ Die Initiative Da selbst der Anwalt der Familie keine Möglichkeit mehr sah, die Abschiebung der Frau auf juristischem Wege zu verhindern, wandte sich der Bundesvorsitzende an den Aussiedlerbeauftragten sowie an Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble, den Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, Christian Wulff, und den niedersächischen Innenminister Uwe Schünemann mit der Bitte, ihren Einfluss geltend zu machen, um so rasch wie möglich eine humane Härtefallregelung zu erreichen. Der Erfolg Und die Bemühungen hatten Erfolg - die Abschiebung von Allah Mikhel wurde gestoppt. Die Begründung dafür lieferte Dr. Bergner in der folgenden

Pressemitteilung, die unter dem Titel „Ehegattennachzug im Vertriebenenrecht“ am 17. April erschien: „Die positive Aufnahmeentscheidung durch das Bundesministerium des Innern im Fall der russischen Staatsangehörigen Frau Allah Mikhel hat die Frage aufgeworfen, welche Gründe hierzu geführt haben. Es ging nicht darum, eine Ausnahme vom Nachweis der Sprachkenntnisse aufgrund der Sehbehinderung vorzusehen. Maßgeblich waren allein die Übergangsregelungen, die das Bundesministerium des Innern im Bereich des Ehegattennachzugs von Spätaussiedlern getroffen hat. Die zuständigen Landesbehörden wurden über die Entscheidung unverzüglich unterrichtet. Das Vertriebenenrecht verfolgt im Bereich des Ehegattennachzugs das Ziel, dauerhafte Familientrennungen zu vermeiden. Die Rechtslage nach Änderung des Aufenthaltsrechts durch das Richtlinienumsetzungsgesetz lässt den Ehegattennachzug zu Spätaussiedlern nur zu, wenn der nachziehende ausländische Ehegatte über einfache Deutschkenntnisse verfügt. Der Ehemann von Allah Mikhel gehört zu einer Gruppe von Spätaussiedlern, die kurz vor Änderung des Aufenthaltsrechts in der Annahme nach Deutschland einreisten, ihr Ehegatte könne auch ohne Sprachkenntnisse nachziehen. Für diese Personen hat das Bundesministerium des Innern unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes Übergangsregelungen geschaffen, die einen Nachzug auch ohne Sprachkenntnisse ermöglichen.“ VadW (April 2009)

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Dr. Alfred Eisfeld, Göttingen

Vom schwierigen Weg in die Politik olitische Systeme, d.h. Staaten, können nicht ohne die Mitwirkung der Bevölkerung existieren. Die Rolle der Bevölkerung, ihre Möglichkeiten, eigene Interessen vernehmbar zu machen, diese in die staatliche Politik einfließen zu lassen, charakterisieren die Staatsform. Die Russlanddeutschen haben im 20. Jahrhundert diesbezüglich mannigfaltige, zumeist negative Erfahrungen machen müssen.

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Die Betätigung in der Kommunalpolitik (Gemeindeund Kreisebene) und in der mit wenig Kompetenzen ausgestatteten Verwaltung der Gouvernements (gubernskoe zemskoje pravlenie) sowie im russischen Parlament, der Staatduma, in der Zeit vor der Revolution von 1917 zeigte, dass aus den Reihen der deutschen Bevölkerung zahlreiche Persönlichkeiten hervorgingen, die ihren Sachverstand zum Wohle der gesamten Bevölkerung einsetzen konnten. Bei Wahlen fanden sie Unterstützung nicht nur von Seiten der deutschen Wähler, sondern auch, und dies nicht selten, von der mehrheitlich nichtdeutschen Bevölkerung. Diese Erfahrungen wurden bei der Vereinstätigkeit und der politischen Betätigung nach der Revolution und dem auch für die deutsche Bevölkerung verlustreichen Bürgerkrieg genutzt. Gelernt hat man damals, dass man sich für die eigenen Belange auch selbst einsetzen muss. Über die Autonomiebewegung, die sich diese Erfahrungen in verschiedenen Landesteilen Russlands zu Nutzen machtet, kann man im Heimatbuch der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland 2008 in mehreren Beiträgen nachlesen. Über den mennonitischen „Verband der Bürger holländischer Herkunft“ in der Ukraine gibt es auch mehrere Publikationen in deutscher, englischer und russischer Sprache. Nicht zu vergessen sind außerdem die während der Hungersnot Anfang der 1920er Jahre vielerorts gegründeten Vereine für die Hungerhilfe. Für alle Politiker dieser Periode waren eine berufliche Karriere und die Legitimation durch Wahlen kennzeichnend. Sie waren sowohl in den Augen ihrer Mitmenschen als auch in denen der Regierung legitime Vertreter der Interessen ihrer Vereinsmitglieder. Der Aufbau der Sowjetmacht und die Unterordnung der Bevölkerung unter die Diktatur der Kommunistischen Partei brachten den Typus des Berufspoli-

tikers hervor, dessen wichtigste Eigenschaften in der Treue zur Partei und dem unbedingten Gehorsam bestanden. Auch wenn die Deutschen in der Sowjetunion im Parteiapparat, im Kommunistischen Jugendverband (Komsomol), im Apparat der Staatssicherheit, in den Sowjetorganen usw. einen geringeren Anteil hatten als an der Gesamtbevölkerung, kann nicht übersehen werden, dass deutsche Funktionäre bei der Verfolgung und Vernichtung der Bevölkerung keine Skrupel hatten. Eine Ausnahme hat Dr. Peter Letkemann, Kanada, im Verhalten von Funktionären im Chortitzaer Gebiet zu Beginn der 1930er Jahre ausgemacht. Er schreibt in einem Aufsatz, der für den Druck vorbereitet wird: „Es hätte schlimmer sein können.“. Der Anteil der Mennoniten dieses Gebiets, die entkulakisiert, ausgesiedelt oder verhaftet wurden, blieb hinter der staatlichen Vorgabe zurück. Für die Wolgarepublik ist eine umgekehrte Tendenz festzustellen, insbesondere auch während der Stalinschen Säuberungen der Jahre 1937 bis 1939. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es viele Jahre, bis Deutsche im öffentlichen Leben in der Sowjetunion sich wieder bemerkbar machen konnten. Es gab zwar auch während des Krieges in Nordkasachstan und in Sibirien manchen Kolchosvorsitzenden und Abteilungsleiter in Industriebetrieben. Über ihre Volkszugehörigkeit wurde aber nicht öffentlich gesprochen. Das änderte sich erst ab dem Sommer 1955 und dann nach der Aufhebung der Sondersiedlung. Um die massenweise Abwanderung aus den Orten der Verbannung zu verhindern, hatte die Kommunistische Partei eine Verstärkung der politischen Arbeit unter den Sondersiedlern verordnet. Im Zuge der Umsetzung dieser Politik sollten Deutsche für die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei und im Komsomol gewonnen, verstärkt als Propagandisten eingesetzt und für Leitungsfunktionen vorgeschlagen werden. Diese Förderung der nationalen Kader führte dazu, dass 1973 erstmals zwei Deutsche vom „Block der Kommunisten und der Parteilosen“, d.h. der KPdSU, für die Wahl zu Abgeordneten des Obersten Sowjets der UdSSR nominiert und, da ohne Konkurrenz in ihren Wahlkreisen, gewählt wurden. Bei nachfolgenden Wahlen zu den Obersten Sowjets der Unionsrepubliken, wurde auch dort eine Anzahl von Deutschen gewählt. Sie gehörten ebenso der „Nomen-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews klatura“ der KPdSU an wie die anderen Mandatsträ- diesem Zeitpunkt noch nicht zu denken. Die sowjetische Regierung erkannte aber deren Bedeutung ger. und kämpfte bis zur Öffnung ihrer Grenzen 1987 enIm Unterschied zu diesen Vorzeigedeutschen, gab es ergisch dagegen an. in den 1960er bis 1980er Jahre mindestens drei Dennoch gelang es Anfang der 1970er Jahre AusGruppierungen, die, obwohl nicht offiziell als Poli- reisewilligen in verschiedenen Republiken und Regionen des Baltikums, Mittelasiens und Sibiriens, tiker eingestuft, handfeste Politik machten. Zum einen waren das die Aktivisten der Autono- ihre Aktionen zu koordinieren und im Mai 1973 eine miebewegung. Eine Anzahl von Wolgadeutschen, im Namen von rund 35.000 Personen unterzeichnete aber auch von Deutschen, die aus anderen Siedlungs- Petition vorzulegen. An verschiedenen Orten im gebieten der Vorkriegszeit stammten, hatten schon Baltikum und in Moskau wurden Kundgebungen und während ihrer Zeit in den Arbeitslagern und unter Sitzstreiks durchgeführt. Die größte Kundgebung fand dem Regime der Sondersiedlung persönliche Briefe am 30. September 1973 in Karaganda statt. Daran und z.T. Petitionen an die Regierung geschrieben. nahmen rund 400 Personen teil. Sie setzten sich für die Aufhebung der staatlich Für ihren wieder erstarkten Glauben gingen viele verordneten und praktizierten Repressionen gegen Gläubige ein hohes Risiko ein, nahmen auch mehrjährige Gefängnis- und Lagerstrafen in Kauf. Sie die unschuldige Bevölkerung ein. In den 1960er und 1970er Jahren formierte sich da- handelten nicht nur im eigenen Namen, sondern im raus eine Bewegung, die trotz der Behinderung Namen ihrer neu entstandenen Gemeinden. Der Bedurch den Staatssicherheitsdienst Delegationen nach leg dafür waren die Unterstützung der Familien der Moskau zu Verhandlungen mit der Staats- und Par- Verfolgten durch ihre Brüder und Schwestern im Glauben und der Aufbau von Gemeinden und teiführung entsenden konnte. Diese Delegationen waren durch die Unterschriften Kirchen, letztlich von baptistischen Gemeinden, von von Deutschen aus verschiedenen Regionen des Lan- evangelisch-lutherischen Landeskirchen und kathodes legitimiert. Sie wurden vom Staat auch, nolens lischen Bistümern. volens, als Vertreter der deutschen Bevölkerung an- Sowohl die Ausreisebewegung als auch die religiöse erkannt. Im Januar 1965 wurde eine Abordnung der Wiedergeburt haben ihre Ziele weitgehend erreicht. Deutschen der Sowjetunion von A. Mikojan, dem Über 2,5 Mio. Russlanddeutsche und ihre Familiendamaligen Staatsoberhaupt, und im Juni 1965 von mitglieder konnten nach Deutschland auswandern. Funktionären des ZK der KPdSU zu Unterredungen An manchem Ort in der GUS gibt es nun Kirchen, deren Gemeinden nahezu vollständig ausgewandert empfangen. Auch wenn die selbst gesteckten Ziele nicht erreicht sind. werden konnten, die Delegationen hatten dennoch Die Autonomiebewegung konnte sich im März 1989 Einfluss auf die sowjetische Nationalitätenpolitik konstituieren. Wie viele Hoffnungen waren damit ausüben können. Zu einem Dialog waren die KPdSU verbunden! Die ganze Sowjetunion war im Aufund der Sowjetstaat allerdings nicht bereit. Die näch- bruch, auch Zehntausende von Deutschen hofften auf ste Delegation konnte erst im Frühjahr 1988 unge- eine bessere Zukunft, auf Gerechtigkeit. Es war nun möglich, seine Gedanken und Wünsche frei auszufährdet nach Moskau kommen. Zwischen diesen Delegationen formierten sich seit sprechen. Resolutionen wurden verfasst und Proden 1950er Jahren eine Ausreisebewegung und eine gramme geschrieben. Die Russlanddeutschen wurbreit angelegte Bewegung, die sich für die Zulassung den von der Politik ernst genommen und versuchten der Gründung von Kirchengemeinden einsetzte. selbst Politik zu machen. Weder die eine noch die andere Bewegung hatte ein Damit die Entwicklung den gewünschten Verlauf angemeinsames Zentrum oder behauptete von sich, alle nimmt, halfen die KPdSU und der Staat nach. Gebietsparteikomitees entsandten „konstruktive EleDeutschen in der Sowjetunion zu vertreten. Die Ausreisebewegung entstand schon Anfang der mente“ aus den Reihen der Deutschen in die Au1950er Jahre, als die Betroffenen in den Sondersied- tonomiebewegung. Ein Dutzend Obristen hatten binlungen und in Sonderlagern des NKWD festgehalten nen Kurzem ihre Verbundenheit mit ihrem Volk entwurden. Während der Verhandlungen zwischen der deckt. Ihre militärische Laufbahn ging zu Ende, und deutschen Regierungsdelegation unter Konrad Ade- so kamen auf den Konferenzen der „Wiedergeburt“ nauer und der sowjetischen Delegation im Septem- Offiziere des Heeres, der Luftwaffe, der Marine und ber 1955 wurde mehrfach die Zahl von 130.000 Aus- der Panzertruppen zu Wort. Keine Frage: Es war aureisewilligen genannt. Die Zahl kam aus der Addi- ßergewöhnlich, zusehen zu können, wie Offiziere, tion der an den Suchdienst des DRK gerichteten teils in Uniform, den Staat, in dessen Dienst sie noch standen, scharf kritisierten! Briefe zustande. An eine Organisation von Ausreisewilligen war zu Noch-Mitglieder der KPdSU oder solche Delegier222

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews ten, die es vor kurzem noch gewesen waren, entwarfen unermüdlich neue Pläne und gaben der in- und ausländischen Presse bereitwillig Interviews. Nur wollten die Worte nicht mit den Taten zusammenpassen! Wie aufregend war es, als im März 1991 ein Rat zur Wiederherstellung der Wolgarepublik gebildet wurde! Der erste Beschluss dieses Rates war, nicht in die Wolgaregion zu gehen und vorerst keine Tätigkeit zu entwickeln. Wer mochte danach noch an einen Erfolg glauben? Oder das Angebot, Häuser der Deutschen in Sibirien, Kasachstan und anderswo gegen die Kasernen der aus Deutschland abziehenden Sowjetarmee zu tauschen? Nur, diese Kasernen gehörten bereits der Bundesregierung, und für die Versorgung der heimkehrenden Offiziere und Zeitsoldaten mit Wohnraum wurden Gelder aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt. Die Bundesregierung sollte mit der Drohung einer Auswanderung aus der GUS nach Argentinien, statt nach Deutschland, unter Druck gesetzt werden. Nur, die Aufnahmebereitschaft Argentiniens fehlte, und die Ausreisewilligen fragte auch niemand danach, ob sie denn wirklich nach Argentinien wollten. Zahlreich waren die Kurswechsel der wie Pilze aus dem Boden schießenden deutschen Vereine. Jeder behauptete, Hunderttausende, ja bis zu neun Millionen Menschen zu vertreten. Die Inlands- und Auslandspresse fand das eine kurze Zeit lang berichtenswert. Wer in Moskau wohnte, deutsch sprach und erreichbar war, wurde öfter interviewt. Wenn es darum ging, eine drohende Einigung in der Autonomiebewegung zu verhindern, zauberten die „kompetenten Organe“ der Presse - wie im Zirkus Kaninchen aus dem Hut - Vorsitzende von Vereinen hervor, die bis dahin keiner gekannt hatte. Die neuen (nur: wessen?) Ideen (z.B.: eine deutsche Autonomie im Gebiet Kaliningrad) machten die Runde und lähmten die Autonomiebewegung. Krim-Tataren etwa konnte so etwas nicht passieren. Sie wussten, wo ihre Heimat ist. Bei den Deutschen aus Russland waren solche überraschenden Wendungen nicht zuletzt deshalb möglich, weil kaum einer von ihnen die Geschichte seines Volkes kannte. Ein anderer Grund ist sicher darin zu sehen, dass niemand von den Aktivisten wirklich frei und unabhängig war. Der Druck von Seiten der Behörden, aber auch wirtschaftliche Nöte und Verlockungen in- und ausländischer „Sponsoren“ ließen manchen gelegentlich (?) seine Prinzipien (?) vergessen.

