Was ist ein guter Arzt?

January 7, 2017 | Author: Guido Kohler | Category: N/A
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DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

Preis Deutschland 3,80 €

Ausgerechnet die beliebten Hausärzte müssen sich des Vorwurfs erwehren, sie seien nicht mehr zeitgemäß. Das verstört viele Patienten. Ein kleiner Führer durch die Sprechzimmer der Republik

WISSEN

Titel: Smetek für DZ (Foto: Plainpicture)

SEITE 39–41

Nr. 18

29. April 2010

Deutsch wie wir

Wir haben Muslime und Deutsche gefragt, was sie voneinander halten. Die Ergebnisse erstaunen – und irritieren POLITIK SEITE 3–5

Was ist ein guter Arzt?

Der letzte Sirtaki

Mit Gott und Allah

Griechenland ist am Ende. Wir müssen helfen – und dann sofort die Spielregeln der Währungsunion neu schreiben VON UWE JEAN HEUSER

Keine Angst vor Kopftuch und Kruzifix: Was der Streit um die muslimische CDU-Politikerin Aygül Özkan lehrt VON JAN ROSS

Spinnen die Griechen? Nach den Banken jetzt die Hellenen – mit Milliarden aus Deutschland sollen sie gerettet werden. Verdienen sie das? WIRTSCHAFT SEITE 24/25

Gurskys Welt

Ein Gespräch mit Deutschlands teuerstem Fotografen über seine neuen Bilder, seinen Ehrgeiz und die Frau an seiner Seite ZEITMAGAZIN

Helden der Provinz Von Jesus in Oberammergau bis Techno aus dem Kongo 52 SEITEN ZEIT-KULTURBEILAGE

Das Lawinenrisiko ist hoch. In diesem Spiel speist die Skepsis sich selbst, wie sich am Dienstag dieser Woche zeigte. Eine Agentur für Risikobewertung stufte Griechenland herab – demnach sind die Anleihen der Hellenen nur noch Ramschware. Kaum war die Neuigkeit heraus, schnellten die Zinsen für Griechenland an den Finanzmärkten nach oben, die Börsen rauschten talwärts. Auch Portugal erlebte einen Schock. Seine Zinsen liegen zwar weit unter den griechischen, aber innerhalb von zwei Tagen verdoppelten sie sich fast. Wenn die Geldgeber einem Land nicht mehr vertrauen, fordern sie horrende Margen für neue Kredite. Die wiederum können das Land schnell überfordern. Seit dieser Woche ist endgültig klar: Ohne Hilfe ist Griechenland pleite – und könnte andere Länder mitreißen. Damit das nicht geschieht, braucht das Land Zeit, und die können nur wir ihm kaufen. Zu Recht hat Angela Merkel verhindert, dass Europa den Griechen bedingungslos hilft. Endlich beginnen sie zu sparen. Trotzdem ist Berlin nicht ehrlich mit uns. Die Regierung will uns weismachen, man müsse den Griechen als Gegenleistung für die Hilfe nur ein ultrahartes Sparprogramm

a www.zeit.de/audio

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eligionspolitisch herrscht in Deutschland Unordnung, und das ist auch gut so. Dies ist ein Land von Gläubigen und Ungläubigen, die es beide in einer toleranten und einer militanten Spielart gibt. Es ist das Land der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges, ziemlich gleichmäßig geteilt in Protestanten und Katholiken – schon das Christentum selbst ist hier pluralistisch. Das Judentum, das die Nationalsozialisten ausrotten wollten, wird durch Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion belebt und gewandelt. Dann sind da neuerdings die Muslime. Das alles wird zusammengehalten durch eine eigentümliche Rechtsordnung, in der Staat und Religion nicht verbunden, aber auch nicht säuberlich getrennt sind, in der ein weltanschaulich neutrales Gemeinwesen trotzdem Kirchensteuern eintreibt und an den staatlichen Schulen Religionsunterricht anbietet. Gut ist diese etwas widersprüchliche Buntheit, weil sie der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts entspricht. In einer Welt der Migration und der Globalisierung kann man Staaten nur um den Preis großer Spannungen darauf gründen, dass alle dasselbe glauben (wie in SaudiArabien) oder dass Religion öffentlich irrelevant ist (wie in Frankreich). Aber auch für das relativ entspannte Deutschland bringt die Menschenund Glaubensvielfalt gesellschaftlichen Stress mit sich. Das ist die eigentliche Bedeutung des Streits um die später zurückgezogenen Äußerungen der neuen niedersächsischen Sozialministerin Aygül Özkan, die zum Ärger ihrer christdemokratischen Parteifreunde gegen Kruzifixe in Klassenzimmern Stellung nahm: Dies ist ein typischer, zukunftsträchtiger Konflikt; wir werden mehr davon erleben. Der Übergang in die multireligiöse Gesellschaft kann sich gar nicht anders als unter heftigem Rumpeln vollziehen. Nicht nur sind neue Spieler hinzugekommen wie die Muslime – und eine zunehmend akzeptierte radikale Religionsfeindschaft, die in jedem Glauben bloß noch Aberglauben sieht (nach der Devise: Papst Benedikt XVI. gehört als Chef einer KinderschänderBande vor Gericht). Auch die Frontlinien im weltanschaulichen Streit verlaufen inzwischen kreuz und quer. Natürlich kann man, »konservativ«, dem Islam misstrauen, weil man um das christliche Abendland fürchtet. Aber es sind auch, ebenso »konservativ«, christlich-muslimische Bündnisse im Zeichen von Sitte und Anstand, Moral und Familie vorstellbar. Der CSU-Mann Peter Gauweiler hat dafür ein Beispiel gegeben, als er erklärte, Kopftuchmädchen seien ihm lieber als Arschgeweih-Mädchen. Und »linke« Islamkritiker (die Religion für das Opium des Volkes halten) stehen gegen »linke« Islamfreunde (deren Herz für Ausländer und fremde Kulturen schlägt). Es war billig und unfair, sich über eine junge Politikerin aufzuregen, die in diesem unaufgeräumten, vollgestellten ideologischen Porzellan-

laden ein paar Schüsseln vom Regal gestoßen hat. Experimente, auch missglückte, gehören zum Suchprozess, den die Bundesrepublik beim Thema Einwanderung und Glaubensvielfalt durchmacht. Doch ist Aygül Özkans ursprüngliche Idee, die totale Reinigung der Schule von religiösen Symbolen, ob nun Kopftuch oder Kruzifix, deshalb richtig? Das ist sie nicht – obwohl viele sie einleuchtend finden. Sie ist es deshalb nicht, weil sie einem falschen Ordnungs- und Klarheitsbedürfnis entspringt, einem religionspolitischen Sauberkeitswahn. Die Versuchung, im Glaubenschaos der Gegenwart auf den Tisch zu hauen und Tabula rasa zu machen, sich den ganzen lästigen Weltanschauungskram einfach mit einem Schlag vom Halse zu schaffen, ist groß, aber man muss ihr widerstehen. Die Türkei, aus der Aygül Özkans Familie stammt, hat seit ihrem Gründer Kemal Atatürk den vollkommen laizistischen, von aller öffentlichen Frömmigkeit gereinigten Staat zu schaffen versucht. Das Projekt ist gescheitert; heute regiert in Ankara mit Ministerpräsident Erdoğans AKP eine Partei, die ihre Wurzeln im politischen Islam hat. Unterdrückte, verleugnete, vergessene Religiosität hat die Tendenz, mit Macht wiederzukehren.

Jeder Glaube ist zunächst einmal gleich respektabel und human Der Laizismus ist für Deutschland (und für die CDU/CSU) ebenso wenig eine Lösung wie die nostalgische Beschwörung einer längst brüchig gewordenen christlichen Nationalidentität. Die vernünftige Haltung ist eine allgemeine, aufgeklärte, tolerante und nicht unkritische Religionsfreundlichkeit. Nicht gleich verdächtig und bedrohlich sind alle Glaubensrichtungen, sondern zunächst einmal gleich respektabel, interessant und human – und dann muss man näher hinsehen. Dass Fanatiker sich im Namen der Religion über das Recht hinwegsetzen, dass sie ihre Töchter nicht zur Schule schicken oder ihnen, wenn sie erwachsen sind, die freie Wahl des Ehepartners verweigern, kann der Staat nicht dulden. Aber vor Kopftüchern oder Kruzifixen soll er sich nicht fürchten. Aygül Özkan hat am Dienstag ihren Amtseid als Ministerin mit der religiösen Beteuerungsformel geleistet: »So wahr mir Gott helfe!« Zum ersten Mal hat ein deutsches Kabinettsmitglied in einem deutschen Parlament Allah angerufen – und zugleich war der Name, der dabei ausgesprochen wurde, derselbe wie für den christlichen Gott. Eine Szene, in der das ganz Ungewohnte und das sehr Vertraute zusammenkamen. Und ein schönes Symbol für das Betreten eines Neulands, in dem uns noch viele Abenteuer begegnen werden, aber vor dem wir keine Angst haben müssen. a www.zeit.de/audio

ZEIT ONLINE Von Düsseldorf bis Hannover: Die Landespolitik entdeckt den Charme der Integration a www.zeit.de/integrationsminister

PROMINENT IGNORIERT

Guidos Goethe Hurra! Ein Sieg! Jawoll! Der deutschen Sprache voll wird bald auch Brüssel seyn. Denn, so hat die dortige Ministerin für das Äußere verkündet, künftig wird »die Sprache Goethes« in ihrem Amte eine Rolle spielen, und zwar eine große. Das hat errungen Guido Westerwelle, der darob zufrieden ist mit sich und den Seynen. Da fehlen uns vor Freude die Worte, drum sagen wir es mit Goethen aus Auerbachs Keller: »Tara lara da!« BUL Kleine Fotos: Michael Trippel/laif; Smetek; Sebastian Drueen/API; Franka Bruns/AP (v.o.n.u.)

