Wer ist hier Ossi? Und wer Wessi?

February 12, 2016 | Author: Claus Schmitt | Category: N/A
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25. OKTOBER 2009 NR. 43

Kinderleicht 1

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20 Jahre Mauerfall Zehn Seiten extra: Antworten für alle, die Wirtschaft verstehen wollen

positiv die neuen Länder im Westen gesehen werden. Denn in einem sind sich die Jugendlichen einig: Sie glauben, dass die anderen schlecht über sie denken. „Die meisten im Westen denken doch, dass wir hier noch in Holzhütten leben“, sagt Christian Hinzpeter, Lebensmitteltechnik-Azubi aus Dodow. Er sieht sich als Gesamtdeutscher. Doch spätestens wenn es mit dem Fußballteam in den Westen gehe, kämen alte Sprüche wie „Baut die Mauer wieder auf “. Doch auch in der Ostjugend gebe es Vorurteile. „Wessis sind arrogant und hochnäsig – das wird schon noch ein paar Jahre in den Köpfen bleiben. Eigentlich schade, schließlich sind wir doch ein Land.“

4

Glücksfall Einheit. Dass die Wie-

12

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20 Jahre nach der Wende startet die erste Generation junger Leute ins Berufsleben, die die Mauer nicht erlebt hat. Ost und West ist für viele von ihnen kein Thema mehr, doch das Land erscheint manchen dennoch geteilt 11

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STEFFEN FRÜNDT (12)

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Zwölf Gesichter, zwölf Lebensläufe, zwölf junge Menschen: So einfach ist es nicht zu sagen, woher sie kommen. Wer es versuchen mag: Die Auflösung unten

Von Steffen Fründt _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Als die Mauer fiel, waren sie noch nicht einmal geboren. Die Montagsdemonstrationen in Leipzig, die Trabikorsos durch West-Berlin, die Jubelfeiern unterm Brandenburger Tor – das alles kennen sie nur aus Erzählungen, aus dem Geschichtsunterricht oder aus TV-Dokumentationen. Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung verlassen junge Menschen die Schule, für die die Teilung Deutschlands nur Theorie ist. Sie sind die erste Generation Gesamtdeutschland. Aber: Fühlen sie sich auch so? Oder gibt es noch immer eine unsichtbare Grenze? Die „Welt am Sonntag“ befragte Jugendliche in Ost und West, was sie noch trennt und was sie verbindet. Ossi oder Wessi? Für Lennart Fricke aus Wismar ist diese Frage nicht so einfach. „Manchmal höre ich schon noch Sprüche, ScheißWessi oder so. Aber das ist nicht wirklich ernst gemeint“, sagt der Schüler aus der 11. Klasse. Zumal der 17-Jährige selbst erst mal überlegen muss, als was er sich eigentlich bezeichnen würde. Geboren in Stuttgart, aufgewachsen in Wismar: „Was ist man da? Ich würde sagen Deutscher!“, sagt der Gymnasiast, der in der Freizeit asiatischen Kampfsport betreibt und nach dem Abitur am liebsten zur Polizei gehen möchte. Dass er, wie zwei Mitschüler, im Westen geboren wurde,

wissen alle in der Klasse – deshalb die Sprüche. „Aber in Wirklichkeit interessiert das in unserer Generation keinen mehr.“ Gesamtdeutsche Gefühle. Das fasst

ganz gut die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zusammen, die das Marktforschungsunternehmen GfK für die „Welt am Sonntag“ durchführte. 80 Prozent der 14- bis 19-Jährigen sehen sich nicht mehr als Ossis oder Wessis, sondern schlicht als Deutsche. Nur 7,6 Prozent beziehungsweise 3,5 Prozent sagten, dass sie sich eher als Westoder Ostdeutsche sehen. „Je jünger die Generation, desto eher sehen sich die Befragten als Deutsche unabhängig von Ost und West“, sagt Klaus Hilbinger von der GfK. Schon bei den 20- bis 29-Jährigen ergab die Umfrage ein deutlich anderes Bild. Nur 64 Prozent sehen sich hier als (Gesamt-)Deutsche, obwohl sie das geteilte Land auch nur als Kinder erlebten. Befragte über 40 sehen sich sogar nur zu 59 Prozent als Deutsche. Hilbinger: „Wer jahrelang von der Trennung geprägt wurde, tut sich offenbar auch schwerer mit der Einheit.“ Was nicht heißt, dass mit der Generation der Nachgeborenen schlagartig alle Grenzen verwischen. Dafür gibt es noch zu viele Unterschiede zwischen den einst getrennten Teilen des Landes, glaubt Lisa Bröcker aus dem meck-

lenburgischen Kritzow. Ob jemand aus dem Osten oder Westen komme, sei für sie völlig egal. „Doch man merkt noch immer eine Zweiteilung des Landes. Im Westen werden höhere Löhne gezahlt, und es gibt mehr und bessere Jobs. Deswegen gehen viele nach der Schule von hier fort“, sagt die 16-Jährige, die wie Lennart in die 11. Klasse der Großen Stadtschule geht. Lisa organisiert Kunstausstellungen an ihrer Schule und ist in der Schülervertretung aktiv. Nach dem Abi wird wohl auch sie ihre Heimat verlassen: „Ich überlege mir, Jura zu studieren und Anwältin zu werden – eher karriereorientiert. Da sehe ich im Westen bessere Perspektiven.“