einem Land, das ihnen keine Autonomie geschenkt hatte? Doch in der neuen, von ihnen so genannten historischen Heimat bekamen sie auch keine Vorzugsbehandlung. Die Integration und der Aufbau einer neuen Existenz sind sicher kein leichtes Unterfangen. Das schafft nicht jeder so einfach. War das etwa der Grund für die in russischsprachigen Zeitungen im Verlauf des Bundestagswahlkampfs 1998 veröffentlichte Forderung: Uns (2,5 Mio. Aussiedlern) stehen zwölf bis 14 Bundestagsmandate zu! In jedem Bundesministerium sollte eine von Deutschen aus Russland geleitete Abteilung gebildet werden, welche die auf Osteuropa gerichtete Politik dieses Ministeriums koordinieren werde. Wer außer den Verfassern solcher weltfremden Vorstellungen mochte daran ernsthaft geglaubt haben!? Die CDU bzw. CSU wollten den neuen Superstars der Politik keine aussichtsreichen Plätze auf ihren Wahllisten anbieten. Darauf wurde im „Spiegel“ angedroht, man werde dann eben zur SPD gehen. Auch daraus wurde nichts. Unsere Politvagabunden haben in den letzten zehn Jahren mal die Schill-Partei, mal die Deutsche Partei unterstützt. Ohne Erfolg. Inzwischen sind einige von ihnen bei den Linken, andere bei der NPD gelandet. Der Versuch, sich der Landsmannschaft als Steigbügelhalter für den Einstieg in die große Politik zu bemächtigen, liegt auch erst ein knappes Jahr zurück. Eine kleine Gruppe von selbst auserwählten NeuPolitikern erklärte sich kurzerhand zur Mehrheit und konnte nicht begreifen, dass die Mehrheit der Mitglieder der Landsmannschaft ihnen nicht folgen wollte. Vielleicht ja auch deshalb, weil man ihnen nicht erklärt hatte, wohin die Reise gehen soll? Versuche, die Gutgläubigkeit oder Ahnungslosigkeit von Aussiedlern zu missbrauchen, gibt es immer wieder. Zwei Beispiele dafür aus jüngster Vergangenheit, die als Pflege der russischen Sprache deklariert wurden: In der Zeitung „Evropa Express“ führte deren Herausgeber in der Nummer 40 im Oktober 2002 aus: Letzte Woche fand in Berlin die Gründungsversammlung der „Assoziation russischer Landsleute in Deutschland“ statt. Die Assoziation hat vor, zur Kultur- und Informationsmagistrale zwischen Deutschland und Russland zu werden, sozusagen über die Russischsprechenden ein russisches Fenster nach Deutschland zu öffnen. Der demographische Wandel in Russland und der bereits jetzt akute Mangel an qualifizierten Fachkräften, aber auch der unverhohlene Versuch, über Auswanderer aus Russland auf die Gesellschaften der Aufnahmeländer Einfluss zu gewinnen, führten Zur gegenwärtigen Situation zur Auflage des Programms des russischen PräsidenEin nicht geringer Teil der Vorsitzenden von damals ten Putin „Sootetschestwenniki“ (Landsleute). kam nach Deutschland. Was sollten sie auch in Unter diesen Landsleuten wurden unter reger Teil223

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews nahme von Politikern, Kirchenvertretern, Geschäftsleuten und anderen Repräsentanten Russlands Vereine gegründet und Kongresse abgehalten. So auch im Juni 2007 in Köln und im Juli 2007 in Nürnberg. Und weil es scheinbar um eine gute Sache ging, gab es von Seiten aller politischen Parteien Grußadressen und Glückwünsche. Die 2,5 Mio. in Deutschland angekommenen Aussiedler versuchte man kurzerhand als russische Landsleute zu vereinnahmen und zu organisieren. Tatkräftige Unterstützung kündigte der russische Generalkonsul in München, Aleksandr Karatschewzew, an: Die Interessen der russländischen Landsleute müssen geschützt werden, und dies entschieden. Der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses der Russischen Staatsduma für Angelegenheiten der GUS und Verbindungen mit den Landsleuten, Sergej Antufjew, präzisierte die Aufgabe: Russland muss die Interessen der Aussiedler „lobbieren“. Dies war in der Zeitung „Moskowskij komsomolez. Germanija“ im Juli 2007 nachzulesen. Am Weltkongress der russischsprechenden Landsleute, der Anfang November 2008 in Moskau stattfand, gab es unter den acht Delegierten aus Deutschland keinen einzigen Vertreter der Landsmannschaft. Die Präsidentin des Zentrums der russischen Kultur MIR in München vermerkte dies mit Bedauern. Von den von ihr geschätzten 5 Mio. russischsprechenden Menschen in Deutschland seien mindestens 3 Mio. Deutsche aus Russland, und die seien nicht vertreten gewesen. Allerdings sei auch keiner ihrer Vorschläge in die Resolution aufgenommen worden. Die Resolution sei wohl schon vor dem Kongress verfasst worden, so ihre Vermutung. Nun kann man allerdings die russische Klassik lieben und die Gegenwart kennen, auch ohne Mitglied in einem von Moskau aus geleiteten Verein zu sein. So jedenfalls sehen es die allermeisten Aussiedler. Wer es anders sieht, kann ja Vereinsmitglied werden. Dann aber bitte persönlich und nicht im Namen und als Vertreter aller Aussiedler.

Seit Herbst letzten Jahres gibt es ein neues Schreckgespenst: Deutsche aus Russland in der NPD! Aufregend daran ist, dass die NPD noch vor wenigen Jahren die Aussiedler aus der GUS als unerwünschte Ausländer ablehnte, jetzt aber als Stimmvieh nutzen möchte. Mehr noch: Im Mai soll es eine gemeinsame Kundgebung der NPD mit einer dubiosen „DeutschRussischen Friedensbewegung“ in Friedland geben. Angeblich soll für den Frieden demonstriert werden. Die wichtigsten Anliegen dieses von russischen Neonazis beeinflussten Vereins, sind der Austritt Deutschlands aus der NATO, die Unterstützung der russischen Politik im Kaukasus usw. Die NPD teilt diese Ziele. Die Deutschen aus Russland auch? Wohl kaum! Zum Beschützer aller Deutschen spielt sich auch der Herausgeber der berüchtigten Zeitschrift „Ost-WestPanorama“ in der April-Ausgabe auf. Seine Lösung aller Probleme lautet: Parteien verbieten und Vertreter direkt wählen. Die Grundlage der parlamentarischen Demokratie soll, wenn es nach ihm ginge, abgeschafft werden. Mit der Forderung, Parteien zu verbieten, reiht er sich allerdings unter die Gegner der Verfassung ein. In Deutschland leben und das bestehende Rechtssystem ablehnen – das soll sein Heilsweg sein. Da bleibt zu hoffen, dass seinen Lesern ein Licht aufgeht. Die Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben des Landes ist ein Grundrecht eines jeden Bundesbürgers. Dies sollte man sich weder von Extremisten aus den eigenen Reihen noch von solchen aus der Ferne nehmen lassen. Zu wünschen ist deshalb, dass sich mehr Deutsche aus Russland politisch betätigen, mit Ideen und Tatkraft zum Wohle der gesamten Bevölkerung Deutschlands. Ihnen soll die Meinungsführerschaft gehören, nicht politischen Vagabunden und Bauernfängern. (April 2009)

Rechtsaußen? Nein danke! Stellungnahme des Bundesvorstandes der Landsmannschaft Liebe Landsleute, in den letzten Monaten tauchen immer wieder Meldungen, Stellungnahmen und Ankündigungen dubioser Organisationen zu Spätaussiedlerfragen auf, die am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums angesiedelt sind und mit Demokratie, wie sie von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland verstanden wird, nichts zu tun haben. Diese Miniorganisationen nehmen sich das Recht

heraus, für die Deutschen aus Russland zu sprechen, ohne dafür auch nur die geringste Legitimation zu besitzen. Dabei schrecken sie nicht davor zurück, Inhalte der Landsmannschaft in verfälschter Form für ihre Zwecke zu missbrauchen. Die Landsmannschaft verwahrt sich mit Nachdruck gegen diese skrupellosen Versuche, ihren guten Ruf und den der Deutschen aus Russland zu beschädigen und damit der gesamten Volksgruppe zu schaden!

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Die Verantwortlichen der Organisationen haben wir aufgefordert, sämtliche Verweise auf die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland aus ihren Stellungnahmen zu entfernen. Wir zitieren aus unserem Schreiben: „Mit ihren Mitteln und ihren Inhalten hat die Landsmannschaft in den beinahe 60 Jahren ihres Bestehens weitaus mehr für die Deutschen in und aus der ehemaligen Sowjetunion erreicht, als irgend jemand zum Zeitpunkt ihrer Gründung für möglich gehalten hätte: - In zäher Kleinarbeit und häufig auch durch den Gang vor Gericht konnte die Landsmannschaft in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Gleichstellung der Deutschen aus der Sowjetunion mit den anderen Heimkehrern und Vertriebenen erreichen. - Es ist vor allem der Landsmannschaft zu verdanken, dass die Existenz einer diskriminierten deutschen Volksgruppe in der Sowjetunion in den Jahrzehnten nach dem II. Weltkrieg im öffentlichen Bewusstsein blieb und dadurch nicht in Vergessenheit geriet. - Die Landsmannschaft darf es als Erfolg ihrer Politik, die immer auf die Zusammenarbeit mit allen demokratischen Kräften des Landes gesetzt hat,

verbuchen, dass inzwischen rund 2,8 Millionen Deutsche aus der Sowjetunion eine Heimat in der Bundesrepublik gefunden haben. - Und schließlich dürfen wir stolz darauf sein, dass die Integration der Deutschen aus Russland laut offiziellen Untersuchungen als Erfolgsgeschichte zu betrachten ist – auch und nicht zuletzt dank des jahrzehntelangen Wirkens ihrer ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter. Bei dieser Politik soll und wird es bleiben, und es wird bei uns immer Platz sein für alle, die sich auf demokratischer Basis für die Rechte einer Volksgruppe einsetzen wollen, die im Laufe ihrer Geschichte tragische Erfahrungen mit einem Unrechtsstaat machen mussten, in dem die einfachsten Grundregeln demokratischen Verhaltens keine Gültigkeit hatten.“ Adolf Fetsch, Bundesvorsitzender Leontine Wacker, stellvertretende Bundesvorsitzende Waldemar Axt, stellvertretender Bundesvorsitzender Lilli Bischoff, Mitglied des Bundesvorstandes (April 2009)

„Hilfe holen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“ Landesgruppe Niedersachsen setzt sich erfolgreich für Spätaussiedlerfamilien ein Eheleute Elvera und Viktor Krel, Valentina und Viktor Felker sowie Nina Plechanova und David Stoppel Nachdem die Angelegenheit in die Sackgasse geraten war, wandte sich der Vorstand der Landesgruppe erneut an den Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Christoph Bergner, und den Niedersächsischen Minister für Inneres und Sport, Uwe Schünemann, mit der Bitte um Unterstützung. Dank deren Unterstützung und angesichts der Änderung des deutschen Aufenthaltsrechts und der damit verbundenen Vereinbarung eines Übergangsverfahrens war es auch schon davor möglich gewesen, eine Reihe von Problemfällen bei der Familienzusammenführung von Landsleuten positiv zu klären. Als den drei Familien trotz umfangreicher Bemühungen aller Beteiligten immer noch nicht geholfen werden konnte, wandte sich die Landesgruppe Niedersachsen zusätzlich an das Bundesverwaltungsamt in Friedland, wobei sie umfassende Unterlagen bereitÜber ein Jahr lang kämpfte die Landesgruppe Nie- stellte - von der Beschreibung der Sachverhalte bis dersachsen für die Familienzusammenführung der hin zu ärztlichen Attesten und Gutachten. ank der Bemühungen der Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland konnten vor kurzem drei Spätaussiedlerfamilien ihre Zusammenführung feiern. „Die Landsmannschaft kann bei manchen Härtefällen helfen. Aber man sollte sich Hilfe holen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Bei Versuchen, die bestehenden Gesetze und Regelungen zu umgehen oder zu verletzen, könnten sämtliche Hilfsbemühungen zu spät sein.“ So lautet der Appell der Landesvorsitzenden Lilli Bischoff an die Betroffenen bzw. an Verwandte von Landsleuten, die noch drüben - in Russland oder Kasachstan - ausharren müssen. Die Schicksale der drei Familien bestätigen, dass Härtefälle mit vereinten Anstrengungen zu lösen sind, wenn sich die Landsleute rechtzeitig und im gesetzlichen Rahmen darum bemühen.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews ihr, dass ihre Unterlagen bis auf die Meldebescheinigung und den Pass des Ehemannes aus DeutschDie Eheleute Elvera und Viktor Krel hatten den land komplett seien. Ausreiseantrag gemeinsam gestellt. Nachdem Viktor Krel den Sprachtest am 26. März 2007 nicht be- Nina Plechanova standen hatte, vertraute man bei der Entscheidung und David Stoppel der Ehefrau, zunächst allein auszureisen (sie ist seit dem 8. Juli 2007 in Deutschland), dennoch auf eine David Stoppel kam am 19. März 2007 in die Bundesrepublik Deutschland, und schon am 23. Mai 2007 glückliche Familienzusammenführung. Ohne die Spätaussiedlerbescheinigung von Elvera schickte er die erforderlichen Unterlagen für die Krel wurde der diesbezügliche Antrag im Juli 2007 Familienzusammenführung an die Botschaft in Novon der Botschaft nicht angenommen. Es waren wosibirsk. Bei einem Telefonat mit der Botschaft mehrere Anfragen nötig, ehe die Bescheinigung im wurde seiner Ehefrau Nina Plechanova jedoch geSeptember 2007 ausgestellt wurde und damit die Un- sagt, dass die Unterlagen nicht vorlägen, worauf der Ehemann diese ein zweites Mal zuschickte. terlagen vollständig abgegeben werden konnten. Aufgrund der Aufregung und der Unsicherheit über Bei einem weiteren Telefonat mit der Botschaft im einen positiven Ausgang der ersehnten Familien- Juli 2007 erhielt Nina Plechanova einen Termin zum zusammenführung zog sich Viktor Krel ein Herzlei- 6. September 2007. Dabei wurde ihr erklärt, sie habe den zu, das seinen gesundheitlichen Zustand ohne einen Sprachtest zu absolvieren und solle sich Aussicht auf Besserung zunehmend verschlechterte. melden, sobald sie soweit sei. Ein ärztliches Gutachten bestätigte, dass ein erneuter Sprachtest, der von der Botschaft in Aussicht gestellt Zusammenfassend ist festzustellen: wurde, unzumutbar geworden war. Infolge der wach- Alle drei Ehepaare hatten ihren Antrag auf gemeinsenden Unsicherheit hinsichtlich eines günstigen same Ausreise mit den jeweiligen Ehepartnern noch Ausgangs des sich über ein Jahr hinziehenden Ver- vor der Neuregelung gestellt. Es wurde ihnen mitgefahrens musste sich auch Elvera Krel in ärztliche Be- teilt, dass eine gemeinsame Ausreise zwar nicht möglich sei, einer Ausreise im Rahmen der Familihandlung begeben. enzusammenführung nach Erhalt der entsprechenden Dokumente aus Deutschland aber nichts im Wege Valentina und Viktor Felker stehe. Auch die Eheleute Felker hatten ihren Ausreisean- Die zermürbenden monatelangen Wartezeiten fortrag gemeinsam gestellt, jedoch liegt hier der derten von allen drei Familien ihren Tribut bis hin zu erheblicher gesundheitlicher Beeinträchtigung. Sachverhalt ein wenig anders: Sowohl aus finanziellen als auch vorrangig aus Als alle drei Ehepaare in diesem Jahr endlich zusamgesundheitlichen Gründen und aufgrund der großen menkommen konnten, war ihr Glück unbeschreiblich Entfernung zur Botschaft erfolgte die Antragstellung und die Freude bei der Landsmannschaft riesig. Für über das Unternehmen Planeta-tour in Rubzowsk die tatkräftige Unterstützung bei der Lösung der drei (Gebiet Altai). Für Viktor Felker konnte die Angele- Problemfälle bedankte sich die Landesgruppe vor genheit ohne nennenswerte Probleme geregelt wer- allem bei Dr. Christoph Bergner und Uwe Schünemann. „Das Glück der Eheleute, die zusammenden; er lebt seit dem 4. Juni 2007 in Deutschland. Vor dem Hintergrund dieser positiven Erfahrung ver- gefunden haben, ist für uns eine Belohnung für das traute auch Valentina Felker auf eine problemlose große Engagement in der zurückliegenden Zeit“, so Regelung der Familienzusammenführung durch das Lilli Bischoff in einem Dankschreiben. VadW Unternehmen. Und wegen ihres gesundheitlichen (Mai 2009) Zustandes konnte sie ohnehin keine andere Möglichkeit in Betracht ziehen. Planeta-tour bestätigte Elvera und Viktor Krel

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Presseerklärung der Landsmannschaft zum 30. Bundestreffen in Rheinberg (Auszüge) n regelmäßigen Abständen bieten die Bundestreffen der Landsmannschaft die Gelegenheit, Bilanz zu ziehen über das Geleistete und das für die Zukunft Geplante zu präsentieren. In diesem Jahr sind die Initiativen ganz an dem Motto des Treffens ausgerichtet. „Wir gestalten mit – wir haben eine Stimme!“ wird der Landsmannschaft als Appell dienen für eine noch intensivere Beteiligung am sozialen und politischen Leben der Bundesrepublik Deutschland. Und es soll die Deutschen aus Russland daran erinnern, welche Kräfte in ihr als Volksgruppe stecken, die sich in vorbildlicher Weise integriert hat und mit einem Bevölkerungsanteil von beinahe 3,5 Prozent (circa 2,8 Millionen) nicht mehr zu übersehen ist.