ZEIT Online GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] Abonnentenservice: Tel. 0180 - 52 52 909*, Fax 0180 - 52 52 908*, E-Mail: [email protected] *) 0,14 €/Min. aus dem deutschen Festnetz, Mobilfunkpreise können abweichen

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Prüfen wir, ruft die Kanzlerin – und weiß es doch besser

abringen, dann erhielte Deutschland seine 8,4 Milliarden Euro mit Zins und Zinseszins zurück. Doch die Europäer sind besser darin, Verträge zu unterschreiben, als sie zu halten. Kaum ein Land, das nicht schon einmal gegen den Euro-Vertrag verstoßen hätte. Man stelle sich vor, die empörten Griechen drohten linke oder rechte Extremisten zu wählen und sparten weniger. Würde Deutschland sie fallen lassen? Wohl kaum. In Wahrheit beginnt jetzt ein Ringen mit ungewissem Ausgang. Krisen sind Zeiten der Wahrheit. Und diese Krise zeigt, wie zerrissen Europa ist. Grob gesagt, sind die Volkswirtschaften im Norden stärker geworden, während der Süden das Leben auf Kredit genoss. Die unterschiedlichen Mentalitäten sind auch im Streit um die Hilfe für die Griechen zusammengestoßen. Der Süden wollte um jeden Preis helfen, der Norden hohe Hürden für die Hilfe errichten. Genau dieser Gegensatz gefährdet den Euro. Und er macht die Forderung aus Brüssel so illusorisch, als Antwort müsse Europa nun eine gemeinsame Finanzpolitik betreiben. So weit ist der Kontinent nicht, immer wäre eine Seite dabei unglücklich, und wahrscheinlich würden es beide sein. Gleichwohl profitiert kaum ein Land so stark vom Euro wie die Bundesrepublik. Schon deswegen dürfen wir uns nicht auf das vage Versprechen verlassen, als Antwort auf das griechische Debakel werde Europa weiter zusammenwachsen. Wie in der Bankenkrise ist auch in der gegenwärtigen Staatenkrise die schnelle Rettung nur der erste Schritt. Ein Regelwerk muss folgen, das den nächsten Crash verhindert oder wenigstens lindert. Bloß gilt für die Politik: Retten ist einfacher als reformieren. Das hat sie schon im Umgang mit den Banken offenbart. Aber so wie die Geldhäuser neue Regeln brauchen, damit sie vorsichtiger werden, so muss sich auch Euroland neu verfassen. Eine unabhängige Behörde sollte fortan die Schulden der Mitgliedsländer bewerten, damit Kreditblasen wie am Mittelmeer oder in Irland gar nicht erst entstehen. Wenn ein Mitgliedsland die anderen gefährdet, muss das Land gemeinsam mit der Behörde gegensteuern. Kredite erhält der Sünder nur gegen Pfand. Und ist er nicht mehr zu retten, muss er die gemeinsame Währung verlassen. Oft genug haben die Euro-Länder die eigenen Regeln gebrochen. Als sie Griechenland und Italien ohne große Prüfung aufnahmen, obwohl alle Welt wusste, dass dort nicht sauber gerechnet wurde. Als sie hoch verschuldeten Staaten später die fällige Rüge oder Strafe erließen. Künftig sollten sie sich vor solchen Fehlern bewahren, indem sie sich unbeugbaren Regeln unterwerfen. Denn mit einer einfachen Wahrheit hatten die Gegner des Euro schon immer recht: Was wirtschaftlich falsch ist, kann politisch nicht richtig sein. Richtig wäre es, den Euro gegen politische Versuchungen zu schützen. Jedenfalls solange Europa nicht reif ist für eine gemeinsame Finanzpolitik.

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s wäre einfach, es wäre gerecht, und es würde uns erst einmal nichts kosten, die Griechen pleitegehen zu lassen. Sie haben über ihre Verhältnisse gelebt und müssten mit einem Staatsbankrott ebenso für ihre Sünden bezahlen wie die Banken, die ihnen zu viel Geld geliehen haben. Das wäre auch eine Lektion für alle anderen, die meinen, sie könnten ungestraft eine Schuldenorgie feiern. Wie gern würde man so argumentieren. Menschliches Gefühl und wirtschaftlicher Gedanke – hier sind sie endlich einmal eins. Beide sagen, jedes Land und jede Bank sind für die Folgen ihres Handelns verantwortlich. Nur dann funktioniert Europa, nur dann funktioniert der Kapitalismus. Schade nur, dass die einfache Antwort in diesem Fall die falsche ist. Verwirft man sie, ist es gar nicht mehr einfach. Es wird vielmehr schwer, ungerecht, und es kostet uns Deutsche erst einmal 8,4 Milliarden Euro. Retten oder nicht retten – niemand weiß genau, wozu es führte. Die Psychologie der Märkte ist ebenso wenig vorherzusagen wie das Verhalten der Griechen. Doch eilt die Welt ihnen nicht zur Hilfe, droht die Finanzkrise schnell, sehr schnell zurückzukehren. Griechenland könnte seine Schulden im Ausland nicht mehr bedienen. Allein in Deutschland wären Kredite von 45 Milliarden Euro und damit erneut auch einige Banken bedroht. Auftrieb erhielten dagegen Spekulanten, die seit Monaten gegen Griechenland wetten. Als Nächstes attackierten sie wahrscheinlich Portugal, dann Irland, dann Spanien, dann vielleicht gar Italien.

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POLITIK

29. April 2010 DIE ZEIT Nr. 18

WORTE DER WOCHE

Der MalefizSpieler

»Tod und Verwundung sind Begleiter unserer Einsätze geworden, und sie werden es auch in den nächsten Jahren sein – wohl nicht nur in Afghanistan.« Karl-Theodor zu Guttenberg, Bundesverteidigungsminister (CSU), auf einer Trauerfeier für getötete Soldaten

»Kritik aus dem Finanzministerium an der FDP wie in den vergangenen Wochen wird künftig zu Gegenreaktionen führen.« Jürgen Koppelin, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, zum koalitionsinternen Streit über Steuersenkungen

Sich nicht festlegen, dem Gegner den Weg verbauen: Jürgen Rüttgers könnte die NRWWahl mit der FDP oder den Grünen gewinnen – oder alles verlieren VON TINA HILDEBRANDT

»Christliche Symbole gehören nicht an staatliche Schulen.« Aygül Özkan, niedersächsische Sozialministerin (CDU), über Kruzifixe in Klassenzimmern

»Sie hat sich quasi auf dünnes und glattes Eis begeben, und da kann man schon mal ins Rutschen kommen.« Christian Wulff, Ministerpräsident Niedersachsens (CDU), über Özkans Äußerungen

»Ich sage nicht, dass in den ersten sechs Monaten alles gelungen wäre.« Guido Westerwelle, Bundesaußenminister (FDP), über den Start der schwarz-gelben Koalition

»Die deutsche Regierung will nicht Griechenland retten, sondern den Spekulanten helfen.« Gesine Lötzsch, designierte Parteichefin der Linken, über Finanzhilfen für Athen

»Sie werden ihr letztes Hemd verlieren.« Giorgos Papakonstantinou, griechischer Finanzminister, über Spekulanten, die auf Griechenlands Bankrott wetten

»Ein System kann nicht verändert, sondern nur gestürzt werden.« Viktor Orbán, Ungarns künftiger Ministerpräsident, über die Zweidrittelmehrheit seiner Partei im Parlament

»Man kann sagen, dass die Abgeordneten einen Mangel an parlamentarischer Haltung zeigen.« Wiktor Janukowitsch, ukrainischer Präsident, zu Handgreiflichkeiten im Kiewer Parlament bei der Debatte über ein Militärabkommen mit Russland

»Die Daumen sind beim Fahren sehr wichtig. Außerdem signalisieren sie Erfolg.« Fernando Alonso, ehemaliger Formel-1-Weltmeister, über eine Versicherung in Höhe von 10 Millionen Euro, die er für seine Daumen abgeschlossen hat

ZEITSPIEGEL

Teure Heimat Die Zahl mag niedrig sein und gibt doch Anlass zum Staunen: 502 im Ausland lebende US-Bürger haben im letzten Quartal 2009 ihre Staatsbürgerschaft abgegeben, mehr als doppelt so viele wie im gesamten Jahr zuvor. Der Organisation American Citizens Abroad zufolge treiben jedoch nicht Terrorismusgefahr oder Tea-Party-Bewegung die Expats zur Fahnenflucht, sondern ganz profan: das liebe Geld. Die US-Steuerbehörden bitten Staatsbürger auch dann zur Kasse, wenn sie an ihrem ausländischen Wohnsitz Steuern zahlen. Zudem sind strengere Bankregeln in Kraft getreten, Auslandsvermögen über 10 000 Dollar müssen nun gemeldet werden. Die Vereinigten Staaten werden diesen Aderlass verkraften können – im Jahr 2009 haben sie 743 715 Immigranten eingebürgert. GFA.

NÄCHSTE WOCHE IN DER ZEIT

Jürgen Rüttgers Jürgen Rüttgers wird in Köln geboren, sein Vater hat einen Elektroladen. Er macht Abitur, studiert Geschichte und Recht und tritt in die Junge Union ein 1987 Einzug in den Bundestag 1991 bis 1994 Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion 1994 bis 1998 »Zukunftsminister« in Helmut Kohls Kabinett 1999 Landesvorsitzender der CDU in Nordrhein-Westfalen 2000 Im Streit um die Green-CardAktion der Bundesregierung fordert Rüttgers »Kinder statt Inder«, Niederlage bei der Landtagswahl 2005 Rüttgers gewinnt die Landtagswahl mit 44,8 Prozent 2005 Kritik an »Lebenslüge« der Union, Steuersenkungen führten stets zu mehr Wohlstand; schlechtes Ergebnis bei der Wiederwahl in den CDU-Bundesvorstand 1951

Foto (Ausschnitt): Christopher Adolph/action press

Foto: Tommaso Bonaventura/laif

Eine muslimische Frau, die sich in Deutschland mit einem Kopftuch auf der Straße zeigt, ist das Opfer eines übermächtigen Ehemanns und einer repressiven Religion. Stimmt das? Am Kopftuch entzündet sich immer wieder aufs Neue eine heftige Debatte um den Islam in der liberalen Demokratie. Wer dem Weg des Kopftuchs folgt, vom Stück Stoff zum Symbol eines Kulturkampfes, der trifft irritierend selbstbewusste Frauen. DOSSIER