Ich fühle mich als ... Angaben in Prozent West-/Ostdeutscher

Deutscher Weder noch

14-19 Jahre

11 80

20-29 Jahre

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30-39 Jahre

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50-59 Jahre

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60-69 Jahre

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69

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über 69 Jahre 28

70

9 64 62

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59

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QUELLE: GFK 0

12 5

2

40

60

80 100

Ich sehe die deutsche Einheit ... Angaben in Prozent sehr positiv eher positiv 14-19 Jahre

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20-29 Jahre

19

neutral eher negativ sehr negativ 27

47

25

42

40 12 3

Fernweh. Interessant daran ist, dass

30-39 Jahre

17 27

39

15 2

es nicht nur die Ossis in die Ferne zieht. Während unter Jugendlichen aus dem Osten die Überzeugung verbreitet ist, dass ein Westabschluss sie weiterbringen könne als eine Ostuni, denken viele Schüler aus dem Westen das Gegenteil. Marie-Caroline Radermacher etwa, die 2010 am Aachener St.-UrsulaGymnasium ihr Abi machen will. Danach möchte sie Medizin studieren – im Osten. „Das könnte ich mir gut vorstellen. Nicht nur, weil ich mit einem etwas schlechteren Notendurchschnitt da vielleicht einfacher einen Studienplatz bekomme“, sagt die Zahnarzttochter. „Kleine Unis, gute Ausstattung, viele Ver-

40-49 Jahre

14 29

40

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50-59 Jahre

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60-69 Jahre

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über 69 Jahre 19 QUELLE: GFK 0

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12 2 14 3 80 100

Dossier: Testen Sie auf WELT ONLINE Ihr Wissen über die DDR und die deutsche Einheit. Außerdem finden Sie alle Texte und ein PDF-Dokument dieser Kinderleicht-Ausgabe zum Herunterladen und Ausdrucken unter welt.de/kinderleicht +

günstigungen und keine Hörsäle mit 1000 Studierenden – der Osten ist schon attraktiv.“ Und die Ossis? „Naja“, sagt die 19-Jährige, im Sommer habe sie bei einem Sprachurlaub in Spanien eine Gruppe von Sachsen kennengelernt. „Die sind schon anders als Rheinländer. Aber die Norddeutschen sind ja irgendwie auch anders als wir.“ Ost und West, Nord und Süd – Deutschland lässt sich entlang vieler Nahtstellen auftrennen. Merle Paul aus Bad Schwartau sieht die Spaltung des Landes an einer ganz anderen Stelle. „DDR, BRD – das gibt es in unseren Köpfen nicht. Wir sind eine gesamtdeutsche Generation. Trotzdem ist das Land zweigeteilt“, sagt die 18-Jährige, die auch Sängerin der Schulband ist. Auf der einen Seite gebe es da die, die einen guten Schulabschluss anstreben, eine gute Ausbildung und dann einen guten Job. Sie selbst will Hotel- und Tourismusmanagement studieren. „Aber dann gibt es da eine immer größere Gruppe von Leuten, die faul und resigniert zu Hause hängen, die Schule schmeißen“, sagt Merle: „Die haben sich und ihr Leben jetzt schon aufgegeben.“ Deutschlands Problem sei heute die soziale Teilung. Hauptsache Arbeit. „Die Ossis versuchen alles zu reparieren und tüfteln viel herum. Die Wessis kaufen einfach etwas Neues, wenn etwas

kaputt ist“, sagt Tom Jenß, 18, aus Wittenburg in Hessen. Aber das sind aus seiner Sicht schon die wesentlichen Unterschiede. „Ost oder West – das gibt es doch nicht mehr. Wir sind ein vereintes Land.“ Tom hat nach dem Realschulabschluss im Osten eine Ausbildung als Fachkraft für Fruchtsafttechnik angefangen. Doch die einzige Berufsschule liegt in Hessen. „Ossis und Wessis – das geht da alles durcheinander. Da werden höchstens mal Späße drüber gemacht, von wegen Westpakete und so. Wir sind Kollegen, da kommt jeder mit jedem klar.“ Nach der Ausbildung hätte der 18-Jährige kein Problem damit, in den Westen zu ziehen: „Hauptsache Arbeit.“ Ganz ähnlich sieht es Christian Friedrich aus Lemwerder, der bei der Unternehmensgruppe Meyer Technik in Oldenburg Elektriker lernt. „Auf dem Bau wird nicht danach gefragt, ob einer aus dem Osten oder Westen kommt“, sagt der Azubi. Freunde aus dem Osten hat er keine. Aber an Wochenenden geht er oft mit dem Motorrad auf Tour, und da verschlägt es ihn schon mal in den Osten. „Ich könnte dort genauso leben. Die Straßen dort sind sogar besser als hier. Man müsste mal prüfen, ob die Transferleistungen noch aktuell sind“, sagt der 18-Jährige ohne Groll. „Die Einheit war schon berechtigt.“ Gute Straßen, tolle Unis – es würde manchen Ossi wundern, wie