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Die Landsmannschaft wird all das Positive zeigen, das die Deutschen aus Russland mit nach Deutschland gebracht und hier geschaffen haben. Schließlich können sie stolz darauf sein, dass ihnen die Studie „Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland“ des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung einen Spitzenplatz in puncto Integrationsbereitschaft attestiert. Nicht verschweigen wird die Landsmannschaft aber auch die Schwierigkeiten, denen sich die Deutschen aus Russland bei der Aufnahme in der Bundesrepublik und ihren Integrationsbemühungen nach wie vor gegenüber sehen: Insbesondere betrifft das den dramatischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 von knapp 60.000 im Jahr 2004 auf unter 5.000 im vergangenen Jahr. Verschärft wurde die Situation durch die unnachgiebige Haltung dreier Bundesländer (Bayern, Niedersachsen, Hamburg), durch die eine aussiedlerfreundliche Regelung des Familiennachzugs im Spätaussiedleraufnahmeverfahren verhindert wurde. Abgesehen davon ruft die Landsmannschaft erneut dazu auf, die Überbewertung deutscher Sprachkenntnisse als zentrales Anerkennungskriterium zu beenden und gleichzeitig das Angebot von Deutschkursen als Integrationsinstrument erheblich auszubauen. Aufgrund der ablehnenden Haltung der drei Bundesländer – die wegen der Anerkennung des anhaltenden kollektiven Kriegsfolgenschicksals der Deutschen aus Russland durch die Bundesregierung kaum zu verstehen ist – kommt es immer wieder zu tragi-

schen Fällen von Familientrennungen im Spätaussiedleraufnahmeverfahren. Die Landsmannschaft setzt sich deshalb für eine raschere und weniger bürokratische Abwicklung dieser Fälle ein, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit zu leiden hatten und in deren Nachfolgestaaten nach wie vor nicht gleichberechtigt sind. Staatlich festgelegte Regelungen im Fremdrentenbereich haben für Deutsche aus Russland zu Kürzungen ihrer Altersbezüge geführt, die von der Landsmannschaft nicht hingenommen werden können. Es ist für die Landsmannschaft nicht nachvollziehbar, dass Deutsche aus Russland im Alter mit einer erheblich reduzierten Rente rechnen müssen, obwohl ihre Kinder und Enkel weitaus mehr in die deutschen Rentenkassen einzahlen, als ihnen selbst aus diesen Kassen zufließt. Und noch weniger Verständnis hat die Landsmannschaft dafür, dass für die Deutschen aus Russland der einer gerechten und verlässlichen Rentenregelung zugrunde liegende Generationenvertrag außer Kraft gesetzt wird. Aufgrund der fehlenden Anerkennung ihrer Qualifikationen sehen sich die Deutschen aus Russland Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt und sind gezwungen, Arbeitsstellen anzunehmen, die erheblich unterhalb ihres Ausbildungsniveaus liegen. Wir rufen daher vor allem die Bundesländer und Standesorganisationen auf, das zweifellos vorhandene Potential der Deutschen aus Russland in angemessener Weise zu nutzen. Um zu verhindern, dass die Deutschen aus Russland ins zweite oder dritte Glied abgeschoben werden, schlägt die Landsmannschaft insbesondere die Verbesserung der Transparenz bei den Anerkennungsverfahren für Bildungs- und Berufsabschlüsse sowie eine Verbesserung bzw. den Ausbau der Möglichkeiten zum Nachholen fehlender Qualifikationsbestandteile vor. Sieht man von einigen Fortschritten auf regionaler Ebene ab, ist es um die aktive Beteiligung der Deutschen aus Russland an politischen Entscheidungsprozessen weiterhin schlecht bestellt – für die Landsmannschaft Anlass zu einem Aufruf an die Parteien, den Deutschen aus Russland den Weg zu politischer Verantwortung in ihren Reihen zu ebnen. Und schließlich fordert die Landsmannschaft die Vertreter der politischen Parteien, sämtliche gesellschaftlichen Gruppierungen und die einheimische Bevölkerung auf, sich gegen eine oft einseitige und von Vorurteilen geprägte Berichterstattung über

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Deutsche aus Russland in den Medien zur Wehr zu siedler konstruiert werden, positive Erscheinungen, setzen. Es kann nicht geduldet werden, dass etwa aus die bei weitem überwiegen, dagegen kaum Erwähbeklagenswerten Einzelfällen krimineller Auffäl- nung finden. (Juni 2009) ligkeit Vorwürfe an die Gesamtheit der Spätaus-

„Die Deutschen aus Russland haben sich um unser Land verdient gemacht.“ Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble beim 30. Bundestreffen der Landsmannschaft und zweieinhalbtausend Besucher waren zu Gast beim 30. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, das unter der Schirmherrschaft des nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers am 13. Juni in der Messe Niederrhein in Rheinberg bei Duisburg stattfand. Die Reden bei der Feierstunde des Treffens, für das die Landsmannschaft das Motto „Wir gestalten mit - wir haben eine Stimme!“ gewählt hatte, waren geprägt vom Bekenntnis zu den Deutschen aus Russland und ihrem Beitrag zum kulturellen und gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik.

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Der Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, erinnerte in seiner Festrede daran, dass die Bundesregierung dem Versprechen treu geblieben sei, das er den Teilnehmern des Bundestreffens der Landsmannschaft in Wiesbaden 1990 gegeben habe: Das Tor nach Deutschland ist für die Deutschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bis zum heutigen Tag offen geblieben. Durch ihre immer wieder unter Beweis gestellte vorbildliche Integrationsbereitschaft hätten sich die Deutschen aus Russland, so der Minister, längst zu einem Gewinn für die Bundesrepublik entwickelt: „Die Deutschen aus Russland haben sich um unser Land verdient gemacht, und sie tun das bis heute.“ In diesem Zusammenhang würdigte Dr. Schäuble die Leistung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die der Aufgabe gerecht geworden sei, den Deutschen aus Russland den Weg in diese Gesellschaft zu ebnen. Die Bundesregierung werde deshalb auch künftig die Landsmannschaft als verlässlichen Partner betrachten. Seine Unterstützung sagte der Innenminister den Deutschen aus Russland vor allem hinsichtlich der Beseitigung von Härtefällen bei der Familienzusammenführung zu. Außerdem verwies er darauf, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gegen-

wärtig ein Konzept erarbeite, um die berufliche Integration von Spätaussiedlern zu erleichtern. Zum Status der Deutschen aus Russland erklärte Bundesminister Schäuble abschließend: „Die Deutschen in Russland haben gelitten, weil sie trotz ihrer Loyalität zu Russland immer auch Deutsche geblieben waren. Sie sind hergekommen, weil sie hier als Deutsche leben und sich einbringen wollen. Wenn sie nun in das Land ihrer Ahnen zurückkehren, dann sind sie Deutsche unter Deutschen und nicht Teil einer russischsprachigen Diaspora.“ Appell an die politisch Verantwortlichen Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, fasste die wesentlichen Punkte seiner selbstbewussten Ansprache, in der er immer wieder stolz auf die Leistungen seiner Landsleute verwies, mit einem Appell an die politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik zusammen: - „Die Deutschen aus Russland wollen keine Geschenke, aber Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. - Das Tor nach Deutschland soll für sie offen bleiben – 5.000 Ausreisegenehmigungen pro Jahr sind zu wenig! - Aufgrund des nach wie vor andauernden Kriegsfolgenschicksals der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion muss ihre Einreise anders geregelt werden als bei Zuwanderern, die kein vergleichbares Schicksal haben. Die vom Gesetzgeber angestrebte Gleichbehandlung führt in der Realität zu Ungerechtigkeit. - Familientrennungen aufgrund von juristischen Spitzfindigkeiten sind mit den Prinzipien eines demokratischen Staates nicht vereinbar! - Deutsche aus Russland haben das Recht auf Arbeitsplätze, die ihrer Qualifikation und ihrem Fleiß angemessen sind. - Wir können keinen Grund dafür erkennen, das

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews zweifellos vorhandene Potential insbesondere unserer Akademiker brach liegen zu lassen. - Es ist moralisch nicht zu rechtfertigen, dass unsere Rentner nach einem langen und anstrengenden Arbeitsleben mit einer Minimalrente abgespeist werden. - Durch beharrliche, kompetente und sachliche Arbeit hat es die Landsmannschaft erreicht, von den politisch Verantwortlichen auf Bundes- und Länderebene als erster Ansprechpartner in Sachen Aussiedlerpolitik angesehen zu werden. Um auch in den Strukturen der Parteien und anderer gesellschaftlicher Organisationen stärker berücksichtigt zu werden, sind nicht nur diese gefordert, sondern auch unsere Landsleute selbst – ganz nach dem Motto des Bundestreffens: ‚Wir gestalten mit – wir haben eine Stimme!’“ „Deutsche aus Russland sind in unserem Land willkommen!“ Ihre Solidarität mit den Deutschen aus Russland bekräftigten auch die anderen prominenten Redner des Bundestreffens. Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, stellte in den Mittelpunkt ihrer Rede den Beitrag der Vertriebenen und Aussiedler zur Demokratieentwicklung in Deutschland. Sie seien „Hefe für die Demokratie“. Ihr Verband stehe voll und ganz hinter den Forderungen der Landsmannschaft, vor allem was die Beseitigung von Hindernissen bei der Familienzusammenführung anbetreffe. Armin Laschet, Minister für Generationen, Familie,

Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, ging in seiner Rede auf das Motto des Bundestreffens „Wir gestalten mit – wir haben eine Stimme!“ ein, das gleichermaßen für die Integrationspolitik seines Bundeslandes stehen könne: „In Nordrhein-Westfalen haben wir mit dem Koalitionsvertrag ein klares Signal gegeben: Spätaussiedler sind in unserem Land willkommen und werden es auch in Zukunft sein. Wir sehen sie als Bereicherung an und wenden uns ihren Anliegen und Problemen besonders zu.“ Seine Hilfe bei der Regelung von Härtefallen bei der Familienzusammenführung sagte auch der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Dr. Christoph Bergner, zu. Außerdem kündigte er bei einer Fragestunde die Prüfung von Verfahren zur Verbesserung der Fremdrentenregelung für Deutsche aus Russland an. Die Bundesrepublik Deutschland habe nach wie vor eine besondere Verpflichtung den Deutschen aus Russland gegenüber, die von allen deutschen Volksgruppen am längsten unter dem II. Weltkrieg gelitten hätten und dessen Folgen bis in die Gegenwart spüren würden. Diese Verpflichtung gelte nicht nur für die Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik, sondern auch für ihre Landsleute in der GUS. Wie bei Bundestreffen der Landsmannschaft Tradition, wurde die Feierstunde mit einem Gebet eröffnet, das Pfarrer Edgar L. Born sprach, und nach der Totenehrung durch Visitator Dr. Alexander Hoffmann mit dem gemeinsamen Singen von „Großer Gott, wir loben dich“ und des Deutschlandliedes abgeschlossen. VadW (Juni 2009)

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30. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Begrüßungsrede Adolf Fetsch (Auszüge) Den einen oder anderen mag es überrascht haben, dass wir für unser 30. Bundestreffen mit „Wir gestalten mit – wir haben eine Stimme!“ ein Motto gewählt haben, das auf den ersten Blick vielleicht ein wenig sperrig zu sein scheint, keine Forderungen an den Staat und das Land enthält und auch auf das inzwischen vielleicht allzu oft gebrauchte Wort „Integration“ verzichtet. Nach langem Überlegen haben wir uns schließlich für dieses Motto entschieden, durch das wir zum einen ausdrücken, dass die Deutschen aus Russland nach Jahrzehnten der Verfolgung in der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland angekommen und in der Lage sind, sich mit ihrem Fleiß und ihren Fähigkeiten an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens in ihrer wirklichen Heimat zu beteiligen. Bestätigt wurde diese Auffassung der Landsmannschaft durch die am 26. Januar 2009 veröffentlichte Studie „Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland“ des Berliner Institutes für Bevölkerung und Entwicklung. Laut dieser Studie nehmen Aussiedler gemeinsam mit Migranten aus den EU-Ländern den Spitzenplatz hinsichtlich ihrer Integrationsbereitschaft ein. Trotz erschwerter Startbedingungen schneiden sie vor allem im Bildungs- und Arbeitsbereich besser ab als andere Herkunftsgruppen. Als besonders bemerkenswert bezeichnet die Studie den Rückgang bei der Arbeitslosigkeit, die sich von der ersten auf die zweite Generation fast halbiert hat. Gleichzeitig rufen wir mit dem Motto „Wir gestalten mit – wir haben eine Stimme!“ aber auch die Deutschen aus Russland auf, sich ihrer Qualitäten bewusst zu werden und ihre Stärke zu nutzen, um sich in demokratischer Weise für ihre Interessen und Ziele einzusetzen. Wir gehen gegenwärtig davon aus, dass rund 2,8 Millionen Deutsche aus Russland in der Bundesrepublik leben – was in etwa der Gesamtbevölkerung Schleswig-Holsteins entspricht und über derjenigen der Bundesländer Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen liegt. Damit sollten die Deutschen aus Russland auch rein quantitativ ein Faktor sein, der nicht mehr zu vernachlässigen oder gar zu übersehen ist. Leider sprechen die Realitäten in der Bundesrepublik Deutschland aber auch heute noch eine andere Sprache. Denn obwohl die zitierte Berliner Studie und zahlreiche andere wissenschaftliche Untersuchungen

beinahe ausschließlich Positives über Deutsche aus Russland berichten, kann in vielerlei Hinsicht keine Rede davon sein, dass sie in ihrer Gesamtheit in angemessener Weise wahrgenommen und berücksichtigt werden. Und noch weniger kann die Rede davon sein, dass sämtliche ihrer Probleme gelöst sind. Vor allem meine ich dabei den drastischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 von knapp 60.000 im Jahr 2004 auf unter 5.000 im vergangenen Jahr. Von einigen Teilerfolgen abgesehen, hatte die Landsmannschaft mit ihren jahrelangen Bemühungen um eine Nichteinbeziehung der Deutschen aus Russland in den Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen Erfolg. Dennoch werden wir in unseren Bemühungen nicht nachlassen, möglichst vielen Deutschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion die Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen, und wenden uns nach wie vor insbesondere gegen eine Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren. Verschärft wurde die Situation durch die unnachgiebige Haltung dreier Bundesländer bei der Innenministerkonferenz der Länder, durch die eine aussiedlerfreundliche Regelung des Familiennachzugs im Spätaussiedleraufnahmeverfahren verhindert wurde. Bedanken will ich mich in diesem Zusammenhang aber ganz ausdrücklich bei Herrn Dr. Bergner sowie den Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, die uns in den letzten Monaten bei der Beseitigung von Härten in konkreten Fällen von Familientrennungen hilfreich zur Seite standen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei an dieser Stelle außerdem ausdrücklich betont, dass weder Herrn Innenminister Dr. Schäuble noch Herr Dr. Bergner für die gegenwärtig gültige restriktive Regelung des Familiennachzugs von Spätaussiedlern verantwortlich zu machen sind. Ebenso wie Herr Dr. Bergner setzt sich die Landsmannschaft ganz allgemein für eine raschere und weniger bürokratische Abwicklung dieser Fälle ein. Schließlich sind davon Menschen betroffen, die aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit in der ehemaligen Sowjetunion zu leiden hatten und dort nach wie vor auf ihre faktische Rehabilitierung als Volksgruppe warten. Vor einem guten halben Jahr hat die Landsmann-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews schaft eine Initiative gestartet, die sich gegen die Kürzung der Altersbezüge für Deutsche aus Russland richtet, die wir für nicht tolerierbar halten. Wir haben kein Verständnis dafür, dass viele Deutsche aus Russland bei vergleichbaren Beschäftigungszeiten mit einer erheblich geringeren Rente als Einheimische leben müssen, obwohl ihre Kinder und Enkel weitaus mehr in die deutschen Rentenkassen einzahlen, als ihnen selbst aus diesen Kassen zufließt. Noch weniger Verständnis hat die Landsmannschaft dafür, dass ausgerechnet für unsere Landsleute der Generationenvertrag außer Kraft gesetzt wird, der hier in der Bundesrepublik einer gerechten und verlässlichen Rentenregelung zugrunde liegt. Gleiches gilt für das immer wieder zu hörende Argument, eine angemessene Fremdrentenregelung würde an der mangelnden Sozialverträglichkeit scheitern. Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen: Trotz allseits bescheinigter hoher Arbeitswilligkeit sehen sich zahlreiche Deutsche aus Russland aufgrund der fehlenden Anerkennung ihrer Qualifikationen Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt und sind gezwungen, Arbeitsstellen anzunehmen, die erheblich unterhalb ihres Ausbildungsniveaus liegen. Es ist doch nicht hinnehmbar, dass viele unserer Landsleute gezwungen sind, als Ärzte im Pflegedienst, als Lehrerinnen auf Putzstellen und als Ingenieure in Zeitarbeitsfirmen zu arbeiten! Ebenfalls sehr zu wünschen übrig lässt die Einbeziehung von Deutschen aus Russland in politische Entscheidungsprozesse auf regionaler Ebene. Von Einzelfällen abgesehen, wird dort nach wie vor häufiger über Deutsche aus Russland als mit ihnen gesprochen. Als sehr positiv beurteilen wir dagegen die aktive Beteiligung an den Integrationsgipfeln der Bundesregierung und an der 14. Sitzung der Deutsch-Russischen Regierungskommission im Oktober des vergangen Jahres. Zum Integrationsgipfel will ich Ihnen eine kleine Anekdote erzählen, die über den Ist-Zustand unserer Volksgruppe vielleicht mehr aussagt als lange Erörterungen. Als ich mich während der Sitzung zu Wort meldete, wurde dies von der Bundeskanzlerin registriert, die daraufhin meinte „Die Deutschen aus Russland gehören eigentlich gar nicht in diese Veranstaltung – sie sind ja Spätaussiedler!“ Bei der 14. Sitzung der Deutsch-Russischen Regierungskommission konnte ich mich als Bundesvorsitzender der Landsmannschaft bei Herrn Dr. Bergner insbesondere für seine Unterstützung der landsmannschaftlichen Bemühungen um die Rehabilitation der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion bedanken.