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m 9. Mai wird Jürgen Rüttgers mit seiner Stratege Boris Berger für Rüttgers das Image des ArbeiterFrau Angelika und den Söhnen frühstü- führers erfunden, des Johannes-Rau-Nachfahren. Uncken, vermutlich wird er sich ein Brötchen ermüdlich hat Rüttgers Rau zitiert, er hat Rau-Symposien mit Nutella gönnen. Dann wird er ins abgehalten und ist wie Rau nach Israel gefahren. Er hat Wahllokal in Pulheim-Sinthern gehen, sogar eine Rau-Büste enthüllt, während die SPD vor Entzuversichtlich gucken und sein Kreuz bei der CDU rüstung fast kollabiert wäre. In seiner Partei galt Rüttgers immer als gewiefter machen. Acht Stunden später wird Jürgen Rüttgers der neue Hoffnungsträger seiner Partei sein, vielleicht, wenn Organisator der Macht, einer, der einen guten Riecher er ein schwarz-grünes Bündnis zimmert, sogar die für Themen hat, aber auch als Taktierer und Zauderer, Nummer zwei der CDU. Avantgarde. Der Mann, der der sich nicht aus der Deckung wagt, als erfolgreicher einen Fluchtweg aus der schwarz-gelben Tristesse in Opportunist. In den letzten Jahren konnte man sich Berlin kennt. Oder er wird eine politische Eintags- fragen: Warum eigentlich? Rüttgers war der Erste in der CDU, der für eine Abkehr vom Leipziger Reformkurs fliege sein, ein Niemand. Noch 18 Tage bis zur Wahl, Jürgen Rüttgers besucht eintrat. Nicht heimlich wie die Kanzlerin, sondern geradie Firma Mohs in Hamm, Tore, Türen, Stahlhandel. deheraus. Beim Parteitag 2006 in Dresden trat Rüttgers Firmenchef Wilhelm Mohs, ein munterer Westfale, führt mit seiner Position an und wurde mit 57,5 Prozent als durch die Werkshalle. Vize abgestraft. Er hat etwas riskiert, einen Preis bezahlt, Rüttgers: »Die Türen sind alle genormt?« und es hat sich gelohnt. Der Kurswechsel passte zu seinem Mohs: »Die sind genormt.« neuen Image als Arbeiterführer. Nächste Station, Thema Decken. Rüttgers: »Wenn Rüttgers schien seine Rolle gefunden zu haben. Er, man sehen will, wie richtig Decken gegossen werden, der schon als Pfadfinder mit Pfeife wie ein Mitte 50-Jähmuss man also zu Ihnen?« riger wirkte, schien bei sich und in seinem Alter ange»Ja, aber das nimmt ab.« kommen zu sein. »Ich hab da mal ’n kleines Aufsätzchen »Wieso?« geschrieben«, lautet eine seiner stehenden Redewendun»Es wird immer mehr ohne Keller gebaut oder mit gen. Mit einem Aufsätzchen fing seine Revolte gegen die Fertigteilplatten.« Sozialreformen an, nachdem er ausgiebig die Ökonomen »Ernsthaft?« Müller-Armack, Röpke und Eucken gelesen hatte, mit »Ernsthaft.« seinen Aufsätzchen treibt er Generalsekretär Andreas Am Ende sagt Rüttgers, er sei froh, dass es dem Un- Krautscheid zur Verzweiflung, wenn der sich mal wieder ternehmen gut gehe. Ob Mohs mitbekommen habe, dass um maximale Vereinfachung im Wahlkampf bemüht die Regierung die Kurzarbeiterregelung verlängert habe? und sein Chef haufenweise »Papierchen« zu tausendundHabe er, sagt Mohs, habe man aber nicht gebraucht. einem Thema anfertigt, weil er findet, da müsste man Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai auch mal drüber nachdenken. ist die wichtigste politische Wahl der nächsten drei Jahre. »Der Rüttgers«, sagt Jürgen Flimm, Leiter der SalzWenn Schwarz-Gelb in Düsseldorf scheitere, sei es auch burger Festspiele mit rheinischen Wurzeln und künftiger in Berlin gelaufen, sagt Jürgen Rüttgers im kleinen Kreis. Intendant der Staatsoper Unter den Linden, »das ist einer, Nein, keine Neuwahlen, aber es würde ohne Bundesrats- mit dem würde ich gern mal spazieren gehen, reden.« mehrheit ein einziges Gewürge. Nordrhein-Westfalen, Kennengelernt habe er Rüttgers vor fünf Jahren im Braudas größte Bundesland, galt immer als Modell für die haus Päffgen in Köln, einem heiligen Ort, dort habe man ganze Republik. Und nun erreicht der wichtigste Wahl- Kölsch getrunken, nicht zu knapp. Später saß Flimm in kampf der nächsten Jahre sein Publikum nicht, er hat Rüttgers’ Zukunftskommission, die von Ralf Dahrendorf kein Thema, er hat kein aufregendes Personal, stattdessen geleitet wurde, bis der zu krank war, und dann von Bodo geht es um »Mobilisierung« und »Demobilisierung«, wie Hombach, dem früheren Schröder-Mann, heute Gees im Wahlkämpfer-Jargon heißt: die eigenen Leute an schäftsführer der WAZ-Mediengruppe. Auch so einer, die Wahlurne bringen und die anderen vertreiben. »Frü- den man nicht unbedingt an der Seite von Rüttgers verher«, sagt Bodo Hombach, der Johannes Raus Wahl- muten würde. Der Rüttgers, sagt Flimm, sei einer, »der kämpfe geplant hat, »war Politik Mensch ärgere Dich wirklich daran interessiert ist, den renovierungsbedürfnicht, heute ist es Malefiz.« Das Spiel, bei dem es darum tigen Laden NRW ins 21. Jahrhundert zu bringen«. Opportunistisch? »Überhaupt nicht!« Man kann solche geht, dem anderen das Ziel zu verbauen. Beim Malefiz-Wahlkampf in NRW kann alles raus- Gespräche auch mit anderen Mitgliedern der Zukunftskommen: Rot-Grün, Schwarz-Gelb, eine Große Koali- kommission führen, der Frauenrechtlerin Alice Schwartion. Niemand traut sich eine Prozer, dem Grünen Hubert Kleinert gnose zu. Eigentlich ist das eine Sioder Bodo Hombach. Alle be»Ich hab da mal ’n tuation wie für Jürgen Rüttgers geschreiben Rüttgers als offen, macht. Rüttgers, der immer als neugierig, sogar lustig. Merkwürkleines Aufsätzchen Mann des Sowohl-als-auch galt. dig: Je weiter man von der CDU Bleibt die CDU stärkste Partei, wird weggeht, umso positiver wird das geschrieben« – seine Stärke darin liegen, dass er Bild von Jürgen Rüttgers. die Wahlkämpfer der mehrere Koalitionsoptionen hat. In seiner direkten Umgebung Rüttgers hat bei Kohl und dagegen scheint sich in den letzCDU haben diese Schäuble gelernt, er ist ein alter ten Monaten PolitikverdrossenHase. Das Problem ist nur: Das Alte heit ausgebreitet zu haben. Je Formulierung zu vertraulicher die Gespräche, funktioniert nicht mehr. Das spürt fürchten gelernt desto mehr stellt sich der Einer, das spüren sie um ihn herum. druck von Auflösung ein. Kann Was klappt, weiß keiner. Also maes sein, dass ausgerechnet ein chen alle einfach weiter wie gehabt. In Hamm besucht Rüttgers die Lebenshilfe, die sich Durch-und-durch-Politiker wie Rüttgers vergessen hat, um Behinderte kümmert und Träger des Tierparks ist. seine ureigene Machtbastion, den Apparat, zu sichern? Vorbei geht es an Plakaten, auf denen unter der ÜberRüttgers sitzt in seinem Wahlkampfbus, auf dem Weg schrift »Kompetenz garantiert« ein ernsthafter Minister- zur Seniorenunion nach Bielefeld. Wie reagiert er auf all präsident mit Stift und Papier, ganz Kopf, bei der Arbeit das, die Unsicherheit, die Krisen? Gar nicht. Dass seine Herausforderin Hannelore Kraft so gut dasteht? Ganz zu sehen ist, offenbar spätabends. Menscheln muss es aber auch. Die Sonne scheint, der normal. Ein rot-grünes Revival? Abwegig. Rüttgers hat nie zu der Sorte Ministerpräsidenten Ministerpräsident hat den Tierpark erreicht, es riecht nach Ziegen. Die Tiere schauen die Besucher an, die Besucher gehört, die auf dicke Hose gemacht hätten. Machohafte schauen Rüttgers an. Ein Bürger zückt den Fotoapparat. Allüren liegen ihm fern, er war immer dazwischen, der Älteste der Jungen, der Jüngste aus der Kohl-Riege. Als Rüttgers fragt: »Wollnse mit drauf?« sein hessischer Parteifreund Koch im Wahlkampf in »Ja.« »Kommse her.« Bedrängnis geriet, ließ dieser den wilden Roland raus, Der Ministerpräsident steuert auf ein Kind zu, Justin, warf sein mühsam errungenes Image als gemäßigter sechs Jahre alt, und erkundigt sich nach der Schule. Aus Landesvater über Bord und wurde kenntlich als der, der dem Spalier der Zuschauer ertönt vereinzelter Beifall. er immer gewesen war. Und Rüttgers? Rüttgert wieder. »Haben wir nicht schönes Wetter heute?«, fragt Rüttgers Schimpft ein bisschen auf Rot-Rot, aber auch nicht zu einen Besucher, der brav zustimmt. »Haben wir extra für doll, begeistert sich in seinen Reden für eine umweltSie gemacht.« Kinder, Fotos, Wetter, so geht es immer freundliche Industrielandschaft, Projekte wie die grüne weiter und das alles ist so wie aus der Zeit gefallen, man Lunge Emscher oder »Innovation City«, rudert aber zustaunt, dass es solche Auftritte wirklich noch gibt. rück, wenn es darum geht, daraus ein politisches Projekt »Sie werden gleich unsere Tiger sehen«, kündigt Tho- oder gar eine schwarz-grüne Koalitionsoption zu machen. mas Hunsteiger-Petermann an, der OB von Hamm, »mit Und wird so im Wahlkampf immer unkenntlicher. Früher, sagt Bodo Hombach, habe es eine VerflechHammenser Namen!« Dann kommen alle am Raubtiergehege an, der Tiger tung zwischen Land und Regierungspartei gegeben, »die heißt Hammlet. »Sollen wir die Angela Merkel da rein- man als völlig normal empfand und die ewig schien. Das werfen?«, juchzt ein Lebenshilfe-Zögling begeistert. war kein Filz. Das war Beton.« Das Unternehmen RWE »Nein!«, ruft Rüttgers spontan. Dabei könnte man sich etwa wurde als Latifundium der SPD gesehen und bevorstellen, dass er die Angela Merkel ganz gern da rein- nahm sich auch so. Wurde im WDR zu negativ über die werfen würde, zusammen mit Guido Westerwelle. SPD berichtet, kam ein Anruf aus der Staatskanzlei: »Der Vor fünf Jahren wurde Rüttgers nicht gewählt, weil Johannes ist traurig.« So läuft das nicht mehr. 235 000 er so gut, sondern weil Rot-Grün im Bund so schlecht weniger Arbeitslose trotz Krise, 8000 Lehrerstellen und war. Jetzt ruft die SPD dazu auf, die Wahl in Düsseldorf fast 80 000 Kindergartenplätze mehr, nach fünf Jahren zur Denkzettelwahl für Berlin zu machen, und wenn es ist Rüttgers’ Bilanz so schlecht nicht. Er selbst aber sagt: am 9. Mai zu einem rot-grünen Bündnis reichen sollte, Für Bilanzen wird man nicht gewählt. dann hat Rüttgers nicht verloren, weil er so schlecht war, Die Wahl stehe »auf Messers Schneide«, sagt Rüttgers sondern weil Schwarz-Gelb im Bund so katastrophal ist. in Bielefeld, da gebe es nichts zu beschönigen. SchmalUnd weil ausgerechnet Rüttgers, dem Vorsichtigen, Miss- lippig, nervös, beleidigt, so gar nicht wie Johannes Rau trauischen, ein paar Fehler unterlaufen sind, die ihn nun wirkte der 58-Jährige beim TV-Duell gegen seine Gegeinholen. Mal geht es um Dienstwagen, die nicht abge- nerin Hannelore Kraft am Montagabend. Die Kölner holt, aber doch halb legal bestellt wurden, mal um Spen- Vulkanhalle, in der die Sendung aufgezeichnet wurde, denquittungen, mal um die Frage, ob die CDU in NRW verließ er nicht als Sieger. Er würde gern weitermachen. Weil man mit der versucht hat, ihren Chef zu vermieten. Alles zusammen verdichtet sich zu dem Eindruck, dass es im Umfeld des Wahl zum Ministerpräsidenten zwar ein Amt aus eigenem Recht hat, kein abgeleitetes wie ein Minister, Regierungschefs nicht ganz sauber zugeht. Die stärksten Momente hat Rüttgers, wenn er gegen aber erst die Wiederwahl die politische Feuerprobe ist. die Finanzwelt wettert, das »Casino, das schon wieder Weil er noch so viele Aufsätze und Papierchen im eröffnet ist«. Nur hat es jetzt einen seltsamen Bei- Kopf hat. Der Beton sei aufgebrochen, sagt Hombach. geschmack, wenn er über die Krise redet, die im Kern »Aber es ist noch kein neues Bauwerk entstanden.« Wenn er Zeit hat, geht Jürgen Rüttgers gern mal eine moralische sei. Wie das denn habe kommen können mit der Sponsoring-Affäre, will ein Bürger bei Rüttgers’ zur Architektenkammer, einfach so, ohne Kameras, »Zuhör-Tour« in Borken wissen. »Ist Ihnen das noch nie um vom Planen und Bauen zu träumen. Man wüsste passiert«, sagt Rüttgers kleinlaut und reibt die Finger an- schon gern, wie ein echter Rüttgers aussieht. Mit Maeinander, »dass Sie was übersehen haben?« Er hat ein biss- lefiz-Steinen kann man nicht bauen. chen viel übersehen, und das ist schlecht für die Mobilisierung der eigenen Truppe, ein Malefiz-Steinchen an der falschen Stelle. Rüttgers gegen Kraft: Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen bei Kühl sei Rüttgers, misstrauisch, kein Kommunikator, ZEIT ONLINE: www.zeit.de/nrw heißt es in der eigenen Partei über ihn. Deshalb hat sein a www.zeit.de/audio

