«Schaut, was ich zu sagen habe»

September 11, 2016 | Author: Jakob Beutel | Category: N/A
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Elisabeth Hösli

«Schaut, was ich zu sagen habe» Intermodales Lernen in multikulturellen Klassen

Verlag Pestalozzianum, 2000 ISBN 3-907526-69-4 Seit 2009 nur noch als pdf-Datei erhältlich

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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Klappentext: Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Kind in einem fremden Land, und Sie kennen kein Wort der lokalen Sprache. Eigentlich möchten Sie viel mitteilen, fragen und verstehen. Elisabeth Hösli hat sich als Lehrerin einer Integrationsklasse für neu zugezogene, fremdsprachige Kinder lange Zeit mit deren besonderen Bedürfnissen und Ressourcen beschäftigt. Dabei hat sie sich mit den Prinzipien der intermodalen Lernmethode vertraut gemacht und diese mit Erfolg eingesetzt. Die intermodale Methode gibt dem künstlerischen Ausdruck in verschiedensten Modalitäten viel Raum. Die Autorin zeigt überzeugend auf, wie damit neben dem Lernen der neuen Sprache die personalen, sozialen und kognitiven Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler entwickelt und gestärkt werden, so dass eine wichtige Basis für deren Entwicklung, aber auch für eine gute Atmosphäre im Schulzimmer und im Schulhaus gelegt werden kann.

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

Für alle meine Schülerinnen und Schüler, mit denen ich gemeinsam gelernt habe.

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«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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Inhalt

Inhalt

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Vorwort

6

Einleitung

10

1

13

2

3

4

Kinder mit anderer Muttersprache als Deutsch 1.1

Zum Kontext meiner Arbeit

13

1.2

Multikulturelle Pädagogik

17

1.3

Zweitspracherwerb und Integration

24

Didaktische Grundsätze intermodalen Lernens

28

2.1

Aspekte und Phasen eines intermodalen Lernprozesses

30

2.2

Wichtige Prinzipien der intermodalen Methode in der Schule

32

2.3

Wirklichkeitskonstruktionen in «vier Sprachen»

36

2.4

Forderung nach signifikanten Themen

37

2.5

Ziele intermodalen Lernens

39

Praxis intermodalen Lernens in multikulturellen Klassen

43

3.1

Erstes Beispiel: Das Maskenprojekt

44

3.2

Zweites Beispiel: Gegenteile

55

3.3

Drittes Beispiel: Intermodales Arbeiten

63

3.4

Förderung der Sprachentwicklung - ein Resümee

68

Übersicht über rahmengebende Theorien

70

4.1

Der kunstorientierte Ansatz

70

4.2

Der doppelte Eisberg bilingualer Fähigkeiten und Fertigkeiten

73

4.3

Die Rahmentheorie der multiplen Intelligenzen

77

4.4

Lernen auf eigenen Wegen: Ein Vergleich mit der intermodalen Methode

82

4.5

Das zugrunde liegende Entwicklungsverständnis

86

4.6

Das zugrunde liegende Bildungs- und Erziehungsverständnis

92

Abschliessende Gedanken Anhang

96 100

1. Das Maskenprojekt

100

2. Thema Gegenteile

103

3. Intermodale Prozesse

105

Literaturangaben

109

Über die Autorin

111

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

6

Vorwort

Im Jahre1991 lernte ich als Fellow des „Institute for the Arts and Human Development“ am Lesley College in Cambridge, Massachusetts den dort entwickelten Ansatz „Arts in Learning“ kennen. Ich fand darin eine konsequente Weiterführung meiner eigenen pädagogischen Suchbewegungen, seit ich zu Beginn der Achtzigerjahre begonnen hatte, Lernprozesse durch den systematischen Einbezug von Ausdrucksformen aus verschiedenen Kunstdisziplinen zu intensivieren. Unter der Bezeichnung „Pädagogik als Kunst“ habe ich diesen Ansatz seither hier in der Schweiz weitergeführt. Eine missverständliche Bezeichnung, wie sich immer wieder zeigt, ist doch das deutsche Wort „Kunst“ ganz anders besetzt als das englische „Arts“. Eine Bezeichnung, die auch quer steht in der gegenwärtigen Schulentwicklungsszene. Eine Bezeichnung, die aber auch immer wieder idealistische Erwartungen und Hoffnungen hervorruft.

Mit diesem Buch legt Elisabeth Hösli nun einen Bericht über die Umsetzung dieses pädagogischen Ansatzes in ihre Schulpraxis vor. Sie wählte

mit Absicht den Untertitel

„Intermodales Lernen in multikulturellen Klassen“. Damit setzt sie den Schwerpunkt ihrer Darstellung klar auf den methodisch-didaktischen Aspekt. Sie schildert und reflektiert Unterricht, der sich an einem

Verständnis von Bildung und Lernen orientiert, das der intergrativen

Anwendung von Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Gestaltungsmodalitäten aus verschiedenen Kunstdisziplinen grosse Bedeutung beimisst. Dieser Unterricht findet in einem ganz bestimmten Umfeld statt: in einer Einschulungsklasse für fremdsprachige Kinder im Zürcher Stadtkreis Aussersihl, dort wo all unsere gesellschaftlichen Probleme mit Händen zu fassen sind. Es ist für mich eigenartiger Zufall, dass dieser Wirkungsort genau jenes Schulhaus ist, in dem ich selbst vor bald fünfzig Jahren Primarschüler war - und mich damals schon entschied, einmal Lehrer zu werden.

Blicke ich zurück auf meine Zusammenarbeit mit Elisabeth während der Entstehung dieses Buches, erinnere ich mich an viele eindrückliche Episoden: –

Unser

anregendes

gemeinsames

Maskenbauen

und

-gestalten,

tastende

eigene

Spielversuche, klärende zeichnerische Umsetzungen und choreografische Überlegungen, fotografische Dokumentationen als Vorbereitung für unsere pädagogische Arbeit: Elisabeth mit ihren Schülerinnen und Schülern, ich mit Studierenden in der Lehrerbildung im Rahmen einer Studienwoche.

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.



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Meine Schulbesuche in Elisabeths Klasse, bei denen ich mich begeistert davon überzeugen konnte, dass hier vieles wirksam wurde, was mir wichtig ist. Eine Klasse, die zu Konzentration findet, die Stille ertragen kann. Kinder, die ihr vielfältiges Ausdruckspotential nutzen können, die in sorgfältig gesetztem Rahmen an der Gestaltung ihrer Werke arbeiten und sich selbstverständlich auf der Bühne bewegen. Und all das mit jungen Menschen, die verschiedener kaum sein könnten, von ihren kulturellen Hintergründen, von ihren sozialen Erfahrungen, von ihren individuellen Biografien her.



Schliesslich erinnere ich mich gerne an die Meetings von Debbie Sherman vom Lesley College, Vera Decurtins vom Institut für selbständige interdisziplinäre Studien (ISIS) in Zürich, Elisabeth Hösli und mir. In diesen regelmässigen Treffen begleiteten wir Elisabeth bei der Abfassung ihrer Master Thesis, welche die Grundlage des vorliegenden Buches bildet. Jedes dieser Treffen war für mich ein engagiertes Ringen um die Weiterführung, Präzisierung und Differenzierung unseres pädagogischen Denkens. Für mich immer wieder ein Beispiel, wie ich mir den pädagogischen Diskurs zwischen Theorie und Praxis wünsche.

Wie wird all das im vorliegenden Buch sichtbar? Wie lässt es sich wohl von Leserinnen und Lesern nachvollziehen? Wie kann daraus Anregung für das eigene pädagogische Denken und Handeln gewonnen werden?

Elisabeth Hösli gewährt uns eine Fülle von Einblicken in ihre Schulpraxis. Sie stellt uns die Kinder ihrer Klasse in anschaulichen Portraits vor, sie erzählt in dichter Sprache von pädagogischen Situationen, sie dokumentiert ihren Unterricht und ihre Projekte, beschreibt ihr Vorgehen und illustriert mit ausgewählten Beispielen. Bei all dem bleibt sie dicht an den Phänomenen, wählt eine Sprache, die ihre eigene Beteiligung zum Ausdruck bringt, die mich als Leser einlädt, mich selbst aktiv auf die Auseinandersetzung mit ihrer Praxis einzulassen.

Was dabei geschildert wird, sind exemplarische Situationen und Prozesse intermodalen Lernens. Darin wird die Verpflichtung auf Grundsätze ästhetischer Bildung - wie ich sie verstehe - sichtbar: –

konzentrierte Wahrnehmung und Erfahrung, innere und äussere, als Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses;



sich Zeit nehmen, Langsamkeit und Offenheit aushalten für Spiel und Suchbewegungen mit den Ausdrucksformen bedachtsam aufeinander bezogener Kunstdisziplinen, bis sich Klarheit abzeichnet, bis vielleicht auch Unerwartetes und Überraschendes auftaucht;



dann dieses Aha-Erlebnis deutlich herausarbeiten durch Benennen, Klären, sich festlegen auf etwas Bestimmtes, das weiter verfolgt werden soll;

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.



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Formen und Gestalten verbindlicher Werke d.h. über die Beliebigkeit des ersten Zufalles hinaus gehen durch Wiederholen, durch Umgiessen vom Bild in die Bewegung, in den Klang, in die Sprache, durch Verdichtung mit neuen Ausdrucksmitteln;



Präsentieren der so gewonnenen Erfahrungen und Einsichten durch Ausstellen, Vorspielen, auf die Bühne bringen, Vervielfältigen, ...;



Dialog und Austausch in dem die Vielfalt erfahrener Wirklichkeiten deutlich sichtbar und ernst genommen wird.

Diese Praxiserfahrungen werden auf vielfältigem Hintergrund reflektiert, wobei zunächst jene Prinzipien und Modelle herangezogen werden, die ich in den letzten Jahren für meine Weiterbildungskurse entworfen und entwickelt habe, um praxiswirksame Planungs- und Reflexionshilfen anzubieten. Es kommt in diesen Reflexionen aber auch sehr deutlich jene dialogische Grundhaltung zum Tragen, welche die anthropologische Grundlage unseres pädagogischen Tuns bildet. In ausführlichen Bezügen auf Buber, Bollnow, Knill, von Hentig wird dies explizit aufgezeigt. Die wiedergegebenen Dialoge mit Kolleginnen und Kollegen über ihre Arbeit, wie auch die gewählte Form des Alter-Ego-Dialogs ergänzen diese Verpflichtung auf Prinzipien der Dialogik um eine weiter Dimension.

In ihrer Übersicht über rahmengebende Theorien weist Elisabeth Hösli aber über diese Ansätze hinaus und verknüpft sie mit weiteren Theorien, die ihr dafür geeignet scheinen. Damit entspricht sie dem Anliegen, eine mehrperspektivische Sicht zur Deutung pädagogischer Situationen und zur Begründung pädagogischen Handelns einzunehmen. Ein verbindendes Element der ausgewählten Theorien scheint mir dabei der Bezug auf das Gleichgewichtsprinzip. Lernen, Bildung, Entwicklung als ständige Balanceakte: ein Gleichgewicht verlieren, taumeln, Tritt fassen und ein neues Gleichgewicht finden, wieder und wieder.

Unterrichten auf diesem Hintergrund verstehe ich ebenfalls als Balanceakt, bei dem ich mich an bestimmten choreografischen Regeln zu orientieren habe, ohne dabei die wache Aufmerksamkeit und Sorgfalt gegenüber dem Unerwarteten und den Mut zur intuitiven Intervention zu verlieren. Unterricht ist die Inszenierung gemeinsamen Lernens innerhalb eines gesteckten Rahmens. Damit kein Missverständnis entsteht: Lernende werden damit nicht in die Rolle von Zuschauerinnen und Zuschauern versetzt. Alle sind darin Akteure - mit wechselnden Rollen, mit wechselnden Spielregeln und Spielräumen, in unterschiedlichen Choreografien des Spielverlaufs, die teils mehr teils weniger Freiraum für Improvisation zulassen.

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

Unterrichten als Kunst, in den Vordergrund zu treten: Erzählend, darstellend, gestaltend der Sache ihre Bedeutung geben. Präsent und glaubwürdig vertreten, was mir wichtig ist.

Unterrichten als Kunst, in den Hintergrund zu treten: Betrachtend, begleitend, ermunternd dem Menschen seine Bedeutung geben. Sorgfältig und zurückhaltend verstehen, was er erkannt hat.

Unterrichten als Kunst in den Kreis zu treten: Teilnehmend, aufnehmend, mitteilend der Klasse ihre Bedeutung geben. Befreiend und schützend miterleben, was uns geschieht.

Unterrichten als Kunst, aus dem Kreis heraus zu treten: Bestimmend, fordernd, kontrollierend der Aufgabe ihre Bedeutung geben. Verbindlich und zuversichtlich verlangen, was geleistet werden muss.

Unterrichten als Kunst, das Gleichgewicht zu finden: Absichtsvoll, vorausahnend, abwägend Zielen ihre Bedeutung geben. Bestimmend und offenlassend planen, was inszeniert werden soll.

So verstandener Unterricht wird hier vorgestellt, reflektiert und begründet.

Peter Wanzenried, Winterthur, Januar 2000

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«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

10

Einleitung

„Nimmt man einem Volk die Sprache weg, so bedeutet das sein Genozid.“ Dieses Statement, das auf Paolo Freire zurückgehen soll und mir mündlich zugetragen wurde, liess mich aufhorchen. Es zwang mich zum Nachdenken, und mir wurde sofort bewusst, dass diese Worte meinen Unterricht nachhaltig beeinflussen würden. Das war 1992. Damals unterrichtete ich schon neun Jahre lang in der Stadt Zürich eine Integrationsklasse (Sonderklasse E) für fremdsprachige Immigrantenkinder, und zwar in dem wohl am wenigsten privilegierten Quartier dieser Stadt, in Zürichs Rotlichtviertel. Die Kinder, die ich unterrichtete, lebten alle erst seit kurzer Zeit im deutschen Sprachraum und waren dementsprechend im Unterricht während einer gewissen Anfangszeit ihres verbalen Ausdrucks fast vollständig beraubt. Eine schmerzhafte Vorstellung! Nun durften diese Kinder darüber hinaus nicht auch noch innerlich verstummen und ihre Hoffnung verlieren, dachte ich mir. Ebenfalls 1992 kam ich zum erstenmal in Kontakt mit der kunst- und ausdrucksorientierten intermodalen Methode in Therapie, Supervision und Pädagogik. Diese Methode gründet auf den Traditionen der Künste, die seit jeher für das Bilden und Heilen der Menschen zentral waren, und deshalb der Anwendung und der Bedeutung künstlerischer Disziplinen wie bildnerisches Gestalten, Musik, Tanz, Poesie und Theater etc. ganz natürlich einen grossen Platz einräumt. Die Methode erlaubt, sich auch nonverbal auf vielfältigste Art und Weise auszudrücken, zu partizipieren und sich selbst und eigene Begabungen und Fähigkeiten zu zeigen und zu entwickeln. Mich faszinierte die Vielfältigkeit und der tiefere Sinn des nonverbalen Ausdrucks. Umgehend

begann

ich,

nach

der

Bedeutung

und

nach

Umsetzungs-

und

Anwendungsmöglichkeiten für meine spezielle Unterrichtssituation zu suchen. Die ersten Reaktionen meiner Schülerinnen und Schüler waren so positiv, dass ich beschloss, mich fundamental mit der Thematik auseinander zu setzen. Die vierjährige Weiterbildung „Pädagogik als Kunst“ am Institut ISIS in Zürich vermittelte mir die theoretische und praktische Basis der Methode. Ergänzend bildete ein Pädagogikstudium am Lesley College in Massachusetts, USA, das Independent Study Degree Program, das nötige Gefäss und die unabdingbare Unterstützung, um die intermodale Methode in mein spezielles Arbeitsfeld zu transferieren. Das Resultat meiner Suche und meiner Studien ist das vorliegende Buch, welches eine überarbeitete Fassung meiner Masterthesis ist. Es bedeutete für mich eine grosse Herausforderung, meine Thesis in einer Fremdsprache zu schreiben. Doch die Tatsache, dass ich in einer Fremdsprache studierte und

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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zugleich über Kinder schrieb, die mit der Schwierigkeit konfrontiert waren, in einer ihnen noch weitgehend fremden Sprache und in einer ihnen fremden Kultur zu lernen und Lernziele zu erreichen, gab mir immer wieder Auftrieb. Die Ähnlichkeit unserer Gegebenheiten war für mich sehr interessant. Aufgrund meiner Situation und meiner positiven wie auch schwierigen Reaktionen, glaubte ich, die Kinder manchmal etwas besser verstehen zu können. Der philosophische und theoretische Hintergrund der intermodalen Lernmethode korrespondiert mit meinem persönlichen Weltbild und meinen Ansichten und Überzeugungen, speziell auch in Bezug von Bildung, Erziehung und Zusammenleben in multikulturellen Klassen und Schulen. Die Methode hilft, neben dem Erlernen der deutschen Sprache, sowohl die persönlichen, sozialen wie auch kognitiven Kompetenzen zu fördern. Sie ist eine Ressourcen orientierte Methode, die auf dem natürlichen Entwicklungsbestreben und den Stärken eines jeden Menschen und jeder Gruppe baut. Meine Haltung in Bezug multikultureller Erziehung und Bildung kristallisierte sich im Laufe der vielen Jahre der Arbeit mit fremdsprachigen Kindern und deren Eltern. Viele Geschichten und all die persönlichen Begegnungen brachten mir neue Erkenntnisse. Zu Beginn betonte ich die Herkunft des Kindes, seine Muttersprache, seine Religion. Ich versuchte, Bezüge zur Kultur der Herkunftsländer der Kinder herzustellen. Aber nur zu oft endete dies in Klischees, die gar nichts mit der Welt des Kindes und seinen Erfahrungen zu tun hatten.

Einmal fragte mich ein 12-jähriges Mädchen aus Sri Lanka, ob es Musik aus Sri Lanka in die Schule mitbringen dürfe. Ich sagte begeistert zu und freute mich auf Sitarmusik oder andere traditionelle Klänge aus Sri Lanka. Das Mädchen legte die Kassette ein – und wir hörten Michael Jackson.

Die Kriege in Ex-Jugoslawien haben meinen Hintergrund entscheidend mit geprägt. Ein Selbstbewusstsein, das nur auf einem fundamentalistischen Kollektiv oder einer Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Gruppierung gründet, gefährdet, wie wir nur zu oft gesehen haben, die Menschheit. So wurden mir mit der Zeit die Persönlichkeit und die Stärken und Schwächen der einzelnen Schülerinnen und Schüler wichtig. Mir wurde wichtig, was ein Kind zu sagen hatte, was und wie es lernen wollte und konnte. Da gehören ganz natürlich seine kulturelle und soziale Herkunft, seine Sprache, seine Familie, seine früheren Erlebnisse usw. dazu, aber auch seine ganz individuelle Ausrichtung. Im Sommer 1997 verliess ich die Schule. Seither bin ich in der Fortbildung, Supervision, Beratung und in Schulentwicklungsprojekten tätig. Weiter war ich als Trainerin in einem Bildungsprojekt des Europarates in Bosnien-Herzegovina tätig und bin in der Koordination, Einrichtung und Beratung von bilingualen Bildungsprogrammen für Kinder aus Kosova engagiert. Speziell für traumatisierte Kinder, die Krieg und Gewalt erfahren mussten, ist die Entwicklung ihrer Ausdrucksfähigkeit von

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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fundamentaler Bedeutung und deshalb eine Aufgabe von hoher Priorität. Ich hoffe, mit diesem Buch einen wertvollen und nützlichen Beitrag zu leisten, insbesondere für die Schulung und Bildung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen. Danksagung Allen, die mich irgendwie während meiner Studien und beim Entstehen dieses Buches begleitet und unterstützt haben, spreche ich meinen wärmsten Dank aus. Zuallererst ist dies Brigitte Wanzenried, welche meine Neugierde für die kunst- und

ausdrucksorientierte intermodale

Methode geweckt und mich mit entsprechenden Studienmöglichkeiten bekannt gemacht hat. Zu grossem Dank bin ich den Mentor/innen meines Studiums am Lesley College, Cambridge, USA, verpflichtet: Vera Decurtins, M.A., Heilpädagogin und Expertin für Ausdruckstherapie, -pädagogik und -agogik in Chur; Prof. Dr. Debora Sherman, Dozentin am Lesley College in Cambridge, USA, heute im Ruhestand, und Prof. Dr. Wanzenried, Professor am Seminar für Pädagogische Grundausbildung in Zürich und Leiter der Weiterbildung „Pädagogik als Kunst“ am Institut ISIS, Zürich. Alle drei haben mit ihrer ganz spezifischen Fachkompetenz zum Gelingen dieses Buch beigetragen. Ich danke meinen Partnerinnen in der Schule, Gabi Trinkler und Anita Kubli, für ihr Interesse und ihre Flexibilität, allen Lehrerinnen und Lehrern, welche sich an meinen Fortbildungskursen in die Methode vertieft haben, und allen Freundinnen, Freunden und Familienangehörigen, die mich unterstützt und ermutigt haben. Der grösste Dank geht an all meine Schülerinnen und Schüler, welche viel beigetragen haben zu diesem Buch. Ihnen wüsche ich, dass sie alle mehr und mehr ihren Platz bei uns oder sonst irgendwo auf diesem Erdball finden und einnehmen können und zu starken Persönlichkeiten heranwachsen werden.

Elisabeth Hösli, Zürich, Januar 2000

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

1

1.1

13

Kinder mit anderer Muttersprache als Deutsch

Zum Kontext meiner Arbeit

Zitate: Die

Volksschule

ist

die

Stätte

der

Menschenbildung

für

die

heranwachsende Generation. Freude soll die Grundstimmung sein, die in der Schule vorherrscht. Die

Schule

ist

mehr

als

die

Vorbereitung

auf

das

Leben,

sie ist ein Stück Leben, das es zu gestalten gilt. Zehn Grundhaltungen sollen die Schule prägen: –

Interesse an Erkenntnis und Orientierungsvermögen



Verantwortungswillen



Leistungsbereitschaft



Dialogfähigkeit und Solidarität



Traditionsbewusstsein



Umweltbewusstsein



Gestaltungsvermögen



Urteils- und Kritikfähigkeit



Offenheit



Musse

(Lehrplan für die Volksschule des Kantons Zürich, 1991, S. 3 - 5)

Mein Arbeits- und Forschungsfeld Eine spezielle Integrationsklasse für nicht Deutsch sprechende Immigrantenkinder genannt Kleinklasse E, in einer Primarschule (1. - 6. Klasse) mit 18 Klassen und ungefähr 240 Schülerinnen und Schülern; eine Schule, in der 93 % der Kinder nicht deutscher Muttersprache sind (unser Schulkreis: 75 %, die Stadt Zürich: 40 %, der Kanton Zürich: 23 %); eine Schule, in der die Kinder zuhause mehr als 40 Sprachen sprechen; eine Schule in einem in verschiedener Hinsicht sehr belasteten Quartier; eine Schule, der deshalb auch besondere Privilegien zugestanden werden wie z.B. tiefere Klassenbestände als im kantonalen Durchschnitt.

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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Die Integrationsklasse Kleinklasse E ist eine Klasse für neu eintretende, nicht Deutsch sprechende Kinder, die älter als Erstklässlerinnen und Erstklässler sind. Diese

treten

normalerweise sofort Regelklassen bei und erhalten dort begleitende Deutschkurse. Eine Integrationsklasse sollte normalerweise nicht mehr als zwölf Schülerinnen und Schüler aufweisen. Das Ziel dieser Klasse ist eine möglichst schnelle Integration des Kindes in eine Regelklasse. Der Aufenthalt in einer Kleinklasse E dauert etwa ein Jahr, er kann jedoch aufgrund der individuellen

Auf Wiedersehen

Willkommen

Freitag vor den Winterferien. Alissas letzter Schultag. In den Ferien zieht sie in eine andere Stadt in der Welschen Schweiz.

Montag Morgen, drei Wochen später. Die Kinder schreiben Sätze in ihre Hefte. Es ist still im Schulzimmer. Die Stimmung ist konzentriert. Plötzlich klopft es an die Tür.

„Alissa, geh vor die Tür.“ Jathursa versteckt hinter dem Vorhang ein kleines Geschenk . „Alissa, du kannst herein kommen.“

„Guten Morgen. Wir bringen unsere Tochter zu Ihnen zur Schule.“ Meine Schülerinnen und Schüler wenden gespannt ihre Köpfe. „Ein neues Kind! Ein Mädchen!“ „Bitte, kommen Sie rein und nehmen Sie Platz.“

Alissa beginnt zu suchen. Die Klasse und Alissa kennen die Regeln Die Eltern überreichen mir das dieses Abschiedsspiels. Bewegt sich Alissa in die falsche Richtung, rufen Anmeldungsformular. Carmena, acht Jahre, aus Brasilien, die Kinder „kalt“. lese ich. Bewegt sie sich jedoch in Richtung des „Willkommen, Carmena!“ Verstecks, rufen sie „warm“. Bereits steht Alissa vor dem Vorhang. „Heiss, heiss, heiss!“ Hochspannung im Raum. Alissa guckt hinter den Vorhang. Da ist es, ihr Abschiedsgeschenk. Alissa ist glücklich und traurig zugleich. „Auf Wiedersehen, Alissa.“ „Auf Wiedersehen, Kinder.“

rosarote

„Kinder, das ist Carmena. Sie kommt aus Brasilien. Schade, dass niemand in der Klasse Portugiesisch spricht!“ „Frau Hösli, ich kann Portugiesisch sprechen“. „Aber Isabel, deine Muttersprache ist doch Spanisch.“ „Ja, schon, doch beim Spielen mit meinen Nachbarn habe ich Portugiesisch gelernt.“

„Frau Hösli, werden die Kinder mich jetzt Isabel hilft Carmena, zeigt ihr die Toilette, ihre Schulbank, ihren Stuhl. vergessen?“ „Ich werde dich nicht vergessen, Alissa.“ „Auf Wiedersehen, Mama. Auf Wiedersehen, Papa. „Auf Wiedersehen, Alissa. Holt ihr mich ab, wenn die Schule fertig ist?“ Bonne chance!“

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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Situation auch länger oder kürzer dauern. Aus diesem Grund ist in diesen Klassen ein ständiges Kommen und Gehen. Die pädagogischen Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer von Integrationsklassen beschreibt Ohlsen (1994) vom Erziehungsdepartement des Kantons Zürich wie folgt: „Willkommen heissen; Vertrauen geben; ein gutes Lernklima schaffen; das Selbstbewusstsein des Kindes stärken; mit der neuen Umgebung vertraut machen; in hiesige Normen und Gebräuche einführen; zu Toleranz erziehen; das Zusammenleben und -lernen in einer wechselnden Klassengemeinschaft fördern; die Eltern informieren und den Kontakt zu ihnen pflegen; in die deutsche Sprache einführen; die Wissenslücken in anderen Unterrichtsbereichen, insbesondere Mathematik, füllen“ (S. 14). Neben diesen Aufgaben gelten für die Integrationsklassen generell die Unterrichtsziele und Stundentafeln der jeweiligen Schulstufen, wie sie im Lehrplan des Kantons Zürich vorgegeben sind. Die Klasse, die ich zusammen mit einer Partnerin in Jobsharing im Schuljahr 1996/1997 unterrichtete, setzte sich aus 17 Schülerinnen und Schülern zusammen, die unterschiedlich lang und während unterschiedlichen Zeitperioden unsere Klasse besuchten: Alissa, Carmena, Ayonna, Dobrinka, Hasan, Isabel, Ismail, Jananij, Latifa, Leyla, Manuel, Mariana, Nuran, Rafael, Sarujan, 1

Sonia und Jathursa . Sie kamen aus elf verschiedenen Ländern: aus Brasilien, Bulgarien, der 2

Dominikanischen Republik, aus Jugoslawien, Kosovo , Marokko, Portugal, Spanien, Sri Lanka, 3

der Türkei und aus Zaire , und aus vier Kontinenten: Afrika, Amerika, Asien und Europa. Sie sprachen

neun

verschiedene

Sprachen:

Albanisch,

Bulgarisch,

Französisch,

Kurdisch,

Portugiesisch, Serbisch, Spanisch, Tamil und Türkisch. Sie waren zwischen sieben und elf Jahre alt und traten zwischen September 1995 und Juni 1997 in unsere Klasse ein. Ein Schüler und eine Schülerin wechselten im Oktober 1996 in eine Regelklasse, ein Mädchen kehrte im Januar 1997 in ihr Heimatland zurück, und eines zog im Februar 1997 in eine andere Schweizerstadt. Zwei Kinder besuchten in ihren Heimatländern keine Schule. Bei ihrem Eintritt waren sie vollkommen ungeschult. Fünf andere Kinder mussten in unserer Schrift lesen und schreiben. Sie waren wenig bis recht gut in tamilischer oder arabischer Schrift alphabetisiert. In der beschriebenen Altersgruppe werden die Kinder teilweise in Halbklassen unterrichtet. Die Lektionen in diesen Halbklassen erlauben ein differenzierteres und individuelleres Unterrichten und Lernen. Während den Lektionen in Halbklassen wurde mehrheitlich Sprache und Mathematik unterrichtet. Aufgrund der Heterogenität unserer Klasse bildeten wir je nach der aktuellen Zusammensetzung der Klasse zwei bis vier Niveaugruppen in Deutsch und zwei bis sechs Niveaugruppen in Mathematik.

1

Alle Namen sind zum Schutze der Kinder geändert. Albanisch: Kosova; eigentlich ein Teil von Jugoslawien, der jedoch nach Autonomie strebt. 3 Heute Demokratische Republik Kongo 2

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Die beschriebene Situation des Schuljahres 1996/1997 entsprach in etwa der durchschnittlichen Situation meiner früheren Jahre an derselben Schule. 1994 begann ich mit der Umsetzung und Anwendung der intermodalen Methode in den Unterrichtsbereichen Sprache sowie Gestaltung und Musik. Während meines Studiums intensivierte ich die Anwendung und begann für die vorliegende Arbeit systematisch Material und Daten zu sammeln. Rahmenbedingungen Die Rahmenbedingungen zur Schulung von fremdsprachigen Kindern sind durch den Lehrplan des Kantons Zürich (1991) sowie durch Empfehlungen zur Schulung fremdsprachiger Kinder und zur interkulturellen Pädagogik des Erziehungsrates des Kantons Zürich (1995) gegeben. Darin weist der Erziehungsrat darauf hin, dass es in unseren Schulen heute die Regel ist, dass Kinder verschiedener kultureller, sprachlicher, religiöser und sozialer zusammen leben und lernen. Die Mehrheit der Kinder mit ausländischer Herkunft sind Kinder von Arbeitsimmigrantinnen und immigranten zweiter oder dritter Generation. Zum weit kleineren Teil sind es Kinder von Asylsuchenden oder Flüchtlingen. Der Erziehungsrat (1995) postuliert: „Einerseits bedeuten die Minderheiten eine Bereicherung; andererseits verläuft das Zusammenleben oft nicht konfliktfrei. Gesellschaft und Schule, alle Menschen, die hier zusammenleben, sind vor die Aufgabe gestellt zu lernen, wie dieses Zusammenleben sinnvoll zu gestalten ist“ (S.3). Unsere Volksschule hat die Aufgabe, allen Kindern ohne Unterschied dieselben Chancen zu bieten und die Kinder unabhängig ihrer Voraussetzungen zu fördern. Diese Aufgabe „erfordert eine Erziehung und einen Unterricht, welche sowohl gemeinschaftsbildend wie auch differenzierend und individualisierend wirken“ (S. 8; ebenda). Der Lehrplan verlangt eine Gesamtbeurteilung der Schülerinnen und Schüler, in der die unterschiedlichen Voraussetzungen, darunter z.B. Mehrsprachigkeit, Fremdsprachigkeit, Zuzug aus anderen Schulsystemen oder anderen Schulverhältnissen, zu berücksichtigen sind. Weiter verlangt er, der Situation, den jeweiligen

Zielen,

Inhalten

und

Themen

entsprechend,

die

Anwendung

verschiedener

Unterrichtsmethoden. In der Wahl der Methoden, sofern diese nicht im Widerspruch zu den didaktischen Prinzipien und den Ansprüchen des Lehrplans stehen, sind die Lehrkräfte frei und tragen somit auch die Verantwortung. Der Lehrplan ist handlungsorientiert und fordert exemplarisches Lernen. Die Volksschule übernimmt die Aufgabe elementarer und ganzheitlicher Bildung, die für alle die Grundlage für eine Spezialisierung und Weiterbildung nach der neunjährigen Volksschule sein soll.

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1.2

17

Multikulturelle Pädagogik

Mutter, wie viele Sprachen gibt es auf der Welt? Mein Kind, etwa sechs Milliarden. Mutter, wie viele Menschen gibt es auf der Welt? Mein Kind, etwa sechs Milliarden. Gleich viele Sprachen wie Menschen? Aber wir zwei, wir sprechen doch die gleiche Sprache! Mein Kind, wohl brauchen wir dieselben Wörter. Jedoch Deine Geschichte ist nicht die meine.

Als ich 1983 mit dem Unterrichten von fremdsprachigen Kindern begann, waren die interkulturelle Abteilung am Bildungsdepartement des Kantons Zürich und die Diskussion über interkulturelle Erziehung noch sehr jung. Seit damals durchliefen und durchlaufen die Diskussionen und die Forschungen zu diesem Thema verschiedene Stadien. Die Ideen und Ideale veränderten und verändern sich. Kinder aus immer ferneren Ländern und Kulturen kamen und kommen zu uns. Die soziokulturellen Strukturen an unseren Schulen sind in ständigem Fluss. Stets wird nach neuen möglichst optimalen Lösungen und Schulungsformen gesucht und geforscht. Zwei kurze Begebenheiten und einige Fragen sollen ein zentrales Anliegen bezüglich Erziehung und Bildung in einer multikulturellen Gesellschaft beleuchten: Erste Woche Kindergarten: Ein Kind weigerte sich, sich selbst zu zeichnen. Die Kindergärtnerin versuchte vergeblich, das Kind dazu zu motivieren. Was war da los? Was konnte wohl hinter der Verweigerung des Kindes, sich selbst zu zeichnen, stecken?