Als sehr erfreulich bezeichnete ich auch die bei der 1. Internationalen Konferenz der russlanddeutschen Dachverbände intensivierte Zusammenarbeit mit unseren Partnerorganisationen in Russland nach dem 29. Bundestreffen der Landsmannschaft im Mai 2007 in Wiesbaden, die im Oktober und Mai 2007 beim 6. Forum der Begegnungszentren der Russlanddeutschen in Moskau fortgesetzt wurde. Infolge des im Mai 2007 unterzeichneten Kooperationsabkommens zwischen der Landsmannschaft, dem „Internationalen Verband der deutschen Kultur“ und dem „Jugendring der Russlanddeutschen“ haben sich inzwischen acht Partnerschaften zwischen Gliederungen der Landsmannschaft und Partnern in Russland etabliert, und für dieses Jahr sind drei weitere Partnerschaften geplant. Erst in dieser Woche hat sich im Übrigen meine Kollegin vom Bundesvorstand der Landsmannschaft, Frau Lilli Bischoff, an der jüngsten Sitzung der Deutsch-Russischen Regierungskommission beteiligt und setzte damit die vertrauensvolle Zusammenarbeit fort. *** Ich denke, dass wir voller Stolz und ohne falsche Bescheidenheit auf das blicken sollten, was die Deutschen aus Russland mit hierher gebracht haben und hier leisten. Und ich darf auch feststellen, dass sich die Art und Weise, wie in den Medien über meine Landsleute berichtet wird, allmählich verbessert – Berichte, in denen ein unverbesserlicher Verfasser lediglich negative Vorurteile an den Mann bringen will, wird es immer geben, zumal ja selbst Götter gegen Dummheit vergebens kämpfen, wie das Sprichwort sagt. Verstecken müssen sich die Deutschen aus Russland ganz gewiss nicht: So gehörten zur deutschen Olympiamannschaft in Peking unter anderem die Fußballerin Renate Lingor, die Boxer Konstantin Buga und Wilhelm Gratschow, die Siebenkämpferin Lilli Schwarzkopf, der Sprinter Alexander Kosenkow, der Ringer Konstantin Schneider und der Turner Eugen Spiridonow. Die 1980 in Atbassar, Kasachstan, geborene Ina Menzer hat als Box-Weltmeisterin beinahe schon die gleiche Popularität wie die zurückgetretene Regina Halmich. Die 1979 in Duschanbe, Tadschikistan, geborene Angelina Grün wurde bereits mehrfach zur deutschen Volleyballerin des Jahres gewählt. Und die 1972 im Gebiet Almaty, Kasachstan, geborene Irina Mikitenko hat vor einigen Wochen zum zweiten Mal nach 2008 den renommierten LondonMarathon gewonnen Bei ihnen und bei Künstlern wie den erfolgreichen Sängerinnen Helene Fischer – geboren 1984 in Kras-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews angemessen sind. Wir können keinen Grund dafür erkennen, das ohne jeden Zweifel vorhandene Potential insbesondere unserer Akademiker brach liegen zu lassen. - Es ist moralisch nicht zu rechtfertigen, dass sie nach einem langen und anstrengenden Arbeitsleben mit einer Minimalrente abgespeist werden. - Durch beharrliche, kompetente und sachliche Arbeit hat es die Landsmannschaft erreicht, von den politisch Verantwortlichen auf Bundes- und Länderebene als erster Ansprechpartner in Sachen Aussiedlerpolitik angesehen zu werden. Um auch in den Strukturen der Parteien und anderer gesellschaftlicher Organisationen stärker berücksichtigt zu werden, sind nicht nur diese gefordert, sondern auch unsere Landsleute selbst – ganz nach dem Motto des Bundestreffens: „Wir gestalten mit – wir haben eine Stimme!“ Darüber hinaus ist es längst überfällig, dass die Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion 64 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges die Deutschen aus Russland endlich von den *** Vorwürfen freispricht, die ihnen im berüchtigten VerIch will meine Rede mit einem Appell an die Bun- treibungserlass des Präsidiums des Obersten Sowjets des- und Landesregierungen der Bundesrepublik der Sowjetunion vom 28. August 1941 gemacht wurden. Deutschland beenden: Die Deutschen aus Russland wollen keine Geschen*** ke, aber Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. - Das Tor nach Deutschland soll für sie offen bleiben – 5.000 Ausreisegenehmigungen pro Jahr sind Auch wenn sich die Dinge in mancherlei Hinsicht nicht so entwickeln, wie es nach Auffassung der zu wenig! - Aufgrund des nach wie vor andauernden Kriegs- Landsmannschaft und der Deutschen aus Russland folgenschicksals der Deutschen aus der ehemali- gerecht wäre und sein sollte, wollen wir nicht vergen Sowjetunion muss ihre Einreise anders gere- gessen, dass aufgrund der Unterstützung aller demogelt werden als bei Zuwanderern, die kein ver- kratischen Kräfte des Landes und unter Mitwirkung gleichbares Schicksal haben. Die vom Gesetzge- der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ber angestrebte Gleichbehandlung führt in der Re- inzwischen rund 2,8 Millionen Deutsche aus der Sowjetunion eine Heimat in der Bundesrepublik gealität zu Ungerechtigkeit. - Familientrennungen aufgrund von juristischen funden haben – weitaus mehr, als sich irgend jemand Spitzfindigkeiten sind mit den Prinzipien eines de- bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts vorstellen hätte können. Dafür sagen wir unseren herzlimokratischen Staates nicht vereinbar! - Deutsche aus Russland haben das Recht auf Ar- chen Dank! (Juni 2009) beitsplätze, die ihrer Qualifikation und ihrem Fleiß nojarsk, Russland - und Julia Neigel – geboren 1966 in Barnaul, Russland - sollte durchaus hin und wieder erwähnt werden, dass sie zu den Deutschen aus Russland gehören! Sehr erfreulich ist auch das Bild, dass die vor eineinhalb Jahren gegründete Jugendorganisation der Landsmannschaft, der Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russland – kurz JSDR -, mit seiner Vorsitzenden Elena Bechtold nach außen trägt. Davon überzeugen konnten sich die Besucher des gerade erst vor einer Woche in Mönchengladbach-Rheydt veranstalteten JSDR-Sportfestes, das mit einem reichhaltigen Programm aufwartete. Inzwischen haben sich neben einem JSDR-Bundesverband Landesverbände in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gebildet, so dass es uns um die Zukunft der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland nicht bange zu sein braucht.

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Bundeskanzlerin Merkel: Historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Aussiedlern, Spätaussiedlern und deutschen Minderheiten ührende Repräsentanten der Organisationen der Deutschen aus Russland, der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben waren Teilnehmer eines Arbeitsgesprächs mit Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Dr. Christoph Bergner, am 24. August im Bundeskanzleramt.

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Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland war durch ihren Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch und seinen Stell-vertreter Waldemar Axt vertreten, der Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russland durch seine Bundesvorsitzende Elena Bechtold. Für den Verband der Siebenbürger Sachsen beteiligte sich ihr Bundesvorsitzender Dr. Bernd Fabritius, für die Landsmannschaft der Banater Schwaben der Bundesvorsitzende Bernhard Krastl. Behandelt wurden in dem rund einstündigen Gespräch vor allem Fragen der Aufnahme und Integration sowie Probleme im Ausbildungs- und Berufsbereich. Sowohl die Bundeskanzlerin als auch der Aussiedlerbeauftragte streiften aber auch die Lage der Deutschen in den Herkunftsgebieten im Osten und Südosten Europas. Probleme und Verantwortung Bundesvorsitzender Adolf Fetsch fasste seine Eindrücke des Gesprächs für „Volk auf dem Weg“ wie folgt zusammen: Das Gespräch war keinesfalls eine Showveranstaltung, bei der lediglich Höflichkeiten ausgetauscht wurden, vielmehr kamen sämtliche Problempunkte, die wir im Vorfeld angerissen hatten, zur Sprache. Auf Initiative der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ging Frau Dr. Merkel beispielsweise auf die nicht zufrieden stellenden Regelungen von Härtefällen im Spätaussiedleraufnahmeverfahren ein. Außerdem konnten wir im Verlauf des Gesprächs Fragen behandeln, die sich auf den Fremdrentenkomplex und Integrationsleistungen beziehen, sowie Probleme, die sich insbesondere für Deutsche aus Russland mit akademischem Hintergrund durch

Defizite bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen nach EU-Richtlinien, durch die mangelhafte Förderung beruflicher Nachqualifizierungsmaßnahmen und hinsichtlich der beruflichen Selbständigkeit ergeben haben. Weitere Themen waren die Einbeziehung der Landsmannschaft bei zwischenstaatlichen Kontakten und bei Hilfsmaßnahmen für unsere Landsleute in ihren jetzigen Wohngebieten in der GUS sowie die leidige Frage der Förderung der Kulturarbeit der Vertriebenen und Aussiedler gemäß Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes. Das Gespräch bei Frau Dr. Merkel war das erste dieser Art, das wir im Vorfeld einer Bundestagswahl führen konnten, und es zeigte, dass die Anliegen unserer Volksgruppe inzwischen auch auf höchster Ebene in vollem Umfang wahrgenommen und unterstützt werden, wie sich durch die folgende Aussage der Bundeskanzlerin belegen lässt: ‘Die Belange der Aussiedler und Spätaussiedler sind für mich ein wichtiges Anliegen. Seit 1950 sind 4,5 Millionen Menschen aus den Ländern Mittel-, Ostund Südosteuropas als Aussiedler und Spätaussiedler nach Deutschland gekommen. Sie sind mit ihrem Können, ihrem Fleiß und ihrer kulturellen Tradition eine Bereicherung für unser Land. Die große Mehrzahl von ihnen ist hervorragend integriert. Viele von ihnen sind mit ihren Sprachkenntnissen und ihrem kulturellen Hintergrund zugleich wichtige Brückenbauer in die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Unsere Politik für Aussiedler und Spätaussiedler und auch für die deutschen Minderheiten in Mittel-, Ostund Südosteuropa wird geleitet vom Bewusstsein unserer besonderen historischen Verantwortung.’ Wenn man bedenkt, dass die Lage der Deutschen aus Russland in früheren Bundestagswahlkämpfen kein Thema war und geradezu tabuisiert wurde, können wir dieses Entgegenkommen der Kanzlerin gar nicht hoch genug einschätzen. Für unsere Landsmannschaft war das Gespräch ein weiterer Erfolg bei ihren Bemühungen um eine verstärkte Einbeziehung der Deutschen aus Russland in politische Entscheidungsprozesse auf Bundesebene. In diesem Bereich setzt sich die Landsmannschaft unter anderem für die Fortsetzung bzw. den Ausbau der Beteiligung am Integrationsgipfel der Bundesregierung, an den Sitzungen der Deutsch-Russischen

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Regierungskommission sowie am Petersburger Dialog ein. Ich will in diesem Zusammenhang erwähnen, dass meine Bundesvorstandskollegin Lilli Bischoff und ich aktiv an den beiden letzten Sitzungen der Deutsch-Russischen Regierungskommission beteiligt waren. Bei der letzten Sitzung war darüber hinaus auch der JSDR mit seiner Vorsitzenden Elena Bechtold vertreten. Ausgesprochen erfolgreich gestaltet sich unsere Mitwirkung am Integrationsgipfel der Bundesregierung, an den Sitzungen des von Dr. Bergner geleiteten Beirates für Spätaussiedlerfragen sowie an den Beratungen und zentralen Tagungen des Bundes der Vertriebenen. Als Beispiel sei die letzte Sitzung des Aussiedlerbeirates vom 22. Juni 2009 erwähnt, bei der die von uns in aller Ausführlichkeit vorbereiteten Themen, die sich in erster Linie mit Sozialfragen und der Integration jugendlicher Spätaussiedler befassten, beinahe das gesamte Tagungsprogramm ausfüllten. Dabei waren es durchweg Themen, die sämtlichen Parteien nicht eben angenehm sind und die sie an

Versäumnisse und Mängel erinnern, die schleunigst aus der Welt geschafft werden sollten. Ganz erhebliche Fortschritte lassen sich auch hinsichtlich der Beteiligung der Landsmannschaft an grenzüberschreitenden Maßnahmen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation sowie anderen GUS-Staaten erkennen. Dr. Bernd Fabritius berichtete für die Siebenbürger Sachsen unter anderem über die Bemühungen seines Verbandes zur Integrationssicherung für die mehrheitlich in Deutschland lebenden Landsleute. Die Eingliederung in den letzten Jahrzehnten sei erfolgreich verlaufen, die erzielten Ergebnisse müssten nun gesichert werden. Bernhard Krastl hob insbesondere die Bedeutung der Sozialeinrichtungen für die deutsche Minderheit in Rumänien hervor, die jedoch weiterhin auf die Unterstützung der Bunderepublik Deutschland und die solidarische Mitfinanzierung durch den rumänischen Staat angewiesen seien. VadW (August 2009)

Respekt vor der Kultur des Anderen! ie Landsmannschaft der Deutschen aus Russland bringt ihre Bestürzung und ihre Empörung über die Messerattacke im Dresdner Landgericht zum Ausdruck, bei der eine ägyptische Frau und ihr ungeborenes Kind ermordet wurden und für die ein Einzeltäter verantwortlich ist, der in den Medien als „Russlanddeutscher“ bezeichnet und als „fanatischer Ausländerfeind“ beschrieben wird. Der Familie und allen Angehörigen der Opfer gehört unser tiefstes Mitgefühl.

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Im Zusammenhang mit dieser durch nichts zu entschuldigenden Tat erklärt die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland mit allem Nachdruck: Die Deutschen aus Russland, die als verfolgte deutsche Minderheit im stalinistischen Unrechtsstaat der Sowjetunion Hunderttausende von Todesopfern zu beklagen hatten, werden sich niemals an Aktionen beteiligen, die gegen Minderheiten gerichtet sind. Im Laufe von beinahe zweieinhalb Jahrhunderten, in denen die Deutschen in Russland und den anderen Län-

dern der ehemaligen Sowjetunion mit zahlreichen Völkern und Volksgruppen zusammengelebt haben, haben sie gelernt, deren kulturelle und religiöse Eigenart zu respektieren und zu schätzen. Diese Einstellung haben sie mit nach Deutschland gebracht, und sie haben in der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland eine Organisation, die zusammen mit der Überparteilichkeit die konfessionelle Neutralität als wesentlichsten Bestandteil ihres Selbstverständnisses betrachtet. Gerade deshalb verwahrt sich die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland gegen jeden Versuch, die Deutschen aus Russland auch nur im Geringsten mit ausländerfeindlichen Tendenzen gleich welcher Motivation in Verbindung zu bringen. Wir betonen ganz im Gegenteil unsere Offenheit für alle, die sich mit uns für ein gleichberechtigtes Neben- und Miteinander der Völker und Volksgruppen einsetzen wollen. (August 2009)

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Prüfsteine der Landsmannschaft zur Bundestagswahl am 27. September 2009 ie Landsmannschaft hat den Parteien des Deutschen Bundestages (CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vor der Bundestagswahl acht Fragen zur aktuellen Situation bei der Aufnahme und Integration der Deutschen aus Russland übermittelt. Alle von uns angeschriebenen Parteien haben dankenswerterweise reagiert und uns ihre Antworten rechtzeitig und detailliert zugeschickt. Nachstehend veröffentlichen wir besonders markante Passagen aus diesen Antworten, die Ihnen bei Ihrer Wahlentscheidung am 27. September 2009 behilflich sein könnten. Ohne jede Kürzung haben wir die Anworten auf der Homepage der Landsmannschaft - www.deutscheausrussland.de veröffentlicht.