Deutsch wie wir

29. April 2010 DIE ZEIT Nr. 18

POLITIK

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Foto: Murat Türemis/laif

Muslime an der Macht Hessischer Landtag 1995, Plenarsitzung, Mittagspause. Ich bin 24 Jahre alt und seit einigen Monaten Abgeordneter. Es herrscht großes Gedränge beim Anstehen in der Kantine. Ein älterer CDU-Abgeordneter steht hinter mir und sagt dann freundlich: »Na, Al-Wazir, wenn dann mal die Moslems die Macht übernehmen, dann legst du doch ein gutes Wort für mich ein, oder?« Bis heute habe ich nicht vergessen, wie perplex ich damals war. Ich war einfach nur sprachlos. Der Abgeordnete, der heute keiner mehr ist, war das, was im Parlament ein »Original« genannt wird. Bis heute weiß ich nicht, was in seinem Kopf vorging. Wollte er witzig sein? Hat mein Name bei ihm Ängste ausgelöst? Wusste er überhaupt, ob und was ich glaube? Heute, 15 Jahre später, kann ich über die Bemerkung schmunzeln. Wahrscheinlich würde heute auch kein CDU-Abgeordneter mehr einem Neuabgeordneten mit offensichtlichem Migrationshintergrund gegenüber eine solche Bemerkung machen. Im Jahr 2010 sind die Özdemirs und Al-Wazirs glücklicherweise auch nicht mehr die Exoten, die sie Mitte der neunziger Jahre in deutschen Parlamenten waren. Die Frage, die ich mir heute manchmal stelle, ist: Wie viele Abgeordnete denken an die absurde Frage der »Machtübernahme der Moslems«, ohne sie auszusprechen? TAREK AL-WAZIR, 39, IST LANDESVORSITZENDER DER HESSISCHEN GRÜNEN

Gebieter vom Kiez Ich wohne an der Hermannstraße in BerlinNeukölln. Wir haben hier viele Geschäfte, wo frau preisgünstig shoppen kann. Hier stehen Rudis Resterampe, Ein-Euro-Shops und Preisknüller. Das einmal im Jahr stattfindende Hermannstraßenfest ist das prolligste, das man sich vorstellen kann. Da gibt es neben Döner nur Bratwurst zu essen und Billigstwaren aus den anliegenden Shops zu kaufen. Vor ein paar Jahren gab es einen Stand, der T-Shirts für 50 Cent anbot. Die waren vom letzten Christopher Street Day übrig geblieben. Wer reißt sich um die Billig-T-Shirts? Die ganzen Kopftuchmuttis! Eine Woche später gehe ich auf den Türkenmarkt am Maybachufer und sehe dort einen türkischen Familienvater mit Gebetsperlen in der Hand und einem T-Shirt unter seiner Tweedjacke mit der Aufschrift »GAYbieter«. DORTMUND Gebet am Arbeitsplatz

SERPIL PAK, PSYCHOLOGIN UND KABARETTISTIN

Wir. Ihr. Hier. Kennen Sie eigentlich einen Muslim? 18 Begegnungen in Deutschland: Eine Konfrontation mit der Wirklichkeit

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en genau meinen wir eigentlich, wenn wir von »Muslimen in Deutschland« reden? Meinen wir wirklich vier Millionen Unbekannte in irgendwelchen Sozialstatistiken? Nur wenige deutsche Muslime haben es zu bundesweiter Prominenz gebracht: der Filmemacher Fatih Akin zum Beispiel, Aygül Özkan, die neue Sozialministerin von Niedersachsen, oder Mesut Özil, der Fußballspieler von Werder Bremen. Aber wenn wir uns fragen, ob es unter unseren Nachbarn, Kollegen, Freunden, Familienangehörigen auch Muslime gibt – auf wie viele kommen wir dann? Wie vielen sind wir nach Jahrzehnten der Einwanderung nach Deutschland begegnet? Und wie viele Muslime in Deutschland haben mehr als nur flüchtige Kontakte zu Christen, Juden, Atheisten?

Die ZEIT hat diese Fragen gestellt. Wir wollten von Politikern, Schriftstellern, Krankenschwestern, Arbeitern und von unseren Kollegen aus der Redaktion wissen: Wann war Ihr muslimischer Moment? Wir haben sie, Muslime wie Nicht-Muslime, um Anekdoten und Erinnerungen an Erlebnisse mit dem »anderen« gebeten, um Alltagserlebnisse, die keine alltäglichen Gefühle ausgelöst haben, sondern: Erstaunen, Hilflosigkeit, Glück, Wut oder Angst. Entstanden sind lauter wahre Short Storys, die von den Berührungspunkten zwischen den Kulturen, Konfessionen, Glaubenswelten handeln. Wer die Begebenheiten nacheinander liest, bekommt auch eine Ahnung von der Blutleere und Lebensferne der gängigen Diskurse über Zuwanderung und Integration. Das ist jedenfalls die Absicht dieser Collage: Wir wollten heraus aus den anonymen politischen Debatten, die

VON ÖZLEM TOPÇU UND HEINRICH WEFING

sich nicht mit Menschen befassen, sondern – auf beiden Seiten – vorzugsweise mit Klischees hantieren, mit Stereotypen und Ängsten, mit »Kopftuchmädchen« und »Islamkritikern«, mit Importbräuten« und »Ausländerhassern«. Wir wollten näher an die Wirklichkeit heran, in den verschiedensten Facetten, in möglichst unterschiedlichen Tonlagen. Viele der Autoren, die wir um einen Text gebeten haben, haben begeistert mitgemacht. Ihre Geschichten stehen auf den folgenden drei Seiten dieser Ausgabe, und weitere finden sich im Internet auf ZEIT ONLINE unter www.zeit.de/ muslimische-momente. Gar nicht wenige aber, von denen wir uns einen Beitrag gewünscht hätten, haben abgelehnt – auch das gehört zum Bild. Manche, weil sie den Gedanken, in Menschen Gläubige zu erkennen, empörend fanden. »Keine individuellen

Menschen vor sich zu sehen, sondern, je nachdem, Juden, Muslime, Kommunisten, Anthroposophen, führt zu Mord und Totschlag«, schrieb uns eine Berliner Schriftstellerin, und ein anderer Autor meinte: »Es gibt in Deutschland keine Begegnungen mit dem Islam, sondern ständige Begegnungen mit Verlierern, die in einem aussichtslosen, unnötigen Überlebenskampf untergehen und gegen einander gehetzt werden.« Andere lehnten ab, weil sie sich nur an schlechte Erfahrungen mit Muslimen erinnern konnten, die sie nicht verallgemeinern wollten. Sie hatten die Befürchtung, als fremdenfeindlich oder islamophob angesehen zu werden. Und ziemlich viele haben nichts geschrieben, weil ihnen, als sie über unsere Frage nachdachten, plötzlich auffiel, dass in ihrem Leben gar keine Muslime vorkommen – abgesehen von einigen Taxifahrern und Gemüsehändlern vielleicht.

Fremd in der Friedrichstraße

Rückenfrei, rücksichtslos

Es dauerte zwei Kaffee und ein Mineralwasser, bis ich begriff, dass die deutsche Gesellschaft und ich doch ziemlich verschlossen sind. Ich saß der Schulsprecherin einer Problemschule in Berlin-Neukölln gegenüber, einem Mädchen von 15 Jahren, das ein Kopftuch trug. Die Tage zuvor hatte ich sie auf dem Schulhof und in ihrer Klasse beobachtet. Sie war immer laut, lustig und immer umringt von anderen Mädchen, die auch Kopftücher trugen. Die Lehrer hatten sie mir als Gesprächspartnerin empfohlen. Sie habe sich gut entwickelt, sagten sie. Früher habe sie oft andere Schüler verprügelt, heute sei sie eine der Vernünftigsten. Das klang gut, fand ich. Eine Schulsprecherin mit Kopftuch und Vergangenheit. Eine solche Geschichte passe sicher vorzüglich, um die Schwierigkeiten einer Problemschule zu beschreiben. Ich sagte, sie solle mir ihren Alltag beschreiben. Sie sagte, da sei ihre Familie, die Schule und die Moschee. In den letzten Wochen sei ein Gastprediger aus Beirut da gewesen, man habe mit ihm gebetet und über Religion und das Leben gesprochen. Das war schön, sagte sie. Sie erzählte, dass sie in Berlin geboren und erst einmal in Beirut gewesen sei. Sie sagte, sie möge Berlin sehr, aber mit Deutschland fremdle sie, sie wisse nicht, was das

Der erste Türke meines Lebens hieß Ali. Das heißt, genau genommen weiß ich nicht, ob er wirklich Türke war oder einen Migrationshintergrund hatte. Das Wort gab es in den Siebzigern noch nicht, jedenfalls nicht im Erftkreis in der Nähe von Köln. Was es gab, war die allgemeine Schulpflicht, die von Ali oder seinen Eltern nicht sehr ernst genommen wurden. Ali wurde etwa jeden zweiten Tag von der Polizei zur Schule gebracht. Das waren die spektakulären Tage, an denen es etwas zu sehen gab. Die Tage, an denen Ali nicht kam, waren die besseren, denn Ali hatte die Angewohnheit, seine Mitschüler mit allem zu schlagen, mit dem man ausholen konnte, meistens riss er zu diesem Zweck Brennnesseln aus. Wir waren sieben, Ali war älter. Irgendwann kam er nicht mehr. Wir waren nicht besonders traurig. Später ging ich aufs Gymnasium, der Schulweg führte vorbei an einer Hochhaussiedlung, in der fast nur Türken wohnten. Für mich hieß das: fünf Minuten Angst, so lange, wie es dauerte, bis man an den Hochhäusern vorbei war. Erleichterung, wenn nichts passiert war, niemand gedroht, niemand mich beschimpft, mir

sei, Deutschland. Ich fragte, was sie an Berlin möge, und sie sagte, na ja, im Grunde sei es ja Neukölln, sie verlasse Neukölln nie. Und natürlich fragte ich dann, wie alle immer fragen, warum sie Neukölln nicht verlasse. Ob es daran liege, dass sie sich nur in den Mauern ihrer gewohnten Welt, der Neuköllner Migrantenwelt, wohlfühle. Die Schulsprecherin sagte, sie würde schon gerne was anderes sehen, und zweimal sei sie auch nach Charlottenburg gefahren, auf den Kurfürstendamm. Aber es sei einfach unglaublich, wie sie angestarrt wurde. Sie traue sich da einfach nicht mehr hin. Nach dem Gespräch fuhr ich von Neukölln zurück ins Büro und dachte, dass ich nichts, gar nichts von der Welt dieser 15-jährigen Berlinerin weiß. Und die nächsten Tage achtete ich darauf, wie viele Frauen mit Kopftuch ich auf zwei der prominentesten Berliner Straßen sah, der Friedrichstraße und Unter den Linden. Drei habe ich nach drei Tagen gezählt. Drei von einigen Hundert. Weniger geht fast nicht. Und ich fragte mich, ob dies mehr an Menschen wie mir liegt oder an Leuten wie der Neuköllner Schulsprecherin. STEPHAN LEBERT, 49, IST REDAKTEUR DER ZEIT