Es regnete stark. Die Klasse hatte im Schwimmbad die Schwimmlektion besucht und war nun unterwegs zur Schule. Da fragte ein Kind die Lehrerin: „Was machen die Insekten bei diesem Regen? Was passiert mit all den übrig gebliebenen Insekten, wenn alle Ritzen und Löcher besetzt sind? Ich will das alles wissen.“

Was denken Sie, welcher Nationalität gehören diese Kinder an? Sind es Mädchen oder Knaben? Welche Religion haben sie wohl? Von welche Hautfarbe sind sie? Welche Sprache sprechen sie? Wie alt sind sie? Weshalb handelten sie entsprechend? Sie als Leserin oder Leser können raten, können Antworten suchen, Vermutungen und Interpretationen anstellen. Geben Sie sich doch dazu einige Minuten Zeit.

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Wodurch liessen sie sich beim Beantworten der Fragen leiten? Sicher ist, dass ihre Antworten auf persönlichen Erfahrungen und Wissen gründen und somit einer spezifischen individuellen Kategorisierung unterworfen sind. Das ist ganz natürlich. Um nun Vorurteile oder stereotype Vereinfachungen vermeiden zu können, ist es notwendig, gemachte Interpretationen und Reaktionen zu reflektieren. Nun zu den Hintergründen der Kinder: Das erste Kind ist das jüngste Kind einer gebildeten Schweizerfamilie, die in einem Bergdorf lebt. Zuhause spricht die Familie Schweizerdeutsch, im Kindergarten wird Rätoromanisch gesprochen. Das Mädchen hatte die Aufgabe sehr wohl verstanden, wie die Mutter später herausfand, doch es brauchte mehr Zeit, denn es wünschte, seine Arbeit gut zu machen und sich nicht zu blamieren. Zuerst wollte das Mädchen zuhause üben, sich zu zeichnen. Das zweite Kind möchte ich als interessiertes, kommunikatives Kind beschreiben, das mir viele Fragen stellte. Solche Kinder gibt es überall auf der Welt, in jedem Land, in jeder Kultur. Das Kind ist ein Mädchen, sieben Jahre alt und lebte bis vor wenigen Wochen in Zaire (heute Dem. Republik Kongo). Ihr Vorteil war, dass sie Französisch sprach, eine Sprache, die auch ich spreche und verstehe. Diese zwei Beispiele zeigen, dass die Motivation, etwas zu tun, zu lassen oder gar zu verweigern, sehr individuell und oft schwer zu durchschauen und zu verstehen ist. Die zwei Mädchen weisen auf das ganze Persönlichkeitsspektrum hin, das die Welt für uns bereit hält. Was bedeutet das nun für die Erziehung und Bildung in multikulturellen Schulen? Erstes Ziel: Integration von Verschiedenheit Zur

Förderung

einer

umfassenden

Identität

ist

es

notwendig,

die

verschiedensten

Identitätsmerkmale einer Person angemessen zu gewichten und ihnen einen adäquaten Stellenwert einzuräumen: Ein Kind zu sein, ein Mädchen oder ein Knabe, Sohn oder Tochter, eine Schülerin oder ein Schüler, ein Freund, eine Freundin, eine Gegnerin, ein Feind, Bruder oder Schwester; ein Kind ist Mitglied einer Familie, einer Gruppe, einer Klasse, einer religiösen Gemeinschaft, einer sozialen Gruppe, einer sozialen Schicht; jeder Mensch hat ihm eigene Vorlieben, Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Interessen, Talente, Schwächen, Sehnsüchte, Wünsche, Visionen; da sind verschiedene Aufgaben und Verantwortungsbereiche; da ist der Wunsch, allein zu sein, mit Anderen zu sein, von einer Gruppe aufgenommen zu werden, erfolgreich zu sein, akzeptiert und anerkannt zu sein; da ist der Wunsch zu lernen, zu wachsen, sich zu messen usw. Es gibt unendlich viele Merkmale, die eine Identität ausmachen. Dazu kommt, dass jedes Kind eine ihm ganz eigene und einmalige Lebensgeschichte und einen einzigartigen Lebenskontext aufweist. Jüngere Kinder definieren sich durch das was sie gern oder nicht gern haben, durch ihre Errungenschaften, Leistungen und ihr Können, durch ihre Besitztümer, durch Erlebtes und Erfahrenes, durch die Menschen, die ihnen nahe sind, insbesondere Mutter, Vater, Geschwister

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und Spielgefährten, und durchs tägliche Leben zuhause mit all seinen ihm eigenen Strukturen, Abläufen, Ritualen, Aktivitäten, Normen und Werten. Die Kinder in unserer Stadt wachsen heute in einer pluralistischen und global ausgerichteten Gesellschaft auf, in der die Menschen die verschiedensten Lebensstile, beeinflusst und geprägt von sozialen, politischen und kulturellen Faktoren, pflegen. Unsere Gesellschaft ist äusserst heterogen. Somit ist es angebracht, dass die kulturelle und linguistische Vielfalt in unseren Klassen nur als eine Facette der heutigen Heterogenität und Komplexität in der Schule betrachtet und bewertet werden darf. Viele Familien von fremdsprachigen Kindern gehören z.B. zugleich auch weniger privilegierten Schichten an. Das Kriterium für spezielle Unterstützung muss deshalb allgemein gefasst werden: Spezielle Förderung soll all jenen Kindern zukommen, die besondere schulische Bedürfnisse aufweisen, wobei soziale, individuelle und kulturelle Faktoren zu berücksichtigen sind. Die Integration menschlicher Vielfalt soll als natürliches Faktum betrachtet werden. Verschiedenheit soll nicht betont sondern als Selbstverständlichkeit erkannt und anerkannt sein. Die Schule ist ein Ort, wo Respekt für Verschiedenheit und Vielfalt geübt, gelebt und erworben werden kann und muss. Doch auch die Gesellschaft hat einen wichtigen Beitrag zu leisten und muss sich der pluralistischen Situation anpassen, z.B. durch erleichterte Partizipationsmöglichkeiten am politischen Geschehen und eine damit verbundene Übernahme von Verantwortung und durch erleichterte Einbürgerung, v.a. von jungen Erwachsenen. Zweites Ziel: Das aktive Kind als Teil der Gemeinschaft In seinem Buch Reden über Erziehung (1995) beschreibt Buber die schöpferische Kraft und die Wichtigkeit ihrer Entwicklung. Diese Kraft, Buber nennt sie den „Urhebertrieb“, wohne in irgend einem Masse allen Menschen inne, schreibt er. Ich zitiere: „Der Mensch, das Menschenkind will Dinge machen.... Wonach das Kind verlangt, ist der eigne Anteil an diesem Werden der Dinge.... Worauf es ankommt, ist, dass durch die intensiv empfundene eigene Handlung etwas entsteht, was vorher, was es eben erst noch nicht gegeben hat“ (S.16). Buber beschreibt den „Urhebertrieb“ als eine Kraft, die tun aber nicht besitzen will, eine Kraft, die sich äussern, jedoch nicht verführen oder sich etwas einverleiben will. Das Freimachen des „Urhebertriebs“ ist von grosser Wichtigkeit. Buber denkt, dass das der Weg sein kann, wie die Werdung des Menschen letztendlich gelingen könnte. Das Freimachen des „Urhebertriebs“ jedoch genügt noch nicht. Es ist erst eine Voraussetzung, denn als Urheber, als Urheberin ist der Mensch sehr einsam. Hier braucht das Kind Begleitung. Hier beginnt Erziehung, eine Erziehung, in der Beziehung und Dialog fundamentale Elemente sind. Deshalb ist es auch nötig, dass Kinder Teil einer Gruppe sind, in der sie sich aufgehoben fühlen. Als kreative Menschen, ausgerüstet mit einer starken Identität, die über Individualismus oder Kollektivismus hinaus geht, sollen die Kinder Teil der Gemeinschaft werden. Das ist das Ziel von Erziehung. Für v. Hentig (1996) ist ein wichtiges Bildungsziel, bei Kindern und Jugendlichen die Bereitschaft zur Übernahme von Selbstverantwortung und von

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Verantwortung in der Gesellschaft, der res publica, zu schulen und zu fördern. Bildung, welche nicht zu politischer Verantwortung führt, welche es also verpasst, einen Menschen zur Wahrnehmung seiner Rolle zu führen und Kompetenzen zur Übernahme von Verantwortung in der polis zu vermitteln und zu schulen, ist keine Bildung. Drittes Ziel: Das Schaffen von Identitätsbrücken Vor allem und in erster Priorität ist ein Kind ein Kind. Weiter ist es ein Familienmitglied, und darüber hinaus ist es eingebettet in einen bestimmten Kontext, in eine bestimmte, ihm überschaubare Umgebung. Das kleinere Kind, ausgerüstet mit einer in der früheren Umgebung gewachsenen Identität, weiss üblicherweise noch sehr wenig von seinem Heimatland. Kinder, die ihre Heimat verlassen haben und nun in einem neuem Land leben, wo eine ihnen fremde Sprache gesprochen wird, wo das Klima, das Essen, die Regeln und Normen oft sehr verschieden sind, befinden sich in einer

Krise. Sie wurden in ihrer

Identitätsfindung gestört. In der

Entwicklungspsychologie wird von einer gebrochenen Identitätsfindung gesprochen. Bei Kindern, die in ihren Heimatländern bei ihren Grosseltern oder Verwandten gelebt haben und deshalb oft ihre Eltern kaum kennen, tritt diese Krise meist noch verstärkt auf. Der Umzug in ein neues Land bedeutet für die Entwicklung der interpersonalen und der intrapersonalen Intelligenzen, so wie sie Gardner (1994) beschreibt, eine grosse Herausforderung, der Rechnung getragen werden muss (siehe Kapitel 4.3). Das Kind braucht nun Zeit und Unterstützung, um diese Krise erfolgreich zu durchleben und überwinden zu können. Die Sorge um die Persönlichkeit des Kindes ist von grosser Bedeutung. Dem Kind muss die Chance gewährt werden, sich

in seiner neuen

Umgebung zu orientieren und darin eine neue Identität zu finden. Während dieser Phase ist das Kind sehr abhängig. Deshalb sind gute Beziehungen zu nahestehenden Personen äusserst wichtig. Diese Beziehungen müssen authentisch, emphatisch und tragend sein. Ein Kind will gehört werden. Es braucht Resonanz. Besonders ist dem Faktum, dass Jugendliche wie auch Immigranten und Immigrantinnen in unserer Gesellschaft der Gruppe mit dem höchsten Risiko angehören, Rechnung zu tragen und grösste Sorgfalt entgegenzubringen. Während dieser Krise kann sich ein Kind leicht durch seine ethischen oder religiösen Wurzeln definieren. Das ist nicht falsch, kann aber für das Kind und die neue Gemeinschaft gefährlich werden. Sich nur über ein kollektives Attribut zu definieren genügt nicht. Das würde den Rassismus fördern. Ein Kind soll nun die Gelegenheit erhalten, seine ureigenen persönlichen Wurzeln zu finden und zu pflegen, also mit seinem „Urhebertrieb“ in Kontakt zu kommen und zu sein. Die intermodale Methode eignet sich hierzu besonders gut. Künstlerisches, kreatives Tun gibt dem Kind den nötigen Raum, dem Ausdruck zu geben, was gerade wichtig ist, das zu entwickeln, was gerade zu entwickeln ist. Das Kind kann Primärerfahrungen seiner frühen Kindheit wiederholen, und es kann in der neuen Umgebung nötige neue Primärerfahrungen machen. Dies hat auf einer materiellen, emotionalen sowie persönlichen Ebene zu geschehen.

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Primärerlebnisse ermöglichen und erleichtern den Spracherwerb und die Sprachentwicklung. Künstlerisches, kreatives Tun schafft aber auch Raum, der es dem Kind ermöglicht, zwischen neuen Erfahrungen und Erfahrungen seiner früheren Heimat Verbindungen herzustellen. Es bietet ihm die Möglichkeit, eine neue Realität zu entwickeln. Jedes Kind, aber auch jede erwachsene Person hat im Laufe ihres Lebens immer und immer wieder solche Prozesse zu bestehen, aber ein Kind braucht während einer solchen Krise viel mehr Aufmerksamkeit, Unterstützung und einen sicheren und geschützten Raum. Hier zeigen drei Beispiele den Brückenschlag zu früheren persönlichen Erfahrungen. Solche Brücken treten auf oder auch nicht. Das überlasse ich der inneren Führung des Kindes. Gleichzeitig war es diesen Kindern hier möglich, zurück zu frühen Phasen ihrer schöpferisch kreativen Entwicklung zu gelangen und in Kontakt mit ihrem „Urhebertrieb“ zu kommen.

Wir arbeiteten während mehreren Lektionen mit Ton. Zuerst spielten wir lange und intensiv mit ihm, um uns zu entspannen und um den Ton in seiner materiellen Qualität kennen zu lernen. Die Kinder formten Esswaren, Tiere, Gesichter, Babys, Vulkane, Steine, Höhlen, verschiedene Gebilde etc. Sie experimentierten mit geschlossenen Augen. Zum Schluss formte Sarujan, ein Knabe aus Sri Lanka, ein Somosa, ein tamilisches Gebäck. Zwei andere Mädchen aus Sri Lanka liessen sich davon inspirieren und kopierten es. Das vierte tamilische Kind, Jathursa, folgte ihrem eigenen Weg und formte ein Gesicht. Ein Mädchen aus Zaire, Alissa, stellte viele Süssigkeiten her: Schokolade, Nussgipfel etc. Sie ist ein ziemlich korpulentes Kind, das Süssigkeiten über alles liebt. Rafael, ein Knabe aus der Dominikanischen Republik, interessierte sich seit einiger Zeit für Vulkane. So formte er einen Vulkan, aus dem später ein Pinguin entstand, ein Wassertier, wie er betonte. Ein Knabe aus der Türkei, Hasan, baute ein eckiges Haus mit einem Flachdach (wie sein Haus in der Türkei?).

Eine weitere Geschichte: Latifa, ein Mädchen aus Marokko, malte einmal Palmen in vielen ausdrucksstarken Farben. Alissa aus Zaire und Leyla aus Kosovo liessen sich durch sie inspirieren und malten auch Palmen. Alissa malte sehr naturalistische Palmen mit feinen Details. Leyla kopierte vor allem die ausdrucksstarken Farben und malte Palmen, die kaum mehr Palmen ähnlich waren. Ich vermute, dass Leyla noch nie Palmen gesehen hat, doch war sie jenem Moment wohl vorwärts blickend und an Neuem interessiert. Und noch das dritte Beispiel: Ein tamilisches Mädchen, das noch kaum Deutsch sprechen konnte, suchte mit mir nach einem Titel zu seiner Collage, wobei ich ihm viele Sätze offerierte. Beim vielleicht etwa zehnten Satz leuchteten endlich seine Augen auf. Der Titel war gefunden.

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„Der Vogel fliegt nach Sri Lanka.“

Fortschreiten, mit dem Blick nach vorne, ist meiner Meinung nach ebenso wichtig und natürlich wie von Zeit zu Zeit ein Innehalten mit einem rückwärts gerichteten Blick. Wie ich bereits früher auf Grund von Erfahrungen und Beobachtungen festgestellt habe, wollen die meisten Kinder nach vorn schauen. Oft weigern sie sich längere Zeit, zurück zu schauen. So muss es ihnen überlassen sein, den Zeitpunkt zu wählen, wo sie zurück blicken, sich mit der Vergangenheit, dem Herkunftsland, ihren verlorenen Wurzeln beschäftigen wollen. Aus diesem Grund soll der Unterricht vorwärts gerichtet sein, jedoch Platz und Möglichkeit bieten, Brücken mit der Vergangenheit zu bauen. Auch zur Erfüllung dieser Forderung ist die Arbeit mit künstlerischen Ausdrucksformen im Sinne der intermodalen Methode eine wichtige und hilfreiche Möglichkeit. Die intermodale Lernmethode, in der das Mitteilen und der Austausch untereinander wichtig sind, erfüllt in diesem Sinne auch die dringende Forderung von Buber (1995) nach Einbettung des kreativen Kindes in ein dialogisches Beziehungsgefüge. Das möchte ich anhand zweier Beispiele illustrieren. Das gemeinsame Betrachten von Werken ermöglichte es Rafael, Brücken zu seiner Heimat herzustellen und uns an seiner Biografie teil zu haben.

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Nachdem er uns zu seinem Vulkanbild Musik vorgetragen hatte, erklärte er, wie glücklich er nun sei. Musik zu spielen erinnere ihn an seinen Vater in der Dominikanischen Republik. Er sei dort Musiker.

Und nachdem Latifa, Alissa und Leyla ihre Palmen vorgestellt hatten, erzählte er uns über Palmen in der Dominikanischen Republik.

Forderungen an Lehrkräfte und Schulen Wie erwähnt, ist es notwendig, den Kindern Freiraum zu gewähren, der ihnen die Möglichkeit bietet, sowohl vorwärts wie auch rückwärts zu schauen und Brücken zu ihrer Vergangenheit zu errichten, ein Raum, in welchem sie ihre Identität entwickeln können, welche auch eine gute Beziehung zu ihrer eigenen Kultur, ihrer Religion, ihrer Familie und ihrer Persönlichkeit zu beinhalten hat. Lehrerinnen und Lehrer müssen hierfür in ihrer Schule eine offene, tolerante und universelle Atmosphäre schaffen, in der sie selbst Vorbilder sind. Es muss eine Umgebung geschaffen werden, in der sich die Kinder wiedererkennen können, und zwar auf eine ganz natürliche Art und Weise: in Büchern, Lehrmitteln, auf Bildern, in Gegenständen usw., aber auch in der Haltung der Lehrerinnen und Lehrer. Es braucht eine Umgebung, in der die Vielfalt als ganz normal betrachtet und in natürlicher Weise gelebt wird und in der dem Dialog und der Beziehung ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Lehrerinnen und Lehrer müssen über die politische, kulturelle, soziale und arbeitsrechtliche Situation von Immigrationsfamilien informiert sein. Weiter haben sie sich über die Situation in den Herkunftsländern ihrer Schülerinnen und Schüler zu informieren und Grundkenntnisse über andere Kulturen und Religionen aufzuweisen. Auch sollen sie selbst, z.B. durch Reisen, anderen Kulturen begegnen und sich dabei neuen Erfahrungen aussetzen. Die Schule hat die Aufgabe, die Kinder bei der Pflege und Entwicklung ihrer Muttersprachen und bei der Pflege ihrer Kultur mit ihren Gebräuchen und Werten zu unterstützen, soweit diese nicht im Widerspruch zu unserer Gesetzgebung sowie den internationalen Menschenrechten stehen. Weiter hat unsere Schule anzuerkennen, dass jedem Menschen, unabhängig von Kultur, Land oder Bildungsstand, ein natürlicher und angeborener Entwicklungstrieb innewohnt. Dies macht einen Unterricht nötig, der das Innere des Kindes anzusprechen, zu aktivieren und zu erfassen vermag. Zwischen der Schule und der Familie braucht es Brücken. Es ist nicht immer einfach, solche zu bauen. Deshalb kommt gerade hier den Lehrerinnen und Lehrern eine aktive Rolle zu, denn sie sind es, die unser Schulsystem mit ihren Regeln und Normen kennen und ausgebildete Fachpersonen sind. Lanfranchi (1996) legt in einem Artikel einige interessante Aspekte dar, die ich im Folgenden zitiere resp. zusammenfasse: „Wissen über Kulturen und Informationen über ethnische Unterschiede sind wichtig und gleichzeitig unwichtig. Im Vordergrund steht nämlich die

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Begegnung. Begegnung mit Fremden setzt eine Begegnung mit uns selber voraus. Konkreter: Lernen wir durch Selbstreflexion und Persönlichkeitsbildung das Fremde in uns kennen und akzeptieren, so sind wir eher in der Lage, mit Fremden professionell zu arbeiten.... Jede Form psychosozialer Beratung ist interkulturelle Beratung, weil jede menschliche Begegnung eine interkulturelle ist. Das Fremde beginnt nicht mit einem farbigen Pass, sondern jenseits der eigenen Türschwelle“ (S.31 - 32). Jede Begegnung ist eine Begegnung von Verschiedenheit. Es sind Unterschiede, die auf verschiedenen Ursachen gründen wie z.B. dem Geschlecht, der sozialen Schicht, der sozialen Umgebung, des Berufes, der Religion, der Nationalität, des Wohnortes etc. Es sind derer viele. Vorwissen über Kulturen und Information über ethnische Unterschiede können dazu dienen, Sinneseindrücke zu ordnen und zu verarbeiten und Hypothesen zu bilden. Wichtige Voraussetzungen für die dialogische Zusammenarbeit mit Eltern sind die Akzeptanz der Vielfalt von möglichen Lebensstilen und das Wissen über und die Fähigkeit im Umgang mit dem Phänomen der Ungleichheit. Hier betont Lanfranchi die Differenzen inhaltlicher Art und die der ungleichen Verteilung von Macht. Ein professioneller Umgang mit Unterschieden aller Art bedeutet eine Gratwanderung zwischen der Wahrnehmung von Unterschieden und der Einordnung dieser, ohne dabei stereotypen Vereinfachungen anheim zu fallen.

1.3

Zweitspracherwerb und Integration

„Ich habe was zu sagen und kenne eure Sprache noch nicht.” Ein Kind, von Natur aus kommunikativ, ausgerüstet mit eigenem Entwicklungsbestreben, ist angekommen, in einem Land, einer Schule, wo eine ihm fremde Sprache gesprochen wird. Und dieses Kind steht am Anfang einer wichtigen und komplexen Integrationsphase. Schnellstens möchte es Teil der Gruppe sein, möchte sich einbringen, austauschen, kommunizieren, lernen. Viele Kinder teilen seine Situation. Um dem zentralen Anliegen des Kindes nach Kommunikation gerecht zu werden, ist ein schneller Erwerb der Zweitsprache wichtig. Dieser ist jedoch nur Teil des übergeordneten Ziels der Integration, ist nur Teil des übergeordneten Ziels einer umfassenden Bildung. Ein Ziel von Bildung ist, so fordert es v. Hentig (1996), die Menschen zu stärken und Sachen zu klären. Dieses Postulat ist für meine Arbeit grundlegend. Ein Massstab über Wirksamkeit von Bildung besteht laut v. Hentig (1996) in der Fähigkeit und dem Willen, sich zu verständigen. Dabei ist Sprache ein zentrales Element, ein Element, das einem Schulkind, das unsere Sprache noch nicht oder nur wenig kennt, vorerst versagt ist. Doch wenn wir Kinder, die unterschiedliche Sprachen sprechen, beobachten, stellen wir fest, dass sie sich schnell finden im Spiel, im sozialen Austausch. Sie bedienen sich ganz natürlich anderer Kommunikationsmittel, um sich zu verständigen.

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Latifa 9-jährig, aus Marokko Muttersprache: Arabisch Erste Fremdsprache: Französisch (Ich kann mich mit ihr recht gut unterhalten.) Zweite Fremdsprache: Englisch (Da sind nur ganz wenige Wörter bekannt.) Und nun noch die dritte Fremdsprache: Deutsch Erster Tag bei mir in der Schweizerschule: Latifa zeichnet einen Baum mit vielen roten Äpfeln. Sie zeichnet Blumen. Und ein Hundehaus. Sie zeichnet Wolken und eine Sonne. Latifa erzählt mir, was sie gezeichnet hat. „Willst du wissen, wie das auf Deutsch heisst?“ Sie will. Und sie will es auch aufschreiben. Und sie will es zu Hause lesen lernen. Erst später merke ich, dass sie unsere Schrift doch nicht lesen kann, obwohl sie gesagt hat, sie könne es. Am nächsten Morgen: Wir stellen Sachen aus den Bildern der Kinder dar und erraten, was gespielt wurde. Spielen und erraten - kein Problem für sie. „Nun such dir das Schönste in deinem Bild“, war mein Auftrag. „Wie tönt das? Welches Instrument passt?“ Latifa spielt zu jedem Apfel an ihrem Baum einen Ton mit einer kleinen Kalebasse. Der Apfelbaum mit den roten Äpfeln wurde zur Partitur. Wir hören uns alle Musikstücke an. Wir malen alle Musikstücke. Am schönsten war für Latifa, zu den eigenen Tönen und zu den Tönen des schlafenden Vulkans von Rafael zu malen. Einstieg in eine neue Sprache durch eigene Bilder, durch Bewegungssprache, durch musikalischen Sprache, durch Bildersprache, zusammen mit den Fortgeschrittensten, zusammen mit der anderen Anfängerin. Aufgenommen von allen. Teil vom Ganzen.

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In Bildung, Schule und Unterricht sind die Alltagssprachen und die Fachsprachen zentrale Kommunikations- und Ausdrucksmittel. Andere Ausdrucksformen wie z.B. alle künstlerischen Ausdrucksformen und das Spiel haben in der Regel nur einen untergeordneten Stellenwert. Wanzenried (1996) stellt in seinem Konzept der „Vier Sprachen” neben die Alltagssprachen und Fachsprachen ergänzend die „Sprachen der Künste" und die „Sprachen der Kontemplation". Ich werde im Kapitel 2.4 genauer auf dieses Konzept eingehen. Im Zweitspracherwerb ist die Integration der „Sprachen der Künste" sehr wertvoll und hilfreich. Die bewusste Erweiterung der Ausdrucks- und Repräsentationsmöglichkeiten ist in multikulturellen Klassen, und im Übrigen auch weit darüber hinaus, von grossem Nutzen: Unaussprechbares wird sichtbar. Geschichten werden erzählt. Dialoge entstehen. Persönliche Interessen treten in Erscheinung. Gemeinschaft wird erfahren und gelebt. Neue Primärerfahrungen werden gemacht, zum Beispiel durch bildnerisches Gestalten, darstellendes Spiel und musikalischen Ausdruck, wie wir es im Beispiel mit Latifa gesehen haben. Intermodales Lernen ist eine ausgezeichnete Methode in der Arbeit mit Immigrantenkindern. Sie bietet Kindern wie Latifa den unentbehrlichen Raum um sich auszudrücken, sich zu artikulieren, sich zu zeigen, zu kommunizieren, zu reflektieren, sich zu beteiligen, Teil zu sein, lange bevor dies verbal möglich ist. Dobrinka, ein Mädchen aus Bulgarien, nahm diese Chance an ihrem allerersten Schultag bei uns es war der Tag, an dem wir unser Maskenprojekt eben beendeten - wahr. Verbal konnte sie mit niemandem kommunizieren, auch nicht mit mir. Mit Hilfe von Gesten bat sie um Ayonnas Maske, suchte sich passende Tücher, zog sich diese über, ging auf die Bühne und präsentierte sich: „Schaut her, ich habe auch was zu sagen!" Und wir schauten hin, sahen zu und applaudierten.

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Dobrinka an ihrem ersten Tag mit Ayonnas Maske auf der Bühne

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2 Didaktische Grundsätze intermodalen Lernens

Gleich zu Beginn dieses Kapitels möchte ich Einblick ins Klassenzimmer ermöglichen, wo Rafael mit elf anderen Schülerinnen und Schülern am lernen ist: Rafael 9-jährig, aus der Dominikanischen Republik. Seit neun Monaten in der Schweiz. Gross, kräftig. Wirkte von Anfang an geladen auf mich, wie ein Dampfkochtopf auf Hochdruck. Voller Angst, es falsch zu machen? Im letzten Februar schrieb ich: Verständigt sich auch nach 2 1/2 Monaten nicht auf Deutsch; ist unnahbar, wie wenn etwas auf der Leitung stünde; malt verhalten, wie wenn Wurzel zu sich zerstört wäre; Was hat er zu sagen? Passt diese Art zu arbeiten überhaupt zu ihm? Mein Entwicklungswunsch an ihn: Bezug zu eigenen Bildern und Geschichten wieder herstellen. Häufig hatten wir Streit, standen im Machtkampf. Mir ging es nicht gut damit - ihm wahrscheinlich auch nicht. Dann der Einstieg in die Arbeit mit Ton im September letzten Jahres. Freies Experimentieren, freies Spiel: Klopfen, schlagen, formen, hämmern, falten, kneten...... Beim blinden Arbeiten mit Ton wird Rafael ganz fein und zärtlich. Daneben singt Ismail leise ein Albanisches Lied. Am folgenden Freitag: Bei Rafael entsteht ein Vulkan. Bescheiden spicken Tonkugeln oben raus. Manuel kopiert den Vulkan. Bei ihm fliesst das Magma in Strömen. Ein Mann schreit um Hilfe, rennt weg. Rafaels Vulkan verstummt und verschwindet unter dem Tuch. „Schade, dass wir aufräumen müssen“, sagt er. „Wann spielen wir wieder mit Ton?“ Zwei Wochen Ferien sind vorbei. „Erinnert ihr euch an Freitag vor den Ferien?“ frage ich.

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Sofort erinnert sich Rafael an seinen Vulkan. „Wollt ihr etwas malen?“ Die Kinder wollen, sind begeistert. „Mal, was du am liebsten malen willst“, lautet meine Anweisung. Weiter konnte ich nicht mehr behilflich sein. Latifa und Leyla standen mit ihren Eltern vor der Tür. Zwei neue Schülerinnen für unsere Klasse. Da brauchte ich nun viel Zeit für sie. So machten sich die Kinder alleine ans Werk. Und was zeigte sich bei Rafael auf seinem Blatt? Ein Vulkan, ein schlafender, wie er später schrieb.

Am folgenden Tag: Alle Bilder hängen an der Wandtafel. Ein Dialog zwischen Rafael und Ismail entsteht: Rafael: „Was hast du gemalt?“ Ismail: „Schöne Farben.“ Rafael: „Warum?“ Ismail: „Weil sie mir gefallen. Und was hast du gemalt?“ Rafael: „Einen Vulkan.“ Ismail: „Warum hast du einen Vulkan gemalt?“ Rafael: „Weil er mich interessiert.“ Ich bringe Bücher und Fotos von Vulkanen in die Schule, und Lavastein. Ich erkläre, dass es tote, schlafende und aktive Vulkane gibt. Rafael schreibt zu seinem Vulkanbild: Ich habe einen schlafenden Vulkan gemalt. Er gefällt mir. Nächster Schritt: „Such das Schönste auf deinem Bild. Wie tönt es? Welches Instrument passt?“ Rafael spielt zu seinem schlafenden Vulkan äusserst konzentriert und ganz fein auf dem Xylophon. Dazu singt er ganz leise seinen Text, den er zu seinem Vulkan geschrieben hat. Mich schaudert: Wie wäre es, wenn ich meinem inneren Vulkan so liebevoll begegnen würde? Wir hören uns alle Musikstücke an. Wir malen alle Musikstücke. Rafael malt bei seiner Musik nochmals einen Vulkan. Diesmal schweben rote „Z“ aus dem Krater. „Der Vulkan schnarcht,“ mein Rafael. Zurück zum Ton. Herstellen eines Gegenstandes, der getrocknet und gebrannt wird. Rafael will einen Vulkan machen. Liebevoll knetet und formt er, geduldig, andächtig, ausdauernd.

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Fast wird er nicht fertig. Doch am Schluss zeigt er mir stolz sein Produkt: Ein wundervoller --- Pinguin. Rafael erklärt: „Ich liebe Pinguine, weil sie Wassertiere sind.“ Feuriges wollte geformt werden, ein Tier des Wassers ist erschienen. Ausgleich der Elemente? Jedenfalls zeigt sich mir Rafael seither ruhiger und zufriedener. Unsere Beziehung hat sich entspannt. Wenn wir künstlerisch arbeiten, ist Rafael sehr präsent und arbeitet intensiv mit. Er nimmt seine Arbeit sehr ernst. Er lässt sich fordern, pröbelt, sucht, und findet.

So kann ein intermodaler Schaffensprozess aussehen. Wichtig sind sowohl der Prozess wie auch das gestaltete Werk. Zentraler Bestandteil der intermodalen Methode ist der natürliche, selbstverständliche Gebrauch von verschiedenen Kunstdisziplinen wie gestaltende visuelle Künste, Musik, Tanz, Literatur und Theater. Es geht bei dieser Art von künstlerischem Tun um weit mehr als um Entspannung oder um Abwechslung und Bereicherung des Unterrichts. Es geht darum, das beste Medium, die beste Kunstdisziplin zu finden und anzubieten, um eigene Themen zum Ausdruck zu bringen oder sich fremden vorgegebenen Themen anzunähern und sich mit ihnen vertraut zu machen. (Knill u.a., 1993; Hösli & Wanzenried, 1997).