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Fragen 1 und 2 1. Sprechen Sie sich für eine Überarbeitung des Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung in den Passagen aus, die sich auf Spätaussiedler beziehen und die dazu geführt haben, dass die Spätaussiedlerzahlen von knapp 60.000 im Jahr 2004 auf mittlerweile unter 5.000 gesunken sind? 2. Und stimmen Sie mit der Auffassung der Landsmannschaft überein, dass Deutsche aus Russland nicht in den Geltungsbereich eines Gesetzes gehören, das ausdrücklich für Ausländer und EU-Bürger konzipiert wurde? CDU/CSU (zu 1): Einen Hinweis auf die Novellierung des Zuwanderungsgesetzes mit Blick auf die Regelungen, die sich auf Spätaussiedler beziehen, enthält das Regierungsprogramm von CDU und CSU nicht. Der grundsätzliche Regelungsbedarf war unstreitig; ein gegebenenfalls erforderlicher Änderungsbedarf bei Einzelregelungen bleibt davon unberührt, insbesondere mit Blick auf die Fälle von Familientrennungen im Ausreiseverfahren. (zu 2): CDU und CSU wussten stets zwischen Aussiedlern einerseits und den vielen einzelnen Zuwanderergruppen andererseits zu unterscheiden. Die Familien der Aussiedler, die zu uns gekommen sind, hatten in der früheren Sowjetunion zu leiden, weil sie Deutsche waren. Sie sind eine Schicksalsgruppe unseres Volkes, für die wir eine besondere Verantwortung tragen. Deshalb haben die Aussiedler auch

ein Recht, in unserem Land als Deutsche unter Deutschen zu leben. Dies bleibt das Fundament unserer verlässlichen Aussiedlerpolitik. SPD (zu 1): Mit ein Grund für die steigenden Integrationsdefizite war der immer größer werdende Anteil von mitreisenden Familienangehörigen, die nicht deutscher Herkunft sind und in den meisten Fällen über keinerlei Sprachkenntnisse verfügen. Sie machten zwischenzeitlich gut drei Viertel des Zuzugs von Spätaussiedlern aus. Das Zuwanderungsgesetz legt fest, dass diese Personen künftig dann mitreisen können, wenn sie Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachweisen können. Die SPD wird eingehend prüfen, ob es an dieser Stelle einer Überarbeitung des Zuwanderungsgesetzes bedarf. Sollte dies der Fall sein, werden wir entsprechende Maßnahmen ergreifen. (zu 2): Mit dem Zuwanderungsgesetz hat die SPDgeführte Bundesregierung erstmals dafür gesorgt, dass der Bund sich weitreichend und langfristig der Hilfe für Zuwanderinnen und Zuwanderer zur besseren und leichteren Integration in Deutschland annimmt. FDP (zu 1): Die FDP plant keine Verschlechterung der gesetzlichen Bestimmungen und Vorgaben zur Zuwanderung und Integration von Spätaussiedlern aus Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die besondere Behandlung von Aussiedlern im Rahmen der Integrationsangebote ist aus unserer Sicht berechtigt. (zu 2): Den umfassenden Ansatz des Zuwanderungsgesetzes, Regelungen für alle Zuwanderergruppen zu bündeln, hält die FDP für richtig. DIE LINKE (zu 1): DIE LINKE hat die immer weiter verschärften Restriktionen im Zuwanderungsgesetz stets kritisiert und setzt sich generell für erweiterte Einwanderungsmöglichkeiten und für die Rechte von Migrantinnen und Migranten ein. (zu 2): Für Spätaussiedler/innen aus Russland gilt bekanntlich das Bundesvertriebenengesetz und nicht das Aufenthaltsgesetz. Hierdurch gelten für sie (nicht nur in aufenthaltsrechtlichen Fragen) erheblich günstigere gesetzliche Regelungen als für andere Zuwanderergruppen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (zu beiden Fragen): Die Beherrschung der deutschen Sprache ist für eine erfolgreiche Integration elementar wichtig. Deswegen haben wir mit dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz einen Neuanfang in der Integrationspolitik ver-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews sucht. Danach erhalten alle Neuzuwanderer einen bringen, planen wir eine bessere Anerkennung von Qualifikationen aus Herkunftsländern. Deshalb werRechtsanspruch auf Integrationskurse. den wir mit einem neuen Anerkennungsgesetz dafür sorgen, dass diese im Ausland erworbenen AbFrage 3 schlüsse und Qualifikationen schneller anerkannt Was sollte nach Ihrer Auffassung unternommen werden. werden, um immer wieder vorkommende Fälle FDP: Die FDP setzt sich dafür ein, dass der Rechtsvon Familientrennungen im Ausreiseverfahren zu anspruch auf ein Anerkennungsverfahren auf jede Migrantin und jeden Migranten, die sich seit sechs verhindern? Monaten rechtmäßig in Deutschland aufhalten, anaCDU/CSU: ... Auch wollen wir gesetzliche Regelun- log zum Bundesvertriebenengesetz ausgedehnt wird. gen schaffen, um bei Härtefällen eine nachträgliche DIE LINKE: DIE LINKE hat bereits Ende 2007 Aufnahme zurückgebliebener Nachkommen in den einen umfassenden Antrag zur erleichterten Anerkennung von im Ausland erworbenen Schul-, BilAufnahmebescheid zu ermöglichen. SPD: In den Familien der Deutschen aus Russland dungs- und Berufsabschlüssen in den Bundestag werden nicht deutschstämmige Angehörige wie viele eingebracht. Auf das für Spätaussiedler/ innen besteandere auch Schwierigkeiten vor der Einreise nach hende Problem, dass zahlreiche der in der ehemaliDeutschland haben. Insbesondere die nachzuwei- gen Sowjetunion bzw. in Russland existierenden Besenden Spracherfordernisse werden in nicht wenigen rufsbilder oder nichtakademischen Ausbildungen Fällen dazu führen, dass Familien regelrecht ausein- keine Entsprechung in der Bundesrepublik Deutschland finden, haben wir in unserer Initiative gesondert ander gerissen werden. FDP: Unvertretbare Härten im Rahmen des Ausrei- hingewiesen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir wollen ein umseverfahrens müssen unterbunden werden. DIE LINKE: DIE LINKE ist gegen die Forderung fassendes Anerkennungsgesetz und zwar auf Bundes Nachweises von Sprachkenntnissen als Voraus- desebene. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf setzung für die Einreise, insbesondere im grund- ein Anerkennungsverfahren und zwar einheitlich für gesetzlich geschützten Bereich des Familiennach- alle Migrantinnen und Migranten, egal ob Spätaussiedler, EU-Bürger oder Drittstaatsangehörige. zugs. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir setzen uns weiFrage 5 terhin für die generelle Streichung der Erschwernisse beim Ehegattennachzug ein, werden uns aber auch – aufgrund der weiterhin nicht zu erwartenden politi- Deutsche aus Russland zahlen als ausgesprochen schen Mehrheiten für dieses Thema – zumindest für junge Volksgruppe erheblich mehr in die deuteine großzügige Härtefallregelung stark machen, die schen Rentenkassen ein, als sie diesen entnehmen. zumindest in Einzelfällen lange Trennungszeiten ver- Trotzdem sind viele von ihnen nach zahlreichen Kürzungen im Fremdrentenbereich von Altersarhindern kann. mut bedroht. Besteht nach Ihrer Auffassung in dieser Hinsicht Handlungsbedarf und sehen Sie Frage 4 Möglichkeiten für eine Fremdrentenregelung, die In welcher Weise werden Sie sich für die Beseiti- der Lebensleistung dieses Personenkreises gerecht gung gravierender Probleme stark machen, die wird? sich insbesondere für hoch qualifizierte Deutsche aus Russland aufgrund von Defiziten bei der An- CDU/CSU: Wir wollen die Zunahme von Altersarerkennung von Ausbildungsgängen und Berufs- mut unter Aussiedlern verhindern. Wir werden die Leistungen des Fremdrentengesetzes regelmäßig abschlüssen ergeben haben? überprüfen und mit den Vertretern der Herkunftsstaaten über den Transfer von Rentenleistungen CDU/CSU: Wir wollen, dass die russlanddeutschen Aussiedler mit ihrem Können, ihrem besonderen sprechen, um möglichst angemessene AlterseinkünFleiß und ihrer Arbeitsfreude ihre Potenziale und fte für Aussiedler zu sichern. Qualifikationen zur Geltung bringen können. Wir SPD: Die Abschläge entsprechen den Löhnen strukwerden daher die bestehenden Möglichkeiten zur turschwacher Gebiete. Das BundesverfassungsgeAnerkennung der im Ausland erworbenen berufli- richt hat 2006 diese Regelungen im Kern bestätigt. chen Qualifikationen von Aussiedlern verbessern Für die Bundesregierung gibt es daher auch in der kommenden Legislaturperiode keine Veranlassung, und ausbauen. SPD: Damit diese Fachkräfte in Zukunft mehr Mög- das geltende Recht zu ändern. lichkeiten haben, ihre Fähigkeiten zum Einsatz zu FDP: Die Berücksichtigung besonderer Lebensleis236

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews tungen einzelner Bevölkerungsgruppen würde die gesetzliche Rentenversicherung finanziell sehr stark beanspruchen, soweit den Tätigkeiten Einzelner keine Beitragszahlungen gegenüber stehen. DIE LINKE: Unsere Forderungen bedeuten erhebliche Verbesserungen der Einkommenssituation für alle Rentnerinnen und Rentner, selbstverständlich auch für hier lebende Spätaussiedler/innen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Risiko der Altersarmut steigt für bestimmte Gruppen. Deshalb wollen wir eine „Garantierente“ einführen. Wenn Versicherte z.B. durch Kinderziehung oder Pflege keine ausreichende Rente erreichen, soll die Rente auf ein Niveau aufgestockt werden, das vor Altersarmut schützt. Frage 6

Lebenssituation der Betroffenen erklären. Die Herkunft eines Verdächtigten oder Täters sollte deshalb nur dann in den Medien Erwähnung finden, wenn dies für ein Verständnis des Vorgangs unabdingbar ist. Andernfalls wird hierdurch eine gefährliche rassistische Sichtweise bestärkt, die Vorurteile in der Bevölkerung befördert. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aufklärung über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Faschismus muss aus Sicht von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einem festen Bestandteil des Unterrichts in allen Schulen und Klassenstufen werden. Demokratische Kultur meint ein Klima der Toleranz, Angstfreiheit und des Engagements aller Bürgerinnen und Bürger. Sie ist die beste Versicherung gegen autoritäre und rassistische Versuchungen.

Frage 7 Wie lauten Ihre konkreten Vorschläge und Angebote zur Eindämmung aussiedlerfeindlicher Tendenzen, die in den Medien und der Bevölkerung Welche Rolle weisen Sie Deutschen aus Russland im Rahmen des Ausbaus der Beziehungen zwiimmer wieder festzustellen sind? schen der Bundesrepublik Deutschland und den CDU/CSU: In der Tat ist mit Sorge zu sehen, dass Staaten der GUS zu? Deutsche aus Russland öffentlich immer wieder tendenziell negativ wahrgenommen werden und sich zu CDU/CSU: Millionen deutscher Aussiedler ... brinUnrecht in einen Kontext mit sozialer Auffälligkeit gen aber auch Kenntnisse der russischen Sprache gestellt sehen. CDU und CSU werden sich weiterhin und Kultur mit nach Deutschland und können so dafür einsetzen, dass die Integrationserfolge von Brücken zwischen Deutschland und den Staaten der Millionen deutscher Aussiedler stärker in das öf- ehemaligen Sowjetunion schlagen. Darin liegt eine große Chance zur Förderung zukünftiger Partnerfentliche Bewusstsein gerückt werden. SPD: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialde- schaften mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. mokraten treten dafür ein, dass in unserem Land SPD: Neben den politischen Kontakten mit Russland Menschen mit verschiedener Herkunft eine gemein- ist es dabei auch von großer Bedeutung, die gesame Zukunft aufbauen können. Dazu brauchen wir sellschaftlichen Beziehungen weiter zu vertiefen. eine Kultur der Anerkennung, die Unterschiede als Gerade hierzu können die Deutschen aus Russland Möglichkeit von neuer Gemeinsamkeit begreift. wichtige konstruktive Beiträge leisten und mithelfen, Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der man ohne das gesellschaftliche Fundament für eine enge PartAngst verschieden sein kann, in der alle frei und gle- nerschaft zwischen Deutschland und Russland zu ichwertig sind, mit gleichen Chancen und Mög- verbreitern. FDP: Weil enge Beziehungen zwischen Politikern lichkeiten. FDP: Für uns Liberale kann Integration nur gelin- und Unternehmen den direkten gesellschaftlichen gen, wenn beide Seiten aufeinander zugehen: die Austausch niemals werden ersetzen können, braucht aufnehmende Gesellschaft und die hinzukommenden es engagierte zivile Akteure, die mit ihren ErfahrunAussiedler. Grundvoraussetzung dafür ist das Be- gen zu einer engeren Verflechtung beitragen. herrschen der deutschen Sprache: Dies ist die uner- Deutsche in und aus Russland können als „Brückenlässliche Basis für die optimale Integration in der bauer“ zwischen den Gesellschaften hierzu wertvolle Schule, auf dem Arbeitsmarkt und in der Ge- Beiträge leisten. sellschaft. Daneben ist unverzichtbare Voraussetzung DIE LINKE: Es versteht sich von selbst, dass die die Kenntnis und Achtung unserer Verfassung und besonderen Kenntnisse, Kontakte und Fähigkeiten der aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion deren Grundwerte. DIE LINKE: Die Herkunft von Menschen ist jedoch eingewanderten Menschen bei einem Ausbau der kein Erklärungsfaktor für kriminelles Verhalten, Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschdenn statistische Auffälligkeiten bei Eingewanderten land und diesen Ländern genutzt werden sollten. lassen sich regelmäßig mit der besonderen sozialen, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Russlandökonomischen, familiären oder sonstigen typischen deutschen sind ein natürliches Bindeglied zwischen 237

Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Deutschland und Russland. Ihre Integration in Deutschland ist eine ebenso große Aufgabe wie die Hilfe für die in Russland lebenden Deutschen. Dazu gehören der Einsatz für den toleranten Umgang mit Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen sowie die Auseinandersetzung mit der leidvollen Vergangenheit, eine Herausforderung sowohl in Deutschland wie in Russland. Frage 8 Welche Möglichkeiten bietet Ihre Partei Deutschen aus Russland, die sich aktiv an politischen Entscheidungsprozessen beteiligen wollen? CDU/CSU: Wir setzen uns weiterhin intensiv dafür ein, dass Aussiedler vor Ort in CDU und CSU noch mehr Gewicht und Geltung erhalten und nach außen sichtbarer werden. Zur Förderung des politischen Engagements der Aussiedler in der CDU, aber auch zum Informationsaustausch und zur Koordinierung der Aussiedlerpolitik laden wir regelmäßig zur Aussiedlerbeauftragtenkonferenz der CDU ein. SPD: Die SPD lädt alle Menschen herzlich dazu ein, sich für eine Politik zu engagieren, die von den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität

geleitet ist. Als große linke Volkspartei gibt es mannigfache Bereiche, Gelegenheiten und Aufgaben, die für Bürgerinnen und Bürger, die als Deutsche ihre Wurzeln in Russland haben, die Möglichkeit bieten, gemeinsam eine Gesellschaft zu schaffen, die gerechter, freier und solidarischer ist. FDP: Die Mitgliedschaft von Aussiedlern ist für jede Partei eine Bereicherung: Ihre besonderen Erfahrungen in den Herkunftsstaaten und in der Bundesrepublik Deutschland können sie umfassend einbringen und damit politische Prozesse durch ihren besonderen Blickwinkel mitgestalten. DIE LINKE: Die Partei DIE LINKE steht Menschen aller Herkünfte offen. Unsere weltoffene Programmatik und unser Ansatz gleicher Rechte für alle und internationaler Solidarität lädt Einwanderer/innen aller Länder dazu ein, sich aktiv in die politischen Entscheidungsprozesse innerhalb unserer Partei einzubringen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Förderung der politischen Partizipation von Einwanderinnen und Einwanderern – also auch Deutschen aus Russland ist ein erklärtes integrationspolitisches Ziel von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. VadW (August 2009)