An den Gräbern

den Weg verstellt oder mich mit irgendetwas beworfen hatte. An der Schule selbst gab es kaum Türken, zu den Feten kamen sie aber ab und zu, selten in guter Absicht. Manchmal gab es Ärger zwischen den Türken und den deutschen Jungs, dann schlugen die Türken vor, doch mal kurz rauszugehen. Man ging mit einem raus und traf draußen zehn. Manchmal fasste einem jemand von hinten zwischen die Beine, man konnte sich darauf verlassen, dass es ein Türke war. Irgendwer erklärte einmal, das habe mit der anderen Kultur zu tun: ein Mädchen, das kein Kopftuch trage, dafür aber einen tiefen Rückenausschnitt, sei aus türkischer Sicht eben »leicht zu haben«. Der einzige nette Türke, den ich in meiner Schulzeit kannte, war ein liebenswürdiger kiffender Anarchist. Bei unseren Ausflügen mit dem Auto in die nahe gelegenen niederländischen Coffeeshops musste er sich auf dem Rückweg immer hinlegen, sonst konnte man sicher sein, an der Grenze kontrolliert zu werden. Wir haben ihn trotzdem immer mitgenommen.

Gottes ist der Himmel, Gottes ist die Erde, selten aber weiß der Mensch, wo er hingehört. Meine Mutter hätte sich wohl kaum vorstellen können, eines Tages in Berlin beerdigt zu werden. Sie verschob die Entscheidung über die letzten Dinge fast bis zu ihrem letzten Tag. Doch am Ende hatte sie beschlossen, dort zu ruhen, wo ihr Mann und Sohn leben. Also machte ich mich auf die Suche nach einem islamischen Friedhof in Berlin. Die Suche endete an einer Moschee mit umliegendem Friedhof im Stadtteil Neukölln. Das Grundstück war ein Geschenk des Preußenkönigs an den befreundeten Sultan. Drum herum befinden sich Soldatengräber aus dem Ersten Weltkrieg. Teile des Friedhofs wurden den Muslimen zur Verfügung gestellt. Und dieser Teil des Friedhofs wächst. Christen werden hier nicht mehr bestattet, damit man auch nach dem Tod unter sich bleiben kann. Allerdings behindern zahlreiche Verordnungen und Vorschriften die muslimischen Bestattungsrituale. Nicht gestattet ist es beispielsweise, bloß in weißem Leichentuch und ohne Sarg bestattet zu werden. Also trugen wir an einem tristen Berliner Novembertag den Sarg meiner Mutter an die Grabstelle und versenkten ihn tief in die Erde, tiefer als bei jeder muslimischen Bestattung üblich. Der Imam sang die Sure Ya-Sin aus dem Koran, eine eindrucksvolle Beschreibung der Wiederauferstehung am Ende der Tage. Die Stille eines Friedhofs übersetzt jeden einzelnen Laut in alle Sprachen. Die angrenzenden christlichen Gräber lauschten. Die meisten muslimischen Gräber auf diesem Friedhof sind Kindergräber. Alte Menschen muslimischen Glaubens lassen sich fast immer in ihrer Heimat bestatten. Nur die Kinder bleiben hier und inmitten von ihnen also meine Mutter. Etwas in mir hellte auf an diesem traurigen Tag, dem traurigsten meines Lebens. Wie gut das zu ihr passte, zu der Frau, die ihr Leben lang im Beruf und in ihrer Seele Pädagogin gewesen war. Eine der türkischen Frauen, Jahrgang 1923, die den Schleier ablegten und einen Beruf ausüben konnten, der sie erfüllte. Eine Pionierin. Auch in ihrer letzten Ruhestätte, in Berlin.

TINA HILDEBRANDT, 40, IST REDAKTEURIN DER ZEIT

ZAFER ŞENOCAK, 49, IST SCHRIFTSTELLER

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POLITIK

Deutsch wie wir

29. April 2010 DIE ZEIT Nr. 18

Foto: Matthias Jung/laif

»Ey, Bürgermeister!« Mehr als ein Drittel der Neuköllner sind Migranten. Und wenn ich durch den Stadtteil laufe, ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich die Menschen in den Arm nehmen möchte. Wie vor einigen Tagen, als ein Auto neben mir hielt, der Fahrer das Fenster herunterdrehte und sagte: »Ey, Bürgermeister, wie geht es dir? Wir kennen uns. Du hast mich eingebürgert. Geht es dir gut?« Oder als mich kürzlich eine türkischstämmige Neuköllnerin ansprach: »Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Menschen unser Land ruinieren«. Sie meinte nicht die deutsche Trinkerfamilie. Manchmal aber muss ich auch Zorn, in mir unterdrücken. Das passiert, wenn ich Verwahrlosung erlebe. Wenn ich, wie neulich wieder, als »Nazischwein« beschimpft werde. Nur weil ich einen jungen Mann bat, sein Auto aus der Einfahrt wegzufahren, statt sich mit seinem Cousin am Straßenrand zu unterhalten. HEINZ BUSCHKOWSKY, 62, IST BEZIRKSBÜRGERMEISTER VON BERLIN-NEUKÖLLN

Körperverletzung Amtsgericht Tiergarten, Saal B 131. Weiße Wände, grüne Plastikstühle. Zwei Wachtmeister führen K. herein, geboren 1988 in Berlin, vierter Sohn türkischer Eltern, kein Schulabschluss, derzeit in der Jugendstrafanstalt, dreieinhalb Jahre wegen gefährlicher Körperverletzung. Jetzt steht K. wieder vor Gericht. Weil er im Knast einen anderen Häftling mit Urin begossen haben soll. Eine tätliche Beleidigung. Das Opfer ist als Zeuge geladen: Tommy, ein blasser Jüngling, arbeitslos, blau-weiß gefleckte Jeans, viel Metall in Wange, Lippen, Nase. Tommy guckte aus dem Fenster seiner Zelle, als ihn eine Ladung Feuchtes traf, abgefeuert aus der Nachbarzelle. In der K. saß. Tommy brüllte los, »da kam schon die nächste Furie«. Er meint: die nächste Fuhre. »Dit is Pisse, hab ick gemeckert.« K. hört schweigend zu. Er trägt ein bisschen Bart am Kinn, Gel im kurz rasierten Haar und schaut aus dem Fenster. Draußen regnet es. Drinnen läuft es gut für ihn. Tommy will sich irgendwie an nichts mehr erinnern. Die Richterin sagt ungehalten, er habe doch Anzeige erstattet. Tommy zuckt mit den Achseln. »Dit war für mich keene große Sache«, nuschelt er. Ob er sich denn wenigstens sicher sei, was da über ihn gegossen worden sei. »Nee, eigentlich nich.« Der Zeuge wird entlassen. Die Staatsanwaltschaft fordert eine Einstellung des Verfahrens, K.s Anwalt einen Freispruch. Die Kammer berät kurz, dann wird K. freigesprochen. »Sie sehen«, sagt die Richterin, »der Rechtsstaat wirkt auch zu Ihren Gunsten.« K. geht zurück in die Haft, ein leichtes Lächeln im Gesicht. HEINRICH WEFING, 44, IST REDAKTEUR DER ZEIT

BONN Abschlussfeier der Universität

Üben für den Koran Ich traf ihn in einer Hamburger Moschee. Ein schmächtiger Junge mit schüchternem Blick. Der »Stolz der Moschee«. Rauf ist ein Hafis – einer, der den Koran im Herzen trägt. Mehr als 400 Seiten Text kann er herunterbeten. Eine große Leistung für einen 14-Jährigen, lobe ich. Doch versteht er die Worte? »Nicht immer«, sagt er. Der Koran ist in Arabisch verfasst, sagt Rauf. Gut zwei Jahre hat er geübt. Im Himmel, da ist sich Rauf sicher, hat er vor vielen anderen Muslimen einen »großen Vorsprung«, vor den Ungläubigen sowieso. Ach, Rauf, denke ich, hättest du nur lieber Deutsch oder Mathe gelernt. Statt ins religiöse Ghetto hätte der Weg vielleicht aufs Gymnasium geführt. Doch dann erzählt er, dass er nicht nur den Koran gern lese, sondern eigentlich alles, was er in die Hände bekomme. Und in seiner Klasse sei er ohnehin der Beste. Nach der Realschule

Oma auf der Matte möchte er Abitur machen, studieren. Sein Vater will, dass Rauf Arzt wird. Für Rauf kommt nur Jura infrage. Anwalt möchte er werden, vielleicht einmal Politiker. Um der Gemeinschaft zu dienen. »Und um meine Religion zu verteidigen.« Rauf ist fromm und fleißig, eifernd und eifrig. Seine Moral ist streng, seine Prinzipien stehen fest. Muslimische Frauen, die ihren Kopf nicht bedecken, werden einst von Allah bestraft. Davon lässt er sich nicht abbringen. Aber Rauf setzt sich auch für seine Mitschüler ein. Egal, ob sie an Allah, Christus oder den HSV glauben. Vielleicht wurde er deshalb zum Schulsprecher gewählt. Vor einiger Zeit hat er eine Party organisiert. Selbst mittanzen durfte er nicht. Aber den anderen hat es gefallen. »Bei Allah gibt das Punkte«, sagt Rauf. MARTIN SPIEWAK, 46, IST REDAKTEUR DER ZEIT