2.1

Aspekte und Phasen eines intermodalen Lernprozesses

In einem intermodalen Prozess werden verschiedene Aspekte und Phasen unterschieden, wie aus der Grafik auf S. 31 oben ersichtlich wird. Die Aspekte und Phasen eines intermodalen Prozesses sind nicht einer bestimmten Reihenfolge unterworfen. Wechsel werden, entsprechend der Situation und den Erfordernissen, von der Lehrerin, dem Lehrer eingeleitet, oder sie treten als logische Folge des Prozesses selbst ein. Zum besseren Verständnis vergleiche ich nachfolgend diese Aspekte und Phasen mit dem Schaffensprozess von Rafael. In seinem Prozess tauchen sie alle auf. Konzentrieren: Still werden und wahr-nehmen Diese Phase kann äusserst kurz aber auch länger dauern. Beispiele dafür sind: Als Rafael blind mit Ton arbeitet; die Überlegungsphasen nach meiner Frage: „Erinnert ihr euch an den Freitag vor den Ferien?“ und nach meiner Anweisung: „Mal, was du am liebsten malen willst“; das

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S pie le n: ver-suchen und geschehen lassen

Konze ntrie re n:

Entsche ide n:

still werden und wahr-nehmen

be-nennen und sich festlegen

Antwort e rha lte n: an-nehmen und los-lassen

Prozess Werk

Ge sta lte n: wieder-holen und ver-dichten

Prä se ntie re n: vor-stellen und mit-teilen

Grafik 1: Aspekte und Phasen eines intermodalen Lernprozesses (Wanzenried 1996)

Durchatmen vor dem Spiel auf dem Xylophon; das Betrachten der aufgehängten Bilder; das Hören der Musik. Spielen: Ver-suchen und geschehen lassen Am besten erkennen wir das beim ausgedehnten Spiel mit Ton und weiter auch beim Finden des geeigneten Instrumentes. Da suchte und pröbelte Rafael fast eine halbe Stunde lang, bis er das Xylophon gefunden hatte. Entscheiden: Be-nennen und sich festlegen Irgendwann muss Rafael den Entscheid gefällt haben, dem Pinguin den Vorzug zu geben. Nach einer langen Explorationsphase hat sich Rafael fürs Xylophon entschieden. Offensichtlich war sein Anspruch an sich selbst sehr gross. Ganz präzis musste der Klang und die Spielart des Instrumentes sein. Beliebigkeit war nicht gefragt. Während dieser Phase war ich mit ihm in einem intensiven Dialog. Ich half ihm, das beste Instrument zu finden. Dieses Suchen, dieses Forschen nach genauem und präzisen Ausdruck erfüllt die Forderung nach einer umfassenden und vertieften Bildung. Es sind Qualitäten, die Rafael hier exemplarisch trainiert hat und er in vielen Fach- und Lebensbereichen, in Deutscher wie auch in Spanischer Sprache, anwenden kann.

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Gestalten: Wieder-holen und ver-dichten Das Spiel mit dem Ton wurde wiederholt aufgenommen. Erzählend knüpfte ich an früher Geschehenes an, so dass Rafael wieder und wieder Kontakt mit seinem Vulkan aufnehmen konnte und sein Thema sich entwickeln und verdichten konnte. Durch sein Bild und seine Diskussion mit Ismail erkannte ich sein Interesse an Vulkanen. So konnte ich ihm und den anderen Kindern behilflich sein, ihr Wissen zu erweitern. Präsentieren: Vor-stellen und mit-teilen Bei der Arbeit, dem Spiel mit Ton waren die Kinder in ständigem Dialog miteinander und mit mir. Die Kinder zeigten einander ihre Werke, sie versuchten Dinge zu kopieren, und sie wurden dabei inspiriert. Wichtig war das Aufhängen und Betrachten der Bilder und das Sprechen über sie. Im musikalischen Solo zu den eigenen Bildern teilten sich die Kinder mit und wurden gehört. Antwort erhalten: An-nehmen und los-lassen Eine wichtige Phase. Eindrücklich kommt dies im Dialog zwischen Rafael und Ismail vor ihren Bildern zum Ausdruck. Weiter erhielt jedes Kind Antwort, als zu jedem ihrer Musikstücke jedes Kind ein Bild malte und diese wiederum in der Gruppe betrachtet und danach nach Hause genommen wurden.

Während dieses intermodalen Prozesses durchliefen alle Kinder ganz individuelle Vorgänge und Entwicklungen. Jedoch ist, wie Wygotski (1974) postuliert, die Bedeutungsfindung ein gesellschaftlicher Prozess. Dieser findet hier in allen Phasen statt: Die Kinder konzentrieren sich, während sie Teil einer Gruppe sind. Sie spielen zusammen, treffen persönliche Entscheidungen in der Gruppe. Sie gestalten Ideen und erhalten dabei Anregungen von anderen. Sie präsentieren ihre Arbeiten in einem sozialen Umfeld. Sie geben anderen Feedback. Das verhilft ihnen zu einer reicheren Bedeutungsfindung und zu umfassenderem Wissen, da ihre individuellen Beiträge bereichert wurden durch die Anregungen und Beiträge anderer.

2.2

Wichtige Prinzipien der intermodalen Methode in der Schule

Der intermodale Transfer Ein wichtiges methodisches Prinzip ist der intermodale Transfer: der Wechsel von einer Ausdrucksform in eine andere, von einer Modalität in eine nächste. Im Prozess mit Rafael finden wir mehrere solche Wechsel: vom Modellieren zum Malen, weiter zum Schreiben, zur Musik, zu erneutem Malen und zurück zum Modellieren. Ein intermodaler Prozess hat mindestens einen Wechsel. Ein solcher Transfer vertieft Erfahrungen und erweitert die Bedeutung eines Themas. Zum Beispiel lernte Rafael, dass sein Vulkan ein schlafender, schnarchender war. Er erkannte, dass sein Vulkan feine, leise Musik brauchte. Mir kam sie wie ein Schlaflied vor. Und als er statt

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eines Vulkans einen Pinguin formte, fand er möglicherweise auf eine intuitive und unbewusste Art und Weise das Gegenteil des Elementes Feuer. Vielleicht erfuhr er an dieser Stelle Ganzheit. Doch dies ist nur eine Vermutung. Das dialogische Prinzip Die Anwendung der intermodalen Methode bedeutet, in einem umfassenden Sinn gesehen, die Gestaltung eines Gemeinschaftswerkes. Die Gemeinschaft besteht aus allen teilnehmenden Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrern. Die intermodale Methode verlangt eine dialogische Erziehung (siehe auch S. 93.). Dialogische Erziehung bedeutet ein spezifisches IchDu-Verhältnis, in dem alle Menschen gleichwertig, jedoch von ihren Rollen, ihrem Alter und ihren Erfahrungen her verschieden sind. Alle, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, sind Lernende sowie auch Lehrende. Es ist stets ein beidseitiges und wechselseitiges Geben und Nehmen. Da gibt es Dialoge zwischen Lernenden und Lehrenden, Lernenden und Lernenden und zwischen Lehrenden und Lehrenden. Da finden aber auch viele Selbstdialoge und Dialoge zwischen den Kindern und ihren Werken statt. Der Selbstdialog ist v.a. für fremdsprachige Kinder sehr wichtig. Er verhindert ein vollständiges Verstummen und ermöglicht den Zugang zum Eigenen. Der Selbstdialog ist ebenfalls ein wichtiges Werkzeug für den Lehrer, die Lehrerin. Fortwährend sind Entscheide in Bezug des Prozesses zu treffen: Ist nun zu führen oder Freiraum zu geben? Soll ich fortfahren oder abbrechen? Ist nun eine individuelle oder eine gemeinschaftliche Phase angezeigt? Es ist ein ständiges Abwägen. Ein intermodaler Prozess kann nicht bis ins letzte Detail geplant und entsprechend durchgeführt werden. Lehrerinnen und Lehrer können ihren Unterricht etwa so planen wie dies ein Regisseur, eine Regisseurin tut. Sie brauchen ein Art Vorgefühl für den Prozess und das ganze Werk. Sie brauchen konkrete Ideen für einzelne Bausteine, die Teil des Prozesses werden können. Sie müssen über die jeweils nächsten Schritte entscheiden, das Material bereit stellen, die nötigen Rahmen festsetzen. Dies verlangt von den Lehrerinnen und Lehrern eine permanente und hohe Präsenz, und zwar sowohl dem Prozess wie auch den Kindern und sich selbst gegenüber. Und es verlangt professionelle und klare Entscheide. Das Prinzip der Wiederholung Gemäss Bollnow (1987) stehen Kompetenz und Übung in einem nahen Zusammenhang und können nicht voneinander getrennt werden. Kompetenz bleibt nur in stetiger Übung lebendig. Übung beginnt nie ganz zu Beginn einer Sache. Sie basiert immer auf gewissen, bereits existierenden Kompetenzen. Durch Übung sollen die Kompetenzen jeweils weiter entwickelt und vervollkommnet werden, auch wenn dies nie ganz gelingen kann. Übung im guten Sinn bedeutet immer Entwicklung. Bollnow (1987) schreibt: „Im Unterschied zum Tier sind dem Menschen nur wenige zum Leben notwendige Funktionen angeboren. Er muss sie erst lernen. Er muss sie in beständiger und geduldiger Wiederholung üben, bis er es darin zur Geläufigkeit gebracht hat” (S.

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13). Daraus können wir schliessen, dass üben und wiederholen ganz natürlicherweise zum menschlichen Wesen und Leben gehören. Wenn Bollnow (1987) über die Qualität des Übens spricht, betont er, dass „Übungen nicht in erster Linie dem Erwerb eines jeweils besonderen Könnens dienen, sondern um einer inneren Wandlung des Menschen willen betrieben werden” (S. 12). Er nimmt Bezug zur Tradition des Übens in Japan, im speziellen zur Tradition des Übens im Zen Buddhismus. Im intermodalen Lernen ist die Wiederholung sehr wichtig und sinnvoll. Wiederholungen ermöglichen die Fortsetzung von Prozessen und das Üben, Vertiefen und Festigen von Fertigkeiten und Fähigkeiten. Der Start mit Vertrautem, sei es vertraute Materie oder eine vertraute Methode, erleichtert den Kindern die Suche und ein Eintauchen in neue Sphären. Bekanntes bietet ihnen Schutz, Halt und Sicherheit um zu forschen und sich weiter zu entwickeln. Sicherheit ermöglicht ihnen das Aushalten von Unsicherheit. Nichtsdestoweniger erfordert jedoch jede Übung eine gewisse Herausforderung, einen Ansporn zum Lernen. Neben der Wiederholung verhelfen weiter einfache Aufgaben und die Arbeit in kleinen Portionen der Anwendung der intermodalen Methode zum Erfolg. Bedeutung und Sinn von Struktur und Rahmen Jede Kunstdisziplin hat ihre typische Charakteristik mit bestimmten gegebenen Bedingungen, die spezielle Strukturen und Rahmen vorgeben und erfordern. Jeder Rahmen schränkt ein und bietet gleichzeitig aber auch Schutz. Ein Rahmen kann zu vertiefter Erfahrung und Erkenntnis führen, kann aber auch schmerzhaft einschränkend sein. Rahmen zu setzen bedeutet deshalb immer eine Gratwanderung. Jeder Rahmen ist von der Lehrerin, dem Lehrer sehr sorgfältig zu setzen. Der Lehrer, die Lehrerin ist verantwortlich für den Prozess, für den Schutz der Künstlerinnen und Künstler, für den Schutz ihrer Werke. Ein gut gesetzter Rahmen ist eine der wichtigsten und notwendigsten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Prozess. Es ist hilfreich, Rahmen in ritueller Art und Weise zu setzen. Ich habe festgestellt, dass sich Kinder in der Regel spielend und bereitwillig rituell gesetzten Rahmen unterordnen. Sie lieben diese Art von Wiederholung. Rahmen, die klar und rituell gesetzt werden, scheinen Kindern Vertrauen und Sicherheit zu geben. Rituell einen Rahmen zu setzten bedeutet z.B. den Zeitrahmen innerhalb einer Disziplin jeweils immer auf dieselbe Art und Weise zu setzen. Zwei einfache, aber wirkungsvolle Beispiele möchte ich zur Illustration aufzeigen: Während des Maskenspiels setzte ich den zeitlichen Rahmen, den Anfang und das Ende eines Auftritts, immer mit einer Tibetanischen Glocke. Das Vorspielen von Musik begann jeweils in der Stille, mit zwei bis drei Atemzügen als Zeitmass für die Kinder, und endete mit einem Glockenklang. Die folgende Tabelle, aufgegliedert in fünf Aspekte, soll dazu beitragen, Strukturen und Rahmenbedingungen sorgfältig auszulesen, zu reflektieren und zu setzen. Bewusst ist die

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Frageform gewählt, da jeder Kontext, jede Gruppe und jeder Prozess verschieden ist. Die Fragen sollen anregen, wo und wann immer nötig, eigene Fragen zu stellen.

Das Setzen von Rahmen in intermodalen Prozessen Zum Beispiel: • Wie soll die Lektion, die Performance beginnen? Mit einem Zeichen? Aus der Stille? Individuell oder gemeinsam? • Gibt es ein Publikum? Gibt es Zuhörer, Zuhörerinnen?

rituell

• Wenn es Zuschauende gibt, wie und wo beginnen und beenden die Schauspielerinnen, die Schauspieler ihre Performance? Wie ist die Bühne, wie der Zuschauerraum bezeichnet? • Welche Regeln gelten für Austausch und Feedback? • Was passiert mit den Werken? Zum Beispiel:

sozial

• Arbeiten die Schülerinnen und Schüler allein oder in Gruppen? • Schweigend oder in Kommunikation? • Sind sie zueinander in Kontakt, in Berührung oder nicht? Zum Beispiel:

räumlich

• Beim malen oder zeichnen: Welche Grösse hat das Blatt? Soll dies frei oder festgelegt sein? • Beim Spiel: Wo ist die Bühne, wo sind die Zuschauenden? Wenn keine Bühne vorhanden ist, sollte der Bühnenraum klar markiert werden. • Ist für eine musikalische Explorationsphase ein zweiten Raum nötig? Zum Beispiel:

zeitlich

• Wie lang soll eine Performance dauern? Soll der Zeitrahmen durch ein Zeichen eines Musikinstrumentes, durch die Stimme der Lehrerin oder durch eine Vereinbarung angezeigt werden? • Kann der zeitliche Rahmen einer musikalischen Explorationsphase durch ein optisches Zeichen, z.B. durch Licht, angezeigt werden? Zum Beispiel: • Beim malen oder zeichnen: Soll die Technik, soll die Farbpalette eingeschränkt werden?

materiell

• Bei der Arbeit mit Musik: Soll ich alle Instrumente anbieten oder nur rhythmische resp. melodische Instrumente? • Gehen die Kinder mit oder ohne Gegenstände auf die Bühne? Mit einem oder mehreren? Mit oder ohne Verkleidung? Mit oder ohne Masken?

Tabelle 1: Rahmen in intermodalen Prozessen

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2.3

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Wirklichkeitskonstruktionen in «vier Sprachen»

Mit Sprache klassifizieren wir, bewegen wir uns in höheren Denk- und Bedeutungsstrukturen. Mit Sprache erproben wir Gedachtes. Mit Sprache versachlichen wir subjektive Erfahrungen, indem wir sie deuten, beurteilen, analysieren und mit anderen teilen. Mit Sprache kreieren wir Metaphern, welche es uns möglich machen, unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen zu verdeutlichen. In unserer Kultur nimmt der sprachliche Ausdruck, schriftlich wie mündlich, einen sehr hohen Stellenwert ein. Im Beruf, in der Bildung, in der Freizeit wird in Alltagssprachen und in Fachterminologien kommuniziert. Wie kommuniziert wird, hängt vom Kontext selbst ab. In der Schule wird ein anderes Vokabular verwendet als auf dem Spielplatz, auf der Gasse oder in der Familie. Weiter kennt unsere Kultur auch das Bedürfnis nach anderen Ausdrucksformen wie alle künstlerischen Ausdrucksformen, z.B. Film, Theater, Tanz, Literatur etc., oder die Kontemplation mit dem Gebet, der Meditation, dem Sein in der Stille etc., mit denen Dinge, die jenseits des verbalen Ausdrucks stehen, zum Ausdruck gebracht und kommuniziert werden können. Diese Ausdrucks- und Kommunikationsformen haben in der Regel in der Schule nur einen untergeordneten Stellenwert. Wanzenried (1996) ergänzt in seinem Konzept der „Vier Sprachen“ die Alltagssprachen und die Fachsprachen mit den „Sprachen“ der Künste und den „Sprachen“ der Kontemplation. Der Begriff „Sprache“ wird hier nicht als streng analytischer Begriff verstanden und deshalb in Anführungsstriche gesetzt. Er wird im Sinne einer alltagssprachlichen Metapher verwendet und meint hier Repräsentationsmodelle, Ausdrucksformen, nonverbale Kommunikationsmittel, um Wirklichkeiten einzufangen und zu repräsentieren. So wird z.B. der Begriff Wasser in den verschiedenen „Sprachen“ sehr unterschiedlich ausgedrückt und verstanden und repräsentiert jeweils einen ganz spezifischen Wirklichkeitsaspekt desselben Elements: in der Alltagssprache erscheint Wasser z.B. als Durstlöscher , in der Fachterminologie als H2O, in der poetischen Sprache als Lebenselixier, in der bildnerischen Sprache als sprudelnder Bach, in der musikalischen Sprache als virtuelle Tonfolge und in der kontemplativen Sprache z.B. als Sinnbild für Ruhe und Weite. Sich der Realität in verschiedenen „Sprachen“ anzunähern hat den Vorteil, dass dabei verschiedene Perspektiven von Wirklichkeit sichtbar werden. Das führt zu einem ganzheitlicheren Erkennen und Verstehen. Es ist wichtig, die vier „Sprachen“ als untereinander verbunden, verwoben und voneinander abhängig zu sehen wie ein Teppich.

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Perspektiven von Wirklichkeiten: Die «vier Sprachen»

«Sprachen» der Künste

«Sprachen» des Alltags

«Sprachen» der Wissenschaften

«Sprachen» der Kontemplation

Intuitives Verständnis und Identifikation

Pragmatisches Handeln

Verstehen und Erklären im Überblick und aus Distanz

Ungewissheit und Widerspruch aushalten

• Betrachtung mit • Alltagstheorien • Systematische • Still und achtsam werden fremdem Blick; aus steuern WahrBeobachtung und neuer nehmung und phänomenologi• Fragen offen WahrnehmungsDeutung sche Betrachtung lassen, staunen, perspektive • Empirische Dialog wagen, • Common-sense Überprüfung und Gebet und • Spielerischer und und Umgangskünstlerischer sprache in ihren hermeneutische Meditation Ausdruck verschiedenen Auslegung • Paradoxien und Codes Gleichnisse als • Rekonstruktion und • Typologien, Modelle Aussagen Umgiessen • Konsistente und Theorien, (Transfer) in andere Einstellung für Paradigmen Modalitäten Alltagspraxis und Handlungsroutine • Verdichtete und gestaltete Mitteilung • Ausdruck von Unaussprechbarem

Tabelle 2: Die «vier Sprachen» nach P. Wanzenried, 1996

2.4

Forderung nach signifikanten Themen

Es ist bekannt, dass Lernen effektiver ist, wenn Themen in einem eingebetteten Kontext vermittelt werden, d.h. wenn Schülerinnen und Schüler einen Erfahrungs- und Handlungsbezug zu den Themen haben und damit für möglichst alle Lernende die für den Lernerfolg notwendige Signifikanz aufweisen. Neue Lernmethoden fordern solch bedeutungsvolle Bezüge. Aber welche Themen erfüllen diesen Anspruch, insbesondere für neu Zugezogene aus verschiedensten Herkunftsländern, Kulturen und Familien? Welche gemeinsamen Voraussetzungen haben die Kinder?

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Wahrheit „Die Erde ist rot”, sagt das Kind in Malemchi Phul.

„Die Erde ist ocker”, sagt das Kind in Siena.

„Die Erde ist braun”, sagt das Kind in Wermatswil.

„Die Erde ist schwarz”, sagt das Kind am Ätna.

„Die Erde ist marmorn”, sagt das Kind vom Marmorstrand.

„Was ist denn Erde?”, fragt das Kind der Grossstadt.

Intermodales Lernen ermöglicht den Schülerinnen und Schülern ein Anknüpfen an ihren ureigenen Geschichten, ihren Erfahrungswelten, ihren Primärerfahrungen. Die Methode bietet ihnen eine Chance, zu den Erfahrungen, die sie in ihrem Heimatland, ihrer früheren Schule, in ihren Familien gemacht haben, Brücken zu bauen und das, was für sie wesentlich ist, zum Thema zu machen und in der Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen. Da die Kinder in der neuen Heimat, in der neuen Umgebung, in der neuen Schulsituation mit all den neuen Regeln und Normen viele Erfahrungen, die sie früher gemacht haben, nicht mehr brauchen können, sind neue Primärerfahrungen nötig, um zusammen mit Kindern ihrer Klasse und ihrer Schule neuen Boden finden zu können. Das Finden und Erlangen dieses neuen Bodens ist für jedes Kind, das sich neu zu orientieren hat, bereits für sich ein bedeutungsvolles Thema. Weiter birgt dieser Boden der geteilten Erfahrungen Themen, die für die Kinder signifikant sind. Bei Rafael z.B. zeigte sich sein Interesse an Vulkanen. Dieses Thema konnte dann von mir aufgenommen und mit der Klasse vertieft werden. Rafael durchlief den beschriebenen Lernprozess in einer Gruppe von zwölf Kindern. Nun besassen die Kinder gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen, die sie teilen konnten. Dies kommt sehr schön im kurzen jedoch bedeutungsvollen Dialog, den Rafael mit Ismail führte, zum Ausdruck:

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Rafael: „Was hast du gemalt?” Ismail: „Schöne Farben.” Rafael: „Warum?” Ismail: „Weil sie mir gefallen. Und was hast du gemalt?” Rafael: „Einen Vulkan.” Ismail: „Warum hast du einen Vulkan gemalt?” Rafael: „Weil er mich interessiert.“

2.5

Ziele intermodalen Lernens

Die Ziele intermodalen Lernens ordne ich dem bereits früher eingeführten übergeordneten Bildungsziel von v. Hentig (1996) , dem Tandem „Die Menschen stärken und Sachen klären" (S. 57), unter, wobei ich dieses zwecks besserer Übersichtlichkeit in seine zwei gleichwertigen Aspekte gliedere. Auch wenn ich die zwei Aspekte „den Menschen stärken" und „Sachen klären" als gleichwertig beschreibe, kommt anfangs dem ersten Anliegen ein höherer Stellenwert zu. Erst wenn grundlegende Bedürfnisse wie etwa die körperlichen Bedürfnisse, das Bedürfnis nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Wertschätzung genährt sind, ist es einem Menschen möglich, sich entspannt und neugierig dem Lernen hinzugeben. Positive Lernerlebnisse und fortschreitendes schulisches Verstehen wiederum verhelfen dem Kinde zu Erfolg und höherem Selbstwert, was sich wiederum günstig auf das erste Anliegen auswirkt.

Menschen stärken Ein wichtiges Ziel der intermodalen Methode ist die Sorge für das Wohlbefinden. Moore (1995) beschreibt die Wichtigkeit der Beachtung und des Einbezugs des Seelischen im Alltag und spricht dabei von der „Pflege der Seele“. Zum Wesen der Seele meint er: „Es ist unmöglich, genau zu definieren, was Seele ist....Intuitiv wissen wir, dass Seele mit Echtheit und Gefühlstiefe zu tun hat....Die Seele offenbart sich in Zuneigung, Liebe und gegenseitiger Verbundenheit, aber auch im Rückzug, wenn sie innere Zwiesprache und Innigkeit sucht“(S. 10). Moore (1995) meint, dass wir unsere Seele dann pflegen, „wenn wir ihre Ausdrucksformen beachten. Wenn wir ihr Zeit und Gelegenheit geben, sich selbst zu enthüllen.... Für sie ist Erinnerung wichtiger als Planung, Kunst bezwingender als Verstand und Liebe erfüllender als Verstehen" (S. 374 - 375). Und weiter: „Erfüllende Arbeit, lohnende Beziehungen, persönliche Stärke und Symptomfreiheit sind die Geschenke der Seele“ (S.12). Unter „Seelenpflege“ verstehe ich nun alle alltäglichen kleineren und grösseren menschlichen Handlungen, die zum Wohlbefinden, zur Regeneration, zur

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Ausgeglichenheit und zur Lebensfreude eines Menschen oder einer Menschengruppe beitragen und ihr Identität und Ausstrahlung verleihen. Dazu gehören insbesondere auch alle künstlerischen und kreativen Tätigkeiten. Damit knüpft die intermodale Methode mit diesem Anliegen im Grunde an eine sehr alte Tradition an. Seit Urzeiten und auf der ganzen Welt nahmen und nehmen Menschen neben der Religion auch Zuflucht zum Spiel und zu den Künsten, um sich spirituell, mental und emotional auszudrücken, höhere Ordnungen zu schaffen und Visionen zu erlangen, vor allem in Krisenzeiten. Besonders setzen sie das Spiel, die Künste und die Kontemplation ein, um Unaussprechbares und Komplexes in wiederkehrenden Ritualen auszudrücken, welche sowohl die Gemeinschaft wie auch das Individuum unterstützen und stärken. Ein weiteres Ziel intermodalen Lernens ist die Förderung der Identität, der Ich-Stärke und der Sozialkompetenz. Die intermodale Methode ist eine ressourcenorientierte Methode, die der körperlichen und emotionalen Sensibilisierung dient und versucht, das aus den Lernenden herauszuholen, was in ihnen steckt und was ihrem Wesen eigen ist. Sie baut also auf dem Vorhandenen und den individuellen Stärken auf. Sie will, dass Eigenes zum Ausdruck gebracht wird. Sie ermöglicht den Zugang zu eigenen Themen. Sie zeigt und unterstützt individuelle Vorlieben und Ausdrucksformen. Kunst schafft und vermittelt ein spezifisches nonverbales „Vokabular“. Wenn Kinder sich künstlerisch ausdrücken, finden sie ihren persönlichen Ausdruck, ihre eigene „Stimme” mit Hilfe dieses Vokabulars. So lernen sich die Schülerinnen und Schüler selbst kennen, was besonders wichtig ist für Kinder mit einer gebrochenen Entwicklung und Identitätsfindung. Intermodales Lernen fördert die Gemeinschaftsbildung und Toleranz. Der Prozess ist geprägt vom stetigen Wechsel zwischen Eigentätigkeit und Austausch in der Gruppe und mit der Lehrerin, dem Lehrer. So lernen die Kinder einander und die Vorlieben und Stärken der Anderen kennen. In den Schaffensphasen hat sich das Kind klaren Spielregeln und gesetzten Grenzen unterzuordnen (siehe S. 34), z.B. hat es die Werke aller Kinder zu respektieren. Beim Betrachten von Bildern, beim Spielen von Musik, beim Auftreten mit der Maske erhält jedes Kind seinen Raum zur Präsentation. Raum haben, Raum nehmen dürfen und gleichzeitig dabei geschützt zu sein ist für viele Kinder eine wertvolle Erfahrung. Die anderen nehmen an dieser Präsentation teil und lernen gleichzeitig, den anderen diesen Raum zu überlassen. Die Vielfalt der Werke wird dabei zur Selbstverständlichkeit. Die Subjektivität des Schönheitsbegriffs ebenfalls. Das bedeutet gelebte und erfahrene Toleranz. Eine wichtige Voraussetzung und Hilfe für einen solchen Lernprozess ist die persönliche Haltung des Lehrers, der Lehrerin. Diese müssen den Kindern Vorbild sein und ihnen und ihren Werken unvoreingenommen begegnen. Die intermodale Methode hat weiter zum Ziel, eine Vielfalt von Vorlieben und Intelligenzen anzusprechen und zu fördern. In seiner Rahmentheorie der vielfachen Intelligenzen (siehe auch S. 77) vertritt Gardner (1991) die Ansicht, dass neben der linguistischen und logisch-mathematischen Intelligenzen dringend auch die musikalische Intelligenz, die räumliche Intelligenz, die körperlich-

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kinästhetische Intelligenz sowie die intrapersonale und die interpersonale Intelligenzen einbezogen und unterstützt werden sollen. Meiner Meinung nach erfüllt die intermodale Methode diese Forderung. Sie bietet ein breites Spektrum an Herangehensweisen und Wegen zu lehren, zu lernen und zu verstehen. Sie wird den Erfordernissen verschiedenster Lerntypen gerecht. Sie verhilft den Schülerinnen und Schülern zu vertieftem Verständnis eines Themas. Weiter erfasst und integriert die Methode sowohl die rationale wie auch die emotionale Seite.

Sachen klären Ein erstes Ziel ist hier die Wahrnehmungserweiterung, das Wecken der Sinne und die Schulung der Sensibilität als Grundvoraussetzung zur kognitiven Entwicklung. Wie Piaget (in Kegan, 1986) zeigt, entwickeln sich organische Muster immer vom Diffusen zum Differenzierteren, und zwar durch interaktive Prozesse mit sich selbst und der Mitwelt. Vorhandene Denkschemata werden in Frage gestellt und aufgebrochen, und neue komplexere Ordnungen werden geschaffen. Das sei mit folgenden zwei Beispielen illustriert: Ismail, ein Knabe aus Kosovo, malte fast ein ganzes Jahr lang einfach schöne Farben. Er spielte mit Farben, er experimentierte mit Farben, stimmte sie aufeinander ab, setzte sie nebeneinander, arrangierte sie auf verschiedene Art und Weisen auf seinen Bildern. Vor die Aufgabe gestellt, laut und leise bildnerisch auszudrücken, wählte er für laut ein kräftiges Rot und für leise ein ganz helles Gelb. Diese zwei Bilder konnten von anderen Schülerinnen und Schülern sofort in ihren Eigenschaften erkannt werden. Einmal, als wir aus Pappmaschee Masken herstellten, suchten Ismail und Rafael in der Zeitung nach farbigen Seiten, denn ihre Masken sollten jetzt schon farbig werden. Ich hörte, wie sie über eine Farbe in der Zeitung diskutierten. Ismail erkannte in der Farbe ein Blau, Rafael ein Violett. Nun wollten sie mein Urteil hören. Für mich war es eindeutig ein Blauviolett. Offensichtlich befanden sich die zwei Knaben in einem Prozess, in dem sie begannen, Farben differenzierter wahrzunehmen, jedoch der adäquate Wortschatz dazu noch fehlte. Die zwei Beispiele bringen auch zum Ausdruck, wie viel kognitive Denkarbeit in diesem Tun steckt. Die intermodale Methode hilft, sich Unbekanntem und Neuem anzunähern, zu begegnen, sich damit bekannt zu machen und die Materie zu verarbeiten. Bereits Bekanntes kann vertieft werden. Dies gilt für eigene neue Themen wie auch für geeignete Themen, die von aussen ans Kind herangetragen werden. Besonders geeignet sind hierfür Lebensthemen wie z.B. das in diesem Buch dargestellte Thema der Gegenteile, das Teil des grossen Themas des Dualismus ist. Ein wichtiges Ziel ist selbstverständlich die Förderung von Sprachentwicklung. Während eines intermodalen Prozesses finden fortwährend ganz natürlich Dialoge statt: mit sich selbst, mit der Gemeinschaft, mit den Lehrerinnen und Lehrern. Ein Kind will wissen, will fragen, will austauschen, will andere verstehen. Gemeinsam wird über das Erlebte und Geleistete gesprochen und reflektiert. Diese alltäglichen, oft sehr kurzen Gespräche, die dem unmittelbaren Interesse des

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Kindes und der Gemeinschaft entspringen, bilden eine unerlässliche Basis für die sprachliche Entwicklung. Im Kapitel 3 wird dieses wichtige Ziel mehrere Male zum Thema, die wesentlichen Punkte sind im Kapitel 3.5 (ab S. 68) zusammengefasst.

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3 Praxis intermodalen Lernens in multikulturellen Klassen

Schöpferisches Tun in geschütztem Rahmen in der neuen Heimat, in der neuen Gruppe, fördert Wachstum, denn es eröffnet sichtbar, spürbar Raum für neue verbindende Geschichten.

Wie kann die Anwendung der intermodalen Methode im schulischen Alltag einer multikulturellen Klasse nun aussehen? Einblicke in drei Arbeitsprozesse, die in meiner Klasse stattfanden, sollen helfen, die Grundsätze der intermodalen Methode besser zu verstehen und deren Verbindung mit der Praxis nachzuvollziehen. Die vollständigen Prozesse sind im Anhang zusammengestellt. Das erste Beispiel beschreibt ein Maskenprojekt, das sich über sechs Monate hinzog und wöchentlich zwei Lektionen „Gestaltung und Musik“ beanspruchte. In diesem Projekt setzte sich das Kind, eingebettet in einen übergeordneten, gemeinsamen Prozess, intensiv mit seiner Individualität, seinen Wünschen und Visionen, seinen gestalterischen Fähigkeiten und Vorlieben, seinen inneren Impulsen auseinander: „Ich zeige etwas von mir!“ Im zweiten Beispiel befassten sich die Kinder während mehreren Deutschlektionen mit einem sprachlichen Thema, das von aussen auf sie zugetragen wurde, das ihnen jedoch allen, aufgrund des in ihm steckenden universellen Prinzips, aus ihren eigenen Biografien in irgend einer Form bereits bekannt sein musste: Die Auseinandersetzung mit Gegenteilen. In diesem Beispiel war der Dialog des Kindes mit den anderen Kindern ein wichtiger Bestandteil des individuellen Lernprozesses, denn: „Was ich ausdrücke, sollen auch andere verstehen können!“ Das dritte Beispiel zeigt verschiedene intermodale Aktivitäten, die sich jedoch zu einem übergeordneten Ganzen fügen. Die Kinder kamen hier mit Werken von bekannten Künstlerinnen und Künstlern in Kontakt und liessen sich von ihnen wie auch von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern inspirieren: „Die Welt und die anderen Kinder beeinflussen mich, und ich beeinflusse die anderen Kinder und die Welt!“

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3.1

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Erstes Beispiel: Das Maskenprojekt Der Anfang Immer und immer wieder bin ich fasziniert von Masken, von ihrer Ausdruckskraft. Und vom Tanz als Ausdruck der Seele, verstärkt durch die Maske. Wie werden die Kinder aufs Projekt reagieren? Einführung ins Thema durch ein Maskenbuch. Durch Fotos meiner eigenen Masken. Durch Fotos, die zeigen, wie ich selbst eine Gipsmaske erhalte. „Wer will sich eine Gipsmaske machen lassen?“ „Ich, ich“, - zwei Stimmen. „Ich auch, aber ohne Mund und Augen“, - eine Stimme. „Ich sicher nicht. Ich auch nicht“, - wieder zwei Stimmen. Und die Anderen? Mut und Angst - beides zur gleichen Zeit? „Lasst uns mit Latifa anfangen. Die andern können helfen und beobachten.“ Eine komfortable Liege. Ein Extra-T-Shirt zum Schutz der Kleider. Ein Haarband, Vaseline für die Haut, die Härchen, die Augen. Gaze zum Schutz der Augen, des Mundes, des Haaransatzes. Ein Kind hat die Aufgabe, während der ganzen Zeit Latifas Hand zu halten. Ein anderes Kind hilft mir, Latifas Gesicht mit kleinen Gipsbandagestücken zu belegen. „Latifa, bist du bereit?“ Sie nickt mit dem Kopf. „Keine Angst?“ „Nein, überhaupt nicht!“ „Also, los, fangen wir an.“ Sorgfältig und sanft - zwei Lagen aus Gipsbandage. Die anderen Kinder: Interessiert, ruhig, nervös, unterstützend, hilfsbereit. Die Maske ist beendet und muss noch zehn Minuten trocknen. Latifa summt unter ihrer Maske. Die Kinder neben ihr singen ‘Jingle bells’. Zehn Minuten sind vorüber. Latifa kann aufsitzen. Unter ihrer Maske schneidet sie Grimassen. Und langsam, langsam...... „Hallo, Latifa!“ Latifa schaut ihre Maske an wie eine Mutter ihr Neugeborenes. Sie sieht glücklich aus. Die Liste der Kinder, die sich eine Maske wünschen, wächst schnell auf sieben.