Bundestagswahl 2009

Höchste Zeit für eine echte Chance auf parlamentarische Mitbestimmung em 17. Deutschen Bundestag gehört kein einziger Vertreter der deutschen Aussiedler und Spätaussiedler an, dabei umfasst dieser Personenkreis u.a. rund 2,8 Millionen Deutsche aus Russland und über 600.000 Deutsche aus Rumänien. Die Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Adolf Fetsch, der Landsmannschaft der Banater Schwaben, Bernhard Krastl, sowie des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, Dr. Bernd Fabritius, erklären dazu:

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Den Einzug in unser höchstes Gesetzgebungsorgan geschafft haben 622 Abgeordnete aus sechs Parteien. Vertreten sind alle Landesteile, alle Generationen und so gut wie alle Interessengruppen, die in den Parteien Arbeitsgemeinschaften gegründet haben. Auch aus dem 3,4 Millionen Wählerinnen und Wähler starken Personenkreis der Aussiedler und Spätaussiedler aus Russland und Rumänien gab es Bemühungen, Vertretungsmandate im Bundestag zu errei-

chen - leider blieben diese ohne Erfolg. Werner Henn, Berglanddeutscher, hat mit nur gut 23% der Direktstimmen ein Direktmandat der SPD in BadenWürttemberg verpasst. Dr. Bernd Fabritius, Siebenbürger Sachse, und Dr. Arthur Bechert, Deutscher aus Russland, waren von der Christlich-Sozialen Union (CSU) nominiert worden (Listenplatz 32 bzw. 55) und haben mangels Zuteilung von Listenmandaten für die CSU ebenfalls ein Mandat verfehlt. Diese Schieflage mag einen Hauptgrund im geltenden Wahlsystem haben: Ein Direktmandat kann nur erlangen, wer durch die Parteibasis nominiert wird und in seinem Wahlbezirk die Stimmenmehrheit auf sich vereint. Dafür muss man in den Ortsverbänden langjährig verwurzelt sein und allgemeine Politikfelder vertreten. Die gezielte Interessenvertretung für unsere Personengruppe der Aus- und Spätaussiedler ist jedoch kein geeigneter Weg, um für Direktmandate von der Parteibasis nominiert zu werden. Der notwendige Ausgleich dafür sollte über Kandidaturen auf den Zweitstimmenlisten der Parteien ge-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews schaffen werden. Auf diesem Weg bekommen die Arbeitsgemeinschaften bestimmter Personengruppen eine Chance, in die parlamentarische Mitbestimmung im Deutschen Bundestag einbezogen zu werden. Deshalb hatten die Landesverbände der Landsmannschaften der Deutschen aus Russland, der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen in Bayern mit Dr. Fabritius einen gemeinsam abgestimmten Kandidatenvorschlag zur Bundestagswahl unterbreitet, den die Union der Vertriebenen und Aussiedler (UdV), eine Arbeitsgemeinschaft der CSU, als Wahlvorschlag aufnahm. Die Nominierung erfolgte dann auf Listenplatz 32. Eine halbherzige Entscheidung der Partei, bedenkt man, dass damit die Wahl eines Vertreters der Aus- und Spätaussiedler über die Landesliste unwahrscheinlich und selbst ein Nachrücken von vornherein so gut wie ausgeschlossen war. Andere Arbeitsgemeinschaften, deren Beteiligung bereits über sechs Direktkandidatinnen abgesichert war, wurden gleich mit einem ganzen Block an Listenbewerbern vorgezogen nominiert. Die Wahl unseres Vertreters rückte damit ins Spekulative, eine echte Chance bestand nicht mehr. Dieses Signal ist angekommen. Die über drei Millionen deutschen Aussiedler und Spätaussiedler sind damit auf die solidarische Begleitung und „Fremdbestimmung“ durch ihre Mitbürger angewiesen, die aber vom Schicksal dieser Personengruppe und den daraus erwachsenden besonderen Umständen oft nur unzureichende Kenntnisse haben. Lediglich in der Unionsfraktion im Bundestag gibt es eine „Arbeitsgruppe für Vertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler“. Doch schon im letzten Bundestag war dort kein einziger Aussiedler oder Spätaussiedler vertreten und auch kein Heimatvertriebener der Erlebnisgeneration. Umso höher ist der Einsatz der Mitglieder dieser Arbeitsgruppe einzuschätzen, die das Schicksal unserer Bevölkerungsgruppe meist nur aus Erzählungen kennen. Auch das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, seit Jahren sehr engagiert von Dr. Christoph Bergner wahrgenommen, soll hier Ausgleich schaffen. Dr. Bergner ist Ansprechpartner auf Bundesebene für Aussiedler und Spätaussiedler und hat so manche Problemlösung bewirken können, die viel-

leicht gar nicht erst erforderlich geworden wäre, wenn Aus- und Spätaussiedler bereits im Rahmen parlamentarischer Mitbestimmung beteiligt worden wären. Die Folgen dieser Schieflage sind in den letzten Jahren oft nur zu deutlich gewesen: So wurde 1996 durch die im Bundestag beschlossenen und sogar vom Bundesverfassungsgericht kritisierten einseitigen Rentenkürzungen bei Aus- und Spätaussiedlern der Vertrauensschutz verletzt und ein erhebliches Integrationshemmnis gesetzt. Übergangsvorschriften wurden - rund zehn Jahre später - ohne deren Einbeziehung nicht minder ungerecht gefasst. Auch die Begrenzung der Geltungsdauer der Aufnahmebescheide für Deutsche im neuen Zuzugsrecht war eine Fehlentscheidung des Bundestages, die auf fehlendes Einbeziehen von Erfahrungen und Sachkenntnis der Betroffenen zurückzuführen und erst nach deren massiver Intervention wieder korrigiert wurde. Diese wenigen Beispiele verdeutlichen, wie notwendig die Einbeziehung der Betroffenen in die parlamentarische Mitbestimmung ist. Diese Chance ist nun leider für die kommenden Jahre vergeben worden. Es bleibt abzuwarten, ob die neue Regierung aus Union und FDP einen außerparlamentarischen Ausgleich für dieses Defizit schaffen wird. Und: „Nach der Wahl ist vor der Wahl.“ Für den nächsten Bundestag in vier Jahren wird es Aufgabe aller Leistungsträger aus dem Bereich der Aus- und Spätaussiedler sein, sich in allen demokratischen Parteien mit noch mehr Nachdruck und Entschlossenheit um ein Vertretungsmandat in direkten Wahlkreisen und um realistische Nominierungen auf den Landeslisten zu bewerben. Es wird Aufgabe aller demokratischen Parteien sein, diese Bewerbungen entschlossener als bisher zu unterstützen, wenn sie sich ernsthaft um die Anliegen aller Bürgerinnen und Bürger dieses Landes kümmern wollen. Und es wird nicht zuletzt Aufgabe aller Aus- und Spätaussiedler in Deutschland sein, diese Aspekte noch genauer zu beachten und durch ihr konsequentes Abstimmungsverhalten für die nötigen Korrekturen zu sorgen. (Oktober 2009)

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Warum unsere Landsleute so sensibel reagieren n einigen Presseberichten der letzten Wochen hieß es, der Deutsche aus Russland Alex W. habe die Muslimin Marwa el-Sherbini aus religiösen Gründen umgebracht.. Das russische Fernsehen nannte ihn am Tag des Prozessbeginns einen Russländer (rossijanin), an anderer Stelle deutet man an, er käme aus Kasachstan. Es gibt auch andere Andeutungen, die ebenfalls der Überprüfung bedürfen.

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Die Bluttat im Dresdener Gerichtsgebäude war ein verabscheuungswürdiges Verbrechen, unabhängig von der Identität des Täters und auch unabhängig von seinen Motiven. Dass so etwas passieren konnte, dazu noch im laufenden Prozess, wirft darüber hinaus Fragen nach der Sicherheit von Prozessbeteiligten auf. Einen Zusammenhang zwischen der Abstammung und religiösen Gründen, aus denen ein Mensch getötet wurde, kann es nicht geben. In ersten Berichten nach der Tat berichtete Welt-Online über russlanddeutsche Frauen, die Marwa al-Sherbini beim ersten Aufeinandertreffen mit ihrem späteren Mörder auf dem Spielplatz geholfen haben. Keine bei Russlanddeutschen vorkommende Konfession ruft zum Töten auf. Sie haben vielmehr im 20. Jahrhundert selbst einen so hohen Blutzoll entrichtet, dass die Generationen der Opfer ihren Kindern an erster Stelle die Achtung vor dem Leben und den sehnlichsten Wunsch nach Gerechtigkeit auf den Lebensweg mitgegeben haben. Vorurteile und Hass eignen sich Menschen individuell oder auch in Gruppen an. Zeitungsberichten zufolge hat sich Alex W. als Anhänger der NPD be-

zeichnet. Vielen Lesern wird bei dieser Aussage die Berichterstattung über das Werben der NPD unter Deutschen aus Russland in den Sinn gekommen sein. Mit Besorgnis wurde von einem großen Wählerpotential unter Aussiedlern geschrieben. In diesem Zusammenhang wurden auch einige wenige Namen genannt. Das Wahlergebnis hat gezeigt, dass diese Befürchtung unbegründet war. Immer wieder wird suggeriert, Deutsche aus Russland würden ähnlich einigen Zuwanderergruppen an ihren Wohnorten Parallelgesellschaften bilden. Sicher kann man Beispiele dafür finden, dass jemand mit der neuen Umgebung nicht zurecht kommt. Deshalb bemüht sich die Landsmannschaft seit ihrer Gründung um die Eingliederung der Aussiedler. Die Studie des Berlin-Instituts hat gezeigt, dass die Eingliederung bei Aussiedlern weit besser als bei anderen Migrantengruppen gelingt. Auch weit besser, als in der Öffentlichkeit oft dargestellt. Das soll nicht heißen, dass es keine Probleme gibt. Doch kann man diese nicht durch Pauschalisierungen lösen, auch nicht dadurch, dass falsche Etiketten vergeben werden. Das Fehlverhalten Einzelner kann nicht einer ganzen Volksgruppe zur Last gelegt werden. Damit löst man keinen einzelnen Fall, sondern erzeugt Verunsicherung. Guter Journalismus klärt auf, er verunglimpft und verunsichert nicht. Gerade unsere älteren Landsleute haben ein ausgeprägtes Gespür für Gerechtigkeit. Von ihnen kann man etwas fürs Leben lernen. Dr. Alfred Eisfeld, Göttingen (Oktober 2009)

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Bundesdelegiertenversammlung:

Kontinuität und Wechsel Adolf Fetsch als Bundesvorsitzender wieder gewählt Vier neue Mitglieder im Bundesvorstand ei der Bundesdelegiertenversammlung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 14. und 15. November in StuttgartVaihingen wurde Adolf Fetsch (Bayern) in seinem Amt als Bundesvorsitzender bestätigt. Der 69Jährige setzte sich in einer Kampfabstimmung mit 82 zu 20 Stimmen gegen Dr. Arthur Bechert (Bayern) durch und geht damit in seine dritte Amtszeit von drei Jahren. Bei der Wahl der übrigen Mitglieder des Bundesvorstandes wurden Leontine Wacker (Baden-Württemberg) und Lilli Bischoff (Niedersachsen) in ihren Ämtern bestätigt. Neu im Bundesvorstand vertreten sind Waldemar Weiz (Nordrhein-Westfalen), Ewald Oster (Bayern), Dr. Alfred Eisfeld (Niedersachsen) und Rosa Emich (Hessen).

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Doch ehe die Wahlen durchgeführt werden konnten, hatten die Delegierten ein anstrengendes Tagesprogramm zu bestehen, das durch heftige Aggressionen zusätzlich belastet wurde und sich von 14 Uhr mit Unterbrechungen bis nach Mitternacht hinzog. Der Berufene Organisationsreferent der Landsmannschaft, Waldemar Neumann (Baden-Württemberg), war als Versammlungsleiter mit seinen beiden Beisitzern Juri Heiser (Bayern) und Viktor Helmel (Nordrhein-Westfalen) wahrlich nicht um seine Aufgabe zu beneiden.

Insbesondere betreffe das den Bereich der politischen Arbeit. Mit betonter Sachlichkeit sei es der Landsmannschaft gelungen, mit allen politisch Verantwortlichen in stetem Gedankenaustausch zu bleiben und von diesen als kompetente und verlässliche Verhandlungspartner angesehen zu werden. Damit habe man weitaus mehr erreichen können als mit lautstarken Parolen, die letztendlich wirkungslos verpufften und lediglich dem eigenen Aggressionsabbau dienten. Als Höhepunkte bezeichnete Fetsch das Gespräch mit Bundeskanzlerin Merkel im Vorfeld der Bundestagswahlen 2009 und den Auftritt des damaligen Bundesinnenministers Dr. Wolfgang Schäuble beim 30. Bundestreffen der Landsmannschaft am 13. Juni 2009. Weitere Erfolge ließen sich nicht zuletzt hinsichtlich des Ausbaus der Öffentlichkeitsarbeit, der verstärkten Beteiligung an grenzüberschreitenden Maßnahmen der Bundesregierung und der Reaktivierung der landsmannschaftlichen Jugendarbeit verbuchen. Hinzu komme die Kulturarbeit, die trotz magerer Jahre öffentlicher Förderung auf einem respektablem Niveau betrieben worden sei, und selbstverständlich die klassische Sozialberatung und -betreuung, die nach wie vor einen der Grundpfeiler der landsmannschaftlichen Aktivitäten bilde. Bundesgeschäftsstelle auf Kurs

Erfolgreiche Arbeit unter erschwerten Bedingungen Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Adolf Fetsch, hob in seinem Bericht eingangs die erschwerten Bedingungen hervor, unter denen der Bundesvorstand seine Arbeit in der zurückliegenden Amtsperiode habe verrichten müssen. Der weitgehende Rückzug von drei Bundesvorstandsmitgliedern habe letzlich dazu geführt, dass er gemeinsam mit Leontine Wacker, Lilli Bischoff und Waldemar Axt die gesamte Last der Verantwortung zu tragen hatte. Hinzu seien Anfeindungen getreten, die oftmals das Maß des Erträglichen überstiegen hätten. Trotzdem habe man allen Grund, stolz zu sein auf das, was die konstruktiven Kräfte der Landsmannschaft in der vergangenen Amtsperiode zustande gebracht hätten.

Von zahlreichen Zwischenrufen und anderen Störaktionen einiger weniger war der Bericht der Bundesgeschäftsstelle begleitet, den der Vorsitzende des Organisationsausschusses, Waldemar Axt, vortrug. Dass der stellvertretende Bundesvorsitzende schließlich den Anfeindungen Tribut zollen und nach einem Schwächeanfall ins Krankenhaus gebracht werden musste, ist eines der traurigsten Kapitel in der Geschichte der Landsmannschaft! In seinem Bericht hatte Axt vor allem seine Bemühungen und die seiner Mitstreiter geschildert, die Strategie der Landsmannschaft in den Bereichen Geschäftsführung und Finanzen zu ändern und sie den tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen, die nicht zuletzt durch zurückgehende Mitgliederzahlen und damit sinkende Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen gekennzeichnet seien.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Als ersten Schritt habe man Sparmaßnahmen zur Optimierung des Haushaltes durchgeführt, die nach kritischen Entwicklungen in den beiden Jahren davor das landsmannschaftliche Schiff 2008 und 2009 wieder auf Kurs gebracht hätten. Als Beispiel führte er die Senkung der Druckkosten für „Volk auf dem Weg“ um satte 44 Prozent an. Um dem Mitgliederschwund entgegenzuwirken, habe man in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Multiplikatorenschulungen unter dem Motto „Ehrenamt -attraktiver - effizienter - transparenter“ durchgeführt. Als weitere Maßnahmen erwähnte er unter anderem den Ausbau der Hauptamtlichkeit samt Intensivierung der Projektarbeit sowie das Erschließen zusätzlicher finanzieller Quellen. Reaktivierung der Jugendarbeit Über einen ausgesprochen positiven Aspekt der landsmannschaftlichen Arbeit in den vergangenen Jahren konnte die Berufene Jugendreferentin der Landsmannschaft, Dr. Ludmila Kopp, die seit dem 1. September 2009 auch als Bundesgeschäftsführerin in Teilzeit tätig ist, berichten: Nach der Reaktivierung des Jugend- und Studentenrings der Deutschen aus Russland als Jugendorganisation der Landsmannschaft vor zwei Jahren hat sich dieser inzwischen in einem Bundesverband sowie einer ganzen Reihe von Landesverbänden, zuletzt für Rheinland-Pfalz und das Saarland, organisiert. Auf lokaler Ebene gehören dem Verein zusätzlich über 40 Jugendgruppen und Sportvereine an.