Die deutsche Oma wohnte unter uns. Jeden Tag stand sie vor der Tür, um sich über unseren Lärm zu beschweren. Mal war es zu laut in der Küche, die uns auch als Badezimmer diente. Mal war es zu laut im Wohnzimmer, das uns auch als Kinderzimmer diente. Sie kam jeden Tag, kurz vor oder nach der Mittagszeit, und versuchte meiner Mutter klarzumachen, dass es nun einmal zu laut sei. Gemeinsam versuchten wir herauszufinden, woran es lag. »Da rrrrollt immer etwas über meinem Kopf!«, sagte sie unversöhnlich, während meine Mutter so tat, als würde sie etwas verstehen. Wir luden die deutsche Oma auf einen Tee ein, damit sie sich selbst davon überzeugen konnte, dass wir keinen Lastwagen im Wohnzimmer versteckten. Sie wollte nicht. Wir ahnten, dass wir etwas falsch machten – es musste an uns liegen! Also schleppten wir nach und

nach alles, was irgendwie »rrrrollen« konnte, an die Tür, um es der deutschen Oma zu zeigen: Spielzeugautos, kleine Plastiksoldaten samt Panzer, die mein Bruder aus der Türkei mitgebracht hatte, und einen Schreibtischstuhl. So standen wir da vor der Oma, eine türkische Mutter, ihre beiden kleinen Kinder, alle noch nicht so richtig des Deutschen mächtig, und ein Schreibtischstuhl. »Da!«, schrie die Oma nur und zeigte auf das Möbelstück. Fortan kam ein dicker Läufer unter den Schreibtischstuhl, der dann auf diesem Untergrund eh nicht mehr »rrrrollen« konnte. Das Rollen hörte auf, aber die Oma stand dennoch täglich auf der Matte. Ich glaube, nicht der dickste Orientteppich der Welt hätte die Geräusche der fremden Familie dämpfen können. ÖZLEM TOPÇU, 33, IST REDAKTEURIN DER ZEIT

Die katholische Araberin Vor einigen Monaten rief mich eine Journalistin (XX) einer bundesweiten Tageszeitung an. Es ging um ein Telefon-Interview zum Thema Islam. XX: Guten Tag. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen. Wollen wir gleich anfangen? DUNJA HAYALI: Klar, gern, nur eines vorweg: Sie wissen ja, dass ich keine Muslima bin? XX: Wie jetzt? Sie kommen doch aus dem Irak. HAYALI: Also auch das stimmt nur zum Teil. Meine Eltern kommen aus dem Irak, ich bin in Deutschland geboren. Aber so oder so, mein Vater ist syrisch-orthodox, und meine Mutter ist Katholikin – genauso wie ich. Ich war sogar mal Messdienerin. XX: Aber sind nicht alle Perser Muslime? HAYALI: Äääääähhh, also ganz grob erklärt: Nur die Iraner sind Perser, alle anderen, dementspre-

chend auch die Iraker, sind Araber. Sie sind Araberin? HAYALI: Gefühlt richtig und natürlich auch Deutsche, aber eben definitiv keine Perserin. XX: Und Muslima. HAYALI: Nein, immer noch nicht. XX: Aber Iraker sind doch größtenteils Muslime. HAYALI: Die meisten schon. Aber es gibt eben auch noch Christen und einige wenige Jesiden. XX: Hmmm, wir wollen aber mit jemandem sprechen, der Muslim ist. HAYALI: Da kann ich Ihnen wohl nicht helfen. XX: Da macht das Interview ja gar keinen Sinn. HAYALI: Ja, das glaube ich auch. XX:

DUNJA HAYALI, 35, IST JOURNALISTIN UND MODERATORIN DER ZDF-NACHRICHTENSENDUNGEN »HEUTE-JOURNAL« UND »MORGENMAGAZIN«

Unsichtbar Er stand vor mir, direkt vor mir. Hätte er in meine Augen geblickt, was ihm ein Leichtes gewesen wäre, hätte er die Farbe der Iris erkennen können. Doch er blickte mir nicht in die Augen. Er sprach mit meinem Begleiter, Nordafrikaner wie er. Ein kurzes Treffen auf einer Straße in Hamburg, ein paar Worte, ein paar flüchtige Küsse auf die Wangen. Doch die Frau neben dem Mann ignorierte er vollständig. Es war nicht so, dass er mich einfach nicht ansah, dass er mir nicht die Hand gab, dass er mir nicht zunickte. Er ignorierte mich, er grenzte mich

aus, obwohl wir die gleiche Straße teilten. Das habe mit Respekt zu tun, erklärte mein Begleiter später. »Frauen komplett zu ignorieren hat mit Respekt zu tun?« Er nickte. »Manche Menschen glauben, dass sie einer Frau dadurch Respekt zeigen, dass sie sie nicht beachten.« Plötzlich war das meine Straße, meine Stadt, mein Land. Ich wollte nicht, dass dieser Mann, der mich ignoriert hatte, Teil meiner Realität war. Ich fand es verachtend. ELISABETH KNOBLAUCH, 35, IST DIPLOM-POLITOLOGIN

Der andere 11. September Die Moschee liegt etwas versteckt im Industriegebiet. Als ich sie an einem Freitag besuche, beäugen mich die Männer, die zu Dutzenden vor dem Haus stehen, misstrauisch. Drinnen beten die Gläubigen. Bis vor einiger Zeit haben das auch mehrere junge Muslime hier getan, bevor sie von Bonn aus in den Dschihad zogen. Verfassungsschützer vermuten, dass sie heute im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet sind. Ich bitte um ein Gespräch und werde an den Vereinsvorsitzenden verwiesen. So lange möge ich warten. So stehe ich auf dem Hof der Moschee, mitten in meiner Heimatstadt, und verstehe kein Wort der Unterhaltung. Ich merke, wie ich gemustert werde. Dann kommt der Vorsitzende. Er

gibt mir jovial die Hand und redet viel. In einem freundlichen Ton sagt er: »Die Muslime werden zu Unrecht in die Ecke gedrängt.« Er spricht von Gerüchten, die dazu dienten, »uns alles in die Schuhe zu schieben«. Die Männer, die sich mittlerweile um uns herum versammelt haben, nicken. »Es ist doch längst bewiesen, dass der 11. September kein Anschlag war. Sondern eine Sprengung.« Der Vorsitzende lächelt, als hätte er gerade etwas ganz Selbstverständliches gesagt. Der Dschihad und das Gedankengut, das ihn beflügelt: Sie fühlen sich in meiner Heimatstadt ungemütlich nah an. CHRISTIAN DENSO, 38, IST REDAKTEUR DER ZEIT

Foto: Stefan Enders/Gruppe28

Willkommen in Antakya Besuch im Antakya, April 2009. Auf diese Station meiner Türkeireise habe ich mich besonders gefreut. Das friedliche Zusammenleben der Religionen – in Antakya ist es seit Jahrhunderten Realität. Von der Vielfalt der Religionen bekomme ich beim Empfang im Archäologischen Museum einen persönlichen Eindruck: Muslime, Christen und Juden sind miteinander ins Gespräch vertieft. Mittendrin der Organisator des Abends: Nihat Sorgic, Leiter des Bildungswerkes in Berlin-Kreuzberg. Schmunzelnd kündigt er mir einen Überraschungsgast für später an. Ich bin gespannt! Ortswechsel ins Theater der Stadt, zum Auftritt des »Chors der Zivilisationen«. 55 Sänger stimmen einen Kanon an. Mir und allen anderen Zuhörern läuft ein Schauer über den Rücken. Die Mitglieder singen in Türkisch, Arabisch und Griechisch. Die Verschiedenheit der Sprachen ist der Reichtum des Chores und fügt sich zu großer Harmonie. Die Chormitglieder gehören unter-

schiedlichen Religionen an. Nicht nur beim Auftritt, auch hinterher wird deutlich, wie gut sie miteinander auskommen. Antakya ist in der Tat Sinnbild von gegenseitigem Respekt und Empathie. Diesem Gedanken hänge ich noch einige Minuten nach dem Auftritt nach. Plötzlich steht ein Mann vor mir, den ich zunächst völlig ungläubig anschaue. Es ist mein türkischstämmiger Friseur aus Berlin. »Willkommen in Antakya, Frau Böhmer!« Das ist der Überraschungsgast! Als sich mein Staunen gelegt hat, klärt er mich auf. Er habe in Berlin von meinem geplanten Besuch in Antakya erfahren und sich spontan entschieden, nachzukommen. Um ein Zeichen zu setzen: für die Verständigung der Kulturen. Über 3000 Kilometer für ein gutes Miteinander von Berlin und Antakya: Dieser Abend bewegt mich noch heute! MARIA BÖHMER, 60, IST INTEGRATIONSBEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG

Prügel nebenan »Wir«: deutsche Studenten, Mitte zwanzig, linksalternativ, ökologisch. »Die anderen«: zwei Großfamilien aus der Türkei. Der Chef ist Herr Yilmaz, (vielleicht hieß er auch anders), zweites Hinterhaus, erster Stock. »Wir« und »die anderen« grüßen freundlich. »Die anderen« beobachten irritiert, wie »wir« den Hinterhof zwecks Begrünung aufreißen. »Wir« halten uns die Nase zu, weil »die anderen« ihren Plastikmüll im Ofen verbrennen. Eines Tages ertönt Gebrüll aus der Wohnung von Herrn Yilmaz’ Tochter, frisch verheiratet, erstes Hinterhaus, zweiter Stock. Wir klingeln und sagen dem keuchenden Ehemann, der sie gerade hinter das Wohnzimmersofa geprügelt hat, dass wir die Polizei holen.

»Nicht nötig«, sagt er. »Alles ruhig jetzt.« Wir klingeln bei Herrn Yilmaz: »Ihr Schwiegersohn verprügelt Ihre Tochter!« »Möchten Sie einen Tee?«, fragt Herr Yilmaz. »Nein. Es wäre besser, Sie kämen mit zu Ihrer Tochter.« Herr Yilmaz besteht auf einem Tee. Seine Tochter, erklärt er, fahre allein in der U-Bahn, was weder er noch ihr Gatte zulassen könnten. Wir nicken und sagen, dass wir die Polizei rufen, wenn das Prügeln nicht aufhört. Es bleibt ruhig im ersten Hinterhaus, zweiter Stock. Drei Wochen später trinken »wir« und »die anderen« wieder Tee. Bei der Einweihung des Hinterhofs – und tun, als wäre nichts gewesen. ANDREA BÖHM, 48, IST REDAKTEURIN DER ZEIT

DUISBURG Eine Besucherin vor der größten Moschee Deutschlands

Beschnitten oder am Stück Allein gelassen mit meiner Identitätsverwirrung in der einzigen jüdischen Familie in Papenburg, gab es einen Wendepunkt in meinem 14. Lebensjahr. Mein Vater hatte beschlossen, mich mit dem Sohn eines türkischen Geschäftsfreundes zu verkuppeln, der gerade ein Bekleidungsgeschäft im Ems-Center eröffnet hatte. Treffpunkt war um 14 Uhr vor dem Lotto-Laden im Erdgeschoss. Ich sah, wie ein Typ in Jeans und Vision-Street-Wear-Hoodie die Rolltreppe herunterkam. Mir fiel ein, dass er ja Türke war und vielleicht gar kein Deutsch sprach, da fragte er mich auch schon: »Bist du Oliver?« Er sprach genauso gut Deutsch wie ich und war genauso deutsch wie ich. Beziehungsweise genauso wenig. Wir setzten uns vor das Ems-Center, plauderten, und schon nach wenigen Minuten spürten wir eine Art von Seelenverwandtschaft: Wir feierten beide kein Weihnachten, Osterhasen waren tabu, beide waren wir beschnitten, durften kein Schweinefleisch essen, hatten beide strenge, dominante Mütter und eine lange Liste offener Identitätsfragen. Und jetzt versuch mal, Identitätsfragen in Papenburg zu klären. Eines aber unterschied uns. Ich konnte es damals noch nicht definieren, aber er kam mir immer ein bisschen unausgeglichen vor. Als hätte er eine Wut in sich, die ihn ständig nach einem Ventil suchen ließ. Ich war nur Außenseiter, er Ausländer. Ich wurde nur unterschwellig ausgegrenzt – bei ihm war es manchmal erschreckend offensichtlich. So kam er zum Beispiel in die meisten Discos nicht rein, in die es noch der abgefuckteste Emsländer schaffte. Er war auch politisch interessiert – zumindest wenn es Abwechslung versprach. Einmal