Kurzfassung des Maskenprojekts Das Maskenprojekt dauerte von Januar bis Juni 1997. Jeden Freitagnachmittag arbeiteten wir während zwei Lektionen im Unterrichtsbereich Gestaltung und Musik: Herstellen von Gipsmasken

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als Grundlagen für Masken aus Pappmaschee; bemalen und gestalten der Masken aus Pappmaschee; vielfältige Bewegungsübungen, auch im Turnen; suchen von passenden Kleidungsstücken zur Maske, eines Namens für sie; Erweckungsritual für die Maske auf der Bühne; sechs weitere Probeauftritte auf der Bühne, allein, mit und ohne Gegenstand, je 1 - 2 Minuten; Aufführung mit Publikum (Eltern und zwei Klassen der selben Schule); und zum Abschluss: Fototermin und ein Abschiedsritual. Um meine Arbeit zu klären und zu reflektieren, interviewte ich eine Lehrerin und einen Lehrer, die an der Maskenaufführung teilgenommen hatten. F., 32 Jahre alt, Lehrerin einer 4. Klasse: Sie besuchte die Aufführung in ihrer Freizeit ohne ihre Schülerinnen und Schüler. M., Lehrer einer Einschulungsklasse (1. Klasse): Er nahm mit seinen Schülerinnen und Schülern an der Aufführung teil. Die Interviews fanden getrennt statt. Sie wurden in Schweizerdialekt gehalten und von mir ins Deutsche transkribiert. Ich zerschnitt die Interviews den Themen entsprechend und ordnete sie unter Überschriften neu, um einen besseren Überblick zu erhalten und den Zusammenhang zur Theorie darzustellen. Erste Eindrücke E: Du hast vor zehn Tagen das Maskenspiel meiner Schülerinnen und Schülern gesehen. Was möchtest du mir über diese Aufführung erzählen? M: Mir hat es im Gesamten sehr gut gefallen. Und ich finde es eine ganz gute Form für diese Kinder, die wir hier im Schulkreis haben. Aber speziell für deine Kinder, die Deutsch zu lernen haben, finde ich es eine exzellente Möglichkeit sich auszudrücken, also mit Mitteln, die sie auch haben. Also mit einem Kanal, mit dem sie auch kompensieren können unter Umständen. Mit ihren Stärken. Und es war schön, wie auch die Eltern kamen. Es kamen viele Eltern, die die Sprache auch nicht kennen. Und trotzdem verstanden es alle. - Und die Kinder gaben sich, nicht nur durch ihre Masken, sondern auch durch ihre Kleider, eine Einzigartigkeit, also eine Persönlichkeit. Das kam sehr vielfältig zum Ausdruck. F: Was mich ganz fest berührte war, dass ich das Gefühl hatte, dass jedes Kind sich eine eigene Welt auf der Bühne schuf. Und wirklich von sich aus. - Ich weiss nicht, wie es entstanden ist, aber jede Maske stand für sich und hatte spezielle Kanten und Ecken von sich gezeigt. Nach diesen fünf Minuten hatte man ein Bild von jeder Figur. E: Kannst du ein Beispiel nennen? F: Zum Beispiel die Maske mit dem Chinesischen Namen: Nur schon, wie der Knabe vor den Vorhang gestanden ist und sich verbeugt hat. Er kam ganz speziell hervor. Eigentlich war das bei jedem Kind so. Er war einfach der Deutlichste, derjenige, der mir in Erinnerung geblieben ist.

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Das Setzen von Rahmen (Theorie siehe S. 34) a) Der Individualität der Maske folgen

Miri, die weinende Maske

F: Ich erinnere mich an die erste Maske. Als sie auf die Bühne kam, weinte sie. Und sie füllte mit ihrem Spiel den ganzen Raum. Das weckte bei mir auch Fragen: Wie kam es, dass jedes Kind seinen Raum auf andere Art einnehmen und füllen konnte? Wie weit kam das von den Kindern selbst und wie weit resultierte das aus Rückmeldungen von Kindern und auch von dir? Wie weit ist das Spiel aus verschiedenen Leuten herausgewachsen, oder wie weit ist es etwas, das wirklich aus jedem selbst hervorgewachsen ist? E: Angefangen habe ich, so wie ich bei der Aufführung angefangen habe. Die Kinder waren hinter der Bühne, und ich rief den Namen, den sie selbst der Maske gegeben haben. Und sie

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traten hervor und verbeugten sich. Als zweites gingen sie auf verschiedene Arten und Weisen auf der Bühne hin und her. Und ich sagte: „Geh nicht so, wie du willst, sondern wie die Maske will.“ Das war meine Anweisung. „Frag die Maske, wie sie gehen will.“ Da waren sie anfangs sehr schüchtern. Und so forderte ich sie das dritte Mal auf: „Lass die Maske spielen. Lass sie etwas tun.“ Und bei der Maske, die du vorher erwähnt hast, die Weinende, ich glaube es war im zweiten Teil des fünften Auftritts, da weinte die Maske plötzlich und zeigte hinter den Vorhang um anzuzeigen, dass dort ein Kind sei, vor dem sie Angst hätte. Das war etwas ganz Neues, eine eigene Kreation. So sagte ich zur Spielerin: „Spiel das gleich nochmals.“ So vertiefte ich diese Szene, und sie wurde Teil ihres Repertoires. Und dann fragte ich sie, ob sie auch mit dieser Szene anfangen wolle. So probierte ich bei jedem Kind etwas herauszunehmen und zu verdeutlichen, etwas, das es selber zum Ausdruck brachte. Etwas ganz Eigenes. Also steuerte ich die Kinder in gewissem Sinne, bei etwas zu bleiben, etwas zu verdeutlichen. F: Und das empfandest du nicht als streng? Also, sie akzeptierten das relativ gut? E: Ja. - Klar gab es eine gewisse Strenge. Es ist eine Einschränkung. Das war mir ganz bewusst. Und diese Einschränkung beschäftigte mich oft. Ich zwang kein Kind, doch ich versuchte, sie zu motivieren, bei etwas zu bleiben, das Gleiche nochmals zu probieren und nochmals zu probieren, damit es zum eigenen Werk wurde. Zum Schluss war jedem Kind klar, wie es beginnen würde auf der Bühne. Dann aber war es frei. - Das war für mich eine Gratwanderung zwischen einschränken und nicht einschränken. Ich habe bei dieser Arbeit festgestellt, dass gewisse Einschränkungen eine Verdeutlichung und Verdichtung bringen. F: Mir ist aufgefallen, wie unterschiedlich die Auftritte ausgefallen sind. Also, unterschiedlich im Inhalt, nicht in der Qualität. Ich fand alle dicht und konzentriert. Und auch - das ist noch ein anderer Punkt - ich staune, dass es nachher wirklich frei war. Bei vielen Kindern hatte ich den Eindruck, als hätten sie das Spiel in ‘einem Zug’ durchgespielt, als würden alle Kinder ‘ihren eigenen Pinsel’ selbst führen. Ja, das beeindruckte mich stark. E: Was denkst du: Stimmt die Aussage, dass es die Masken und nicht die Kinder waren, die spielten, die durchs Spiel führten? F: Auf jeden Fall. Und ich hatte auch das Gefühl, oh, das ist ja wie ein Schutz für die Kinder. Zum Beispiel die Königin - ich war so beeindruckt. Die ging so königlich. Also, ich dachte: „Könnte das Kind das auch ohne Maske?“ Ja, das Gefühl hatte ich wirklich, dass es die Maske war, die das Kind führte. E: Dass es die Maske ist, die spielt, kam auch in einer anderen Situation zum Ausdruck: Wir machten ein Abschlussritual, bei dem wir die Masken verabschiedeten und sie unter ein Tuch legten. Da sagte ein Knabe beim Abschied von seiner Maske: „Auf Wiedersehen, Tschim“, und fügte bei: „Du hast sehr gut gespielt.“ F: (lacht): Dass sie es auch so erlebten! Sie, und sie und die Maske, das sind zwei verschiedene Dinge.

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Königin Mitri b) Allein auf der Bühne M: Ich überlegte mir, warum du es so machtest, dass immer jedes Kind allein auf der Bühne war. Es gäbe ja auch die Möglichkeit, z.B. in Gruppen zu spielen, oder Dialoge zu machen. Aber ich denke, das ist nun eine Form, wofür du dich entschieden hast, und das ist dann auch konsequent durchgezogen worden. Das hat natürlich auch den Vorteil, dass es sehr gerecht ist. Jedes Kind hat den gleichen Raum zur Verfügung und muss sich nicht um Konkurrenz fürchten, oder dass es erdrückt wird. Es ist aber auch sehr ausgestellt. Die Kinder reagierten unterschiedlich. Die einen genossen es sehr, und die anderen versteckten sich ein wenig oder waren eher am Rand der Bühne, oder sie kopierten Sachen von anderen. E: Ich sehe auch beide Aspekte. Hinterher fragte ich die Kinder einzeln: „Was hast du lieber

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gemacht, selbst zu spielen oder zuzuschauen?“ Und nur zwei von den zwölf Kindern antworteten, sie hätten lieber zugeschaut. Eines davon war der Knabe, der diese brillante Szene mit dem Stuhl gespielt hat. Weiter fragte ich sie, ob sie noch weiterspielen möchten oder nicht. Alle wollten weiterspielen. M: Ah, super. E: Die Kinder allein auf die Bühne zu schicken ist eine methodische Frage: Sie spielen erstens eine Maske. Und sie müssen ja irgendwie in dieser Maske drin bleiben. Dann ist da das Publikum. Und dann brachten sie je nach dem noch einen Gegenstand mit auf die Bühne. Ich bemerkte, dass die einen Kinder überfordert waren mit dem Gegenstand.

Tschims Auftritt mit dem Stuhl c) Das Zeichen der Tibetanischen Glocke M: Was mir gut schien, sehr gut, war, dass du mit der Tibetanischen Glocke jeweils einen Anfang und ein Ende setztest. Es ist natürlich eine hohe Kunst, wenn man eine Szene auch abschliessen kann. Das war sicher eine wichtige Hilfe für die Kinder. Da musst du die Kinder ganz gut kennen, um zum genau richtigen Zeitpunkt und mit dem Kind zusammen die Szene zu beenden. E: Ich habe den Eindruck, dass ich zweimal das Spiel zu früh beendete. M: Ja, diesen Eindruck hatte ich auch mal. Aber das ist nicht schlimm.

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Ziele a) Förderung der Sozialkompetenz, der Ich-Stärke, der Identität M: Ich denke, sehr viel. Sicher lernten sie sozial miteinander umzugehen, einander etwas vorzeigen, hinstehen und sagen: „Schau, das bin ich.“ Auch Schwächen zeigen können: „Da habe ich Angst. Das fällt mir schwer.“ Die emotionale Seite von sich zeigen, Gefühle, Stimmungen, innere Bilder. Und ich denke, da wächst auch die Persönlichkeit, sozial, individuell, emotional. F: Sie lernten ganz viel, denke ich. Raum einnehmen, hinstehen, und „ich allein und meine Maske können die Bühne füllen. Mir schaut man zu, mich hört man nicht akustisch, aber mich nimmt man wahr.“ --- Und dann, wie du vorher sagtest, wenn sie die Maske spielen liessen, lernten sie auf etwas eingehen, auf eine Situation oder auf Gegebenheiten. --- Das Aushalten von Spannungen: „Es ist unangenehm. Ich habe Angst.“ Sie mussten Gefühle aushalten, angenehme wie unangenehme. --- Ich denke, beim Masken machen passierte auch ganz viel. Sich nur schon eine Maske machen lassen ist eine Übung von Vertrauen. Und dann sich anzuschauen: „Das bin nicht ich. Und doch ist es etwas von mir.“ Und eine Vision zu haben und diese zu entwickeln. --- Abgesehen von den Techniken, die ihr angewendet habt zur Gestaltung der Masken. --- Dies scheinen mir die wichtigsten Punkte zu sein. E: Nach dem Spiel fragte ich das Mädchen, das die Königin Mitri gespielt hat: „Was hast du bei deinem Auftritt gedacht?“ Darauf antwortete sie: „Ich dachte, wenn ich einen Fehler mache, dann lachen die anderen mich aus. Doch dann kam mir in den Sinn, dass ich ja nicht sterben werde dabei.“ Und als ich sie noch fragte, was sie beim Auftritt gelernt habe, sagte sie: „Ich habe gelernt, dass, wenn ich die Angst verliere, es dann lustig wird und die anderen Kinder Freude an meinem Spiel haben.“ F: Hej, das ist schön!

b) Förderung der Integration E: Siehst du einen Gewinn in Bezug meiner Aufgabe, Integrationshilfe zu leisten? F: Ja, gerade dieses Einnehmen von Raum hat ganz klar mit Integration zu tun, scheint mir. Integration heisst ja nicht nur sich einpassen, sondern auch sich einen Raum schaffen, sonst kann man sich ja nicht richtig integrieren. Und integrieren kann ja auch heissen, Teile von sich selbst, die z.B. durch die Maske zum Ausdruck gekommen sind, zu integrieren. M: Alles, was ich bis jetzt sagte, gehört dazu. Und: „Ich bin nicht nur mit meinen Worten hier. Ich bestehe aus ganz vielen Anteilen. Ich zeige etwas, die andern schauen mir zu. Ich schaue zu, und die anderen zeigen etwas.“ Mir geht es vor allem um Persönlichkeitsbildung. Und da ist Integration immer dabei. F: Ich hatte den starken Eindruck, dass jedes Kind den Raum füllte. Ich glaube, das berührte mich

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so stark. Ich würde das so schön finden, wenn jeder Mensch auf dieser Welt auf seine sehr persönliche Art seinen Raum einnehmen könnte.

c) Förderung von Sprachentwicklung E: Siehst du einen Gewinn für den Zweitspracherwerb? M: Ja, ich denke, alles, was man erlebt, was man behandelt, handelt, das kann nachher in Sprache umgesetzt werden. Das ist irgendwie die Grundlage für Sprache. Ich denke, die Kinder können hinterher viel besser all die Ausdrücke lernen für ihre erfahrenen Gefühle, Situationen, für all die Begriffe rund ums Theater. Und diese werden ihnen auch bleiben, weil sie das erlebten. E: Also, du denkst, eine Erfahrung legt eine Grundlage, worauf sich Sprache entwickeln kann. M: Ja, aber ich denke, dass es nicht einfach so kommt. Das muss man dann schon verknüpfen. Dass man gerade in der Situation darüber spricht, oder danach die Situation wieder hervorholt und sie mit Worten festmacht. Und dass man diese neuen Wörter dann auch braucht. --- Jetzt kommt mir noch etwas in den Sinn. Also ich denke, wenn ich jetzt eine Fremdsprache lernen würde, dann könnte ich mir gut vorstellen, dass es eine grosse Hilfe wäre. Ich könnte mir vorstellen, dass ich eine Szene einfach mal spielen würde, rein mimisch, und ich nachher darüber sprechen könnte. Wenn ich mich nur mal auf das Eine konzentrieren kann, kann ich mir vorstellen, dass ich mich nachher besser ausdrücken könnte. Ich könnte erzählen was da lief, was ich machte, was zuerst war, was nachher kam, was ich fühlte dabei, usw. E: Und ich als Lehrerin könnte dir dabei helfen, weil ich das Spiel gesehen habe. M: Ja, weil du genau weisst, wovon ich spreche. Ich spreche nicht einfach über meine Ferien in Griechenland, wo es keine Gemeinsamkeiten gibt. Das ist nicht so. Du kreierst miteinander eine gemeinsame Situation. Und dann kommt noch dazu, dass das Erlebnis auch sehr mit Emotionen verknüpft ist. Und das ist nochmals eine grosse Hilfe, eine Motivation für mich. F: Ich denke, alles, was die Kinder erleben und ausdrücken, sei es, hinterher zu erzählen, zu fragen z.B. bei den Techniken, all das ist auch kognitives Lernen, gerade für jene Kinder, bei denen der Deutschspracherwerb eine wichtige Rolle spielt. E: Also du den Eindruck, dass da ein Gewinn für den Zweitspracherwerb ist? F: Ja, auf jeden Fall. Ich denke, dass hier ganz viel und tief erlebt worden ist. E: Auch wenn ich mit den Masken die Sprache ausklammere? F: Ja, am Schluss, bei diesen fünf Minuten. Aber im Prozess dorthin ist ja ganz viel Sprache passiert, sei es beim Herstellen der Masken, sei es beim darüber Sprechen. Ihr habt ja darüber gesprochen, wer was und wie macht, nehme ich an. Über die Techniken, über Wünsche, Vorlieben, Regeln usw. Und all dies ging ja über die deutsche Sprache. Die Kinder lernen so die Sprache auf ganz natürliche Art und Weise. E: Ich muss schon sagen, deine Antworten gefallen mir.

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F: Ja, ich habe eben gedacht, ob es zuwenig kritisch gewesen sei. Aber es ist so. Deine Arbeit gefällt mir.

Isabel „Nein, ich möchte mir keine Gipsmaske machen lassen. Auf gar keinen Fall.“ Isabel hat das Problem mit ihrem Vater besprochen. „Mein Vater sagte mir, dass ich nicht müsse, wenn ich nicht wolle.“ „Das ist richtig, Isabel. Aber du kannst helfen. Und wenn du später doch noch willst, ist das in Ordnung.“ Isabel ist stets bereit, den andern zu helfen. Sie hält Hände, wäscht Gesichter, legt Gipsbandagen auf. Isabel, das einzige Kind ohne Maske. Sogar Jananij hat sich entschieden, sich eine machen zu lassen. Sogar das ganz neue Mädchen kündigt mir mit Gesten an, dass sie eine Maske wolle. Zuvor hat sie viele Kinder begleitet, viele Hände gehalten. Ich entscheide mich, mit Isabel zu sprechen. „Wäre es möglich, wenn wir den Mund frei liessen?“ „Nein.“ „Wäre es möglich, wenn wir die Augen und den Mund frei liessen?“ „Nein. Wissen sie, ich habe sehr Angst. Einmal war ich im Spital und erhielt eine Spritze. Und vier Leute mussten mich festhalten.“ „Willst du dich mal hinlegen, und wir belegen zuerst mal nur deine Stirn, deine Wangen und dein Kinn? Und du entscheidest selbst, wie weit wir dein Gesicht bedecken?“ „Ja, das ist eine gute Idee.“ Bald danach: „Mmh, das ist wunderbar. Das habe ich gern.“ „Sollen wir deine Augen auch bedecken?“ „Ja, bitte.“ „Sollen wir deinen Mund auch bedecken?“ „Nein, bitte nicht. So kann ich sprechen, wann immer ich will.“ Zehn Minuten zum Trocknen der Maske. Isabel summt. Die Kinder neben ihr singen ‘Jingle bells’. Zeit, die Maske zu entfernen. „Hallo, Isabel!“ „Frau Hösli, können sie meiner Maske den Mund noch schliessen?“ Und: „Kann ich am nächsten Freitag noch eine Maske machen? Wissen sie, es war so schön!“ Isabel ist glücklich, ihre Maske mit geschlossenem Mund zu sehen. Nun ist sie genau so wie die Masken aller anderen.

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Was hast du während des Maskenprojekts gelernt? Am Ende des Prozesses fragte ich alle Kinder einzeln: „Was hast du während des Maskenprojekts gelernt?“ Hier sind die Antworten:

«Ich habe gelernt, dass meine

«Ich habe spielen und tanzen gelernt,

Maske auf der Bühne schlafen und

und schneiden mit der Schere und dem

hüpfen will. »

Messer. Ich habe neue Wörter gelernt.»

«Ich habe gelernt zu merken, was die

«Ich habe gelernt, keine Angst auf der

Maske will: Die richtigen Kleider, das

Bühne zu haben. Ich habe gelernt,

richtige

dass meine Maske mit einem Seil

habe

gelernt,

Gipsmasken zu machen.

Ich

habe

die

Körpersprache gelernt.»

spielen will.»

«Ich

Instrument.

«Ich habe gelernt, mit meiner Maske zu spielen. Ich habe malen gelernt.»

Ich habe malen gelernt. Und

ich

habe

Deutsch

gelernt.»

«Ich habe gelernt, dass es viel besser ist, sich vor dem Vorhang zwei bis drei Mal zu

«Ich habe gelernt, auf der

verbeugen als nur ein Mal.»

Bühne keine Angst zu haben. Ich habe gelernt, auf dem Stuhl einen Salto zu machen.»

«Ich habe gelernt, dass ich die Kinder erheitern und sie zum lachen bringen kann. Ich habe gelernt, dass die Maske mir sagt, was ich machen muss, wie eine grosse Mutter, oder wie ein Computer in meinem Kopf..»

«Ich habe gelernt, mit der Maske zu spielen.»

«Ich habe gelernt, auf der Bühne mit einer Maske zu spielen. gelernt..»

Ich

habe

malen

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Wirkungen gegen aussen E: Wie war die Reaktion deiner Schülerinnen und Schüler? M: Ich sprach nicht lange mit ihnen, aber sie war sehr positiv. Es gefiel ihnen sehr gut. Sehr viele fragten spontan: „Machen wir das auch mal?“ Also auf die Bühne gehen mit Masken und den Leuten etwas zeigen. Und sie erinnerten sich an Details. --- Ich war mit ihnen schon mal in einem Theater, da wurde es den Kindern zu lang. Und hier war das nicht so. Es war genau richtig für sie. Sie konnten auch gut dabei sein. E: Also, sie wurden nicht unruhig? M: Nein, nein. Die Länge stimmte eben, und sie verstanden das Theater auch wirklich. Sie reagierten, sie lachten oder winkten usw. Und das wurde meist von der Bühne wieder aufgenommen. Es war wie ein Dialog. E: Was bedeutete diese Aufführung für dich persönlich? M: Dass ich Lust erhalten habe, das auch zu machen mit meinen Kindern. Ich behandelte in letzter Zeit das Theater etwas stiefmütterlich. Es ermutigt mich, wieder mal etwas Neues zu probieren.

E: Was bedeutete diese Aufführung für dich persönlich? F: Es rief mir wieder mal in Erinnerung, dass es gut und wichtig ist, von dem auszugehen, was da ist, was die Kinder bringen. Für mich ist das eine Grundhaltung. Und ich bin froh um jeden Anstoss in diese Richtung, so wie das jetzt mit eurer Arbeit passiert ist.

Das Finale Am Freitag nach der Aufführung: das Abschlussritual. Wir sitzen im Kreis auf dem Boden um ein oranges Tuch herum. Die Kinder sagen ihren Masken Auf Wiedersehen und legen sie unter das Tuch. „Auf Wiedersehen, Miri, Cimona und Cima. Auf Wiedersehen, Jin Huan, Kiridsha und Königin Mitri. Auf Wiedersehen, Nani, Tamilni und Nachthimmel. Auf Wiedersehen, Midu und Bolo, Schwester von Pocahontas.“ Und ich höre, wie Ismail zu seiner Maske sagt: „Auf Wiedersehen, Tschim, ciao, du hast sehr gut gespielt.“ Die Kinder nehmen ihre Masken nach Hause.

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3.2

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Zweites Beispiel: Gegenteile

Die Idee zu diesem Prozess kam mir während einer Deutschlektion. Ich war gerade dabei, mit der Gruppe der Fortgeschrittenen Gegenteile in traditioneller Form mit Hilfe von Bildern und Wortkarten zu trainieren, als ich bemerkte, wie Alissa, das neue Mädchen in der Klasse, leise diese Gegenteile für sich wiederholte. Das Mädchen konnte, ausser weniger Wörter und Sätze, noch kein Deutsch. Zu jener Zeit las ich eben das Buch Bildung von v. Hentig (1996). Darin plädiert er für Themen, die einen grossen Bildungseffekt aufweisen, und zwar für alle Schülerinnen und Schüler. Ich begann über das Lebensprinzip des Dualismus nachzudenken, über Ambivalenzen, das Sowohl-als-auch. Ich kam zum Schluss, dass das Thema Gegenteile ein Thema mit grossem Bildungseffekt für alle Schülerinnen und Schülern sein kann, falls es mittels eines intermodalen Prozesses in Angriff genommen, erlebt und vertieft wird. Neben der Erweiterung des deutschen Wortschatzes sollen die Kinder auch das Phänomen des Dualismus erfahren. Sie sollen Einblick in diese Zusammenhänge gewinnen. Ein solches Verständnis zu erwerben ist im Grunde genommen nicht abhängig von der dabei verwendeten Sprache. So entschied ich mich, in der folgenden Deutschlektion mit den Fortgeschrittenen in einen intermodalen Prozess einzusteigen, zusammen mit den drei erst kürzlich eingetretenen Schülerinnen.

Alissa Siebenjährig, aus Zaire. Die jüngste in der Klasse, voll Temperament, voller Fragen, sehr reif für ihr Alter. Ihre Muttersprache ist Französisch. Das ermöglicht den Dialog mit mir, und auch mit Latifa aus Marokko. „Was machen die Insekten, wenn es regnet. Und was passiert, wenn alle Ritzen und Löcher besetzt sind?“ „Warum ist Sonia weg? Es ist doch normal, dass wir alle Heimweh haben!“ „Warum können Kinder keine tiefen Freundschaft haben? Wissen sie, ich möchte eine Freundin.“ „Warum lieben die Schweizer keine Ausländer? Ich habe am Fernseher eine Diskussion darüber gesehen.“ „Wenn ich mal gross bin, möchte ich drei Sprachen sprechen: Französisch, Englisch und Chinesisch. Ich möchte eben als Ärztin in China arbeiten.“ Fragen über Fragen, Gedanken über Gedanken. Mit mir spricht Alissa immer Französisch. Mit den Kindern spricht sie nach zwei Monaten schon recht gut Deutsch. Bald, wenn die kleine Schwester geboren ist, zieht die Familie nach Lausanne. Seit kurzer Zeit ist sie von der Klasse aufgenommen.

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Alissa hört sehr gut zu, als ich mit den fortgeschrittenen Kindern in der Deutschstunde Gegenteile lerne. Ich beobachte sie, wie sie, an einem hinteren Tisch sitzend, teilnimmt, wie sie ihre Lippen bewegt und die Wörter leise nachspricht, statt ihrer Arbeit nachzugehen. Offensichtlich ist sie an der Sache interessiert. Da kommt mir die Idee, dieses Lebensprinzip der Dualität, der Polarität in einem intermodalen Prozess zu vertiefen, und zwar zusammen mit den drei Anfängerinnen. Gegenteile in Bewegung gedrückt. Gegenteile musikalisch ausgedrückt. Gegenteile im Bild ausgedrückt. Ein Prinzip, das überall existiert. Eine Erfahrung, die alle machen können. Alissa wählt anspruchsvoll: rund und eckig. Die Suche ist intensiv, das Gefundene eindeutig. Der Paukenschlag für rund, die Saitenstriche auf dem Psalter für eckig. „Für rund wählte ich die Pauke, weil sie rund tönt, und nicht etwa, weil sie rund ist. Und für eckig wählte ich den Psalter, weil ich auf ihm eckige Töne spielen kann, und nicht wegen seiner eckigen Form.“ Die Deutschen Wörter, die wir brauchen, interessieren Alissa. Nun kennt sie diese Wörter in der neuen Sprache. Vielleicht vertieften sie sich gleichzeitig auch in ihrer Muttersprache? Durch die Sinne gelangten wir zu tieferem Sinn.

Kurzfassung des Themas Gegenteile Wiederholen der Wörter mit Hilfe eines Memoryspiels. Umsetzen von Gegenteilen in Bewegung. Jedes Kind wählte ein Gegenteilpaar, um es mit einem oder zwei Instrumenten

musikalisch

auszudrücken. Vorspielen dieser Musik und festhalten durch Tonbandaufnahmen. Hören der Musik und Beurteilung durch die Gruppe: „Passen die Töne zu den Gegenteilen?“

Zuerst war Latifa mit dem Resultat ihrer Musik nicht zufrieden. Sie hatte lieb und böse gewählt. Nun beurteilte sie ihre Musik und fand, dass beide Teile ihrer Musik bös klingen würden. Die Gruppe war gleicher Meinung. So ging sie auf die Suche nach einem neuen Instrument, um lieb ausdrücken zu können. Diesmal war sie erfolgreich.

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Hören der aufgenommenen Musik und bewegen dazu. Malen der gewählten und in Bewegung ausgedrückten Gegenteile auf Sektoren eines grossen Papierkreises.

Tag

fröhlich

traurig

Nacht

langsam

gross leise

klein

laut

schnell

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Sarujan wählte schnell und langsam. Es fiel ihm leicht, langsam und schnell zu gehen. Auf der Pauke konnte er in langsamem und schnellem Tempo spielen. Und es fiel ihm leicht, ganz schnell eine dicke braune Schlangenlinie auf den einen Kreissektor und mit langsamen Bewegungen kurze gelbe Linien auf den anderen Sektor zu malen. Doch konnte er nicht verstehen, dass die anderen Kinder in der braunen Schlangenlinie langsam und in der kurzen gelben Linie schnell sahen. Erst nachdem ein Kind mit dem Finger langsam der braunen Linie nachgefahren ist, begleitet mit den Worten: „Ich sehe eine Schneckenspur“, konnte er die andere Sichtweise verstehen. Und in seinen kurzen gelben Linien erkannte er plötzlich schnelle Regentropfen. Am Schluss wollte er seine Bilder so anschreiben, wie es die anderen interpretiert und ihm gezeigt hatten.

Bei der Umsetzung der Gegenteilpaare ins Bildnerische lernte die Klasse, nach allgemein gültigen Ausdrücken zu suchen. „Können die anderen in meinem Bild dasselbe erkennen wie ich? Hat meine Darstellung für mehr als nur für mich Gültigkeit? Ist mein Ausdruck mehr oder weniger zuverlässig?“ In diesem Moment wurde die Gruppe zur äusserst wichtigen Lernpartnerin. Um den Lernprozess zu vertiefen, wiederholte ich die Aufgabe des Malens eines Gegenteilpaares. Diesmal malten wir Kehrseiten von Medaillen. Um die Resultate zu überprüfen, mussten die Kinder die dargestellten Gegenteile erraten.

langsam

schnell

fröhlich

traurig

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Ziele und Prinzipien im intermodalen Lernen a) Die Wahl der Modalität, des Mediums

K: Warum hast du den Prozess mit Bewegung und nicht mit einer andern Modalität begonnen? E: Kinder haben natürlicherweise einen mehr oder weniger grossen Bewegungsdrang. Ein Kind muss sich einfach bewegen, muss hüpfen, rennen, herumtollen. Zusammen mit den Fortgeschrittenen unterrichtete ich ja auch die neuen Kinder, und deshalb entschied ich mich für diese allen vertraute Modalität. Andere Modalitäten wie Malen und Musizieren gehören nicht so natürlich zum Kinderalltag und sind deshalb allgemein viel weniger vertraut. K: Danach hast du zur Musik und später zum visuellen Ausdruck gewechselt. Weshalb hast du dich für diese Reihenfolge entschieden? Ich vermute, dass Malen eine vertrautere Ausdrucksform ist als der musikalische Ausdruck. E: Instrumente faszinieren Kinder, aber nur sehr selten haben sie die Möglichkeit, auf Instrumenten zu spielen. So sind Kinder ihnen gegenüber sehr offen. Die Aufgabe, ein Gegensatzpaar musikalisch auszudrücken war tatsächlich eine grosse Herausforderung. Sie ermöglichte es den Kindern jedoch, in ein unbekanntes und noch unberührtes Gebiet vorzustossen, in dem sie etwas ganz Eigenes entwickeln konnten. All diese Überlegungen weckten und unterstützten die Idee zu diesem Transfer. K: Nun, als nächstes folgte dann aber doch noch der visuelle Ausdruck. E: Zum Abschluss des Prozesses wollte ich bleibende Werke: zur Erinnerung und zur weiterer Anregung – die Werke können immer wieder betrachtet und verglichen werden – und um sie nach Hause zu nehmen, um das Erlebte mit den Eltern zu teilen. Musik ist eine flüchtige Kunstdisziplin. Ein bleibendes Werk am Schluss ist etwas Wichtiges. Es ist wie ein Symbol für den ganzen Prozess. K: Malten die Kinder neue Dinge oder rekonstruierten sie Figuren und Bilder, die du während der Einführungsphase gebraucht hattest? E: Ich war wirklich sehr beeindruckt. Die Kinder malten in der Regel neue Dinge, figürliche wie auch symbolische. Um laut auszudrücken verwendete zum Beispiel Ismail ein kräftiges Rot und für leise ein sehr helles Gelb. Für fröhlich malte Jathursa lachende Menschen, jedoch für traurig wählte sie symbolische graue Regentropfen (siehe Fotos S. 57). K: Fanden die Kinder solche Symbole ohne deine Hilfe? E: Ja, und dies war für mich eine logische Folge dieses intermodalen Prozesses mit ihren Transfers. Jeder intermodale Prozess öffnet Türen zu tiefer liegendem persönlichen Wissen 4

und Verstehen.

4

Für dieses und alle noch folgenden Interviews wählte ich die Methode des Selbstinterviews, um meine Arbeit zu reflektieren. K steht dabei für meinen zweiten Vornamen Katharina. Sie ist mein Alter Ego, das E, Elisabeth, Fragen stellt.