Bei der Wahl zum Bundesvorsitzenden setzte sich Adolf Fetsch mit 82 zu 20 Stimmen deutlich gegen Dr. Arthur Bechert durch und geht damit gestärkt in seine dritte Amtszeit. Bei der Wahl der übrigen Bundesvorstandsmitglieder konnte der stellvertretende Bundesvorsitzende des Jugend- und Studentenrings der Deutschen aus Russland und Gründer einer neuen Ortsgruppe der Landsmannschaft in Nordrhein-Westfalen, Waldemar Weiz, als jüngster Bewerber überraschenderweise die meisten Stimmen (81) auf sich vereinen. Ebenfalls gewählt wurden Ewald Oster (80), Leontine Wacker (75), Dr. Alfred Eisfeld (74), Lilli Bischoff (73) und Rosa Emich (57). Die übrigen Gremien wurden wie folgt besetzt: Bundesprüfungskommission: Luise Breider, Ida Jobe, Edith Klein, Valentina Klingspon (Nachrückerin). Bundesschiedskommission: Marta Braun, Andreas Maurer, Erika Neubauer, Waldemar Held (Nachrücker). Ehrenausschuss: Wilhelm Jaufmann, Ewald Walth, Alla Weber. Entscheidung über Satzungsänderung verschoben

Nach der ökumenischen Morgenandacht, gehalten von Visitator Dr. Alexander Hoffmann (Seelsorgestelle für Deutsche aus der GUS), Eduard Lippert (Kirchliche Gemeinschaft der Evangelisch-Lutherischen Deutschen aus Russland) und Magdalena Merdian, zeigte sich am zweiten Tag rasch, dass die Zeit nicht ausreichte, um die angestrebte EntscheiAdolf Fetsch dung über eine Änderung der landsmannschaftlichen Bundesvorsitzender Satzung herbeizuführen. Es wurde daher beschloin dritter Amtszeit ssen, die Entscheidung auf eine außerordentliche Abgeschlossen wurde der erste Tag mit den Neu- Bundesdelegiertenversammlung zu vertagen, die wahlen des Bundesvorstandes und der verschiedenen möglichst zeitnah durchgeführt werden soll. VadW landsmannschaftlichen Gremien.

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews

Bundesdelegiertenversammlung am 14. und 15. November 2009 Bericht des Bundesvorsitzenden Adolf Fetsch (gekürzt) ... Bei allen Unterschieden in der Sache war für mich in all den Jahren das Gebot der solidarischen Zusammenarbeit zum Nutzen der Deutschen aus Russland eine Selbstverständlichkeit. So habe ich es gehalten, ganz gleich ob die Bundesvorsitzenden Franz Usselmann, Alois Reiss oder Adolf Braun hießen. Dieselbe Solidarität erwarte ich von jedem, der sich in ein verantwortungsvolles Amt innerhalb unseres Vereins wählen lässt und der dort im Rahmen der in einem demokratischen und freien Land wie der Bundesrepublik geltenden Spielregeln zu agieren hat, Diese Spielregeln wurden jedoch von gewissen Landsleuten in den vergangen drei Jahren auf das gröbste verletzt, und ich scheue mich nicht, einige Namen derer zu nennen, die sich nicht zu benehmen wussten und uns die Arbeit schwer gemacht haben. Besonders erschreckend ist das Verhalten der beiden Bundesvorstandsmitglieder Dr. Arthur Bechert und Dr. Andreas Keller, die nach einigen Monaten die weitere Mitarbeit im Bundesvorstand verweigerten. Stattdessen verbreiteten sie gemeinsam mit einigen Helfershelfern über das Internet Falschbehauptungen, Unterstellungen und Beleidigungen, die derart niveau- und substanzlos waren, dass es sich nicht lohnt, darauf im Einzelnen einzugehen. Zielscheiben der unsäglichen Anwürfe waren nicht nur meine aktiven Bundesvorstandskolleginnen und –kollegen Leontine Wacker, Lilli Bischoff und Waldemar Axt und ich selbst. In den Schmutz gezogen wurde gleichzeitig das Engagement unserer Mitstreiter in den Landes-, Orts- und Kreisgruppen, für die wir ungezählte Fortbildungsveranstaltungen organisiert haben und die sich unter hohem Aufwand an Mühe und Zeit in ihrem Wirkungskreis für ihre Landsleute einsetzen. Ich bin mir sicher, dass ich für alle diese Menschen spreche, wenn ich klipp und klar sage: Die zerstörerischen Angriffe, mit denen die Ehre vorbildlich arbeitender Menschen verletzt und der Landsmannschaft und allen Deutschen aus Russland geschadet wird, müssen ein Ende haben! Im neuen Bundesvorstand darf nur Platz sein für Landsleute, die sich in anständiger Weise über Jahre hinweg in der landsmannschaftlichen Arbeit bewährt haben. Wer mich kennt, weiß, dass ich vom Naturell her viel eher zur Versöhnung neige als zur Konfrontation –

ich reiche daher jedem die Hand, der sich konstruktiv an unserer Arbeit beteiligen möchte – ganz gleich ob im Bundesvorstand oder in den landsmannschaftlichen Ausschüssen, deren Mitglieder die Grundlagen unserer Verbandspolitik erarbeiten. Wie Sie meinem schriftlichen Bericht und dem der Bundesgeschäftsstelle entnehmen können, haben wir allen Grund, stolz zu sein auf das, was die konstruktiven Kräfte der Landsmannschaft in der vergangenen Amtsperiode zustande gebracht haben. Nicht zuletzt betrifft das den Bereich der politischen Arbeit. Durch die landsmannschaftliche Satzung zu überparteilichem Handeln verpflichtet, haben wir ebenso wie in den Jahren davor den Kontakt zu allen demokratischen Parteien gesucht. Um einem Missverständnis vorzubeugen: „Überparteiliches Handeln“ darf nicht verwechselt werden mit „unpolitischem Handeln“. Die Landsmannschaft handelt durchaus politisch, fühlt sich aber keiner Partei auf Gedeih und Verderb verbunden. Wir loben die CDU und CSU, wenn sie sich für unsere Landsleute einsetzen, wir kritisieren es aber auch, wenn sich die drei unionsregierten Bundesländer Bayern, Niedersachsen und Hamburg gegen familienfreundliche Regelungen im Spätaussiedleraufnahmeverfahren aussprechen. Mit unserer Methode der betonten Sachlichkeit ist es uns gelungen, mit allen politisch Verantwortlichen in stetem Gedankenaustausch zu bleiben und von diesen als kompetente und verlässliche Verhandlungspartner angesehen zu werden. Damit konnten wir für unsere Landsleute weitaus mehr erreichen als mit lautstarken Parolen, die letztendlich wirkungslos verpuffen und lediglich dem eigenen Aggressionsabbau dienen. Besonders intensiv war die Zusammenarbeit mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner. Er war aktiver Teilnehmer unserer beiden letzten Bundestreffen und zahlreicher weiterer Veranstaltungen der Landsmannschaft. Besonders hervorzuheben sind unsere gemeinsamen Bemühungen um den Ausbau der grenzüberschreitenden Maßnahmen zwischen Deutschland und den Staaten der GUS. Bei einem Besuch der Bundesgeschäftsstelle im Februar 2008 bezeichnete Dr. Bergner die Landsmannschaft als zentralen Ansprechpartner in allen Angelegenheiten, die Aussiedler und Spätaussiedler aus der

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews ehemaligen Sowjetunion betreffen. Zusammen mit der Landsmannschaft sehe er seine Aufgabe darin, die Identitätsbildung der Spätaussiedler als Deutsche zu unterstützen. Aufgrund der ausgesprochen vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Herrn Dr. Bergner sind wir sehr froh darüber, dass er auch in dieser Legislaturperiode des Bundestages als Parlamentarischer Staatssekretär für die Angelegenheiten unserer Landsleute zuständig sein wird. Höhepunkt des zu Ende gehenden Jahres war sicherlich das Gespräch mit Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, zu dem ich am 24. August gemeinsam mit meinem Bundesvorstandskollegen Waldemar Axt und der Bundesvorsitzenden des Jugend- und Studentenrings der Deutschen aus Russland, Elena Bechtold, sowie führenden Vertretern der Landsmannschaften der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben in Berlin eingeladen war. Auf Initiative der Landsmannschaft ging die Bundeskanzlerin auf die nicht zufrieden stellenden Regelungen von Härtefällen im Spätaussiedleraufnahmeverfahren ein. Außerdem sprachen wir Fragen an, die sich auf den Fremdrentenkomplex und Integrationsleistungen beziehen, sowie Probleme, die sich insbesondere für Deutsche aus Russland mit akademischem Hintergrund durch Defizite bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen nach EU-Richtlinien, durch die mangelhafte Förderung beruflicher Nachqualifizierungsmaßnahmen und hinsichtlich der beruflichen Selbständigkeit ergeben haben. Weitere Themen waren die Einbeziehung der Landsmannschaft bei zwischenstaatlichen Kontakten und bei Hilfsmaßnahmen für unsere Landsleute in ihren jetzigen Wohngebieten in der GUS sowie die leidige Frage der Förderung der Kulturarbeit der Vertriebenen und Aussiedler gemäß Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes. Das Gespräch bei Frau Dr. Merkel war das erste dieser Art, das wir im Vorfeld einer Bundestagswahl mit einem Bundeskanzler bzw. einer Bundeskanzlerin führen konnten, und es zeigte, dass die Anliegen unserer Volksgruppe inzwischen auch auf höchster Ebene in vollem Umfang wahrgenommen und unterstützt werden. Wenn man bedenkt, dass die Lage der Deutschen aus Russland in früheren Bundestagswahlkämpfen kein Thema war und geradezu tabuisiert wurde, können wir dieses Entgegenkommen der Kanzlerin gar nicht hoch genug einschätzen. Nicht hoch genug einschätzen können wir auch das Vertrauen, das uns seitens der Bundesregierung durch die Teilnahme des damaligen Innenministers und jetzigen Finanzministers Dr. Wolfgang Schäuble am Bundestreffen der Landsmannschaft am 13. Juni 2009 in Rheinberg entgegengebracht wurde. Mit Stolz haben uns die Worte erfüllt, mit denen der

Minister die Bedeutung der Landsmannschaft in seiner Festrede bei der Feierstunde würdigte. Ich darf zitieren: „Im Verlauf ihrer beinahe 60-jährigen Geschichte hat die Landsmannschaft zahlreichen Deutschen, die aus der Sowjetunion gekommen sind, zur Seite gestanden und ganz praktische Hilfe geleistet. Neben Ihrer wirkungsvollen politischen Arbeit haben Sie so auch immer einen Dienst am Menschen getan, der Ihrem Verband Glaubwürdigkeit und Gewicht verleiht. Und mit dieser Arbeit haben Sie es geschafft, über die Jahrzehnte bis heute einen wichtigen Teil deutscher Kultur zu bewahren. In einer Welt der Globalisierung, in der kulturelle Traditionen und Bindungen eher verloren zu gehen drohen, ist das ein besonderer Verdienst, den nicht nur die Russlanddeutschen, sondern auch viele andere Menschen – wenn auch leider nicht alle – in der Bundesrepublik Deutschland zu schätzen wissen. Ihre Arbeit, Ihre Erfolge und die Kontinuität Ihres Engagements, die sich in dem mittlerweile 30. Bundestreffen ausdrückt, sind ein Grund zur Freude.“ Als weiteren Erfolg will ich die verstärkte Einbeziehung der Landsmannschaft und damit auch der von uns vertretenen Deutschen aus Russland in politische Entscheidungsprozesse auf Bundes- und Länderebene nennen. Es ist ein Erfolg, der uns ganz und gar nicht in den Schoß gefallen ist, vielmehr aus zäher und geduldiger Arbeit resultiert! In meinem schriftlichen Bericht habe ich die wichtigsten unserer politischen Kontakte der letzten drei Jahre genannt, so dass ich sie hier nicht erneut aufzuzählen brauche. Namentlich erwähnt sei der in diesem Jahr in den Ruhestand gegangene Hessische Aussiedlerbeauftragte Rudolf Friedrich, mit dem uns eine beinahe freundschaftliche Beziehung verbindet. Lassen Sie mich weitere Beispiele nennen: An den beiden letzten Sitzungen der Deutsch-Russischen Regierungskommission, die sich insbesondere mit grenzüberschreitenden Maßnahmen befassten, war die Landsmannschaft durch mich bzw. meine Bundesvorstandskollegin Lilli Bischoff sowie die JSDR-Vorsitzende Elena Bechtold vertreten. An diesen Sitzungen beteiligt sich die Landsmannschaft ganz im Sinne ihrer Satzung, die ihr neben der Verantwortung für die Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik auch die Sorge für die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion vorschreibt. Ausgesprochen erfolgreich gestaltet sich unsere Mitwirkung am Integrationsgipfel der Bundesregierung, an den Sitzungen des von Herrn Dr. Bergner geleiteten Beirates für Spätaussiedlerfragen sowie an den Beratungen und zentralen Tagungen des Bundes der Vertriebenen. Bei der letzten Sitzung des Aussiedlerbeirates der

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Bundesregierung am 22. Juni 2009 füllten die von der Landsmannschaft in aller Ausführlichkeit vorbereiteten Themen, die sich in erster Linie mit Sozialfragen und der Integration jugendlicher Spätaussiedler befassten, beinahe das gesamte Tagungsprogramm aus. Und das, obwohl es Themen waren, die sämtlichen Parteien nicht eben angenehm sind und sie an Versäumnisse und Mängel erinnerten, die schleunigst aus der Welt geschafft werden sollten. An der letzten Sitzung des Petersburger Dialogs waren wir zwar nicht beteiligt, immerhin stieß jedoch, wie uns der Leiter des Deutschen Lenkungsausschusses, Dr. Lothar de Maizière, in einem Schreiben vom 9. August 2009 mitteilte, unsere Idee der Erarbeitung gemeinsamer Unterrichtsmaterialien zur deutsch-russischen Geschichte auf großes Interesse. Besonderes Augenmerk haben wir in den letzten Jahren der Intensivierung unserer Öffentlichkeitsarbeit gewidmet. Dabei umfasst Öffentlichkeitsarbeit nach unserem Verständnis weitaus mehr als die unmittelbare Pressearbeit in eigenen und fremden Publikationen. Arbeit in Projekten, Kooperation mit Vereinen und Institutionen vor Ort, sich Einbringen in Netzwerke und Selbstorganisationen von Zuwanderern – damit sind nur einige der Bereiche genannt, in denen wir tätig werden. Eine herausragende Gelegenheit, einer breiten Öffentlichkeit die Anliegen, Leistungen und Probleme der Deutschen aus Russland zu präsentieren, bieten uns die durchschnittlich alle zwei Jahre stattfindenden Bundestreffen – 2009 trafen wir uns, wie bereits erwähnt, in Rheinberg, 2007 in den Wiesbadener Rhein-Main-Hallen. Mit zentralen Gedenkfeiern erinnern wir alljährlich an die Opfer der Verfolgung und Vertreibung der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion. Wir werden diese Feiern auch künftig durchführen, um in würdigem Rahmen des tragischen Schicksals zu gedenken, das unsere Volksgruppe im 20. Jahrhundert zu erleiden hatte und dessen Nachwirkungen bis in die Gegenwart zu spüren sind. Ein wesentliches Instrument landsmannschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit ist das Verfassen von Stellungnahmen, die wir in unseren Publikationen veröffentlichen und breit gefächert an die Medien und die politischen Entscheidungsträger auf Bundes- und Landesebene verschicken. Wir messen diesen Stellungnahmen und den damit verbundenen Vorgehensweisen eine zentrale Bedeutung innerhalb der Arbeit der Landsmannschaft bei. Sie helfen uns, weite Kreise der Bevölkerung für die Anliegen der Deutschen aus Russland zu sensibilisieren. Sie erreichen die politisch Verantwortlichen in unserem Land. Und sie sind bisher noch niemals ohne Reaktion geblieben.