schleppte er mich ins Einkaufscenter, um Papenburg von den Neonazis zu befreien. Er wollte, dass wir das Parkhaus mit ein paar Graffiti besprühen. Also besorgten wir uns zwei schwarze Sprühdosen, mit denen wir ein paar AntifaParolen und jede Menge durchgestrichener Hakenkreuze an die Wände sprayten. Leider hatte das Ems-Center zwei Sicherheitsmänner, die uns auf frischer Tat ertappten. Sie brachten uns ins Büro des Center-Chefs, der umgehend die Polizei rufen wollte. Wir jammerten ein wenig und zeigten uns reuig, bis er statt der Polizei unsere Väter anrief. Und auch wenn sie es natürlich nicht zeigen konnten – ich glaube, sie waren ein bisschen stolz auf uns. Also bogen sie den Anruf bei der Polizei ab und versprachen, dass wir die Schmierereien (mein Vater sprach sogar von »den richtigen Aussagen an der falschen Stelle«) persönlich und auf eigene Kosten wieder entfernen würden. Wir atmeten auf und grinsten uns an. Aber das Schlimmste kam noch: sechs Monate EmsCenter-Verbot. Und das war das Brutalste, was man uns antun konnte: sechs Monate ohne Kino, Rollschuh- und Bowlingbahn, ohne 80 Prozent der Geschäfte in Papenburg. Also die komplette Infrastruktur, die das Leben für zwei 14-Jährige auch nur halbwegs erträglich machte. Es war wie ein halbes Jahr im Knast. Heute darf ich wieder ins Ems-Center und gehe sehr gern dorthin. Am liebsten am späten Nachmittag, wenn die Sonne tief steht und Schatten ins Parkhaus wirft. Dann kann man nämlich unsere Graffiti noch sehen. OLIVER POLAK, 34, STAND-UP-COMEDIAN

Du nervst mich Murat gehört zu Milli Görüş, einer Gruppe, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Er ist ein fleißiger Aufsteiger aus der zweiten Generation türkischer Gastarbeiter: als erstes Kind der Familie auf dem Gymnasium, schnelles Jura-Studium und nun seit ein paar Jahren wichtiger Funktionär einer islamischen Gemeinschaft. Wenn Murat über Deutschland spricht, ist dennoch immer ein klagender Unterton zu vernehmen. Er lebt im Gefühl einer tiefen Ablehnung durch das, was er den »hegemonialen Diskurs« nennt. Ich habe ihm einmal entgegengehalten, dass er diesem Land eine nahezu kostenlose Bildung verdankt und sein Verein sich hier – trotz Verfassungsschutz – freier betätigen kann, als das in der Heimat seiner

Eltern möglich wäre. Das hat ihn nur kurz stutzen lassen. Er liebe Deutschland nun mal nicht. Man lasse ihn spüren, dass einer mit drei ü im Namen nicht dazugehöre. Das nehme ich ihm nicht ab. Murat war vor Jahren in die Türkei gegangen, um dort zu leben. Nur wenige Wochen später ging ihm das Land auf den Wecker. Die Unzuverlässigkeit, die Korruption waren ihm zuwider. Der deutsche Jurist Murat Ü. wandte sich entsetzt ab und kehrte in seine wahre Heimat zurück. Murats Gejammere geht mir auf die Nerven. Aber vielleicht sieht Integration so aus: Sich von den eigenen Landsleuten zu distanzieren – deutscher geht’s kaum. JÖRG LAU, 45, IST REDAKTEUR DER ZEIT

Alt in Algier Ich will einfach nur zurück. In meine Heimat Algerien, die ich vor 20 Jahren aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen habe. Aus Angst, dass die Islamisten meiner deutschen Frau etwas antun würden. Sie rieten allen Ausländern, das Land zu verlassen. Wir lernten uns in Rostock kennen, da stand die Mauer noch. Ich besuchte einen Freund, der in der DDR studierte. Sie ging mit mir nach Algerien. Eigentlich verrückt: Meine Eltern akzeptierten eine ungläubige deutsche Frau als Schwiegertochter – und ihre Eltern einen Muslim als Schwiegersohn. Sogar ihre Großmutter, mit der ich viele Stunden verbrachte, öffnete sich mir. Sie sagte, sie schätze meine Gesellschaft. Ich fühlte mich wohl in ihrer.

POLITIK

Deutsch wie wir

29. April 2010 DIE ZEIT Nr. 18

Nun habe ich wieder Angst. Nicht vor Deutschland, das mich aufnahm. Dafür bin ich dankbar. Es ist die Angst, allein zu sein, wenn ich alt bin. Ins Heim gehen zu müssen, wenn meine Kinder eigene Familien haben. In Algerien ist das anders, da bleibt die Familie zusammen. Und wenn nicht, hat man seine Freunde um sich, so wie mein Vater. Der ist bald 90 Jahre alt und hat immer Menschen um sich. Entweder zu Hause oder vor dem Haus, wo er mit seinen Freunden seine Zeit verbringt. In Deutschland sind die Straßen nach Feierabend leer. YOUCEF ABDERRAHMANE, 52, FABRIKARBEITER IN BERLIN

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Frei sein müssen Wir hatten, damals in den siebziger Jahren, nur einen Mitschüler, der anders war. Fernando kam aus Spanien und tat sich schwer mit dem Rechnen und Schreiben. Sein Nachname begann mit D, genau kann ich mich nicht erinnern. Wir riefen ihn »Domestos«. Fernando wehrte sich mit Schlägen. In die Klasse meiner neunjährigen Tochter gehen 25 Kinder. Huma, Athakan und Zhoa gehören dazu. Soweit ich das mitbekomme, muss sich keiner von ihnen mehr schlagen. Als ein Zettel für die bevorstehende Klassenfahrt verteilt wurde, fand sich darauf selbstverständlich die Frage, was die Kinder essen oder nicht essen würden. »Mein Kind soll vegetarisches Essen bekommen«, lautete eine Option. Eine andere: »Mein Kind soll schweinefleischfreies Essen bekommen.« Zum Elternabend, auf dem die Klassenreise besprochen wurde, sind nicht alle Eltern erschienen. Auch auf der Klassenreise, teilte die Lehrerin mit, würden zwei Kinder fehlen. Betreten schauten wir einander an. Ob es am Geld liege, fragte eine Mutter in die Stille. Nein, antwortete die Lehrerin, am Geld scheitere es nicht. Dann erzählte sie von ihrer letzten Klassenfahrt. Damals hatte sie gedroht: Wenn ein Kind nicht mitkomme, würde die ganze Klasse nicht fahren. Natürlich hätte sie nicht ernst gemacht. Zu einem Vater fuhr sie sogar hin. »Alle oder keiner, Ihre Tochter gehört dazu.« So hatte sie argumentiert. Am Ende gab der Vater nach, seine Tochter durfte mit. Auf der Klassenfahrt hat das Mädchen viel geweint und wenig geschlafen. Es wusste nicht, wie das ist – ohne seine Eltern und Geschwister. Die Lehrerin hatte sich getäuscht. Sie wollte das Mädchen dabeihaben, doch der Vater war stärker. Noch einmal wird sie das Glück der Kinder nicht zwingen. Diesmal fährt sie mit 23, zwei bleiben zu Hause. Die Namen nennt sie nicht, natürlich nicht. Die Kinder werden merken, wer fehlt. MATTHIAS KRUPA, 40, IST REDAKTEUR DER ZEIT

POLITIK

N

ichts gegen Chinesen. Es ist nur etwas irritierend zu hören, man stamme aus dem »kleinen China«. Dieser Ausdruck kursiert derzeit in Paris, und gemeint ist Deutschland, das egoistisch gewordene Land der niedrigen Löhne und des unbedingten Willens zum Export. Das Land, dessen Kanzlerin angeblich die antieuropäische Rolle Margaret Thatchers übernommen hat; aus der bewunderten »Mutti« ist die verhasste »Madame Non« geworden. Berlin zwinge Athen in die Knie und trage doch Mitschuld am Desaster: »Die Deutschen haben Waffen an die Griechen verkauft und jetzt kritisieren sie deren Budgetpolitik«, entrüstete sich unlängst Jean-Michel Quatrepoint, ein angesehener Wirtschaftspublizist. Vielleicht informiert ihn mal jemand darüber, dass Deutschlands Industrie nicht verstaatlicht ist? Quatrepoints Äußerung fiel auf einer bemerkenswerten Veranstaltung. Eingeladen hatte die Stiftung Res Publica, die Jean-Pierre Chévènement leitet, ehemals sozialistischer Innen- und später Verteidigungsminister; gekommen waren Rechte und Linke, die Quatrepoint stürmisch applaudierten, als er forderte, auf die Deutschen müsse jetzt Druck ausgeübt werden. Zum Beispiel mit der Drohung, die Euro-Zone aufzuspalten: »Wir machen dann eben Eurofranc und Euromark.« Maliziös fügte er an, für einige Deutsche sei Frankreich offenbar kein echter Partner mehr, sondern im Wesentlichen nur noch ein Reiseland, und »das war ja schon 1940 die Meinung«. Die Versammlung wurde von Chévènement mit dem Ausruf beschlossen: »Vive la France!« Tags darauf ein Artikel des Philosophen André Glucksmann im Figaro, in dem er von einer »radikalen Wende Deutschlands« schrieb, das nicht mehr um Europas willen zahlen, sondern stattdessen am russischen Modernisierungsgeschäft verdienen wolle – »adieu Paris, bonjour Moscou« formulierte Glucksmann und drückte damit den verbreiteten Vorwurf aus, dass Deutschland wieder einen verhängnisvollen Sonderweg zwischen Ost und West eingeschlagen habe. Der altgediente Publizist Alexandre Adler, auf dessen Wort gemeinhin zu Recht gehört wird, verstieg sich gar dazu, ausgerechnet die Amtszeit der Ostdeutschen Angela Merkel als »posthumen Triumph einer Art DDR« zu bezeichnen, »wie sie die Kanzlerin verkörpert: preußisch, autark und slawophil«. Die Preußen! Hatten die sich nicht mit dem Zaren

29. April 2010 DIE ZEIT Nr. 18

Voilà, es ist aus Im kriselnden Frankreich breitet sich der Nationalismus aus. Deutschland wird zum Sündenbock VON GERO VON RANDOW