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b) Klärungsprozess, Verdeutlichung, Verdichtung

K: Gibt es, neben der Wahl passender Modalitäten, noch andere wichtige Elemente, die den Kindern helfen, klare Resultate zu erzielen? Im Malen und im Spielen von Instrumenten sind sie ja noch ziemlich ungeschult. E: Wichtig ist, die Sensibilität in Bezug zum Thema wie auch zu den Modalitäten zu entwickeln. Dies ermöglicht es ihnen, sich präziser auszudrücken. Zum Beispiel wollte Sarujan schnell und langsam auf der Pauke ausdrücken. Ich ermutigte ihn, diese Gegensätze zu verdeutlichen. Er probierte ein zweites Mal. Und ich ermutigte ihn, noch expliziter zu werden. Das war für ihn eine schwierige Aufgabe, besonders das Halten der langsamen Schläge. Danach hörten wir uns alle Musikaufnahmen an, um das Resultat zu überprüfen. Die Kinder gaben Feedbacks zu den eigenen sowie auch zu den fremden Musikstücken. War das Resultat unbefriedigend, suchten die Kinder nach besseren Ausdrucksmöglichkeiten. K: War das nicht hart für die Kinder? E: Ich denke nicht. Ein Kind liebt die Herausforderung sofern die Atmosphäre und die Beziehung mit den andern Kindern und mir gut sind. In der Schule ist es völlig normal, die Kinder in kognitiven Bereichen zu fordern. Warum soll das nicht auch hier der Fall sein? Ein Ziel intermodalen Lernens ist die Ermutigung und die Förderung der Schülerinnen und Schüler. K: Hast du noch ein anderes Beispiel eines Klärungsprozesses? E: Ja, das Betrachten mit dem sogenannten fremden Blick. Schülerinnen und Schüler, die nicht am Prozess teilnahmen, überprüften die gemalten Gegenteile, indem sie den gemalten Werken Adjektive zuordnen mussten. K: Und, klappte es? E: Als erstes und sehr zielsicher errieten sie laut und leise, die durch ein starkes Rot und ein ganz helles Gelb dargestellt waren. Aber bei traurig und fröhlich hatten sie Schwierigkeiten. Zwar konnten sie in den grauen Regentropfen traurig erkennen, doch konnten sie fröhlich nicht finden. Jathursa, die Malerin dieser Gegenteile, hatte lachende Menschen gemalt, aber niemand ausser ihr konnte im Bild diese lachenden Menschen erkennen. Ihre malerischen Fähigkeiten waren noch zu wenig entwickelt. K: Wie reagierte sie? War sie nicht beschämt? E: Ich weiss nicht. Wir diskutierten das Darstellungsproblem in der Gruppe. Wir suchten nach Lösungsmöglichkeiten. Danach malte sie zwei Mädchen mit lachenden Mündern. Damit hatte sie nun Erfolg. Ich hatte den Eindruck, dass sie nun sehr stolz war auf ihr Werk (siehe Foto S. 57 oben).

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c)Tiefer und umfassender Lerneffekt

K: Im Kontakt mit anderen zu sein und die Überprüfung durch einen fremden Blick scheinen einen tiefen Lerneffekt auszulösen. E: Tatsächlich. Die Kinder lernten neue Wörtern, erfuhren Gegenteile in verschiedener Art und Weise, lernten Unsichtbares visuell und Sichtbares musikalisch auszudrücken. Und nun waren sie zusätzlich gefordert, das Gewählte in einer allgemein verständlichen Form auszudrücken. Sarujan war tatsächlich sehr irritiert, als die anderen seine zwei Bilder umgekehrt interpretierten. Als wir die Aufgabe mit dem Malen der Kehrseiten einer Medaille wiederholten, wählte er ein einfacheres Gegenteilpaar. Ich hatte den Eindruck, dass er sich diesmal sehr darum bemühte, sich so auszudrücken, dass die andern ihn verstehen konnten. Mit anderen Worten: Sarujan lernte selbst mit fremdem Blick zu sehen, um das Problem zu lösen. K: Sarujan bekam eine zweite Chance und war offensichtlich erfolgreich dabei. Wie reagierten die Anderen, z.B. die Schülerinnen und Schüler, die schon beim ersten Mal Erfolg hatten? Langweilten die sich nicht? E: Nein. Rafael war zum Beispiel schon beim ersten Mal erfolgreich. Das zweite Mal suchte er sich ein Gegenteilpaar, das wir bis jetzt nicht brauchten. Er wählte weiss und schwarz. Nebenbei bettete ich die Aufgabe in einen Quiz ein. Einige Tage vorher erklärte ich den Kindern das Wort Geheimnis. Dieser Ausdruck ist schwierig zu erklären. So nahm ich die Gelegenheit

wahr,

diesen

neuen

Begriff

anzuwenden.

Die

Kinder

wählten

ihre

Gegenteilpaare im Geheimen. Nur mir waren sie bekannt, damit ich den Kindern helfen konnte, falls nötig. Am Schluss stellten wir die gemalten Gegenteile aus, und die Schüler und Schülerinnen mussten die passenden Wörter erraten. Rafael war sehr gespannt, wie die Kinder auf sein Werk reagieren würden. Würden sie ihn überhaupt verstehen? K: Und, verstanden sie Ihn? Ich denke, weiss und schwarz zu erkennen und zu benennen ist einfach. E: Ja, aber seine Herausforderung war, etwas Neues zu finden und zu präsentieren. Es klappte. Nur ich wagte einen Ausfallschritt. Ich erweiterte seine Wahl, indem ich noch die Wörter hell und dunkel und Tag und Nacht beifügte. Dies war ein gutes Beispiel, um den Kindern zu zeigen, dass Symbole verschieden interpretiert werden können und dass verschiedene Interpretationen richtig sein können. Ich hatte den Eindruck, dass Rafael bereit war für diese differenzierte Interpretation. Er war überrascht, schien mir aber glücklich darüber zu sein. K: Ich habe den Eindruck, dass du hier den Kindern Gelegenheit gabst, das Mass der Herausforderung selbst zu setzen. E: Das ist richtig. Und im Leben der Kinder ist das etwas ganz Natürliches. Schon am ersten Tag ihres Lebens setzen sich Kinder ihre eigenen Ziele. Sie wiederholen, üben oder stellen sich neuen Herausforderungen entsprechend ihrer aktuellen Bedürfnisse und ihres Entwicklungsstandes.

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d) Der Stellenwert systematischen Lernens

K: All die bis jetzt erwähnten Lernziele sind auch Ziele des offiziellen Lehrplans (Kt. ZH). Zudem müssen die Schülerinnen und Schüler lesen und korrekt schreiben lernen. Die Schule muss bewerten und benoten. Wie handhabst du diese Anforderung? E: Es ist sehr wichtig, diese Anforderungen zu erfüllen. Die logischen und die intermodalen Herangehensweisen gehen für mich Hand in Hand. Sie widersprechen sich nicht. Der Entscheid für den einen oder anderen Ansatz ist stets eine Gratwanderung. Er ist abhängig vom Entwicklungsstand der Kinder, von der aktuellen Situation, vom Thema. K: Das erinnert mich an die Theorien von Montessori und Piaget. E: Ja, mich auch. Ihre Theorien sind grundlegend für mich. K: Kannst beschreiben, wie du die verschiedenen Ziele integrierst? E: Ich möchte zwei Beispiele nennen: Zum Beispiel notierten sich die Schülerinnen und Schüler der fortgeschrittenen Gruppe die Gegenteile, die wir brauchten. Wir bauten und schrieben mit diesen Wörtern Sätze. Piaget betonte die Wichtigkeit des Benennens von Erfahrungen. K: Ein intermodaler Transfer in die poetische Sprache? E: Ja, das kann man so sagen. Weiter lernten die Kinder diese Sätze zu lesen. Einige dieser Sätze lernten sie auswendig schreiben. Ein zweites Beispiel: In Dialogen während des Prozesses merkte ich, dass die Mehrheit der Kinder Mühe mit der korrekten Interpretation von Fragewörtern hatten. So machte ich nach Beendung des intermodalen Prozesses die Fragewörter zum Thema, und zwar in einer systematischen und direktiven Art und Weise. K: Anders gesagt: Du verknüpfst die unterschiedlichen Herangehensweisen. E: Ja. Während eines intermodalen Prozesses, wo der Dialog zentral ist, versuche ich herauszufinden, was wichtig ist, systematisch zu üben, z.B. lesen, schreiben, grammatische Übungen im Bezug zu Satzbau, Zeitformen, oder das Betrachten der Konjugation etc. K: Du hast erklärt, dass kognitives und intermodales Lernen Hand in Hand gehen. Trotzdem, bevorzugst du eine Herangehensweise und weshalb? E: Ja, denn jedes Kind soll in eingebettetem Kontext lernen. Cummins (1984) erklärt dies in eindrücklicher Weise mit seiner Figur des dualen Eisberges. Ich werde weiter hinten drauf zurückkommen (siehe S. 73). Zuallererst und zentral stehen für mich geteilte Erlebnisse, Erfahrungen. Dies können ein intermodaler Prozess, eine Begegnung mit der Natur, mit Menschen, mit Gegenständen etc. sein. Lernen durch handeln, entdecken und erfahren sind wichtig. Es bildet die Basis für jedes zukünftige Lernen.

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3.3

Drittes Beispiel: Intermodales Arbeiten Ismail Zehnjährig, aus Kosovo. Kurz vor Weihnachten 1995 kommt er zu uns in die Klasse, direkt aus Kosovo, ohne ein Wort Deutsch, gänzlich ungeschult. Schnell wird seine Stirne nass vor Schweiss. Er kann weder lesen noch schreiben noch rechnen, doch anstecken lässt er sich von den Farben, malt drauf los, auf sehr kindlicher Stufe, aber ohne Hemmung, dafür mit viel Freude. Er findet sofort Zugang zu seiner schöpferischen Kraft. Stolz stellt er seine Bilder aus, als wir eine Ausstellung machen. Neun Monate später gibt er mit seiner kindlichen Selbstverständlichkeit der Klasse eine Initialzündung. Er malt Farben: rot und gelb und orange; ein sehr dynamisches Bild. Als Rafael ihn fragt, was er denn gemalt habe, gibt er zur Antwort: „Ich habe schöne Farben gemalt.“ Auf die Frage nach dem Warum antwortet er: „Weil mir das gefällt.“ Seine Selbstverständlichkeit bewundere ich. Er schreibt zu seinem Bild einen kleinen Text. Ich muss dabei noch viel helfen. Doch langsam sind ihm die Buchstaben keine Rätsel mehr. Zu seinen Farben spielt er auf einer Kalimba warme Töne. Nachdem wir zu den Bildern oder zu Objekten auf den Bildern Musik gespielt haben, hören wir die Geschichte von Peter und der Wolf von Serge Prokofjew. Ismail ist sehr beeindruckt, dass dieser Mann dasselbe tat wie wir: Er komponierte Musik zu einer Geschichte, zu einem Bilderbuch, zu Personen, zu Tieren. Und Ismail’s Ohr erkennt die Personen und Tiere. Seine Augen leuchten, als er hört, wie die Katze auf den Baum klettert. Er nimmt die Musikkassette nach Hause, um sie dort nochmals mit seinem Vater und seiner Mutter zu hören. Nun beginnen plötzlich auch andere Kinder Ismail’s Weg der schönen Farben zu gehen. Als erster folgt ihm Rafael, nachdem wir Kunstkarten von verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern betrachtet haben. Nach dem Besuch im Kunsthaus, wo wir ein Engelbild und den Schwarzer Fleck von Kandinsky angeschaut haben, betreten auch Latifa, Jathursa, Alissa und Leyla seinen Weg. Andere folgen ebenso beharrlich Latifas Baum mit den roten Äpfeln. So entstehen viele Bäume mit roten Äpfeln und viele Bilder mit schönen Farben.

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Ausprobieren, wagen, kopieren, komponieren. Und ich denke, dass Ismail Wegbereiter gewesen ist für Vieles, was entstanden ist; Vielen hat er den Anstoss gegeben, ganz weit zurückzugehen zu den eigenen Wurzeln, und den Mut zu haben, farbige Streifen, Flecken und Punkte zu malen. Und seine Freude, sein Interesse an Farben wird immer grösser. Nie habe ich ihn forciert, gegenständlich zu malen. Und was ist mit seiner figürlichen Entwicklung passiert? Erstaunt und fasziniert betrachte ich die ausdrucksstarke Skizze seiner Maske, die eben entstanden ist.

Ismails Skizze seiner Maske

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K: Es scheint mir, dass dieses Beispiel kein in sich geschlossener intermodaler Prozess, wie das beim Maskenprojekt und bei den Gegenteilen der Fall war, darstellt. Was willst du hier aufzeigen? E: Das stimmt. Ich möchte hier weitere spezifische Auswirkungen von intermodalem Arbeiten aufzeigen. Ich bin wirklich sehr angetan vom Weg, den Ismail während seiner Zeit in meiner Klasse zurückgelegt hat. Durch die Wasserfarben gelangte er ganz schnell in Kontakt mit seinen kreativen Wurzeln. Dieses Beispiel zeigt eindrücklich, wie wichtig die Gemütspflege, die Seelenpflege ist. Stell dir vor, du bist in einem fremden Land. Du verstehst kein Wort. Die Buchstaben sind dir ein Rätsel. Alles ist ganz neu. Du durchlebst eine grosse Krise. In diesem Moment erlaubt dir die Lehrerin, etwas zu tun, egal was, solange du nichts zerstörst. Du hast Zeit um zu spielen, einfach zu sein, deinen Impulsen nachzugehen, deinen Gedanken. Gleichzeitig hast du die Möglichkeit, dich umzusehen, zu beobachten, was im Raum vor sich geht. Ich bin sicher, du würdest diesen Freiraum schätzen. K: Hattest du niemals Angst, dass ein Kind wie Ismail weder rechnen noch lesen lernen würde? Ismail hat schulisch schon sehr viel Zeit verloren. Er kam mit neun Jahren zum ersten Mal in eine Schule. Nun brauchst du wertvolle Zeit zum malen und spielen, statt diese zum rechnen, schreiben oder lesen lernen zu verwenden. E: Ich sehe das anders. Für mich ist das keine verlorene Zeit. Wegen des Umzugs in die Schweiz und weil Ismail gänzlich ungeschult war, befand er sich in einer grossen Krise. Ich denke, dass die Malerei Ismail öffnete. Er konnte dabei Angst abbauen. Zwischen Ismail und mir begann sich eine Beziehung zu entwickeln. Was er dringend brauchte war Resonanz. Sehr schnell kam er gerne zur Schule. Und das ist die Basis zum Lernen. In einer guten Atmosphäre, wo die elementaren Bedürfnisse befriedigt sind, können alle besser lernen. Das ist meine Ansicht. Gleich nach dem Interview folgt eine Grafik, die auf Maslow’s Rangordnung der Bedürfnisse basiert, die meine Ansicht stützt. K: Das leuchtet mir ein. Wann setzte nun aber der schulische Lernprozess ein? E: Bereits am ersten Schultag begannen wir mit dem schulischen Lernen, sanft und ohne Druck. Das Anstreben und Erreichen von messbaren schulischen Zielen ist aus meiner Sicht genau so wichtig, v.a. für Kinder mit grossem Bildungsdefizit wie Ismail. So erlangen sie Vertrauen in ihre schulischen Fähigkeiten, ein wichtiger Motor für ihr weiteres Leben. K: Wie hat sich Ismail im Laufe der Zeit bei dir entwickelt? E: Mit der Zeit wurde Ismail ein tragendes Glied der Klasse. Er lernte lesen, schreiben und rechnen. Und er liebt diese kognitiven Fächer ebenso. Nun besucht er eine Regelklasse. Seine kognitiven Leistungen sind, im Vergleich mit anderen, immer noch schwach, doch seine Fortschritte liegen etwa im Durchschnitt. Und persönlich ist er erstarkt. K: Du sagst, dass Ismail ein tragendes Glied der Klasse wurde. Du beschreibst in Ismail’s Porträt seinen Ansporn, seinen Einfluss auf Andere. Du beschreibst, wie die Kinder durch ihn, durch Latifa, durch andere inspiriert wurden. Austausch und Inspiration scheinen mir in deiner Arbeit wichtig zu sein.

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E: Ja, für die Entwicklung der Sozialkompetenz, der Ich-Stärke und der Identität ist das sehr wichtig. Die Schülerinnen und Schüler erforschen und erfahren Neues, Ungewohntes. Das erweitert und bereichert ihren Erfahrungsschatz, ihre Identität. Soziale und persönliche Entwicklung passiert in und durch Begegnung, Austausch und gegenseitige Inspiration. Ich hatte ganz stark den Eindruck, dass sich die Klasse als Ganzes entwickelt hat. K: Du brachtest die Kinder in Kontakt mit Werken von berühmten Künstlern und Künstlerinnen. Welchen Stellenwert nimmt das in deiner Arbeit ein? E: Ich würde das liebend gern noch häufiger tun, doch einmal ist besser als nie. Damit möchte ich den Kindern zeigen, dass das, was sie tun, nicht etwa kindisch sei. Das ist ein wichtiger Grund für solche Begegnungen. Sie sollen erkennen, dass das, was sie tun, in einem umfassenden kulturellen Zusammenhang steht. Es soll den Wert ihres Schaffens erhöhen. Gleichzeitig ermutige ich die Kinder, indem ich ihnen aufzeige, dass sie als Kinder ja erst am Anfang ihrer schöpferisch künstlerischen Entwicklung stehen. K: Du beschreibst die Reaktionen von Ismail und der anderen Kinder sehr positiv. E: Ich denke, dass eigentlich alle irgendwie durch diese Begegnungen inspiriert wurden. Es war für sie schön zu sehen, dass Berühmtheiten dasselbe wie sie tun. Wie schon erwähnt gaben Rafael die Farben von Paul Klee einen Impuls. Jananij, ein tamilisches Mädchen, liess sich durch eine Taube von Pablo Picasso inspirieren. Es faszinierte sie, dass die Taube mit nur fünf Strichen gezeichnet war. Sie kopierte sie viele Male. Im Unterschied zu Picassos Taube entwickelten sich ihre Tauben zu sehr dynamischen Vögeln. Seit jener Begegnung tauchen diese Vögel in fast all ihren Bildern auf. K: Das gefällt mir. E: Zum Abschluss möchte ich noch eine Begebenheit aus dem Kunsthaus erzählen: Vor dem Besuch im Kunsthaus spielten wir zu Bildern Musik. Wir malten zur aufgenommenen Musik nochmals neue Bilder. Im Kunsthaus führte uns die Museumspädagogin zum Bild Schwarzer Fleck von Wassily Kandinsky. Dort fragte die Pädagogin die Kinder, was sie auf dem Bild sehen würden. Sarujan rief ganz spontan: „Das ist Musik!“ Die Museumspädagogin war sehr erstaunt über diese Antwort. So etwas hatte sie nie erwartet. Aber sie akzeptierte diese Antwort und freute sich darüber. Schade, dass wir unsere Instrumente nicht mitgebracht hatten. Dieses Werk von Kandinsky könnte tatsächlich eine Partitur sein. Ich selber würde sehr gerne Musik dazu spielen.

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Befriedigung der Bedürfnisse Die Befriedigung elementarer Bedürfnisse sind Voraussetzung für erfolgreiches Lernen. Maslow unterscheidet in seiner Rangordnung der Bedürfnisse sechs Bedürfnisgruppen. Nodari (1989) hat diese in folgender Grafik zum Ausdruck gebracht:

Grafik 2: Rangordnung der Bedürfnisse (nach Maslow) (Nodari 1989, S. 40)

Bedürfnisse nach Wissen und Verstehen Selbstverwirklichungsbedürfni sse Wertschätzungsbedürfnisse Liebe- und Zugehörigkeitsbedürfnisse Sicherheitsbedürfnisse körperliche Bedürfnisse

Nodari (1989) weist auf wichtige Fakten hin, die explizit auch in der Schule zu berücksichtigen sind: Je besser die grundlegenden Bedürfnisse (körperliche Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, Liebe- und Zugehörigkeitsbedürfnisse, Wertschätzungsbedürfnisse) befriedigt sind, desto mehr verringern sie sich. Andererseits wachsen die Bedürfnisse nach Wissen und Verstehen und die Selbstverwirklichungsbedürfnisse, je mehr diese genährt sind. Bedürfnisse auf höherem Niveau entwickeln sich nur, wenn die tiefer liegenden Bedürfnisse befriedigt sind. Nodari schreibt: „Ebenso setzt erfolgreiches Deutschlernen voraus, dass sich die Kinder in ihrer Umgebung wohl und sicher fühlen und als vollwertige Klassenmitglieder anerkannt und geschätzt werden“ (S.40). Das Porträt von Ismail soll beispielhaft die Wichtigkeit der Befriedigung der elementaren Bedürfnisse aufzeigen und hervorheben. Es soll illustrieren, dass diese Befriedigung Voraussetzung ist, damit sich die Selbstverwirklichungsbedürfnisse und die intellektuellen Bedürfnisse entwickeln können.

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3.4

68

Förderung der Sprachentwicklung - ein Resümee

Zur Abrundung der drei Beispiele aus der Praxis fasse ich Punkte, welche für die sprachliche Entwicklung und den Zweitspracherwerb wichtig sind, in folgenden vier Kategorien zusammen: Im Dialog sein mit sich selbst, mit Anderen, mit der geschriebenen Sprache und mit der formalen Sprache. Im Dialog mit sich selbst Beim Spielen und Malen, auf der Suche nach Lösungen fliessen Gedanken, werden Fragen gestellt, alte und neue Lieder gesummt oder gesungen - allein, in Kontakt mit der inneren Stimme, beschäftigt mit sich selbst. Ein wichtiges Ziel ist damit erreicht: Die eigenen inneren Geschichten und Dialoge sollen lebendig bleiben. Kein Kind soll, weil es die Umgangssprache nicht kennt, auch noch innerlich verstummen. Denn wo Sprache ist, ist auch noch Hoffnung. Zweimal befragte ich die Kinder über ihren inneren Dialog, wobei jedes Kind von mir einzeln interviewt wurde. Die erste Befragung fand während einer Lektion, in der die Kinder Mandalas bemalten, statt. Ich stellte sieben Kindern folgende drei Fragen:



„Denkst du beim malen?“ Fünf Kinder beantworteten die Frage mit „ja“. Ein Kind verneinte, und eines antwortete: „Manchmal“.



„Denkst du in deiner Muttersprache oder auf Deutsch?“ Ein Kind erwähnte Deutsch, vier Kinder meinten, sie würden in ihrer Muttersprache denken, ein Kind wusste es nicht.



„Was denkst du?“ Alle sechs Kinder konnten eine Antwort geben: „Ich mache das gern“ (Anmerk. Mandala malen). „Wenn ich einmal gross bin, werde ich schön malen können.“ „Ich habe über Farben nachgedacht.“ „Ich habe gedacht, dass sich mein Mandala wie eine Spirale dreht.“ „Ich habe gedacht, dass es schön wird.“ „In der Handarbeit habe ich etwas Ähnliches gemacht.“

Die zweite Befragung war nach der Maskenaufführung. Wiederum stellte ich sieben Kindern drei Fragen: –

Hast du während deiner Aufführung gedacht?“ Alle Kinder bejahten die Frage.



„Hast du in deiner Muttersprache oder auf Deutsch gedacht?“ Drei Kinder erwähnten die Muttersprache, zwei Deutsch, und eines meinte, es habe in beiden Sprachen gedacht. Ein Knabe gab zur Antwort: „Ich habe in einer Sprache gedacht, die es gar nicht gibt. Ich meine, es gibt sie schon, nämlich in mir drin.“



„Was hast du gedacht?“ Drei Kinder wussten es nicht mehr. Die Anderen gaben zur Antwort: „Ich sagte zu mir: Spiele, spiele, spiele ....“. „Ich fragte mich, ob ich ein anderes Leibchen

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brauchen würde. Und: Ich muss gut spielen.“ „Ich habe gedacht, dass ich es nicht kann und alle lachen. Und weiter habe ich gedacht, dass ich keine Angst haben muss. Dass es kein Problem ist, denn ich werde nicht sterben.“ „Ich dachte, dass mein Salto gut war. Und, dass ich das Spiel liebe.“

Die Schülerinnen und Schüler brauchen beim Spielen und Malen also Sprache. Und welche Sprache das ist, ist hier nicht entscheidend. Entscheidend sind die unmittelbaren, primären Erfahrungen, die wichtige Sprachentwicklungen und Entwicklungen in anderen Bereichen erst ermöglichen. Im Dialog mit Anderen Sprache wird in all den ungezählten Dialogen während der Arbeit, über die Arbeit, in Pausengesprächen, beim Fragen um Hilfe und Feedback, beim Empfangen von Anweisungen etc. gebraucht und angewendet. Neues Vokabular wird erworben beim Gebrach von neuem Material, neuen Werkzeugen, bei Diskussionen über die Arbeit. Sprache wird hier in einem äusserst authentischen Rahmen gebraucht und geübt. Im Dialog mit der geschriebenen Sprache Während des Prozesses schrieb Ismail einen kurzen Text zu seinem Bild Schöne Farben. Zuerst machte er einen Entwurf. Diesen Entwurf übersetzte ich in korrektes Deutsch. Darauf kopierte er den Text in seiner schönsten Handschrift auf ein farbiges Blatt, das er hinterher an sein Bild klebte. Zu Hause lernte er seinen Text lesen. Am nächsten Tag präsentierte er Bild und Text vor der ganzen Klasse. Zusätzlich zu seinem eigenen Text las er noch die Texte der anderen Schülerinnen und Schüler. Das ist nur ein Beispiel, wie die schriftliche Sprache einbezogen und geübt werden kann. Weitere Möglichkeiten bieten z.B. das Verfassen von Tagebüchern oder Arbeitsjournalen, das Lesen von Texten aus früheren Klassen usw. Im Dialog mit der formalen Sprache Die vielen Dialoge während eines intermodalen Prozesses lassen erkennen, wo einzelne Kinder oder eine ganze Gruppe signifikante Defizite aufweisen, die zur Bearbeitung und Vertiefung aufgegriffen und in formales Training übergeführt werden können. So werden entsprechend der Situation und den Zielsetzungen für die Kinder relevante und ihrem Niveau angepasste Lerneinheiten eingefügt werden. Dies können grammatische Themen sein, Üben der Rechtschreibung, Lesetraining, Aufbau und Gliederung eines Textes und Vieles mehr.

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70

4 Übersicht über rahmengebende Theorien

4.1

Der kunstorientierte Ansatz

Kunst ist ihrer selbst willen wichtig und soll als Solches ihren Stellenwert in der Schule einnehmen. Im eigenen gestalterischen Ausdruck stösst der Mensch dabei stets wieder an Grenzen seiner Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Hier sind geduldiges Führen, Arbeiten nach Anleitung und das Üben grundlegend. In der intermodalen Methode sind andere Aspekte der künstlerischen Entwicklung zentral. Wenn Kunst im Sinne der intermodalen Methode angewandt wird, so ist dabei zu beachten, dass nicht das Erlernen von speziellen künstlerischen Fertigkeiten im Vordergrund steht. Knill (1979) begründet das folgendermassen: „Wie Piaget (1970) zeigt, entwickeln sich organische Muster immer von diffusen zu differenzierteren... Die Entwicklung zu immer differenzierteren Operationen beruht auf dem Prinzip von Akkomodation und Assimilation.... Piaget zeigt, dass ein Austauschprozess zwischen Akkomodation und Assimilation optimales Lernen ermöglicht. Sicher gilt dies auch für Entwicklung von Operationen der Empfindungen“ (S. 26 - 27). Das erste und grundlegendste Ziel ist gemäss Knill (1979) die Entwicklung der Sensibilität, d.h. die Entwicklung der Wahrnehmungskompetenz und der Ausdrucksfähigkeit. Die Kinder müssen in ihren Fähigkeiten des differenzierten Hörens, Sehens, Berührens und Bewegens geschult werden. Sie müssen eine erhöhte Sensibilität für die spezifischen Qualitäten und Charakteristika der unterschiedlichen Materialien erlangen. Jedes Erforschen, jede Erfahrung mit einem bestimmten Material führt zu einer verfeinerten Differenzierung. Knill (1979, S. 52) unterscheidet vier Kategorien zur Differenzierung von Wahrnehmung und Ausdruck: –

I A: Die Klassen des Ausgangsmaterials (z.B. Wolle; oder Geräusche durch die menschliche Stimme).



I B: Die Qualitäten des Ausgangsmaterial (z.B. dick, gezwirnt, rot; oder laut, durchdringend, kurz).



II A: Charakteristik der Struktur (z.B. dicht, gestrickt; oder schneller Rhythmus, ineinander gehende Stimmen).



II B: Form der Struktur (z.B. symmetrisch aufgeteilt, auf einen Körper passend; oder Abschnitte, der letzte ist die Wiederholung des ersten, alle anderen sind Variationen).

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71

Knill (1979) schreibt dazu: „Künstlerische Tätigkeit innerhalb von I A (Ausgangsmaterial, Klassen) und I B (Qualität) benötigen keine aussergewöhnlichen Handfertigkeiten und öffnen das künstlerische Konzept im Hinblick auf mehr Kompetenz im Ausdruck“ (S. 53). Weiter postuliert er, dass die Fähigkeit zur Differenzierung innerhalb I A und I B grundlegend ist für die Fähigkeit zur Differenzierung innerhalb von II A und II B. Um Zugang zu Inhalt und Bedeutung von Werken zu erlangen, sind fundamentale Erfahrungen in allen dieser vier Bereichen unumgänglich. Da die Kategorien I A und I B grundlegend und deshalb vorerst viel wesentlicher als die Kategorien II A und II B für die Arbeit mit Immigrantenkindern sind, möchte ich die Erstgenannten im Folgenden für die Kunstbereiche Musik, visuelle Künste und Bewegung genauer darlegen. Es ist sehr hilfreich, den Fokus auf diese elementaren Kategorien zu richten. Wie ich schon weiter vorne dargelegt habe, soll fortgesetztes Explorieren in diesen Basisbereichen den Kindern helfen, ihre inneren Wurzeln zu finden und ihre früheren Erfahrungen im Heimatland mit den Erfahrungen in der neuen Heimat zu verbinden. Exploration in den grundlegenden Kategorien korrespondiert mit dem natürlichen Entwicklungsprozess und hilft den Kindern, ihre Fähigkeiten der Wahrnehmung und Differenzierung zu entwickeln. Und dies führt letztendlich zu kognitivem Verstehen.

Musik - Kommunikation durch Schall (Knill S. 55 - 56): Das Material, durch Welches sich Musik ausdrückt, besteht aus Schall und Stille. Dieses Material kann gemäss der Klasse oder Qualität eines Schalls weiter differenziert werden. –

I A: Klassen des Klangmaterials: Geräusche, Klänge, Töne, Mischungen etc.



I B: Eigenschaften des Klangmaterials: Lautstärke (laut - leise), Klangfarbe (dunkel, hell, rauh, dumpf, metallisch), Tonhöhe (hoch - tief), Zeit (Dauer der Klänge, Abstand zwischen den Klängen), Raum (wo die Töne herkommen)

Visuelle Kunst - Kommunikation durch Bilder (Knill S. 62 - 63): Das Material, mit dem sich die visuelle Kunst ausdrückt wird entsprechend ihrer Klassen und Qualitäten unterschieden. –

I A: Klassen von Materialien: Holz, Stein, Papier, Plastik, Metall etc., Lehm, Draht etc., Pflanzen, Tiere, Wasser, Feuer etc., Farben, Bleistift, Tinte etc.



I B: Qualitäten der benützten Materialien: Farbe, Helligkeit, Textur, Umriss, Gestalt, Grösse etc.

Tanz - Kommunikation durch Bewegung (Knill S. 68 - 70): Die folgende Aufgliederung zeigt eine Möglichkeit, Bewegungsstrukturen, die mit der Entwicklung der sensomotorischen Intelligenz zusammenhängen, zu differenzieren. –

I A: Quellen der Bewegung: Körperteile (Hände, Füsse, Kopf, etc.), Art der Bewegung (gehen, springen, atmen etc.), Requisiten (Bälle, Tücher etc.)

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72

I B: Qualität der Bewegung (nach Laban): Anstrengung (frei, gebunden, leicht, durchgehalten, stark, plötzlich, indirekt, direkt etc.), Figur (körperorientierte Figur, umgebungsorientierte Figur, prozessorientierte Figur etc.)

In der Arbeit mit meinen Schülerinnen und Schülern habe ich festgestellt, dass meine häufigste Aufforderung etwa so tönt: „Spiele, spiele einfach, spiele mit den Farben, mit dem Lehm, auf dem Instrument, wenn du dich, deine Arme, deinen Kopf drehst. Lass die Maske auf der Bühne spielen etc.“ Gleichzeitig spielte auch ich. Ich war Vorbild für die Kinder. Ich spielte jedoch nicht in kindischer Weise. Ich spielte so wie es mir gerade persönlich beliebte, gemäss meinen inneren Impulsen, mit Lehm, mit Farben, mit Bewegungen etc. Eine Möglichkeit, tiefere Erfahrungen zu machen, ist die Einschränkung. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass ich den Kindern nur zwei Farben und schwarz oder weiss gebe. Bald schon beginnen die Kinder, diese Farben zu mischen. Dabei finden sie viele verschiedene Farben, die sich sehr nahe sind, aber doch verschieden. Sie fangen an, sich über ihre Mischerfahrungen zu unterhalten. Mit der Zeit wird das Schulzimmer zu einem echten Farblabor. In der Arbeit mit Musik muss ein spezielles Augenmerk auf die Wahl der Instrumente gelegt werden. Geeignet für die Arbeit in den Kategorien I A und I B sind alle rhythmischen Instrumente und viele Melodieinstrumente mit fixierten Tonfolgen wie z.B. Klavier, Psalter, Xylophon, Handorgel etc. Weniger geeignet sind Melodieinstrumente mit nicht fixierten Tonfolgen, d.h. fast alle Saiten- und Blasinstrumente. Diese Instrumente verlangen gewisse technische Fertigkeiten und können ungeschulte Kinder leicht frustrieren. Malen, zeichnen und schreiben sind Medien, die hauptsächlich die Individuation fördern. Musik unterstützt vor allem die Sozialisation, während Bewegung, Tanz und Theater beides begünstigt, sowohl die Individuation wie auch die Sozialisation (Knill et al. 1995). Bei Klassen, die mit der intermodalen Methode noch nicht bekannt sind, empfehle ich einen Einstieg in kleinen Portionen. Die Schülerinnen und Schüler müssen die Arbeitsmethode erst kennen lernen und mit ihr vertraut werden, um Sicherheit zu gewinnen. Wiederholungen in Variationen helfen, die neue Methode zu festigen. Ebenfalls ist es äusserst wichtig, Rahmen und Regeln in klarer Weise zu setzen (siehe S. 34), um den Kindern Halt zu bieten, damit sie sich aufs Wesentliche konzentrieren können. Oft fallen die Produkte nicht den üblichen ästhetischen Erwartungen entsprechend aus. Die Lehrkräfte sind hier gefordert, ihre Massstäbe zu überprüfen und die Werke mit neuem Blick entsprechend den Zielen der intermodalen Methode zu betrachten.