Einige unserer Aktionen der letzten drei Jahren will ich erwähnen - den Gesamtkatalog entnehmen Sie bitte meinem schriftlichen Bericht. Von April bis Juli 2007 setzten wir uns immer wieder gegen eine einseitige und verfälschende Untersuchung des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit zur Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern zur Wehr. Schließlich kam es am 20. Juni 2007 in der Bundesgeschäftsstelle der Landsmannschaft zu einem Gespräch mit den Verfassern der Studie, die sich danach bereit erklärten, einige Ergebnisse zu modifizieren. Insbesondere war nach der Zusammenkunft nicht mehr die Rede davon, dass sämtliche Spätaussiedler Gegenstand der Untersuchung waren, sondern lediglich diejenigen, die in den Jahren 2000 bis 2004 nach Deutschland gekommen sind, was verallgemeinernde Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Volksgruppe verbietet. Trotzdem bleibt die Untersuchung des Institutes eine mehr als ärgerliche Sache, zumal ihre Ergebnisse im krassen Widerspruch stehen zu denen der am 26. Januar 2009 veröffentlichten Studie „Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland“ des Berliner Institutes für Bevölkerung und Entwicklung. Laut dieser Studie nehmen Aussiedler gemeinsam mit Migranten aus den EU-Ländern den Spitzenplatz hinsichtlich ihrer Integrationsbereitschaft ein. Trotz erschwerter Startbedingungen schneiden sie vor allem im Bildungs- und Arbeitsbereich besser ab als andere Herkunftsgruppen. Als besonders bemerkenswert bezeichnet die Studie den Rückgang bei der Jugendarbeitslosigkeit, die sich von der ersten auf die zweite Generation fast halbiert hat. In einer weiteren Stellungnahme unter dem Titel „Wir brauchen keine Geschichtsfälscher“ gingen wir auf die fehlerhafte Darstellung der Geschichte der Volksgruppe in einem nordrhein-westfälischen Schulbuch ein. In mehreren sehr detaillierten Stellungnahmen wiesen wir auf Fehlentwicklungen in der gegenwärtigen Aussiedlerpolitik der Bundesregierung hin und forderten vor allem eine gerechtere Fremdrentenregelung für Spätaussiedler, um zunehmenden Fällen von Altersarmut entgegen zu wirken. „Rechtsaußen? Nein danke!“ war der Titel einer Pressemitteilung, mit der wir uns vehement gegen scheinheilige Annäherungsversuche der NPD verwahrten. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 verschickten wir an die Vorsitzenden aller im Bundestag vertretenen Parteien Wahlprüfsteine. Und gerade eben erst haben wir mit dem Verband der Siebenbürger Sachsen und der Landsmannschaft der Banater Schwaben eine Stellungnahme zum Aus-

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews gang der Bundestagswahl 2009 verfasst, bei der erneut keinem einzigen Deutschen aus Russland bzw. aus Rumänien der Einzug in den Bundestag gelungen ist. Auch wenn andere Bereiche inzwischen an Bedeutung gewonnen haben, bildet die Sozialberatung und -betreuung nach wie vor einen der Grundpfeiler der landsmannschaftlichen Aktivitäten. Laut den offiziellen Abrechnungslisten für das Jahr 2008 wurden von den ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuern der Landsmannschaft 12.088 Personen mit einem Zeitaufwand von insgesamt 16.202 Stunden betreut. Der tatsächliche Betreuungsumfang in den Landes-, Orts- und Kreisgruppen der Landsmannschaft ist jedoch weitaus höher, da viele unserer Mitglieder Hilfe leisten, ohne der Bundesgeschäftsstelle dafür Abrechnungsunterlagen zu schicken. Wir werden uns auch künftig für eine Fortsetzung der finanziellen Unterstützung der landsmannschaftlichen Sozialarbeit einsetzen, die durch Bundeszuwendungen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über den Bund der Vertriebenen geregelt wird. Wir werden betonen, dass unsere Betreuer gerade bei der Behandlung von Problem- und Härtefällen sehr erfolgreich sind, da sie zumeist vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen als Aussiedler bzw. Spätaussiedler handeln und daher besonders engagiert sind. Die für die Beratung und Betreuung notwendigen Kompetenzen werden unseren Mitarbeitern in zahllosen Schulungsmaßnahmen auf Orts-, Landes- und Bundesebene vermittelt In Ergänzung ihrer Integrationsarbeit auf allen Ebenen organisiert die Landsmannschaft eine erhebliche Anzahl von Projekten, die einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Integration unserer Landsleute leisten. Die Projektleiter aus den Reihen der Deutschen aus Russland verfügen über die notwendigen Sprachund Fachkompetenzen; sie arbeiten eng mit den landsmannschaftlichen Ortsgruppen und den örtlichen Integrationsnetzwerken zusammen. Näheres zur Arbeit der Projektleiter entnehmen Sie bitte dem Bericht der Bundesgeschäftsstelle. Einige Worte zur Kulturarbeit der Landsmannschaft: Ohne jeden Zweifel leidet diese bis zum heutigen Tag unter den restriktiven Bestimmungen der Mitte der 1990er Jahre vorgenommenen Neuorientierung der Kulturpolitik des Bundes gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz, die mit ganz erheblichen finanziellen Kürzungen im Vertriebenen- und Aussiedlerbereich verbunden war. Die Landsmannschaft war nach der Streichung der Stellen der beiden hauptamtlich tätigen Kulturreferenten vor rund 15 Jahren allein auf den ehrenamtli-

chen Einsatz ihrer Mitglieder angewiesen und nicht mehr in der Lage, ihre Arbeit zur Pflege des Kulturgutes der Volksgruppe in gewohntem Umfang fortzuführen. Trotz der genannten Einschnitte können sich die Besucher unserer Veranstaltungen auf Bundes-, Landesund Ortsebene vom beträchtlichen kulturellen Reichtum überzeugen, den die Deutschen aus Russland mit in die Bundesrepublik gebracht haben, hier pflegen und weiter ausbauen. Zusätzlich präsentiert werden diese Leistungen in Integrationsbroschüren, die von der Landsmannschaft mithilfe öffentlicher Förderung auf Bundesebene sowie in verschiedenen Bundesländern herausgegeben worden sind. Da sich unsere zwischenzeitlichen Hoffnungen auf eine Wiederbelebung bzw. Verstärkung der aus öffentlichen Geldern geförderten überregionalen Kulturarbeit der Landsmannschaft inzwischen zerschlagen haben, haben wir in Absprache mit dem Berufenen Kulturreferenten unseres Vereins und Leiter des Göttinger Arbeitskreises des Nordost-Instituts, Dr. Alfred Eisfeld, eine Reihe von Punkten zusammengestellt, für deren Verwirklichung in der laufenden Legislaturperiode des Bundestages wir uns stark machen werden. Ein besonderes Anliegen wird es uns sein, Mittel für den Aufbau und den Unterhalt eines zentralen Museums und einer Bibliothek der Deutschen aus Russland zu beschaffen. Konkrete Verhandlungen führen wir diesbezüglich mit zuständigen Stellen in Niedersachsen und Hessen sowie vor allem mit dem künftigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus und dem Innenminister des Landes, Heribert Rech. Im Bereich der landsmannschaftlichen Jugendarbeit darf die Gründung einer eigenen Jugendorganisation unter dem Namen Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russland (JSDR) am 1. März 2008 als herausragender Erfolg betrachtet werden. In den seither vergangenen eineinhalb Jahren haben sich innerhalb des Bundesverbandes Landesverbände in Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt gebildet. Wie bereits erwähnt, beteiligt sich die Landsmannschaft an grenzüberschreitenden Maßnahmen ganz im Sinne ihrer Satzung, die ihr neben der Verantwortung für die Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik auch die Sorge für die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion vorschreibt. Nach einem gewissen Stillstand in der Zeit davor waren die letzten drei Jahre gekennzeichnet von einer intensiven Zusammenarbeit der Landsmannschaft mit russlanddeutschen Verbänden in Russland, die künftig auch auf andere Länder der ehemaligen

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews Sowjetunion ausgedehnt werden soll. Sichtbares Resultat dieser Bemühungen war neben der Teilnahme von Vertretern der Landsmannschaft an den beiden letzten Sitzungen der Deutsch-Russischen Regierungskommission vor allem die Unterzeichnung von Kooperationsabkommen zwischen Gliederungen der Landsmannschaft und Partnern in Russland beim 6. Forum der Begegnungszentren der Russlanddeutschen in Moskau 2007. Fünf weitere Partnerschaften wurden für dieses Jahr geplant und zum Teil bereits realisiert. Auch hierzu entnehmen Sie bitte Ausführlicheres meinem schriftlichen Bericht sowie dem Bericht der Bundesgeschäftsstelle und dem nachfolgenden Vortrag des ehrenamtlichen Geschäftsführers Waldemar Axt. Gegenwärtig setzt sich die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland vor allem dafür ein, dass sich die Parteien der Regierungskoalition von CDU/ CSU und FDP ihrer grundsätzlichen Anliegen annehmen. Wir haben diesbezüglich die jeweiligen Parteivorsitzenden angeschrieben und konnten vor einigen Wochen ein Gespräch mit der CSU in Bayern führen, die als erste der kontaktierten Parteien geantwortet hatte. Die Grundzüge der landsmannschaftlichen Erwartungen hatten wir in acht Punkten zusammengefasst: Als vordringlich betonten wir in unserem Schreiben die Regelung von Härtefällen beim Zuzug von Familienangehörigen der als Spätaussiedler gemäß Paragraph 4 des Bundesvertriebenengesetzes anerkannten Deutschen aus Russland. Besonders ärgerlich sind solche ungelösten Härtefälle in Zeiten, in denen sich die Ausreisezahlen von Spätaussiedlern ohnehin bereits der Nullmarke angenähert haben. Wir erwarten daher eine raschere und weniger bürokratische Abwicklung dieser Fälle, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion unter massiven Benachteiligungen aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit zu leiden hatten und in deren Nachfolgestaaten faktisch nach wie vor nicht gleichberechtigt sind. Wir orientieren uns dabei an der Antwort der CDU/ CSU auf unseren entsprechenden Wahlprüfstein vor der Bundestagswahl 2009. Ich zitiere: „Auch wollen wir gesetzliche Regelungen schaffen, um bei Härtefällen eine nachträgliche Aufnahme zurückgebliebener Nachkommen in den Aufnahmebescheid zu ermöglichen.“ Als zweiten Punkt führten wir die nach wie vor bestehenden Defizite bei der Anerkennung von akademischen Ausbildungsgängen und Berufsabschlüssen nach EU-Richtlinien sowie bei der Förderung beruflicher Nachqualifizierungsmaßnahmen und der beruflichen Selbständigkeit an.

Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel bei dem eingangs erwähnten Gespräch am 24. August 2009 ausgesprochen erstaunt darüber zeigte, dass in dieser Hinsicht noch nichts Entscheidendes geschehen ist. Unsere konkreten Vorschläge decken sich zum Teil mit den im gegenwärtig gültigen Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aufgeführten Vorschlägen zum nationalen Integrationsplan, deren Verwirklichung jedoch auf sich warten lässt. Vor allem wollen wir verhindern, dass größere Teile der nachwachsenden Generation unserer Landsleute bereits von vorneherein in das zweite oder dritte Glied abgeschoben werden. Zusätzlich mahnen wir eine Verbesserung der Transparenz bei den Anerkennungsverfahren für Bildungsund Berufsabschlüsse sowie der Möglichkeiten zum Nachholen fehlender Qualifikationsbestandteile an. Gleichfalls fordern wir in dem Schreiben Änderungen bzw. Nachbesserungen im Bereich der Fremdrentenregelung. Wir halten es für nicht nachvollziehbar, dass Deutsche aus Russland selbst bei Lebensarbeitszeiten von 45 Jahren aufgrund sämtlicher Kürzungen im Fremdrentenbereich im Alter unter das Existenzminimum fallen. Und das, obwohl ihre Kinder und Enkel weitaus mehr in die deutschen Rentenkassen einbezahlen, als ihnen selbst aus diesen Kassen zufließt. Es lässt sich keine stichhaltige Erklärung finden, weshalb ausgerechnet für die Volksgruppe der Deutschen aus Russland der Generationenvertrag außer Kraft gesetzt wird. Wir erwarten daher Änderungen vor allem hinsichtlich der folgenden Benachteiligungen: 1. Um rentenrelevante Zeiten voll angerechnet zu erhalten, müssen Deutsche aus Russland Fehlzeiten wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit durch Archivbescheinigungen nachweisen. Die Anforderungen an diese Bescheinigungen sind mittlerweile jedoch derart hoch, dass sie von den meisten Betroffenen nicht erfüllt werden können. Teilweise werden – trotz des Wissens um die Verhältnisse in den Herkunftsländern! - bereits Originale verlangt. 2. Die Kürzung der Entgeltpunkte um 30 bzw. 40 Prozent bedeutet für die Betroffenen, dass sie zusätzlich Grundsicherung beantragen müssen. 3. Hinzu kommt, dass bei Alleinstehenden nur mehr 25 Entgeltpunkte und bei Ehepaaren insgesamt nur mehr 40 Entgeltpunkte angerechnet werden, was alles in allem dazu führt, dass unsere Rentner Kürzungen in einem Umfang von skandalösen 55 Prozent hinnehmen müssen! Keinerlei Verständnis haben wir für die Antwort der FDP auf unseren Wahlprüfstein zur Fremdrentenregelung: „Die Berücksichtigung besonderer Lebensleistungen einzelner Bevölkerungsgruppen würde die

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Berichte - Stellungnahmen - Reden - Interviews gesetzliche Rentenversicherung finanziell sehr stark beanspruchen, soweit den Tätigkeiten Einzelner keine Beitragszahlungen gegenüber stehen.“ CDU und CSU haben immerhin ihre Bereitschaft erklärt, die Zunahme von Altersarmut unter Aussiedlern zu verhindern. Und auch die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wird nicht aufhören, Gerechtigkeit für eine Volksgruppe einzufordern, die über Jahrzehnte an der Rückkehr nach Deutschland gehindert wurde und dafür durch eine restriktive Rentenregelung zusätzlich bestraft wird. Nicht gelten lassen wir vor allem das Argument der mangelnden Sozialverträglichkeit einer angemessenen Fremdrentenregelung. Des Weiteren bringen wir in dem Schreiben unsere Forderung nach Umstrukturierung der Integrationsleistungen der Bundesregierung - vor allem hinsichtlich der Sprachförderung -, zum Ausdruck. Dabei orientieren wir uns an zwei Eckpunkten: Zum einen an den härter gewordenen Bedingungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt und zum anderen an den Aussagen der erwähnten Studie des Berliner Institutes für Bevölkerung und Entwicklung zur Integrationsbereitschaft der Spätaussiedler, die es verbieten, Deutsche aus Russland als Bittsteller anzusehen. In einem weiteren Punkt unterstreicht die Landsmannschaft ihr fortdauerndes Interesse, sich an den Sitzungen der Deutsch-Russischen Regierungskommission zu beteiligen, schlägt aber vor, sie verstärkt in die Festlegung der Tagungsinhalte mit einzubeziehen. Darüber hinaus werden wir uns dafür einsetzen, dass die in Aussicht gestellte Beteiligung an den Sitzungen im Rahmen des Petersburger Dialogs Realität wird. Ebenfalls begrüßen wir in dem Schreiben den Ausbau der Hilfen für die Landsleute in der GUS, widersprechen jedoch der Auffassung der Bundesregierung, dass darin der Hauptgrund für den dramatischen Rückgang der Spätaussiedlerzahlen seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar

2005 zu finden ist. Den beinahe einzigen Grund hierfür sehen wir vielmehr in der Überbetonung deutscher Sprachkenntnisse im Spätaussiedleraufnahmeverfahren, die dem Schicksal der Volksgruppe nicht Rechnung trägt. Und schlussendlich plädieren wir in dem Schreiben für die Einrichtung von Stellen zur Koordination der Integrationsarbeit der Landsmannschaft mit solchen der politischen Entscheidungsträger auf regionaler, Landes- und Bundesebene, mit deren Hilfe die oft langen Verwaltungs- und Entscheidungswege verkürzt werden könnten. Die Landesgruppe Bayern der Landsmannschaft macht gegenwärtig sehr gute Erfahrungen mit dem landesweiten Koordinationsprojekt „Angekommen und integriert in Bayern“, das vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen und dem Bundesministerium des Innern gefördert und von zwei Projektleiterinnen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die regional im Norden und im Süden Bayerns als Koordinatorinnen tätig sind, umgesetzt wird. Ich hatte in den letzten Monaten viermal die Ehre, die Festrede bei der Feier zum 50-jährigen Bestehen einer landsmannschaftlichen Orts- und Kreisgruppe zu halten, in Wiesbaden, in Pforzheim, in Osnabrück und im Gebiet Oberschwaben. Bei allen diesen Feiern konnte ich mich davon überzeugen, dass die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland lebt und nach wie vor gebraucht wird. Sie lebt dank des uneigennützigen Engagements ihrer Mitglieder, und sie wird gebraucht, weil längst noch nicht alle Probleme unserer Landsleute gelöst sind. Den Dank an alle, die uns in den vergangenen drei Jahren solidarisch zur Seite gestanden haben, verbinde ich daher mit dem Versprechen, mich weiterhin mit meiner ganzen Kraft für meine Landsleute und ihre Landsmannschaft einzusetzen! (November 2009)

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