Foto [M]: Dario Pignatelli/Polaris/StudioX

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SARKOZY herzt die Kanzlerin

gegen Napoleon verbündet? Frankreichs Wortführer stellen mit Vorliebe Schlachten der Vergangenheit nach. Manchmal ist diese Marotte liebenswert, zuweilen aber heuchlerisch. Immerhin ist es Frankreichs staatlicher Marinekonzern DCNS, der gerade über den Verkauf von vier Schlachtschiffen an die Russen verhandelt, mit denen diese die strategische Lage im Schwarzen Meer zu ihren Gunsten verschieben wollen. Der Sohn des an diesem Deal mitverdienenden russischen Milliardärs Sergej Pugatschew hat unterdessen zwanzig Millionen Euro in das bis dato halb tote Boulevardblatt France Soir gepumpt, dem nicht gerade Oppositionslust nachgesagt werden kann und dessen frischbestallte Chefredakteurin soeben von Nicolas Sarkozy persönlich in die Ehrenlegion aufgenommen wurde. Drushba! Gleichwohl, aus Pariser Sicht sind es die Deutschen, die sich den Russen an den Hals werfen. Gerhard Schröders Engagement für das Pipeline-Projekt von Gazprom gilt als Beleg, dasjenige Joschka Fischers für eine konkurrierende Gasleitung nicht als Gegenbeispiel. Und warum betreibt Siemens seine Atomgeschäfte lieber mit der russischen Rosatom als mit der französischen Areva? Nicht aus geopolitischen Sehnsüchten. Sondern weil die Franzosen den Deutschen keine Gleichberechtigung zubilligen wollten. Es gibt übrigens noch ein weiteres nukleares Großunternehmen in Europa, das dieser Tage mit Rosatom anbandelt: Frankreichs staatlich kontrollierten Stromkonzern EDF. Das Russland-Argument ist nichts wert. Aber die veröffentlichte Meinung gibt auch nicht bloß Pariser Geschnatter wieder. Da ist mehr. Eine Spur legte die Wirtschaftsministerin Christine Lagarde, als sie öffentlich Deutschlands Außenhandelsüberschuss kritisierte. Sie erhielt aus allen Lagern Beifall, und der Begriff der »illoyalen Kunkurrenz« kam in Umlauf. Konkurrenz, gewiss; aber wieso soll es illoyal sein, dass in Deutschland gelang, was in Frankreich nicht glücken will, nämlich die Senkung der Lohnnebenkosten? Es war auch nicht der DGB, der die 35-Stunden-Woche in Frankreich eingeführt hatte. Und wäre es denn im Interesse Frankreichs gewesen, hätte Deutschland die Wiedervereinigung weniger gut bewältigt? Frankreich sollte lieber froh darüber sein, dass sein Nachbarland wachstumsstark ist und jetzt wieder beginnt, Zwischenprodukte nachzufragen. Deutlicher wurde die Tageszeitung Le Monde, in der es an die deutsche Adresse gerichtet hieß: »Es wird dringlich, dass dieses Land ein bisschen den anderen ähnelt und sich daranmacht, mehr auszugeben und zu konsumieren« – und das, obwohl Berlin gerade einen Rekordhaushalt verabschiedet hat. Aber wie ist das gemeint, Deutschland solle mehr den anderen ähneln – wem zum Beispiel? Griechenland, Portugal? Und was Frankreich betrifft: Dort ist die Konsumneigung der privaten Haushalte geringer als bei uns. Die Botschaft indes ist angekommen. Die deutsche Konkurrenz wird zum Sündenbock einer Regierung, die kurz vor dem Scheitern ihrer Reformpolitik steht. Eine bemerkenswerte Umkehrung der offiziellen Propaganda übrigens. Immer und immer wieder hatte Nicolas Sarkozy seine Landsleute mit

der rhetorischen Frage gequält: »Wer ist das stärkste Land in Europa?« – um dann selbst mit »Deutschland« zu antworten und die Dringlichkeit darzulegen, mit der auch Frankreich reformiert werden müsse. Der Präsident trampelte dermaßen unerbittlich auf dem französischen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Deutschland herum, dass sich zwangsläufig Groll aufbauen musste. Seit dem Ende des französischen Wirtschaftswunders, der trente glorieuses von 1947 bis 1974, und besonders seit der deutschen Wiedervereinigung erlebt Frankreich eine unaufhaltsame Verringerung seines internationalen Gewichts. Es wähnt die Globalisierung nicht auf seiner Seite, anders als sein großer Nachbar. Misstrauisch blickt es um sich her, reagiert gekränkt auf alles, was nach Bewunderungsentzug aussieht, kann sich beispielsweise fürchterlich über protokollarische Gepflogenheiten des Weißen Hauses erregen und ruft bei verlorenen Ausschreibungen oder schlechtem Abschneiden im Bildungsvergleich »Schiebung!« In internationalen Firmen wiederum ist der Effizienzvorsprung deutscher Unternehmensteile vor französischen Gegenstand von Heimlichtuerei und Neid. Man ist beleidigt. Es hebt die Laune auch nicht, wenn deutsche Manager ihr Überlegenheitsgefühl zur Schau tragen. Oder wenn Berliner Politikbeamte Selbstbewusstsein mit Ungezogenheit verwechseln und den Franzosen, die sie doch als Partner brauchen, mit Wurschtigkeit begegnen. Ein hoch entwickeltes Kernland Europas, Deutschlands wichtigster Verbündeter auf dem Kontinent, droht unter dem Druck der Globalisierung in einen Sog zu geraten, für den es ein hässliches Wort gibt: Nationalismus. Schon gelingt es Nicolas Sarkozy trotz allen Geweses um Burkas und nationale Identität nicht mehr, Frankreichs rechte Wählerschaft in Gänze hinter seiner Partei zu versammeln. Den Regionalwahlen blieben rechte Wähler in großen Scharen fern, oder sie stimmten für den rechtsextremen Front National. Eine Situation, in der die Versuchung groß ist, den Unmut nach außen zu lenken, über den Rhein hinweg. Deutschen Außenpolitikern entgeht das nicht, weshalb Sarkozy wie zum Ausgleich diplomatisch flötet, wenn er auf Angela Merkel trifft. Die deutsch-französischen Berufsoptimisten wiegeln ebenfalls ab. Es stimmt ja auch, in der Nachkriegsgeschichte gab es bereits Phasen noch schlimmeren Ärgers. Aber das war zu jener Zeit, als der OstWest-Konflikt die Partner verlässlich zusammenzwang. Unterhalb der Politik, auch das ist wahr, dehnt sich eine stabile Verquickungszone beider Gesellschaften aus, von Städtepartnerschaften bis zum Austausch unter den Eliten. Doch gegen ernsthafte Konflikte richten solche Netzwerke nichts aus. Ihre geschäftige Selbstverständlichkeit ist trügerisch. Sie verführen zur Gemütlichkeit, zum Ableugnen dessen, was schiefläuft zwischen Frankreich und Deutschland. Die rheinische Weisheit »Et hätt noch immer jot jejange« ist historisch leider widerlegt. Deshalb sollte die Kaste der Kommentatoren einmal innehalten und darüber nachdenken, was sie da eigentlich gerade anrichtet. a www.zeit.de/audio

AUS DER WELT

Das Boot des Hung Ba Le

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er konnte damals schon ahnen, dass linge machten ihn zu einer schwankenden NussHung Ba Le seine Heimat je wiedersehen schale. Mit an Bord war der fünfjährige Junge würde? Sich gar ausmalen, wie er mit Hung Ba Le. Sein Vater, ein Marineoffizier des schneeweißer Uniform in einem Schiff mit vielen alten Regimes, steuerte die Arche. Ein US-Schiff Kanonen zurückkehrte? Frei von Rache, mit Blu- rettete die Menschen und brachte sie zu einem men begrüßt. Unvorstellbar war das am 30. April Stützpunkt auf den Philippinen. Über Flüchtvor 35 Jahren – an jenem Mittwoch, da Saigon lingslager in Kalifornien fand der Treck am Ende an die kommunistische Vietcong-Guerilla fiel. Und seine neue Welt in Virginia. Und Hung Ba Le die Odyssee des kleinen Südvietnamesen Hung eine Schule. Heute ist er 40 Jahre alt und vor Kurzem zum Ba Le begann. »Mutter erwartet deine Ankunft! Mutter er- ersten Mal im kommunistischen Vietnam gewartet deine Ankunft!«, hatte der Radiosender wesen. Nicht mit einer Touristengruppe, sondern der US-Botschaft damals am Vortag pausenlos zu einem Flottenbesuch. Als Kapitän des Kriegsschiffes USS Lassen von der 7. USgemeldet. Damit wurde allen AmeFlotte. Der vom einstigen Flüchtlingsrikanern das vereinbarte Signal zur kind kommandierte Zerstörer hat Evakuierung gegeben. Mit ihnen floTomahawk-Raketen und 300 Mann gen die Repräsentanten des von ihnen Besatzung an Bord. Commander Le gestützten Marionettenregimes in ging im Hafen von Da Nang an Land, Hubschraubern auf die Flugzeugträgut 100 Kilometer südlich der Küsger vor der Küste: Südvietnams Protenstadt Hue, in der er aufwuchs. minente, fast die gesamte Armeespitze, Seine US-Auszeichnungen vor der Generäle mit Koffern voller GoldbarBrust, grüßte der Kommandant in ren. Die amerikanische Intervention, holprigem Vietnamesisch: »Ich bin deren Anfänge in die Tage des französtolz, ein Amerikaner zu sein, aber sischen Indochinakriegs drei Jahrebenso stolz auf mein vietnamesisches zehnte zuvor zurückreichten, endete Christian Erbe.« Einen wie Le würden beide in panischer Auflösung. Verzweifelte Schmidt-Häuer Länder am liebsten klonen. Vietnam Saigoner drängten gegen die hohe berichtet heute drängt mit einem von der ParteiMauer um die US-Botschaft. Von über Vietnam ideologie ungestörten Pragmatismus deren Dach hob um vier Uhr früh an in die Weltwirtschaft. Die USA soljenem 30. April der Helikopter mit len der wichtigste Handelspartner Botschafter Graham Martin ab. Die werden. Die ferne Weltmacht wirft Menge drückte die Eisentore ein, versuchte vergeblich, den letzten Hubschrauber der weniger Schatten als der Riese nebenan: China Botschaft zu erreichen, und setzte das Gebäude war nicht nur 1979 zu einer »Strafaktion« gein Brand. Durch die Straßen schleppten Zivilis- gen den unbotmäßigen Vietcong in das Land ten und Polizisten, was sie plündern konnten. eingedrungen, es gilt den Vietnamesen heute Die letzten Soldaten des Regimes warfen ihre auch als Dumping-Drachen, der ihre WirtWaffen, Uniformen oder Schnürstiefel weg und schaft bedroht. Wer konnte so etwas ahnen, als Hung Ba Les liefen in Unterhosen und barfuß davon. Um elf Uhr rollten die Panzer des Vietcongs zu dem Odyssee begann? Und wer vermag sich heute vorvon Amerikanern erbauten Präsidentenpalast. zustellen, dass in 35 Jahren vielleicht ein afghanischDie Sieger hissten ihre blau-rote Fahne mit dem stämmiger US-General in Kabul die dortigen Sieger gelben Stern. trifft. Die, wer sie auch sein mögen, dann mit aller Am selben Tag stach ein Fischtrawler von Macht auf den Weltmarkt streben. Undenkbar. Südvietnams Küste in die offene See. 400 Flücht- In diesen Tagen.

POLITIK

29. April 2010 DIE ZEIT Nr. 18

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Foto: Toby Selander für DIE ZEIT

Hau ab oder stirb! In Südafrika, dem größten Einwanderungsland der Welt, wächst der Hass auf schwarze Migranten VON BARTHOLOMÄUS GRILL Leben im BLECHWÜRFEL. Die Somalierin Suleika Farah in einer Notunterkunft bei Kapstadt

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