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4.2

73

Der doppelte Eisberg bilingualer Fähigkeiten und Fertigkeiten

Wie schon erwähnt, wirkt die intermodale Methode nicht nur auf der sicht- und messbaren Ebene. Die intermodale Methode ist eine sehr ganzheitliche Methode, welche die Entwicklung von verschiedenen Aspekten und Seiten eines Kindes oder einer erwachsenen Person begünstigt. So fördert die intermodale Methode auch die Entwicklung von tiefer liegenden sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Metapher des „doppelten Eisberges“ [Orig. Englisch: „dual iceberg”], die Cummins (1984) einführte, veranschaulicht den Hauptbereich des Wirkens der intermodalen Methode, nämlich den des tiefer liegenden und deshalb weniger sicht- und messbaren Leistungsvermögens und Könnens. Cummins’ Erkenntnisse und Argumente basieren einerseits auf eigenen Forschungen und andererseits auf Forschungen in Kanada, USA, Südafrika und Europa. Cummins (1984) hat festgestellt, dass Schülerinnen und Schüler mit anderer Muttersprache als Englisch

erheblich

länger

brauchen,

um

dieselben

schulischen

Leistungen

wie

ihre

Mitstudierenden Englischer Muttersprache zu erbringen, als sie normalerweise brauchen, um fliessend ein persönliches Alltagsgespräch führen zu können. Was ist es nun, das diese Schülerinnen und Schüler daran hindert, entsprechend ihren Kommunikationsfähigkeiten auch adäquate schulische Leistungen und/oder Testergebnisse zu erbringen? Cummins (1984) verweist auf Shuy, der die Metapher des Eisberges einführte, um den Unterschied zwischen der Oberflächenstruktur, also den sichtbaren, quantifizierbaren, formalen Aspekten der Sprache ( z.B. Aussprache, Basiswortschatz, Grammatik) und der Tiefenstruktur, den weniger sicht- und messbaren Aspekten, die sich mit Semantik und funktionalen Bedeutung befassen, zu zeigen. Das erste wurde definiert als „die Manifestation von sprachlicher Fertigkeit in Kontext

bezogenen

Alltagskommunikationen“

(alltägliche

interpersonale

Kommunikation),

während unter dem Zweiten die „Handhabung von Sprache in nicht Kontext bezogenen schulischen Situationen“ (kognitives sprachliches Leistungsvermögen) verstanden wird. Cummins (1984) betont, dass die meisten Sprachlehrkräfte, egal ob sie die Erst- oder die Zweitsprache unterrichten, versuchten, die funktionalen oder kommunikativen Fertigkeiten zu entwickeln, indem sie sich auf das Sichtbare konzentrierten, unbeachtet der Tatsache, dass sich Sprache von Sprach- und Kommunikationsfunktionen der Tiefenstruktur hin zu den sichtbaren Formen der Oberflächenstruktur entwickelt.

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74

Grafik 3: Der Eisberg mit seinen verschiedenen Sprachstandsebenen (nach Cummins 1984, S. 138)

KOGNITIVER PROZESS

Oberflächenstruktur: Kommunikationsfähigkeit; beobachtbare Sprachprodukte

SPRACHLICHER PROZESS

Wissen

Aussprache

Verständnis

Wortschatz

Anwendung

Grammatik

Analyse Synthese Auswertung

Tiefenstruktur: Kognitiv/ schulische Sprachfähigkeiten

Semantische Bedeutung Funktionale Bedeutung

Die von Shuy übernommene und leicht angepasste Metapher des Eisberges zeigt den Unterschied zwischen der interpersonalen Kommunikationsfähigkeit und dem kognitiven sprachlichen Leistungsvermögen. Cummins (1984) bezieht sich im folgenden auf diesen Eisberg, wenn er schreibt: „Das Wichtigste, was diese Differenzierung zwischen der interpersonalen Kommunikationsfähigkeit und dem kognitiven sprachlichen Leistungsvermögen veranschaulicht ist, dass die bisher vernachlässigten Aspekte von Sprachfertigkeit beträchtlich wichtiger für die kognitiven und akademischen Fortschritte von Studierenden sind als die sichtbaren Fertigkeiten an der Oberfläche, auf welche sich die Lehrkräfte landläufig konzentrieren. Und dieser Mangel an Bewusstsein seitens der Lehrkräfte in Bezug dieser Unterschiede kann für Studierende mit nicht Englischer Muttersprache höchst bedauerliche Konsequenzen haben“ (S. 137 - 138; Übersetzung durch Autorin). Wie bereits erwähnt, sind die sprachlich kommunikativen Fähigkeiten Fremdsprachiger normalerweise viel höher als deren kognitiv schulischen Fähigkeiten. Die Schülerinnen und Schüler erwerben ihre kommunikativen Fähigkeiten in der Regel in eingebettetem, authentischem Kontext, mehrheitlich in der Alltagswelt ausserhalb des Schulraumes. Andererseits werden in der Regel die meisten linguistischen und schulischen Inhalte abstrakt vermittelt, d.h. in nicht oder nur wenig Kontext bezogenen Zusammenhängen. Cummins (1984) weist auf Untersuchungen von Donaldson hin, die Beziehungsaspekte zwischen Sprachstand und akademischer Entwicklung beleuchten. Darin streicht Donaldson (in Cummins 1984) heraus, „dass der Denkprozess von Kleinkindern und deren Sprachgebrauch sich in einem

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

75

fliessenden bedeutungsvollen Zusammenhang entwickelt. Darin ordnet sich die Logik der Wörter und die hervorstechenden Ereignisse der entsprechenden Situation unter die wahrgenommene Absicht der sprechenden Person. Auf diese Art und Weise sind die normalen und fruchtbaren Gespräche der Kinder (und der Erwachsenen) in einen Kontext mit ziemlich direkten Zielen, Absichten und vertrauten Ereignismustern eingebettet. Jedoch fordern Denken und Sprache, die über die Grenzen eines bedeutsamen und interpersonalen Zusammenhangs gehen, vom Individuum etwas ganz anderes“ (S. 140; Übersetzung durch Autorin). Es gibt nun zwingende Beweise, dass Kinder weit höhere kognitive Leistungen erbringen können, wenn die Aufgaben in eingebettetem oder menschlich sinnvollem Zusammenhang präsentiert werden. So ist es eine Tatsache, dass ein unnötiges Nichteinbetten schulischer Aufgaben in ausserschulische Erfahrungen vor allem in den ersten Schuljahren, und zwar unabhängig vom Alter der Schülerinnen und Schüler, zu signifikanten schulischen Schwierigkeiten beiträgt. Cummins (1984) kommt zum Schluss, dass das gleiche Prinzip auch für den Unterricht in der Zweitsprache seine Gültigkeit hat. „Je Kontext bezogener der anfängliche Input in der Zweitsprache ist, desto verständlicher wird er, und, paradoxerweise, desto erfolgreicher ist letztendlich die Entwicklung der Zweitsprache in Kontext reduzierten Situationen. Ein zentraler Grund, weshalb Schülerinnen und Schüler mit anderer Muttersprache als Englisch oft dabei scheitern, ein hohes schulisches Leistungsniveau in der Zweitsprache zu erreichen, besteht darin, dass im Anfangsunterricht die Betonung auf Kontext reduzierter Kommunikation lag“ (S. 141; Übersetzung durch Autorin). Cummins (1984) beschreibt die Interdependenz der Erst- und Zweitsprachen bezüglich ihrer kognitiven schulischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die er „gemeinsame zugrunde liegende Fähigkeiten“ [common underlying proficiency] nennt. Dabei greift er auf die Eisbergmetapher zurück, welche er, um die bilingualen Fertigkeiten darzustellen, zu einem „doppelten Eisberg“ weiter entwickelt hat, in welchem die gemeinsamen, sich sprachlich überkreuzenden Fähigkeiten den offensichtlich verschiedenen spezifischen Merkmalen beider Sprachen zugrunde liegen. Cummins (1984) schreibt: „Das Prinzip der Interdependenz von gemeinsam zugrunde liegenden Fähigkeiten impliziert, dass eine Erfahrung, in welcher Sprache sie auch immer gemacht wird, die Entwicklung der Fähigkeiten im Bereich, der beiden Sprachen gemeinsam zugrunde liegt, fördern kann, wenn beiden entsprechende Motivation und Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, sowohl in der Schule wie auch im weiteren Umfeld“ (S. 143; Übersetzung durch Autorin).

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76

Grafik 4: Der doppelte Eisberg bilingualer Fähigkeiten und Fertigkeiten (nach Cummins, 1984, S. 143)

Spezifische Merkmale der Erstsprache

Spezifische Merkmale der Zweitsprache

Gemeinsame zugrunde liegende Fähigkeiten

Einige Bespiele sollen der Veranschaulichung dienen. Hat sich ein Kind z.B. die Fähigkeit erworben, die griechische Schrift lesen und schreiben zu können, so hat es nur noch die lateinischen Buchstaben zu lernen, um dieselbe Fertigkeit auch in der Deutschen Sprache anwenden zu können. Für ein Tamilisches Kind, alphabetisiert in der Tamilischen Silbenschrift, sind die Gemeinsamkeiten schon kleiner, aber sie sind noch vorhanden. Es hat gelernt, Wörter und Sätze in Symbole umzusetzen und diese wieder zu dekodieren. Das unterscheidet ein Kind von einem, das noch in keiner Schrift alphabetisiert ist. Hat ein Kind in einer Sprache gelernt, eine Pflanze genau zu beobachten und das Beobachtete zu protokollieren, hat es gelernt eine Geschichte zu verfassen, eine Textaufgabe zu interpretieren und in Operationen umzusetzen, hat es gelernt zu differenzieren und Zusammenhänge herzustellen usw., so stehen ihm all diese Fähigkeiten grundsätzlich auch in jeder anderen Sprache zur Verfügung. Die Fähigkeit, eine schulische Aufgabe zu bewältigen ist also bei Weitem nicht allein abhängig vom linguistischen Leistungsvermögen in Bezug der Grammatik oder des Wortschatzes in der einen oder anderen Sprache. Aber eine gute Kenntnis der Grammatik und ein grosser Wortschatz erleichtern die Arbeit sehr. Schulischer Erfolg jedoch erfordert die Fähigkeit zu analysieren, Synthesen herzustellen, zu evaluieren und Strategien zur Umsetzung und zum Handeln zu entwickeln. Cummins (1984) plädiert für bilinguale Schulprogramme. Untersuchungen zeigten, dass solche Schulen nicht nur zum Vorteil intelligenter Kinder sind. Dazu zitiert Cummins Malherbe (1969, in Cummins 1984): „Sie verbessern sich nicht nur in ihrer Erstsprache (im Vergleich zu Kindern mit demselben IQ in monolingualen Klassen), ihre Verbesserung in der Zweitsprache war annähernd doppelt so gross wie diejenige intelligenterer Kindergruppen.“ (S. 146) Die Forderung nach bilingualen Schulen ist in unserer Situation, wo die Kinder mehr als vierzig Sprachen sprechen, kaum zu erfüllen. Aber wir können die gemeinsam zugrunde liegende Sprachen, die künstlerischen Sprachen, zu Hilfe nehmen und anwenden. Eine Schülerin nannte einst die Körpersprache „unsere Weltsprache“.

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77

Cummins fordert die eingebettete Vermittlung von schulischem Wissen und Fertigkeiten. Das bedeutet, dass die Lehrkräfte in hohem Masse auch die Entwicklung der tiefer liegenden, weniger sichtbaren Fertigkeiten und Fähigkeiten einzubeziehen und zu fördern haben. Da sich Sprache ausgehend von den tiefer liegenden Funktionen hin zu den sichtbaren Funktionen an der Oberfläche entwickelt, bilden die tiefer liegenden Funktionen die Basis für jede Sprache, die ein Mensch lernt und lernen wird. Lehrkräfte können diese Erkenntnis der Interdependenz der Erstund Zweitsprachen nutzen. Sie haben den Unterricht darauf aufzubauen und die Lernenden in diesen tiefer liegenden Bereichen zu unterstützen. Die intermodale Lernmethode, so wie ich sie in den drei vorangehenden Beispielen dargestellt habe, wird dieser Forderung gerecht. Der Einbezug der tiefer liegenden Bereiche gehört zu ihren Grundanliegen und deren Entwicklung zu den wichtigen Lernzielen. Entwicklung von schulischem Denken und Lernen findet eingebettet und unabhängig des Deutschen Sprachstandes statt. Die Kinder lernen viel mehr als nur Deutsch, wie wir in den Beispielen gesehen haben. Gegenwärtige Strömungen plädieren für den Immersionsunterricht. Dabei sollen Fächer in einer Fremdsprache unterrichtet werden, um diese zu erlernen, zu vertiefen und zu verankern. Der Sinn liegt darin, dass die Schülerinnen und Schüler die Sprache eingebettet anwenden und gebrauchen lernen. Auch hier wird am gemeinsam zugrunde Liegenden gearbeitet, deshalb zeigen die daraus resultierenden Kompetenzen Wirkung in allen Sprachen. Was ich hier in diesem Buch für die Arbeit mit Fremdsprachigen darlege, hat bestimmt auch im Immersionsunterricht seine Gültigkeit, denn die Arbeit mit Fremdsprachigen in einem Kontext wie meinem ist Immersionsunterricht, nur dass fremdsprachige Schülerinnen und Schüler mehrheitlich auf den muttersprachlichen Unterricht verzichten müssen.

4.3

Die Rahmentheorie der multiplen Intelligenzen

Die Theorie der multiplen Intelligenzen wurde anfangs der Achtzigerjahre von Howard Gardner eingeführt. Gardner (1993a) erweitert unsere gewohnte Sichtweise der Bedeutung der Begriffe Intellekt und Intelligenz und formuliert sie neu. Aufgrund

vieler

Hirngeschädigte,

verschiedener idiots

savants,

Quellen normale

wie

„Studien

Kinder,

über

normale

Wunderkinder,

Erwachsene,

Begabte,

Experten

auf

verschiedenen Gebieten und Angehörige verschiedener Kulturen“ (S. 22) und basierend auf acht spezifischer Kriterien, die eine Intelligenz aufzuweisen hat um als Intelligenz zu gelten, definiert Gardner (1994) sieben verschiedene Intelligenzen: Die linguistische Intelligenz, die musikalische Intelligenz, die logisch-mathematische Intelligenz, die räumliche Intelligenz, die körperlichkinästhetische Intelligenz, die interpersonale Intelligenz und die intrapersonale Intelligenz. Gardner (1994) weist darauf hin, dass durchaus noch mehr Intelligenzen dazu stossen könnten. In einem Vortrag, den er 1996 in St.Gallen in der Schweiz gab, stellte er zwei neue Kandidaten vor, die er

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

78

damals am Erforschen war: Eine naturalistische Intelligenz und eine existentielle Intelligenz, wobei er die Erstere unterdessen als definitiv erklärt hat.

Linguistische Intelligenz

Die Fähigkeit, Sprache treffsicher einzusetzen, um eigene Gedanken auszudrücken und zu reflektieren, sowie die Fähigkeit, andere zu verstehen.

Musikalische Intelligenz

Die Fähigkeit, in Musik zu denken, musikalische Rhythmen und Muster wahrzunehmen, zu erkennen, umzuwandeln und sie wiederzugeben.

Logisch-mathematische Intelligenz

Die Fähigkeit, mit Beweisketten, mit Zahlen und Mengen umzugehen.

Räumliche Intelligenz

Die Fähigkeit, Visuelles richtig wahrzunehmen und damit im Kopf zu experimentieren, sowie sich die Welt räumlich vorzustellen.

Körperlich-kinästhetische Intelligenz

Die Fähigkeit, seinen ganzen Körper oder Teile davon geschickt einzusetzen.

Intrapersonale Intelligenz

Die Fähigkeit, Impulse zu kontrollieren, eigene Grenzen zu kennen, mit den eigenen Gefühlen konstruktiv umzugehen, eigene innere Zusammenhänge zu erkennen.

Interpersonale Intelligenz

Die Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen und mit ihnen einfühlsam zu kommunizieren; die Fähigkeit, Menschen zu führen.

Naturalistische Intelligenz

Die Fähigkeit, Lebendiges zu beobachten, zu unterscheiden und zu erkennen sowie eine Sensibilität für Naturphänomene zu entwickeln.

Existentielle Intelligenz

Die Fähigkeit, die wesentlichen Fragen unseres Daseins zu erkennen und Antworten dazu zu formulieren. (noch nicht definitiv erklärt)

Tabelle 3: Die multiplen Intelligenzen I (nach Huser 1999; S. 6)

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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Gardner (1993a) unterscheidet nicht zwischen Intelligenz und Talent, jedoch zwischen Intelligenzen, Domänen und Feldern. Er schreibt: „Auf der Ebene des Individuums ist es angebracht, über eine oder mehrere menschliche Intelligenzen oder menschliche intellektuelle Schwächen als Teil unseres Geburtsrechtes zu sprechen. Diese Intelligenzen können in neurobiologischen Begriffen erfasst werden. Menschen werden in Kulturen hinein geboren, die viele Domänen umfassen - Fachrichtungen, Gewerbe und andere Tätigkeitsfelder, in welche die Individuen eingeführt und weiter entsprechend ihrer erlangten Kompetenzen beurteilt werden. Obwohl die Domänen eng mit Menschen verbunden sind, muss man sie sich selbst als unpersönliche Gefässe vorstellen“ (S. xvi). Domänen sind also kulturelle Tätigkeiten wie zum Beispiel der Beruf eines Juristen, einer Juristin, einer Lehrerin, eines Lehrers. Jede Domäne erfordert eine Reihe verschiedener Intelligenzen. Zum Beispiel benötigt eine Tänzerin neben ihrer körperlich-kinästhetischen Intelligenz weitere Intelligenzen wie z.B. die musikalische Intelligenz und die persönlichen Intelligenzen. Andererseits ist ein Klavierspieler auch auf seine körperlich-kinästhetische Intelligenz angewiesen. Der Beruf einer Chirurgin erfordert einerseits eine hervorragende räumliche Intelligenz und andererseits eine hohe körperlich-kinästhetische Intelligenz in Bezug der Feinmotorik. Als letztes definiert Gardner (1993a) das Feld als „ein soziologische Konstrukt - welches die Menschen, die Institutionen, die Wertnormen usw. beinhalten, die Standards vorgeben und persönliche Leistungen beurteilen“ (S. xvii) Drei Präzisierungen sind nötig, um möglichen Missverständnissen vorzubeugen. Im Vortrag von 1996 (siehe weiter oben) betonte Gardner, dass diese Intelligenzen nicht gleichzusetzen sind mit Lern- oder Arbeitstypen. Weiter postuliert er (1994), dass keine Intelligenz ausschliesslich von einer Sinnesfähigkeit allein abhängig ist und dass sich kein Sinn als eine Intelligenz herauskristallisiert hat. Drittens treten die verschiedenen Intelligenzen nie autonom zutage. Sie sind im Alltag nicht isoliert erkennbar, denn sie wirken in einem harmonischen Zusammenspiel. Im Folgenden sollen nun die länger bekannten sieben Intelligenzen in einer weiteren Tabelle dargestellt werden. Gardner (1996, und Vortrag, siehe oben) illustriert jede Intelligenz mit einer bestimmten Domäne und einer hervorragenden Persönlichkeit, die im 20. Jahrhundert einen evolutionären Prozess in seinem resp. ihren Gebiet initiierte. Jede dieser Persönlichkeiten repräsentiert eine dieser sieben Intelligenzen, auch wenn selbstverständlich jede Person alle Intelligenzen zu ihrer Verfügung und bis zu einem gewissen Punkt entwickelt haben.

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

Intelligenz

Domäne oder Meisterschaft; mögliche Berufe

Linguistische Intelligenz

DichterIn; SchriftstellerIn; GeschichtenerzählerIn; RhetorikerIn

Musikalische Intelligenz

DirigentIn; KomponistIn

80

Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts T. S. Eliot (1888 - 1965) Lyriker Igor Stravinsky (1882 - 1971) Komponist

Logisch-mathematische

WissenschaftlerIn

Intelligenz

Albert Einstein (1879 - 1955) Professor für theoretische Physik

Räumliche Intelligenz

SchachspielerIn; Kunstschaffende der gestaltenden Künste; ChirurgIn

Körperlich-kinästhetische

TänzerIn; SportlerIn; SchauspielerIn

Intelligenz Interpersonale Intelligenz

Maler Martha Graham (1894-1991) Tänzerin

Führerpersönlichkeit in Politik, Religion, Handel, Gesundheitswesen; Lehrkräfte

Intrapersonale Intelligenz

Pablo Picasso (1881-1973)

PsychologIn; PsychotherapeutIn; WissenschaftlerIn in Psychologie und Therapie

Mahatma Gandhi (1869 - 1948) Politischer und spiritueller Führer Sigmund Freud (1856 - 1939) Neurologe und Psychologe

Tabelle 4: Die multiplen Intelligenzen II (Gardner 1996)

Dem Thema dieses Buches folgend möchte ich die linguistische Intelligenz noch etwas genauer betrachten. Als Kernoperationen der Sprache nennt Gardner (1994) eine Sensibilität für die Bedeutungen der Wörter, eine Sensibilität für eine Hierarchie unter den Wörtern und eine Sensibilität für die verschiedenen Funktionen der Sprache. Jeder Mensch besitzt diese Fähigkeiten in einem gewissen Masse, doch ein Dichter, eine Dichterin ist in diesen Bereichen ganz besonders begabt. Daraus schliesse ich nun, dass eine wesentliche Bildungsaufgabe darin besteht, die Sensibilität zu schulen, um die linguistischen Kompetenzen zu fördern. Gardner (1994) beschreibt die linguistische Intelligenz als diejenige intellektuelle Kompetenz, die „unter den Menschen am weitesten und demokratischsten verbreitet zu sein scheint“ (S.81). Neben diesen Kernoperationen, die für Dichter und Dichterinnen von belang sind, nennt Gardner (1994) vier

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

81

weitere linguistische Aspekte: Den rhetorischen Aspekt, das mnemotechnische Potential (Erinnerungsvermögen), die erklärende Funktion und das Potential der Sprache, ihre eigene Aktivitäten zu erklären (metalinguistische Analyse). Das Interesse am letztgenannten Aspekt scheint jedoch in unserer westlichen Kultur oder anderen mehr wissenschaftlich ausgerichteten Kulturen ein grösseres Gewicht zu haben als in vielen anderen Kulturen. Meistens wird Sprache als Werkzeug verwendet. Wichtig dabei ist nicht die Sprache selbst, jedoch die Mitteilung, die vermittelten Ideen. Die perfekte Wortwahl ist hier nicht so wichtig wie in literarischen Werken. Gemäss Gardner (1994) beruhen mündliche und schriftliche Sprachformen grossenteils auf denselben Kapazitäten. Jedoch sind, um sich schriftlich angemessen ausdrücken zu können, zusätzliche Fähigkeiten nötig, denn nonverbale Informationsquellen wie Gestik und Mimik, die Stimme, die Umgebungssituation etc. fehlen. Gardner (1994) betont die Gewichtigkeit des geschriebenen Wortes in unserer Kultur, wo viel Information durch lesen erworben wird und werden muss und der einwandfreie schriftliche Ausdruck einen hohen Stellenwert hat. Andere Völker pflegen und betonen traditionellerweise stärker die gesprochene Sprache, wobei bei ihnen die Rhetorik und das Wortspiel einen hohen Stellenwert einnehmen. Es ist verbreitet bekannt, dass es viele verschiedene Möglichkeiten und Wege gibt, Wissen zu erwerben und auszudrücken. Da ist zum Beispiel die gebildete Person, die perfekt eine Instruktion lesen, jedoch die Maschine nicht zusammenbauen kann. Zum andern ist da die des Lesens und Schreibens unkundige Person, die mit einem Blick erkennen kann, welche Teile wie zusammengesetzt

werden

müssen.

Gardner

(1991)

unterscheidet

drei

verschiedene

Lerncharaktere: Der intuitive (auch natürlicher, naiver, oder universeller) Lerntyp mit intuitiv angeeignetem Wissen; der schulische (auch herkömmliche) Lerntyp mit mechanischem, auswendig gelerntem und konventionellem Schulwissen; und der Lernexperte, die Lernexpertin (oder die voll ausgebildete Person) mit fundiertem Fach- oder Bereichswissen. Die wirklich gebildeten Studentinnen und Studenten sind fähig, ihr Wissen und Können erfolgreich in andere Bereiche zu übertragen und dort anzuwenden. Bezüglich fundiertem Wissen schreibt Gardner (1993b): „Ein wichtiges Anzeichen für beginnendes Verständnis ist die Fähigkeit, ein Problem auf vielerlei Arten im Kopf zu repräsentieren und von mehreren Ansatzpunkten aus zu lösen. Eine einzige starre Darstellung des Problems reicht wahrscheinlich nicht aus“ (S. 32). Eine wichtige Aufgabe der Schule besteht also in der Förderung dieser Fähigkeit. Gardner (1993b) kritisiert die westliche Schule als eine Schule, die „stark auf sprachliche Lehrund Beurteilungsmethoden und in etwas geringerem Umfang auch auf logisch-quantitative Methoden ausgerichtet“ (S. 26) ist. In seinem Vortrag (siehe oben) beschrieb Gardner das typische Arbeitsfeld einer Person mit hoch entwickelten Intelligenzen in ausschliesslich diesen zwei Bereichen (linguistischen und logisch-mathematischen) als „Bürokrat für den Einsatz in einer Kolonie“. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass die heutige sich so schnell verändernde Welt mehr verlangt. So betonte Gardner die zunehmende Wichtigkeit von gut

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entwickelten personalen Intelligenzen, v.a. für Menschen in führenden Positionen. Gut entwickelte personale Intelligenzen helfen Menschen, Krisen auszuhalten und zu überstehen, sich wieder neu zurecht zu finden und einen tragenden Platz in der Gemeinschaft einzunehmen. Zudem ist eine multikulturelle, demokratische Gesellschaft auf Menschen mit hoch entwickelten persönlichen Intelligenzen angewiesen, um ihre anstehenden Probleme konstruktiv lösen zu können. 4.4

Lernen auf eigenen Wegen: Ein Vergleich mit der intermodalen Methode

Lernen auf eigenen Wegen ist eine interaktive und fächerübergreifende Didaktik, auch bekannt unter der Bezeichnung Arbeit mit Kernideen. Ein Vergleich dieser Lernmethode mit der intermodalen Methode zeigt, dass zwischen den beiden Methoden einige bedeutende Verwandtschaften bestehen, wie z.B. die zentrale Bedeutung der inneren individuellen Anteilnahme und der Dialoge innerhalb der Lerngruppe und mit interessierten Aussenstehenden. Ruf und Gallin (1996) schreiben in einer Einleitung zu ihrer interaktiven Didaktik: „Die Fachsprache ist nie Zweck, sondern immer nur Mittel des wissenschaftlichen Tuns.... Im Zentrum stehen die persönliche Auseinandersetzung mit den fachlichen Problemen und der Austausch mit Menschen, die im gleichen Gebiet tätig sind. Überall dort, wo die reguläre Fachsprache noch nicht zu Gebote steht, muss die allen vertraute Alltagssprache in die Lücke springen. Wie Lernende durch singuläre Standortbestimmung und divergierende Dialoge nach und nach auch in der Fachsprache heimisch werden, kann im Deutsch- und Mathematikunterricht auf eine für alle Fächer exemplarische Weise erfahren und erlernt werden“ (S. 154). Die drei Phasen des Lernens Die Methode Lernen auf eigenen Wegen unterscheidet drei Phasen (Berger-Kündig 1996): 1. Die singuläre Phase/Ebene: –

Stoff in Beziehung zur eigenen Welt (ICH)



Individualität als Basis



singuläre Welt als Basis/Ausgangspunkt für den Unterricht

2. Die divergierende Phase –

Austausch unter Lernenden (schriftlich und mündlich)



Lernende treten in den Dialog

3. Die reguläre Phase/Ebene: –

Annäherung an den Schulstoff



Annäherung an den Fachbereich



Annäherung an die Wissenschaft



Übernahme von Regeln



Übernahme von Algorithmen



Orientierung an der Norm

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Ein wichtiges Werkzeug der Methode ist das Reisetagebuch. Es dient erstens der Dokumentation des individuellen Lernprozesses mit all seinen Wegen und Irrwegen. Zweitens ermöglicht es den Lernenden, eigene und fremde Erfahrungen zu vergleichen und diese im Dialog mit Anderen und den Lehrpersonen auszuwerten. Das Wesen der singulären Phase ist die authentische Begegnung mit der Fragestellung, dem Kernthema, ein assoziatives Herangehen, bei welcher die Lernenden ihre persönlichen Reaktionen beschreiben und darlegen. Das Ziel dieser Phase besteht darin, Ängste, die das Thema allenfalls auslösen, zu mindern und Interesse und Neugierde zu wecken. Als Erstes soll der subjektive Standort

gesichert werden, um dabei alle verfügbaren Kräfte der Psyche zu

mobilisieren. Prioritär ist dabei eine unvoreingenommene Begegnung zwischen dem Thema und der Person, denn das ICH soll irgendwie und irgendwo Fuss fassen können. Dabei erklärt die Lehrkraft nicht, sondern nimmt die Rolle einer aktiv zuhörenden Person ein, um das Kind in seiner Kontaktaufnahme mit dem Thema zu unterstützen. Ruf und Gallin erläutern dies mit Hilfe einer Analogie: Jede Art von Kunstwerk fordert eine wie oben beschriebene authentische singuläre Definition des Standortes, da jedes Werk einzigartig ist und persönliche Antworten und Reaktionen hervorruft. „Wirkliche Kunstwerke haben die geheimnisvolle Kraft, ihre Betrachter immer wieder in staunende Anfänger zu verwandeln und sie etwas vielleicht längst Bekanntes als wie zum ersten Mal erleben zu lassen“ (Ruf & Gallin 1996,S. 162). Diese Art von Auseinandersetzung, also eine authentische Begegnung mit einem Kunstwerk, soll beispielhaft als Modell für die Schule dienen. Dazu ist es wichtig, die für solche Begegnungen unabdingbare Sensibilität zu wecken und zu fördern und geeignete Werkzeuge und Medien bereitzustellen. Für Ruf und Gallin (1996) ist die Sprache dazu das wichtigste Medium, da dieses Fach die ganze Schulzeit hindurch lückenlos präsent ist. Die Bedeutung für die intermodale Methode Die singuläre Phase mit dem Ziel der authentischen Begegnung und des Findens eines persönlichen Standortes kann auch mit Hilfe verschiedener künstlerischer Modalitäten erfüllt werden, z.B.: Finden einer persönliche Idee, eines Standpunktes durch Malen eines Bildes entsprechend den eigenen Wünschen und Bedürfnissen; Präsentation der Bilder und eintreten in den Dialog mit Anderen; Kristallisation des Themas durch Verfassen eines Textes zum Bild; musikalischer

Ausdruck

zu

einem

ausgewählten

Objekt

auf

dem

Bild

als

erneute

Kontaktaufnahme und Dialog mit dem Bild. Diese oder ähnliche Abläufe helfen den Kindern, in tieferen Kontakt mit ihren Werken und ihren Themen zu kommen. Dabei stehen sie mit ihnen und mit anderen Kindern und den Lehrkräften im Dialog. Kunst ist ein anderes Werkzeug als die Sprache, in Kontakt zu treten, einen eigenen Standpunkt zu finden, Sensibilität zu wecken und zu fördern und Dialoge zu führen. Solche Prozesse öffnen für und führen hin zur regulären Welt. In meiner Klasse war dies die Geschichte von Peter und der Wolf von Serge Prokofjew und später

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eindrückliche Begegnungen im Kunsthaus mit einem mittelalterlichen Bild vom Erzengel Michael und dem Bild Schwarzer Fleck von Wassily Kandinsky (siehe S. Fehler! Textmarke nicht definiert. ff.). Intermodalen Prozesses wechseln zwischen singulären und divergierenden Phasen. In der divergierenden Phase finden Dialoge statt, Werke werden präsentiert, Antworten und Rückmeldungen werden gegeben und entgegengenommen. Um verstanden zu werden, müssen die Werke in gewissem Sinn und Mass allgemein verständlich sein. Ich konnte beobachten, dass die Kinder mit der Zeit versuchten, im Ausdruck immer deutlicher zu werden und allgemein verständlichere Aussagen zu machen, wobei sie durchaus auch im symbolischen Ausdruck blieben. Wohl arbeiteten die Kinder für sich selbst, doch begannen sie auch, ihre Werke mit fremdem Blick zu betrachten und so die ganze Gruppe in ihre Denk- und Handlungsweise einzubeziehen. So näherten sie sich auch dem Werke von Prokofjew an. Sie versuchten, seine musikalische Geschichte zu interpretieren und zu verstehen. Sie traten in den Dialog mit dem mittelalterlichen St. Michael und mit dem Werk von Kandinsky. Sie liessen sich durch sie wie auch durch Postkarten mit Bildern von Klee, Picasso, Monet, Chagall etc. inspirieren. Elemente von Begegnungen mit Künstlern der regulären Welt waren danach immer wieder in Bildern von Schülerinnen und Schülern zu finden. In der Methode Lernen auf eigenen Wegen ist das Reisetagebuch wichtig. Welche Möglichkeiten gibt es nun in der intermodalen Methode, den individuellen Lern- und Schaffensprozess zu dokumentieren? Der Sammlung und Aufbewahrung der Bilder wird hier besondere Bedeutung geschenkt. Bilder werden z.B. sorgfältig abgelegt, oder Bilder eines Prozesses können zu einem Leporello verarbeitet werden. Den Kindern wird die Möglichkeit gegeben, die Musik wieder zu hören, so oft sie es wünschen, gemeinsam oder individuell. Der Prozess kann in Erinnerung gerufen werden, indem die einzelnen Schritte eines Prozesses vergegenwärtigt werden. Geeignet ist hier das narrative Nacherzählen durch die Lehrkraft. Kinder, die bereits über erste Schreibfähigkeiten verfügen, können sich jeweils bildnerisch und schriftlich in einem Tagebuch an die wichtigsten Elemente des Prozesses erinnern. Zurückblicken auf den Prozess hilft, diesen abzuschliessen. Damit werden die Kinder wieder frei für das Nächste, neugierig und bereit fürs Kommende. Während der quasi nonverbalen Phase des Kindes, in der das verbale Ausdrucksvermögen in Deutscher Sprache noch sehr limitiert ist, bieten die künstlerischen Medien eine Möglichkeit, wichtige Fähigkeiten und Fertigkeiten, die das Lernen auf eigenen Wegen erfordern, bereits zu erlernen. Weiter bin ich überzeugt, dass der Einbezug der künstlerischen „Sprachen“ für das Lernen auf eigenen Wegen an und für sich eine wichtige Bereicherung bedeutet. Künstlerisches Schaffen fördert die Sensibilität und das Gespür für Bedeutungsnuancen. Es öffnet die Menschen und mobilisiert psychische Kräfte, erweitert die Wahrnehmung und führt zu neuen Erkenntnissen. Durch solche Prozesse, welche viel Eigenerfahrung und Exploration in der neuen Umgebung

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beinhalten, lernen die Kinder eine neue Sprache, welche mit dem neuen Kontext verbunden ist. Persönliche Entwicklung, sowohl kognitiv wie auch emotional, findet Hand in Hand mit dem Erlernen der neuen Sprache statt. Abschliessender Vergleich Beiden Methoden ist ein Pendeln zwischen singulären und divergierenden Phasen, zwischen individuellen und sozialen Phasen wichtig: Eigene Schaffens-, Such- und Lernphasen wechseln mit der Präsentation, dem Teilen, Mitteilen, Antwort erhalten, der Würdigung und Wertschätzung des individuellen Standortes, des Gefundenen, der Werke. Eine wesentliche Eigenschaft, die beiden Methoden eigen ist, ist der dialogische Prozess. Weiter ist beiden Methoden das Finden einer gemeinsamen Sprache wichtig: einer allgemein gültigen Fachterminologie einerseits und einer eher symbolischen „Terminologie“ anderseits. Bedeutsam ist beiden Methoden die Sorgfalt gegenüber den Schritten und Phasen des Prozesses, wobei sowohl der Prozess wie auch die Werke resp. die Sachebene mit ihren Resultaten massgebend sind. Die beiden Methoden haben somit zentrale gemeinsame Eigenschaften und wirken gegenseitig befruchtend und inspirierend.

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4.5

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Das zugrunde liegende Entwicklungsverständnis

Entwicklung ist eine Frage von Bewegung und Balance Balance und Bewegung Bewegung und Balance – ein Leben lang oder auch länger.

Menschliche Entwicklung wird heute als ein lebenslanger Prozess verstanden, der gewissen Gesetzmässigkeiten unterworfen ist. Er beginnt ganz zu Anfang eines Lebens und endet mit dem letzten Atem. Jeder Schritt, der ein Individuum getan hat, ist irreversibel und gehört zur Biografie eines Menschen. Baacke (1991, in Gudjons 1995) definiert den Begriff Entwicklung folgendermassen: „Mit Entwicklung meint man die ganzheitliche Veränderung eines Menschen, die oft durch das organische Substrat entscheidend bedingt ist, aber kognitive, affektive und sonstige Faktoren einbegreift“ (S. 117). Dabei wird Mensch als interaktives Wesen betrachtet, das sich eine bedeutungsvolle Welt kreiert. Die Äquilibrationstheorie von Piaget Äquilibration bedeutet, im eigenen Leben ein Gleichgewicht zu finden. Dies ist ein interaktiver Prozess zwischen dem sich entwickelnden Individuum und der sich verändernden Welt, zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen Assimilation und Akkomodation. Kegan (1986) schreibt: „Dieses Wechselspiel wird als Anpassungsprozess (Adaption) begriffen, der durch die Spannung zwischen dem Angleichen neuer Erfahrung an die alte ‚Grammatik‘ (Assimilation) und dem Angleichen der alten ‚Grammatik‘ an die neue Erfahrung (Akkomodation) bestimmt ist. Dieser ewige Austausch ist Merkmal alles Organischen; er gehört zur Natur aller Lebewesen“ (S. 70). Weiter schreibt er, „dass dieses Wechselspiel nicht in Form einer unablässigen Veränderung abläuft. Vielmehr werden Phasen dynamischer Stabilität oder Phasen des Gleichgewichts von Phasen der Instabilität und einem qualitativ neuen Gleichgewicht abgelöst“ (S. 70 – 71). Ein solcher Prozess ist stets auch ein Differenzierungsprozess. Er beinhaltet, was Piaget mit Dezentrierung bezeichnet. Dezentrierung bedeutet der Verlust des veralteten eigenen Zentrums. Zugleich tritt das Individuum dabei in eine Krise. „Der Kern der Erfahrung qualitativer Veränderungen oder der Erfahrung der Dezentrierung (...) bilden die Affekte des Verlustes – Angst und Depression“ (Kegan 1986, S. 118). Dieser Eintritt in eine Krise ist jedoch gleichzeitig auch der Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Eine Person ist nun fähig, etwas mit neuen Augen zu

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betrachten. Sie ist jetzt bereit, die alte Situation von aussen her betrachten zu lernen, da sie nicht mehr in ihr gefangen ist. Es ist ihr möglich, den Unterschied zwischen sich und der Welt differenzierter wahrzunehmen. Sie lebt wohl weiterhin in einer subjektiven Welt, jedoch mit einer qualitativ neuen und veränderten Wahrnehmung und Sichtweise. Kegan (1986) nennt dies Rezentrierung (S. 56), die Wiedererlangung des Zentrum, eines neuen Zentrums. Nun wird die Person in diesem Lebensabschnitt verweilen, bis eine neue Dezentrierung eintritt. Dieser Prozess, diese Aktivität, dieses auf Anpassung abzielende Wechselspiel ist der eigentliche Ursprung von Denken und Fühlen und bildet den gemeinsamen Rahmen dieser Funktionen“ (S. 71). Freud untersuchte die affektive, Piaget die kognitive Entwicklung. Aus neo-Piagetschen Perspektive sind diese zwei Phänomene nichts anderes als zwei Dimensionen eines einzigen fundamentalen Prozesses, der evolutionären Aktivität von Dezentrierung und Rezentrierung. Es geht von nun an darum, Gleichgewichtszustände herzustellen und „das Verhältnis zwischen Anteilen, die man der Seite des Subjekts oder Selbst zuschlägt, und Anteilen, die man der Seite des Objekts oder anderen zuschreibt, aufrechtzuerhalten oder umzuorganisieren“ (S. 118). Weiter fasst Kegan (1986) zusammen: „So verstanden ist die Aktivität der Entwicklung ein kognitiver Prozess, gleichzeitig ist sie aber auch affektiv; wir sind diese Aktivität und wir erfahren sie.“ Es ist eine Erfahrung von Abwehr, Aufgabe und Rekonstruktion, ein schmerzhafter Prozess wegen des Verlustes einer wohlbekannten Struktur. Weshalb nur lässt sich der Mensch auf einen solch schmerzhaften evolutionären Prozess ein? Welches sind seine Motivationen? Auf einer philosophischen und spirituellen Ebene ist es das Bestreben des Menschen, sich moralisch, geistig und spirituell zu vervollkommnen. Vom Standpunkt der Neo-Piagetianer ist es das Streben nach einem ausbalancierten Zustand, und zwar nach demjenigen, welcher für den betreffenden Kontext der komfortabelste und zweckmässigste zu sein scheint. Ein Individuum tendiert danach, Diskrepanzen zwischen der subjektiven und der objektiven Welt auszugleichen. Es sucht, die innere und die äussere Welt und alle Widersprüchlichkeiten zu koordinieren, indem es immer komplexere Strukturen baut. Dabei sucht der Organismus nicht die Rückkehr zu einer alten Realität, sondern er bemüht sich, eine Bedeutung für seine gegenwärtige Realität zu finden und diese Realität zu verstehen. Das Entwicklungsmodell von Erikson Gemäss Erikson (1988) erlangt ein Individuum seine Identität durch Bewältigung von acht verschiedenen, aufeinander aufbauenden Krisen, welche wechselseitig voneinander abhängig sind und nach einem gegebenen Grundplan verlaufen. Erikson nennt dieses organische Prinzip Epigenese. Für Erikson ist eine Krise keine Störung, sondern ein konstitutiver und integraler Bestandteil einer normalen Entwicklung. Jede Entwicklungsstufe bringt eine ganz spezifische psychosoziale Krise mit einem ihr eigenen Kernthema mit sich. Die Bewältigung der Krise verlangt eine Auseinandersetzung mit zwei entgegengesetzten Ausrichtungen, des negativen und des

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positiven Aspektes jedes Themas, z.B. „Grundvertrauen vs. Grundmisstrauen; Autonomie vs. Scham, Zweifel; Initiative vs. Schuldgefühl“ etc. (1988, S. 73). Das Individuum wird die Entwicklungsstufe in einem irgendwie ausbalancierten Zustand verlassen. Die Qualität dieses Zustandes ist für alle weiteren Stufe bedeutsam. Ich bin überzeugt, dass generell alle Entwicklungsstufen in uns als Potential vorhanden sind. Wir verlieren das Potential einer Stufe nicht, wenn wir eine nächste erreichen, auch wenn wir neues Wissen und neue Erkenntnisse erlangt haben, die unseren Standpunkt und unser Bewusstsein verändert haben. Wir können uns, je nach Kontext und der momentanen Situation, zwischen den einzelnen schon bekannten Stufen vor- und zurück bewegen. Das kann unbewusst und/oder unbeabsichtigt erfolgen, z.B. während einer Regression, oder beabsichtigt, um gewisse Erfahrungen und/oder Lernschritte zu wiederholen, in Erinnerung zu rufen oder nachzuholen und um ein spezifisches Potential nutzbar zu machen. Ein Mensch kann sich entwickeln oder auf einer Entwicklungsstufe stehen bleiben, vielleicht sogar auf einer sehr elementaren. In gewissem Masse liegt es im Einflussbereich eines Individuums und dessen Mitmenschen, ob sich ein Mensch weiter entwickeln kann oder stagnieren wird. Erziehende – Eltern, Lehrkräfte usw. – können Entwicklung unterstützen, deren Förderung vernachlässigen oder sie zu verhindern versuchen. Individuen können sich gegenüber Entwicklungsschritten öffnen oder aber versuchen, sich diesen zu widersetzen. Die Helix als Symbol von Entwicklung Das Verlangen nach Zugehörigkeit einerseits und das Verlangen nach Autonomie andererseits bezeichnet Kegan (1986) als die zwei dringendsten Bedürfnisse des menschlichen Lebens, zwei Bedürfnisse, die sich diametral entgegengesetzt stehen. Kegan beschreibt diesen Konflikt als ein lebenslängliches Spannungsfeld. Er schreibt, dass jedes Gleichgewicht nur eine temporäre Lösung der lebenslangen Spannung zwischen Zugehörigkeit und Trennung darstellt. Jede gefundene Balance löst die Spannung auf eine andere Art und Weise. Übers ganze Leben gesehen ist es ein fortwährendes Vor und Zurück zwischen den beiden Polen. Einmal wird die Lösung eher zugunsten von Autonomie und ein anderes Mal eher zu Gunsten von Zugehörigkeit getroffen. So gesehen wohnt jedem Gleichgewicht aufgrund der Unterordnung des Gegenteiles zugleich auch das Ungleichgewicht inne. Da lauert immer die Gefahr des Umkippens. Statt einer Linie benutzt nun Kegan (1986) eine Spirale oder Helix, um Entwicklung darzustellen. Er weist es zurück, Wachstum ausschliesslich in den Begriffen von Differenzierung und zunehmender Autonomie zu definieren. Gleichwertig stellt er den beiden Begriffen die Anpassungs- und den Integrationsprozesse wie auch Zuneigung und Aufnahme zur Seite. Die psychologische Bedeutung und Erfahrung von Evolution ist ein sich bewegender wie auch ein sich ausgleichender Prozess, ein Prozess von Differenzierung und Integration.

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Stetige und unstetige Entwicklungsvorgänge Bollnow

(1959),

der

Existenzphilosoph,

spricht

von

stetigen

und

unstetigen

Entwicklungsvorgängen und deren Bedeutung für die Pädagogik. Dabei erläutert er das Phänomen der Krise. Er schreibt: „Krisen gibt es überall, wo der Mensch eine ihm liebgewonnene Lebensform oder einen Lebensplan aufgeben muss“ (S. 34). Weil die Hauptpersonen dieses Buches Kinder sind, die eine ihnen vertraute und in der Regel ihnen liebgewonnene Situation verlassen mussten, möchte ich die Darlegungen von Bollnow noch etwas eingehender betrachten. Eine Krise ist ein entscheidender Einschnitt in einem relativ stetig verlaufenden Lebensabschnitt. Sie bricht wie ein Blitz mit ungewohnt heftiger Intensität ein und geht mit Verzweiflung und damit verbundener Todesangst einher. Während einer Krise verliert ein Mensch das Zeitgefühl. Nach dem Durchleben einer Krise erfährt das Individuum oft ein Zustand von grosser Euphorie mit Gefühlen von Befreiung und Glückseligkeit. Eine Krise trennt und vereinigt gleichzeitig zwei Lebensphasen. Sie trennt und verbindet zwei ausbalancierte Zustände. Nötig ist die Bewältigung der Krise. Dadurch erlangt das Individuum eine neuen Lebensqualität. Im Zusammenhang mit der sittlichen Krise spricht Bollnow (1959) von der Zeit, bevor die Krise durchbricht. Während dieser Phase gleitet der Mensch unmerklich und langsam in eine irreversible Dezentrierung hinein. Krisen werfen oft ihre Schatten in irgend einer Art und Weise voraus, denke ich. Dabei ist es aber in der Regel einem Individuum nicht möglich, diese Zeichen zu lesen, oder es will diese, meist aus Angst, nicht lesen. Zeichen dieser Phase können Symptome innerer Unruhe, Launenhaftigkeit, Stress, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, aufwühlende Träume etc. sein. Diese vorausgehenden Phasen werden meist von niemandem erkannt und verstanden, ausser jemand ist mit diesem Phänomen vertraut. Was bedeutet dies nun für die Schule? Jede Krise beinhaltet eine Gefährdung wie auch Wachstum. Eine Krise darf durch Pädagogen und Pädagoginnen nicht manipuliert werden. Sie dürfen sie nicht bewusst herbeiführen oder beherrschen. Sie können nur helfend dabei sein, in einer wohlwollenden und verständnisvolle Haltung, ohne etwas Besonderes zu tun. Sie können ein Kind im Auge behalten, ihm helfen, den Sinn der Krise seinem Alter entsprechend zu begreifen und sie bis zu ihrem Ende durchzustehen. Pädagogen und Pädagoginnen müssen ein Wissen über solche Vorgänge haben und dieses Wissen mit berücksichtigen, wenn sie über schulische und erzieherische Prozesse reflektieren. Auf jeden Fall dürfen solche Vorgänge nicht Gegenstand eines bewussten erzieherischen Planens werden. Wichtig ist das Wissen und das Verständnis über die Vorphasen wie auch über die Integrationsphasen. Diesen Phasen wird oft kaum Aufmerksamkeit geschenkt, da sie stiller und leiser daher kommen als die offensichtlicheren und spektakuläreren eigentlichen Krisenphasen. Doch die ersteren, leiseren Phasen sind wichtig für eine gesunde Entwicklung. Die Schule hat Zeit und Raum für Musse einzuräumen, Zeit und Raum, wo Vorbereitung, Regeneration und Integration stattfinden kann.

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Unstetige Entwicklung in kognitiven Prozessen Bollnow (1959) spricht über Unstetigkeiten auf intellektuellem Gebiet. Er betont, dass das Vermehren von Wissen wohl durch einen stetigen additiven Aufbau erfolgen kann. Jedoch schreibt er weiter: „Aber dort, wo es sich nicht mehr um beliebiges Anhäufen von Wissen, sondern um das Gewinnen einer wirklichen Einsicht handelt, ist es ganz anders. Diese kann nicht schrittweise aufgebaut werden, sondern sie kommt auf einen Schlag, ... Man sagt, dass es dem Menschen in solchem Augenblick ‚wie Schuppen von den Augen fällt’. So etwas ist bei dem bekannten Aha-Erlebnis der Fall ... Überall kommt die neue Einsicht plötzlich, wie eine innere Erleuchtung, auf die man sich höchstens geduldig vorbereiten kann, aber die man abwarten muss, bis es dann ‚einschnappt’“ (S. 38 – 39). Diesen Moment bezeichnet Copei (in Bollnow 1959) als den „fruchtbaren Moment im Bildungsprozess“ (S. 39). Bollnow bezeichnet diesen Moment ebenfalls als ein krisenhaftes Ereignis, das sich sowohl mit einer störenden Erfahrung wie auch mit den Gefühlen von Beglückung und Befreiung zeigt. Die Erschütterung erfasst dabei nicht nur den Intellekt sondern das Individuum in seiner Ganzheit und bis in seine Grundfesten. Die vorausgehende Phase ist meist begleitet durch ein Streben nach besserem und tieferen Verständnis. Ein solch fruchtbarer Moment kann nicht geplant und erzwungen werden. Man muss vielmehr auf ihn warten. Er ereignet sich durch die Kraft eines schicksalhaften Elementes. Buber bezeichnet dies als „das Dritte“. Ein solcher Moment ist z.B. das erste Deutsche Wort, das ein Kind aus eigener Initiative ausspricht – immer ein ausserordentlich bewegender Augenblick für mich. Ist einmal dieser erste Schritt vollbracht, ist gewiss, dass nun weitere sprachliche Fortschritte folgen werden. Wie gesehen kann ein schulischer Prozess nur bedingt geplant werden. Unterricht ist ein Balanceakt zwischen dem, was vorhersehbar und dem, was unvorhersehbar ist. Es ist ein Balanceakt zwischen dem Intellekt und der Intuition. Und ein solcher Prozess verlangt Vertrauen in sich und den Prozess selbst. Die Erweckung in der schulischen Entwicklung Bollnow (1959) spricht über Erweckung und im Speziellen über deren pädagogischen Bedeutung. Er betont, dass Erweckung weder „Machen“ noch „Wachsen-lassen“ bedeutet, zwei gegenteilige Anschauungen von Erziehung. Die erste Ansicht hat ihre Wurzeln in der Aufklärung, die zweite in der Philosophie von Rousseau. Bollnow (1959) erläutert: „Erwecken kann ich nur etwas, was schlafend schon vorhanden ist.... Das In-Gang-bringen dieses Vorgangs ist nur durch die von aussen hinzukommende Hilfe des Erziehenden möglich.... Dieser Vorgang vollzieht sich nur in einem plötzlich einsetzenden unstetigen Ereignis“ (S. 51 – 52). Diesem Ereignis folgt eine Phase des Wach-seins und vielleicht auch eine Phase stetigen Wachstums. Bollnow (1959) verweist auf Montessori, die den Begriff der Erweckung ebenfalls braucht, wobei sie zwischen zwei Leistungen unterscheidet (in Bollnow 1959): „Die Leistung des Erziehers ist die Erweckung, das heisst der Anstoss zu der Bewegung, die sich dann von innen her im Kinde selbst vollzieht. Die Leistung des Erziehers geht nur bis zu diesem Anstoss.... Was sich dann entwickelt, das muss ganz vom Kinde

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geleistet werden“ (S. 54 - 55). Gemäss Montessori ist es die Aufgabe der Erziehenden, die Kinder zur Konzentration zu verhelfen, um innerlich still werden zu können. Verinnerlichung ermöglicht „ein dem Aufwachen vergleichbarer Vorgang, in dem die geistigen Kräfte des Menschen frei werden“ (S. 55). Die Konsequenz dieses Vorgangs hat eine tiefgreifende Wandlung des Menschen zur Folge. Es ist die Erweckung von etwas Unerwartetem. Wachstum ist also etwas, das durch immer neue Impulse in Gang gehaltenen und sich dennoch im letzten aus der eigenen Mitte entfaltet. Erweckung ist in der Pädagogik kein einmaliger Vorgang, aber ein sich vielleicht täglich wiederholendes Ereignis, das jeweils einem bestimmten Entwicklungsschritt dient. Eine unstetige Helix als Symbol von Entwicklung Grundsätzlich gefällt mir Kegans Erweiterung der Entwicklungslinie hin zur Helix: ein Sinnbild, das die

fortschreitende

Differenzierung

einerseits

und

die

Integrationsleistung

andererseits

veranschaulicht, ein Sinnbild, das zeigt, dass die Brachzeit im Winter ebenso zum Leben gehört wie die Zeit des Wachstums im Frühjahr und Sommer. Die Helix verdeutlicht das wiederholte und lebenslange Auftauchen von gleichen oder ähnlichen Themen, jeweils in qualitativ veränderter Form. Doch erweckt die Helix den Eindruck eines stetigen Entwicklungsprozesses. Ich stelle mir eher eine Spirale vor, die einmal steiler und ein andermal flacher verläuft und gar ab und zu den Eindruck erweckt, als würde sie auf derselben Ebene verweilen. Es ist eine Spirale mit sanften und ebenmässigen Abschnitten, aber auch voll holperiger Stellen mit abrupten Stufen, Spalten und Rissen. Zusätzlich zu dieser unstetigen Helix kommen in meiner Vorstellung noch die Impulse von aussen resp. die Interaktion mit der Mitwelt hinzu. Symbolisch zusammengefasst ist Entwicklung ein Pendeln zwischen Dezentrierung und Rezentrierung, ein Pendeln zwischen Polaritäten, ein Pendeln zwischen stetigen und unstetigen Phasen, ein Pendeln zwischen Anstoss geben und von innen her wachsen lassen, ein Pendeln zwischen Anstoss geben und geduldig auf den fruchtbaren Moment warten: Bewegung und Balance, Balance und Bewegung – immer und immer wieder.

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4.6

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Das zugrunde liegende Bildungs- und Erziehungsverständnis

Bildung ist ein integrierender Balanceakt zwischen der einen Seite der Medaille und der anderen Seite der Medaille – je nach Situation, Kontext, Zeit und Ziel.

„Nichts ist giftig. Alles ist giftig. Es käme auf die Dosierung an, sagt Paracelsus, der Meister.“ Jürg Federspiel

Ist ein absolutistisches System, einer Diktatur einmal eingerichtet, so gibt es fortan eigentlich keinen Spielraum für Veränderung. Ist eine Demokratie einmal eingerichtet, so liegt es in ihrem Wesen, dass sie selbst immer wieder reflektiert und neu diskutiert wird und ständig neuen Erkenntnissen und Umständen angepasst und damit reformiert wird. Demokratie basiert auf dem Faktum der Vielfalt und Gleichheit der Menschheit. Sie basiert auf dem Dialog zwischen ihren Mitgliedern. Sie basiert auf einem politischen System, welches es der Gemeinschaft ermöglicht, sich zu entwickeln. Sie basiert auf dem Selbstbestimmungsrecht der Individuen, die ein Interesse für die Gemeinschaft aufbringen und sich um sie kümmern. Im Zentrum stehen weder die Regierung noch das Individuum. Zentral steht die Partnerschaft, der Dialog zwischen der Regierung und den Individuen. Die Schule hat die Aufgabe, die Kinder zu mündigen Mitgliedern der Demokratie heranzubilden. Aus diesem Grund kann Erziehung und Bildung nicht einseitig auf einer absoluten pädagogischen Haltung und Sichtweise aufbauen. Während der letzten Dekaden begann unsere westliche Welt, sich mit östlichen Denkweisen auseinanderzusetzen und von diesen zu lernen. Die holistische, nicht lineare Lebens- und Denkart inspirierte viele von uns. Bemerkenswerte Beiträge leisteten hier z.B. der Psychologe C. G. Jung und der Schriftsteller H. Hesse, die mich beide in meiner Adoleszenz nachhaltig beeindruckten und beeinflussten. Die intermodale Methode basiert auf den Ideen des holistischen Prinzips. Sie macht geltend, dass zu jeder Frage, zu jedem Problem, zu jeder Situation verschiedene Ansichten und Auffassungen

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möglich sind. Nichts kann für absolut genommen oder als selbstverständlich betrachtet werden. Eine Seite beinhaltet immer auch mindestens eine andere Seite. Der Fokus liegt nicht auf einer Seite der Medaille, sondern auf dem Dazwischen, auf dem, was zwischen den Polaritäten ist, zwischen dem Ich und dem Du, zwischen dem Ich und dem Es. Der Fokus liegt auf der dynamischen Interaktion zwischen den zwei Aspekten. Zentral ist das dialogische Prinzip, welches Buber (1983) in seiner ganzen Bedeutsamkeit darlegt. Im letzten Kapitel wurden bereits schon einige Beispiele des dialogischen Prinzips gestreift, welche die Abwesenheit von absoluten Statements, dem entweder oder, aufzeigen. Entweder oder wird ersetzt durch dieses und jenes, oder anders ausgedrückt, durch sowohl als auch. Zum Beispiel wurde Entwicklung als Bewegung und Balance beschrieben, als Differenzierungs- und Integrationsprozess. Ein Entwicklungsprozess kann mal stetig wie auch wieder unstetig verlaufen usw. Der Begriff Dialogik wurde 1944 von H. L. Goldschmitt eingeführt. Herzka (1989) beschreibt den Terminus folgendermassen: „Die Dialogik postuliert, dass zwei Gedanken, die niemand gleichzeitig denken kann, oder zwei Bestrebungen, die niemand gleichzeitig verwirklichen kann, oder zwei Begriffe, die sich gegenseitig ausschliessen und je einen Bereich für sich bezeichnen, gleichzeitig (d.h. nicht nacheinander) und gleichwertig (d.h. ohne Überlegenheitsanspruch und Unterordnung) gemeinsam ein Ganzes ausmachen“ (S. 19 – 20). Eine Einheit wie die beschriebene beinhaltet ein Dazwischen zwischen den dualen Aspekten. Es ist ein widersprüchlicher Spannungsbereich, in welchem beide Seiten involviert sind. Dieser Widerspruch wird nicht ausgeglichen oder harmonisiert. Er bleibt bestehen. Die Dynamik und der interaktive Prozess zwischen den zwei Polen sollen nicht ausgelöscht werden, sondern vielmehr ertragen, reguliert und zum persönlichen wie auch gesellschaftlichen Gewinn genutzt werden. Die Dialogik basiert auf einem Beziehungsverständnis, das ununterbrochen Akzeptanz und Wertschätzung von verschiedenen Qualitäten erfordert. Die intermodale Methode folgt dem dialogischen Prinzip. Wenn wir die Geschichte der Pädagogik betrachten, dann können wir feststellen, dass die intermodale Methode divergierende Philosophien mit einbezieht. Jede Seite hat ihre ganz spezifische Qualität, und jeder dieser Qualität wird mal, je nach Situation, Kontext, Zeit oder Ziel den Vorzug gegeben. Die Anwendung des dialogischen Prinzips in der Bildung bedeutet ein Oszillieren zwischen den dualen und den sich deshalb ausschliessenden Qualitäten. Die Tabelle 5 zeigt wichtige Aspekte in Bildung und Erziehung in ihren dualen Ausprägungen und deren Bedeutung für eine dialogische Bildung und Erziehung. Abschliessend zu diesen Ausführungen postuliere ich, dass Erziehung und Bildung in diesem Sinn primär eine Haltung ist und erst sekundär und daraus hervorgehend Handeln bedeutet. Es braucht das Risiko zu einer dialogischen Begegnung zwischen ungleichen aber auch gleichwertigen Partnern, ungleich aufgrund ihres Alters, ihrer Rollen, ihrer Kompetenzen, ihres Wissens etc., gleichwertig, weil sie eben beide Menschen sind. Gemäss Wanzenried (1996) ist dies eine

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gemeinsame und gegenseitige Bewegung von fragen, suchen, entdecken, kreieren, antworten, verändern etc. Es ist ein beidseitiger Lernprozess. Unterrichten erfordert eine hohe Präsenz, Sorgfalt und die Bereitschaft zur Reflexion und dem Fällen von Entscheiden. Es braucht professionelle Interventionen und eine Intuition für den fruchtbaren Moment. Erkenntnisse, Fortschritte und Ereignisse in Bildung, Erziehung und Entwicklung sind nicht eigentlich machbar, sondern sie erscheinen als zufallendes Geschenk, hervorgehend aus einer Begegnung von zwei oder mehreren Individuen. Pädagogen und Pädagoginnen müssen sich ihrer Machtposition und der ständigen Gefahr des Machtmissbrauchs bewusst sein. Sie müssen mit ihren eigenen konstruktiven und destruktiven Kräften vertraut sein. Sie brauchen ein Bewusstsein bezüglich Grenzen, Nähe und Distanz, und zwar betreffend sich selbst, betreffend ihrer Rolle, betreffend ihrer Schüler und Schülerinnen etc. Sie haben den steten Wechsel zwischen Chaos und Ordnung mit Fassung hinzunehmen. Prozessen, die ausserhalb der Kontrolle eines Menschen liegen, haben sie mit Demut und Vertrauen zu begegnen.

«DIE EINE SEITE DER absolut gesetzt es besteht keine Alternative

MEDAILLE» ANDERE SEITE DER «DIE «DER BALANCEAKT» – absolut gesetzt der dialogischen Erziehung und Bildung es besteht keine Alternative

Das Ideal von Rousseau: Das Wesen des „Das natürliche gute Kind“. Kindes betreffend Erziehung zerstört.

Das Kind als „tabula rasa“: Beide Seiten integrierend: Ein ist Kind ein natürliches Wesen, jedoch mit Seit dem Sündenfall muss dem Kind alles von Schattenseiten, die zu integrieren sind. aussen her eingegeben werden.

Beide Seiten integrierend: Beziehung basiert auf einer dialogischen und Reversible, gleichberechtigte Partnerschaften autoritätskritischen Haltung: Die Beziehung statt Erziehung. Es ist ein spezifisches Ich-Du-Verhältnis, in dem Die Basis ist Freiheit. ein Gefälle besteht zwischen ungleichen aber betreffend (A. S. Neill: Die antiautoritäre Erziehung) gleichwertigen Individuen, ungleich aufgrund ihres Alters, Rollen, Kompetenzen, Wissens ..., aber gleichwertig, weil beides Menschen sind.

Erziehung und Beziehung basieren auf dem Unterschied von Macht und Kompetenz: Autoritäre Erziehung mit dem Aspekt von Pflicht.

Alles ist im Kind angelegt. Die erzieherische (Rousseau, A. S. Neill) Das Kind wachsen lassen. Handlung betreffend Nichts soll zerstört werden.

Beide Seiten integrierend: Erfassen des „fruchtbaren Momentes“ (Bollnow, siehe S. 91). Das Individuum lernt in Interaktion mit der Umwelt (Freire).

Die Absicht von Stärkung der Menschen. Erziehung und Wissen entwickeln. Bildung betreffend

Beide Seiten integrierend: Sachen klären. Die Absicht von Erziehung ist das Stärken von Wissen empfangen. Menschen und das Klären von Sachen.

Die Werte Traditionen betreffend

Beide Seite integrierend: Erziehung hat eine traditionskritische Haltung Erhaltung von Traditionen. zum Ziel: Stagnation. hinterfragen und entscheiden.

und Emanzipation von Abhängigkeit. Persönliche Reife. Aufgabe von Traditionen. Veränderung.

Das Individuum und Entwicklung des Individuums. die Gemeinschaft Selbstverwirklichung. betreffend

Tabelle 5: Das Konzept von Erziehung und Bildung

MEDAILLE» –

Beide Seiten integrierend: Erziehung und Bildung hilft dem Individuum, einen ihm entsprechenden Platz in der Gesellschaft zu finden.

Alles liegt ausserhalb des (Behaviorismus): Ein Kind muss geführt und angeleitet werden. Es braucht den beabsichtigten Einfluss.

Kindes

Einpassung in die Gesellschaft und Gemeinschaft. Selbstaufgabe zu ökonomischen und sozialen Zwecken. Hierarchie. Solidarität.

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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Abschliessende Gedanken

Erlernt habe ich die intermodale Methode in einer äusserst heterogenen Gruppe von Studierenden verschiedenster Alters- und Berufsgruppen, mit verschiedensten Herkunftsorten, Vorbildungen, Absichten und Zielen, die aber alle irgendwie mit Pädagogik oder Agogik zu tun hatten: Menschen aus dem Gesundheitswesen, dem Schulbereich, Kindergarten, Theologie, Therapie etc. Gemeinsam wurden wir in die Methode eingeführt, machten gemeinsam Erfahrungen in den verschiedensten Medien und suchten alle nach der spezifischen Bedeutung für den individuellen beruflichen Kontext und nach adäquaten Transfermöglichkeiten in den eigenen Berufsalltag. Mein Umsetzungs- und Forschungsfeld war beschränkt auf meinen spezifischen Kontext, der Integrationsklasse für fremdsprachige Kinder im Alter von sieben bis elf Jahren. Lehrkräfte, die an meinen Fortbildungskursen teilgenommen hatten, transferierten die Methode in ihre individuellen und spezifischen Kontexte und machten dabei eigene interessante Erfahrungen: Sie arbeiteten mit älteren Schülerinnen und Schülern, in Regelklassen mit Kindern, die der deutschen Sprache mehrheitlich mächtig waren, mit kleinen Gruppen und in Einzelsettings, im Kindergarten, in der Logopädie, in der Musikschule usw. Dabei setzten sie ihre eigenen Erfahrungen, gekoppelt mit der vermittelten Theorie, ganz verschieden und je nach persönlicher Veranlagung um. Ein Kernproblem, das sich immer wieder stellte, war und ist die Zeitknappheit. Deshalb motivierte ich die Lehrkräfte immer wieder zu kleinen und einfachen Schritten und Versuchen. Von einem tollen Erfolg erzählte einmal eine Lehrerin, die sich wegen des kleinen Zeitbudgets nicht entschliessen konnte, mit künstlerischen Medien zu arbeiten, jedoch fasziniert war von der ressourcenorientierten Herangehensweise und diese Idee umsetzte:

«Da ist ein Knabe aus Afrika. Er ist ein sehr guter Rechner. Doch im Deutsch macht er kaum Fortschritte. So setzte ich mich mit ihm für die ersten sieben Minuten der Lektion an den Computer und wählte ein Rechnungsprogramm. Wenn die Lehrerin wüsste, dass ich mit ihm rechne statt Deutsch lerne! Der Zufall wollte es, dass sich gleich zu Beginn ein Bild mit einem Zebra in einer Afrikanischen Landschaft öffnete. Das war wie ein Schlüssel. Der Knabe war sehr erfreut und äusserte sich spontan zum Bild. Er kam mir danach viel entspannter vor. Nun kenne ich neue Ansatzpunkte für meine Stunden.»

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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Ein eindrückliches Beispiel, das zeigt, dass es sich lohnen kann, den konventionellen Pfad zu verlassen, denn nur dann besteht die Möglichkeit, dass der Zufall auch zufallen kann. In den Diskussionen zeigte es sich immer wieder, dass es wichtig ist, für ein Kind oder eine Gruppe jeweils den „richtigen Schlüssel“ zu finden. Indem ich ein Kind beobachte und auf seine Vorlieben zu achten beginne – die sind dort zu finden, wo die Augen zu leuchten anfangen – finde ich diese Schlüssel eher. Das möchte ich mit einem weiteren Beispiel illustrieren. Eine Lehrerin erzählte:

«Ich habe in einer DfF-Gruppe drei Geschwister aus Senegal (2./3. Klasse). Sie sind schon

seit fünf

Jahren in der

Schweiz, doch sie sind an unserer

Schule

AussenseiterInnen. Sie wollen nicht lesen, nicht schreiben. Doch bemerkte ich, dass sie sich für die Kasperlifiguren interessierten. So liess ich sie mit einer Figur durch den Raum gehen, so wie wir das mit unseren Masken gemacht hatten. Sie sollten herausfinden, was die Figur ihnen sagen möchte. Und damit nichts vergessen gehe, müssten sie es ganz schnell aufschreiben, sagte ich. Gerade das Schwächste der drei stürzte bald zu mir und verlangte das Heft, und sie schrieb einen langen Text. In der Klasse schreibt sie sonst nie.»

Interesse wecken und anknüpfen am Eigenen: Etwas, was der Lehrerin hier gelungen ist, indem sie nach einem passenden Schlüssel Ausschau gehalten hatte. Solch kleine und kleinste intermodale Prozesse sind Gold wert und oft in beschränktesten Zeit- und Raumverhältnissen umund einsetzbar. Ich habe mir die Umsetzung der intermodalen Methode also erarbeitet, indem ich nach Ansatzpunkten im Unterricht suchte und forschte, mir theoretische Grundlagen aneignete und diese Erkenntnisse wieder zurück in die Praxis fliessen liess. Ich bin überzeugt, dass auf dieselbe Art und Weise die intermodale Methode auch für die Arbeit mit Kindern mit herausragenden Begabungen, innerhalb oder auch ausserhalb der Stammklassen, nutzbar gemacht werden kann, denn ich konnte in meiner Klasse Kinder verschiedenster Stufen und Alter, Kinder, die später einmal eine Heilpädagogische Schule resp. die Sekundarschule besuchten, gemeinsam erreichen und schulen. Speziell in Schulen und Klassen mit komplexen sozialen Strukturen und Schwierigkeiten kann die intermodale Methode Aggression abbauen helfen und Ausgewogenheit und Toleranz fördern. Welche Rolle kann die intermodale Methode einnehmen in unserer Zeit, die geprägt ist von Überstimulation, in der die Kinder mehr oder weniger intensiv im Kontakt mit einer virtuellen Welt lernen, ohne sinnliche, taktile und direkte Erfahrungen, sich also Wissen aus zweiter Hand aneignen, sei es am TV, am Computer, über Internet etc.? Ich bin mir sicher, dass gerade heute die intermodale Methode (wie auch andere Methoden, die sinnliche und musische Schwerpunkte aufweisen und auf direkten Erfahrungen mit der realen Welt bauen) in der Pädagogik einen

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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wichtigen Stellenwert als ganzheitlicher Kontrapunkt zum Lernen mit Hilfe virtueller Medien einnehmen muss, speziell zur Förderung der Phantasie, der emotionalen Intelligenz und eines fundierten, vielschichtigen Wissens und Verstehens, sowie zur Befriedigung der primären Bedürfnisse der Kinder. Für mich gilt hier wiederum das Prinzip der Ausgewogenheit: „Nichts ist giftig, alles ist giftig. Es käme auf die Dosierung an“ (siehe Kapitel 4.6). Mit anderen Worten: Wichtig scheinen mir der Einbezug der virtuellen Medien und der intermodalen Methode, je nach Situation, Kontext, Bedürfnis, Absicht und Ziel.

In diesem Buch habe ich die Anwendung und die Hintergründe der intermodalen Methode im multikulturellen Kontext beschrieben. Ich hoffe, dass ich andere Menschen anregen kann, nach eigenen Wegen zur „Übersetzung“ des Beschriebenen in den individuellen Berufsalltag zu suchen. Ich hoffe, dass kein Immigrantenkind, kein Kind überhaupt seine persönliche Ausdruckskraft verlieren muss. Ich glaube an jedes Kind, an alle Lernenden überhaupt, dass sie etwas zu sagen haben und es auch sagen wollen, wenn die Zeit reif ist. Ich wünsche mir, dass dieses Buch ein nützlicher und sinnvoller Beitrag zur interkulturellen Pädagogik und auch darüber hinaus darstellt. Beenden möchte ich das Buch mit zwei eindrücklichen Beispielen, die die Wirkung und die Wichtigkeit der intermodalen Methode in der Arbeit mit fremdsprachigen Kindern nochmals unterstreichen:

Rafael. Wir kennen ihn bereits (siehe S. 28). Stets hatte ich den Eindruck, dass er eigentlich ein intelligenter Knabe sei. Er fiel auf wegen mangelnder Konzentrationsfähigkeit wenn er Mathematikaufgaben lösen oder Sätze schreiben sollte. Seine Lesefertigkeit war für sein Alter eher unter dem Durchschnitt, seine mathematischen Fähigkeiten jedoch klar darüber, auch wenn er während der Stillarbeit jeweils nur ganz wenige Aufgaben zu lösen vermochte. Ich sah ihn jeweils in Gedanken versunken an seinem Platz sitzen. Sein Blick schien in die Ferne zu schweifen. Hatte er aber ein Problem innerhalb eines intermodalen Prozesses zu lösen, zeigte er eine hohe und anhaltende Konzentrationsfähigkeit und ein komplexes Denkvermögen. Ich war äusserst froh, auch diese Seite von Rafael kennen gelernt zu haben. Eine solch erste gemeinsame Erfahrung bildete auch der Beginn einer mehr und mehr tragenden

Beziehung,

die

es

uns

möglich machte, auch schwierige Situationen

durchzustehen.

Nuran, elf Jahre alt, Kurdin aus der Türkei. Sieben Jahre lang hatte sie ihre Eltern und Geschwister nicht gesehen. Als die Eltern das Mädchen zu uns in die Klasse brachten, erklärten sie, dass sie geistig zurückgeblieben sei. Sie sah aus wie ein acht Jahre altes Mädchen und machte auf mich einen schüchternen und unsicheren Eindruck. Bis anhin hatte sie bei den Grosseltern gelebt. Längere Zeit hatte ich das Gefühl, dass sie das Lernen der

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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Deutschen Sprache verweigern würde. Die Eltern erzählten, sie würde kaum essen, oft weinen, und ausserdem sei sie böse. Ich hatte den Eindruck, dass sie sehr leiden würde. Schon sehr bald realisierte ich, dass sie während des Unterrichts aufmerksam verfolgte, was im Schulzimmer vor sich ging und viel in sich aufzunehmen schien. Ich erkannte ihr Interesse für Zahlen und Buchstaben, doch sprach sie kein Wort. Ich bemerkte weiter, dass sie sich viel mehr durch Kinder als durch Erwachsene anregen und aktivieren liess. Durch die anderen Kinder lernte sie, sich mit Farben, durch Bewegung und durch Töne auszudrücken, indem sie deren Werke zum Vorbild nahm. Beim Herstellen von Gipsmasken half sie auf sehr vertrauensvolle Art und Weise. Schlussendlich stellte sie eine sehr persönliche Maske her und spielte auf der Bühne als Cimona mit zunehmendem Vertrauen. Und dann begann sie, sich in Deutscher Sprache auszudrücken. Ich denke, dass sie damals damit angefangen hat, ihren Platz in der neuen Umgebung zu finden. Heute, knapp zwei Jahre nach dem Maskenspiel, besucht Nuran eine 4. Regelklasse. Sie sei nach wie vor ein stilles Mädchen das wenig sage, entwickle sich jedoch gut und erbringe gute Leistungen, sagte mir kürzlich eine ihrer Klassenlehrerinnen.

Nuran als Cimona auf der Bühne

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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Anhang

In diesem Anhang stelle ich die Abläufe von Prozessen dar, die im Buch erwähnt sind. Diese Abfolgen sind keine Unterrichtsvorschläge im üblichen Sinn, denn sie können wohl kaum 1:1 übernommen werden. Die Klassen, Gruppen, Situationen und Kontexte sind zu verschieden, und so werden sich die Prozesse auch ganz unterschiedlich entwickeln. Weiter eignet sich nicht jede Abfolge für jede Situation. Der Beschrieb der Abläufe soll viel mehr ermöglichen, meine Arbeit besser nachvollziehen zu können und Anhaltspunkte zu vermitteln. Der eigentliche Sinn liegt darin, die Frage nach der Bedeutung für den eigenen Schulalltag und nach Transfermöglichkeiten in die eigene Situation aufzuwerfen. Die beschriebenen Prozesse sind nur einige von unendlich vielen Möglichkeiten.

1. Das Maskenprojekt Ganze Klasse. Die Schüler und Schülerinnen sind zwischen einem und zwölf Monaten in der Klasse. Im Laufe des Prozesses verliess eine Schülerin die Klasse, zwei Kinder kamen neu hinzu. Der Prozess verlief über siebzehn Nachmittage (Doppellektionen Musik und Gestaltung) von Januar bis Juni 1997. Im Turnunterricht baute ich während der ganzen Zeitdauer immer wieder Bewegungsübungen ein: Gehen, fallen, tummeln in verschiedensten Variationen, mit und ohne Musik. Erster Schritt: Herstellen der Masken (Elf Nachmittage) 1. Einführung des Themas durch ein Maskenbuch, durch Fotos meiner eigenen Masken, durch Fotos, welche zeigen, wie ich selbst eine Gipsmaske erhalte. 2. Herstellen von Gipsmasken. Dazu habe ich zwei Arbeitsplätze bereitgestellt. (Siehe auch S. 44 und 52). 3. Auf die Gipsmasken bauen wir Masken aus Pappmaschee. Aus diesen Papiermasken entstehen nun die definitiven Masken. Zuerst werden die Gipsmasken mit Spülmittel bepinselt, damit eine Trennschicht entsteht und wir später die zwei Masken voneinander trennen können. Eine erste Schicht Pappmaschee (Zeitungsschnipsel in Fischkleister getunkt) wird nun aufgetragen. Ihr folgen zuerst eine Schicht feiner Gaze, dann eine zweite Schicht Pappmaschee, eine weitere Schicht Gaze und eine letzte Schicht Pappmaschee. Die Gaze macht die Maske elastischer und stabiler.

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4. Drei Tagen später trenne ich die Papiermasken von den Gipsmasken. Die Kanten der Maske werden zurecht geschnitten und versäubert. 5. Ich zeige ein Buch und einige Postkarten von Indianermasken aus dem Nordwesten der USA. Mit Kreiden stellen die Kinder Skizzen von Masken her. 6. Bemalen der Aussen- und Innenseiten der Masken mit weisser Acrylfarbe. 7. Bemalen der Masken mit Gouachefarben. Ich fixiere die Farbe mit einem Lackspray. 8. Die Masken erhalten Sehschlitze, ein Gummiband und je nach Belieben Haare, Ohren und andere Attribute. Für einige Kinder war hier der Spiegel der bester Partner. 9. Finden von passenden Namen. Dabei gab ich folgende Anweisungen: Nimm deine Maske. Spaziere mit deiner Maske in der Hand durchs Zimmer. Sprich zu deiner Maske und höre gut hin, was deine Maske zu sagen hat. Vielleicht sprichst du mit ihr in einer Märchensprache? Frage deine Maske nach ihrem Namen. Schreib den Namen auf. 10. Finden von passenden Kleidern. Meine Anweisung: Finde ein oder mehrere Tücher, die zu deiner Maske passen. Die Maske hilft dir, diese zu finden. Verkleide dich. Der Spiegel wird dir dabei helfen. Zweiter Schritt: Das Spiel auf der Bühne (sechs Nachmittage) Spielregeln, die ich mit Kindern einhalte: –

Die Kinder geben ihren Masken Namen; wenn möglich solche, die noch nicht existieren (siehe oben).Geeignete Ausweichmöglichkeiten: z.B. „Schwester oder Freundin von Pocahontas“; „Bruder oder Freund von Batman“, etc.



Die einzelnen Masken werden zu Beginn der Bühnensequenz erweckt durch Anrufen und Hervortreten.



Die Masken werden nur auf der Bühne getragen. Wenn sie nicht gebraucht werden, liegen sie auf einem Tuch vor der Bühne. Im Schulzimmer haben sie ihren Platz an einer Pinnwand.



Allgemeine Anweisung für alle Auftritte: Wenn du an der Reihe bist, dann nimm deine Maske vom Tuch, gehe mit ihr auf die Bühne hinter den Vorhang, zieh dort die Maske an und atme zweimal vor deinem Auftritt gut durch.



Den zeitlichen Beginn und das Ende jeder Szene zeige ich mit einem Glockenton an.



Nach dem letzten Auftritt auf der Bühne, bevor die Masken nach Hause genommen werden, gibt es ein Verabschiedungsritual (siehe weiter unten).



Der Bühnenraum wird, falls keine Bühne vorhanden ist, klar markiert (z.B. mit Malerband); Störendes wird weggeräumt oder mit einem Tuch verdeckt.

Erster Auftritt: Der Begrüssungsauftritt Der Vorhang ist geschlossen. Alle Kinder befinden sich auf der Bühne hinter dem Vorhang. Ich rufe dreimal den Namen einer Maske. Diese tritt auf ihre ganz spezifische Art hervor und stellt sich

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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vor, indem sie sich dreimal verneigt. Das Kind zieht die Maske aus, verlässt die Bühne und legt die Maske aufs Tuch. Dem ersten Kind folgen alle weiteren auf gleiche Art.

Zweiter Auftritt Wie geht die Maske? –

Aufwärmen: Bewegen zum Klavierspiel. Das Klavierspiel ermöglicht mir Wechsel zwischen verschiedensten

musikalischen

Qualitäten,

die

wiederum

verschiedenste

Bewegungsqualitäten hervorrufen. –

Die Kinder finden die besondere Gang- und Bewegungsart ihrer Maske.



Regieanweisung für den Auftritt: Die Maske überquert die Bühne und kehrt wieder hinter den Vorhang zurück.

Dritter Auftritt Regieanweisung: Überquere die Bühne mehrere Male und probiere jedes Mal eine neue Gangart aus. Welches ist die typischste für deine Maske? (Ich gab den Kindern Feedback, indem ich die Gangart, die mich am meisten begeistert hatte, spiegelte. Meine Absicht dabei war, diese spezielle und oft auch ganz neue Bewegungsart zu verstärken. Diese Methode wandte ich während des ganzen Prozesse immer wieder an um die Kinder zu ermutigen und ihnen behilflich zu sein, den Ausdruck ihrer Maske zu klären. Besonders setzte ich sie ein, wenn ein Kind plötzlich etwas ganz neues und eigenes zeigte.)

Vierter Auftritt Wiederholung des dritten Auftrittes. Regieanweisung: Lass deine Maske spielen, und lass sie den ganzen Bühnenraum nutzen.

Fünfter Auftritt Ich stellte den Kindern verschiedene Gegenstände zur Verfügung: Blumen, einen Klavierstuhl, ein Seil, eine Kalimba (Afrikanisches Musikinstrument), ein Schellentamburin, eine Zeitung und einen leeren Harass. Regieanweisung: Leg oder stell den gewählten Gegenstand auf die Bühne. Finde dazu den besten Ort. Tritt dann auf die Bühne und mache, was die Maske am liebsten tun will.

Sechster Auftritt Wiederholung des fünften Auftritts.

Siebter Auftritt Entscheide dich, ob du mit oder ohne Gegenstand auf die Bühne willst. Was bevorzugt deine Maske? Sieben Kinder entschieden sich, ohne Gegenstand aufzutreten, fünf entschieden sich für

«Schaut, was ich zu sagen habe». Intermodales Lernen in multikulturellem Klassen.

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einen Auftritt mit Gegenstand. (Diesmal präsentierten sich die Masken auf sehr persönliche und prägnante Art und Weise.)

Vorbereitung zum Auftritt vor Publikum –

Der Anfang: Üben des Begrüssungsauftrittes (analog zum ersten Auftritt).



Die Szenen: Klären der Anfänge: Jedes Kind wusste, wie es anfangen würde. Alles weitere blieb improvisiert.



Der Schluss: Üben der Schlussverneigung.

Achter Auftritt: Auftritt vor Publikum Das Publikum: Eltern, Geschwister und zwei Klassen unseres Schulhauses.

Finale –

Fototermin auf der Bühne. Regieanweisung: Bewege dich auf der Bühne und bleibe in der besten Stellung stehen (einfrieren). Von jeder Maske entstanden zwei Fotos.



Abschlussritual: Wir sassen in einem Kreis auf dem Boden. Ein farbiges Tuch lag in der Mitte ausgebreitet. Jedes Kind sagte seiner Maske Auf Wiedersehen und legte sie unters Tuch.



Die Kinder nahmen die Masken nach Hause.

2. Thema Gegenteile Fünf Kinder, die Fortgeschrittenen, sind ca. 10 Monate in der Schweiz, zwei Kinder sind seit zwei Monaten in der Schweiz. Diese sprechen Französisch, können also mit mir kommunizieren. Ein Kind ist eben neu in die Klasse eingetreten und versteht und spricht noch kein Deutsch. Alter der Kinder: 7-11 Jahre. Herkunftsländer: Dominikanische Republik, Kosovo, Marokko, Sri Lanka, Türkei, Zaire. Zeitaufwand: ca. 14 - 16 Deutschstunden.

1. Einführen und trainieren von ca. 20 Gegenteilen mit den Fortgeschrittenen. 2. Wiederholen der Wörter mit Hilfe eines Memoryspiels (je Bild und Wort) zusammen mit den Anfängerinnen. 3. Umhergehen im Raum, Gegenteile darstellend: langsam - schnell; gross - klein; rund - eckig; traurig - fröhlich; hell - dunkel; Tag - Nacht; bös - lieb; schwer - leicht etc. 1. Phase: Alle Kinder stellen dasselbe dar. 2. Phase: Zwei Gruppen. Die Gruppen stellen je das Gegenteilige dar ( Gleichzeitig gegensätzliche Elemente erfahren). Während beiden Phasen wechseln die Kinder beim Glockenklang stets in die gegenteilige Rolle. 4. Jedes Kind wählt ein Gegenteilpaar aus. Dem neuen Kind gab ich Bilder von Tag und Nacht (Sonne und Mond mit Sternen). Aufgabe: Instrumente suchen, mit denen diese Gegenteile ausgedrückt werden können. (Ev. genügt ein Instrument zum Ausdruck der Gegensätze; ev.

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werden zwei Instrumente benötigt.) Diese Phase braucht viel Zeit und Unterstützung seitens der Lehrerin. Ev. muss hier die Lehrerin ein Beispiel vorgeben, live und vom Tonband. 5. Vorspielen der Gegenteile; gleichzeitig herstellen einer Tonbandaufnahme. 6. Hören der Aufnahmen. Beurteilung durch das Kind selbst und durch die Gruppe: Trifft das Gespielte das Gewollte? Wenn nötig, sollen solange Neuaufnahmen gemacht werden, bis ein zufriedenes Resultat gefunden ist. 7. Möglicher, aber schwieriger Schritt: Zwei Kinder proben Duette mit einem Gegenteilpaar ( Gleichzeitigkeit von gegensätzlichen Elemente). 8. Malen der gewählten Gegenteile. Einleitung: Hören des Gespielten und bewegen dazu. Blattform: grosse Kreisflächen (d = ca. 1m), eingeteilt und zerschnitten in Viertel oder Sechstel, je nach Kinderzahl. Jedes Kind bemalt zwei gegenüberliegende Kreissektoren. 9. Überprüfung des Gemalten: Zwei beim Malen abwesende Kinder versuchen, die benutzten Wörter den Bildern zuzuordnen. (= wichtiger Schritt: Erlangen möglichst allgemeingültiger Symbole). Diskussion und ev. Anpassungen oder gar Herstellen neuer Bildteile. 10. Zur Vertiefung: Herstellen von Rondellen (d = ca. 25 cm), die beidseitig bemalt werden mit einem Gegenteilpaar (= „Kehrseite der Medaille“). Überprüfung der Resultate durch Erraten der Gegenteilpaare in der Gruppe. Diese Phase kann mit einem Ratespiel verbunden werden. 11. Ev. Anbringen von Anpassungen. Beschriften und Aufhängen der Rondelle an der Decke, so dass sie sich drehen können.

Während der ganzen Zeit wurde mit der Gruppe der Fortgeschrittenen am Thema auch schriftlich und grammatisch gearbeitet. Überlegungen zur Themenwahl Das Thema „Gegenteile“ ist ein Beispiel eines Lerngegenstandes mit grösserer Bildungswirkung, da ein Lebensprinzip enthalten ist: Ambivalenzen, Sowohl-als-auch, Dualismus. Es ist ein Thema, das überall präsent ist und das Philosophen, Psychologen, den Menschen überhaupt immer wieder beschäftigt. Aufgrund eines intermodalen Prozesses wird nicht einfach nur Wortschatz geübt, sondern jedes Kind wird auf diese Art neue Erfahrungen und Erkenntnisse machen, die weit über den Zweitspracherwerb hinausgehen. (Ein Mädchen erklärte z.B.: „Jetzt muss ich noch die Ergänzung finden.“ Offensichtlich hatte sie in jenem Moment zwei Gegenteile als ein Ganzes empfunden.) Es wird am Fundament gearbeitet, auf dem sich Sprache überhaupt - Muttersprache wie auch Zweitsprache - entwickeln kann. Die neuen Kinder konnten gut folgen und lernten nebenbei viele Wörter.

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3. Intermodale Prozesse Arbeit mit Ton (Lehm) Ganze Klasse: Die Kinder sind zwischen zwei und acht Monaten in der Klasse. Während des Prozesses kamen neue Kinder dazu. Der Prozess dauerte viermal zwei Lektionen in Musik und Gestaltung. Mit Ton zu arbeiten erachte ich als wichtig. Es ist ein Material, das die Menschen in den meisten Regionen der Welt seit Urzeiten verwenden und ihnen deshalb sehr nahe ist. Ich habe festgestellt, dass die meisten Kinder sehr schnell und spielerisch Zugang zum Ton finden. Das weiche, feuchte, elastische Material entspannt und bringt Feinheiten zum Vorschein. Damit keine Materialüberforderung entsteht, ist ein intensives Kennenlernen des Materials wichtig. Das passiert übers Spiel. Vieles, was dabei entsteht, ist dem Zufall überlassen: Esswaren, Häuser, Tiere, Babys, Kinder, Vulkane, Kugeln, Schalen, etc. Spontan wird das Entstandene gezeigt und benannt. Das Spiel mit Ton ruft innere Geschichten wach, schlägt Brücken zu den individuellen Welten. Arbeitsort: Kellergeschoss; der Hauswart hat den Boden mit Plastik abgedeckt; wir arbeiten stehend an Tischen. Jedes Kind erhält einen gutes Stück Ton (10 kg für 12 Personen).

1. Erster Nachmittag: Ich fordere die Kinde zum Spiel mit dem für die meisten neuen Material auf. Ich arbeite selbst auch mit und knete, schlage, rolle, forme den Ton. Ich stelle aber nichts Figürliches her. Meine Gebilde verändern sich fortwährend. Ich bin den Kindern Vorbild, die anfangs meist sehr verhalten arbeiten. Mein Spiel animiert die Kinder zum eigenen Spiel 2. Zwischendurch lasse ich die Kinder etwa 5 Minuten lang mit geschlossenen Augen mit dem Ton arbeiten. Einige Kinder bleiben viel länger dabei. Zum Schluss wird alles zu Tonklumpen geformt und diese gemeinsam versorgt. 3. Zweiter Nachmittag: Anfangs versuchen alle, blind eine Kugel zu formen. Freier Übergang ins Spiel. Wer will, kann zu zweit arbeiten. 4. Dritter Nachmittag: Wiederaufnahme des Spiels - Einführen der neuen Kinder in die Arbeit mit Ton. Herstellen eines Produktes, das getrocknet, gebrannt und bemalt werden soll. 5. Einführung in die Grundregeln der Tonarbeit: Aus einem Stück heraus arbeiten; gut verstreichen. Nun brauchen die Kinder ganz intensiv meine Hilfe. Einige Gegenstände müssen zerschnitten, ausgehöhlt und wieder zusammengesetzt werden. 6. Trocknen und brennen lassen der Gegenstände. 7. Vierter Nachmittag: Bemalen der Gegenstände mit Acrylfarbe.

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Prozess: Bild  Text  Musik  Bild Sechs Kinder, ein knappes Jahr in der Schweiz. Während der ersten Lektion treten noch zwei neue Schülerinnen, die noch kein Deutsch sprechen, ein. Der Prozess findet während 10 Deutschlektionen statt. Montagmorgen - die Ferien sind zu Ende. Nach Begrüssung und kurzem Erzählen: 1. Erinnere dich an die Ferien. Erinnere dich an den Freitag vor den Ferien (Da arbeiteten wir zum zweiten Mal mit Ton.). Was möchtest du jetzt gerade malen? Die Kinder malen ihr Bild. (Währenddessen treten die zwei neuen Schülerinnen ein.) 2. Aufhängen der Bilder an der Wandtafel. Betrachten der Bilder. Die Kinder erzählen, was sie gemalt haben. Sie fragen. Es entstehen Dialoge über die Bilder. Rafaels Vulkan stösst auf grosses Interesse. 3. Schreib zu deinem Bild Sätze auf ein Notizblatt. (Ich schreibe die Sätze danach in korrektem Deutsch ab.) 4. Betrachten von Lavastein und eines Buches über Vulkane. 5. Betrachten der Bilder. Jedes Kind liest die von mir korrigierten Sätze vor. 6. Auftrag: Schreib die Sätze in deiner gewünschten Form auf ein farbiges Blatt ab. Kleb das Blatt an oder auf dein Bild. (Unterdessen malen die zwei neuen Schülerinnen ein Bild. Ich schreibe ihnen passende Wörter und Sätze vor. Sie kopieren diese auf ihr Bild. Ein Mädchen beschriftet ihr Bild zweisprachig.) 7. Auftrag: Lerne deine Sätze Zuhause gut lesen. 8. Von nun an nehmen auch die neuen Kinder am gemeinsamen Prozess teil. Jedes Kind präsentiert sein Bild mit dem Text vor der Klasse. Die Texte der neuen Kinder lese ich vor, sie sprechen nach. 9. Instrumente liegen bereit. Auftrag: Was ist das Schönste, dein Liebstes auf dem Bild. Wie tönt es? Suche nach dem besten Klang. Ich demonstriere die Aufgabe am Beispiel eines fremden Bildes. 10. Vorspielen der Klänge, wobei das Bild die Partitur bildet. 11. Wir suchen die Instrumente vom Vortag nochmals heraus. Ich spiele auf jedem Instrument und zeige Möglichkeiten zu differenzierterem Spiel auf. Alle Texte werden nochmals gelesen. Darauf folgt eine kurze Übungsphase auf den Instrumenten. 12. Wiederholung des Musikspiels zu den Bildern. Aufnahme der Musik auf Tonband. Hören der Tonbandaufnahmen. 13. Jedes Kind erhält zwei grosse Blätter, die es in je vier gleich grosse Teile einteilt (für jedes Musikstück einen Teil). Auftrag: Malen der Musikstücke mit Kreiden: Hören eines Musikstücks und malen dazu - Pause von ca. 5 Minuten, um das erste Bild fertig zu malen - hören des zweiten Musikstücks und malen eines zweiten Bildes - Pause zum fertig malen - usw. (Ich male mit, damit die neuen Kinder ihre Unsicherheit überwinden können.)

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14. Betrachten der Resultate. Ich rufe bei den Kindern nochmals den ganzen Prozess in Erinnerung. Die Kinder entscheiden, die Bilder zu einem Buch zusammenzuheften und nach Hause zu nehmen. Prozess: Vom Bild zum Text Die Kinder sind ein knappes Jahr in der Schweiz. Montagmorgen - die Ferien sind zu Ende - die Kinder übersprudeln, möchten erzählen. Nach Begrüssung und kurzem Erzählen: 1. Erinnere dich an die Ferien. Was möchtest du jetzt gerade malen? Die Kinder malen ihr Bild. 2. Schreib zu jedem fremden Bild einen Satz. 3. Lies die erhaltenen Sätze und kleb sie auf die Rückseite deines Bildes. 4. Grammatikalischer Input: Jeder Satz beginnt gross und endet mit einem Punkt. 5. Schreib zu deinem Bild vier Sätze auf ein Notizblatt. 6. Ich schreibe die Sätze in korrektem Deutsch ab. 7. Ich lese mit jedem Kind seine Sätze. 8. Schreib die Sätze in deiner gewünschten Form ab. Kleb das Blatt an oder auf dein

Bild.

9. Lerne deine Sätze Zuhause gut lesen. 10. Jedes Kind präsentiert sein Bild mit dem fremden und dem eigenen Text vor der ganzen Klasse. 11. Die Klasse entscheidet, die Bilder im Gang aufzuhängen. Beispiel eines Kontakts zur Kunst von Erwachsenen Ganze Klasse. Die Kinder sind unterschiedlich lang in der Klasse. Ziel: Kontakt zur Kunst von Erwachsenen, zur „Profiwelt“ schaffen am Beispiel Peter und der Wolf von Sergej Prokofjew. Dauer: 3 Lektionen. Viele der Kinder haben selber schon eigene Bilder vertont. Der Kontakt mit der Kunst der Erwachsenen gibt den Kindern Boden, fördert den Selbstwert: „Was ich mache, macht Sinn. Auch Erwachsene vertonen Bilder, Geschichten.“ Vorangehende Selbsttätigkeit (z.B. selbst zu einem Bild Musik kreieren; Umsetzung von Personen und Figuren in Bewegung) vertieft den Prozess und fördert das Verstehen der Musik. Das Resultat sind grosse Freude und Zufriedenheit.

1. Erzählen des Bilderbuches Peter und der Wolf. 2. Im Singsaal: Welches sind die Personen und Figuren des Buches? Zuordnen von Bildern und Namenkarten. 3. Umsetzung der Personen und Figuren in Bewegung und Töne. Wenn nötig, erweitere ich, z.B. gebe ich die Anweisung: Wie schleicht eine Katze einen Vogel an? 4. Die Kinder legen sich auf den Boden. Ich spiele von jeder Person und jeder Figur zweimal die Originalmusik ein (ohne Wortbegleitung).

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5. Beim dritten Anhören versuchen wir die Musik den Personen und Figuren zuzuordnen. 6. Zurück im Schulzimmer: Hören der ganzen Geschichte und gleichzeitiges Zeigen des Bilderbuches. Wer will, kann dazu zeichnen. 7. Die Kinder nehmen der Reihe nach das Buch und die Musikkassette nach Hause.

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Literaturangaben

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Über die Autorin Elisabeth Hösli, Pädagogin M.ed. und Supervisorin BSO, war gut zwanzig Jahre als Primarlehrerin tätig, wovon die letzten vierzehn Jahre an einer Integrationsklasse für fremdsprachige Kinder in Zürich-Aussersihl. Heute arbeitet sie freiberuflich im Bildungswesen in Beratung, Supervision, Schulentwicklung, Aus- und Weiterbildung. Schwerpunkte sind intermodales Lernen, interkulturelle Fragen, Bildung und Entwicklung in multikulturellen Schulen und Menschenrechtsbildung. Publikation: englischsprachige Version dieses Buches unter dem Titel «I Have Got Something To

Say, But I Don’t Know Your Language Yet!» Intermodal Learning in Multicultural Urban Education. New York: Peter Lang 2000.

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