Auflösung 1: Tom Jenß, Hessen 2: Lisa Bröcker, Mecklenburg-Vorpommern 3: Jannes Krause, Mecklenburg-Vorpommern 4: Adriana Lopez, Nordrhein-Westfalen 5: Merlin Urban, Schleswig-Holstein 6: Veronika Braun, Nordrhein-Westfalen 7: Lennart Fricke, Mecklenburg-Vorpommern 8: Marie-Caroline Radermacher, Nordrhein-Westfalen 9: Christian Friedrich, Niedersachsen 10: Katharina Thomas, Nordrhein-Westfalen 11: Christian Hinzpeter, Mecklenburg-Vorpommern 12: Merle Paul, SchleswigHolstein

Wer ist hier Ossi? Und wer Wessi?

dervereinigung kein Fehler war, darüber sind sich hüben wie drüben die meisten einig. Das untermauert die Umfrage. 48 Prozent der 14- bis 19-Jährigen sehen die deutsche Einheit positiv, 47 Prozent stehen 20 Jahre danach schon neutral zu der Frage. Nur vier Prozent stehen der Einheit negativ gegenüber. Überraschenderweise ist die Einheitseuphorie ausgerechnet bei denen gedämpfter, die die Teilung selbst erlebt haben. Am deutlichsten zeigt sich das bei den 50- bis 59-Jährigen, von denen nur 35 Prozent die Einheit positiv sehen. 43 Prozent haben eine neuetrale Haltung, und 21 Prozent stehen der Wiedervereinigung sogar negativ gegenüber. Wie es damals war, warum die Mauer fallen musste, das haben sie nicht mehr am eigenen Leib erfahren. Doch sie lernen es in der Schule. Wie vergangene Woche im Robert-Stock-Gymnasium in Hagenow. Der Schriftsteller Lutz Rathenow ist zu Gast und berichtet darüber, wie es war, in der DDR aufzuwachsen. Von der Unfreiheit, vom „Leben in Tötungsbereitschaft“ als Grenzsoldat, von StasiSchikanen und Widerstand. „Ich finde es schon wichtig zu erfahren, wie es damals wirklich war. Das geht mich etwas an, schließlich komme ich aus dem Gebiet der ExDDR“, sagt Jannes Krause, 18, der in Magdeburg geboren wurde und in Hagenow in die 12. Klasse geht. Zum Jahrestag der Wende hat er sich viel mit der deutschen Teilung beschäftigt. Das Fazit des Handballers fällt knapp, aber klar aus: „Es wurde damals echt Zeit für die Einheit. Das war Pflicht.“ Adriana Lopez lebt im äußersten Westen des Landes, in Aachen. Sie hat ähnliche Gedanken: „Das Leben in der DDR war nicht wirklich lebenswert, die Einheit war schon ein Gebot der Nächstenliebe“, sagt die 18-jährige Gymnasiastin, der diese Dinge erst durch Berichte zum Jahrestag so recht bewusst wurden. Ihre Mitschülerinnen Veronika Braun, 19, und Katharina Thomas, 18, nicken. „In Taizé haben wir eine Gruppe Dresdner kennengelernt und gleich die Zelte zusammengestellt, schließlich sind wir alle Deutsche“, sagt die eine. „Aber obwohl schon viel in den Osten investiert wurde, gibt es noch eine große wirtschaftliche Diskrepanz“, sagt die andere. „Noch würde ich lieber im Westen bleiben, im Osten muss noch mehr getan werden.“ Merlin Urban aus Ratekow bei Lübeck versteht nicht, warum es „so viele unzufriedene Ossis“ gebe. „Ich bin relativ oft im Osten gewesen, und mir gefällt es dort. Besonders Leipzig und Erfurt – ich könnte mir gut vorstellen, da zu studieren“, sagt der 18-Jährige, der im Osten Verwandtschaft hat. Und wenn er in Berlin Freunde besucht, weiß er oft gar nicht, wer aus welchem Teil des Landes stammt. „Ich frage doch auf einer Party nicht als Erstes, ob einer Ossi oder Wessi ist.“

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Freier Blick: Pariser Platz und Brandenburger Tor 1995. Sechs Jahre sind seit der friedlichen Revolution im Herbst 1989 vergangen, an der ehemaligen Grenze stehen erste Baucontainer. Die vier Panorama-Aufnahmen auf diesen Seiten zeigen den Platz im Wandel

Selbstmorde je 100 000 Einwohner 30 25,3 neue Länder 25 früheres Bundesgebiet und Ostberlin 20 15

2005

2006

2007

2008

6000

12,6 11,2 2007

1990

beitsplatz wegfällt, wenn Vertrautes zerbricht, kann das ganze Leben aus den Fugen geraten. Ein Hinweis darauf: die Selbstmordrate. Viel mehr Menschen pro 100 000 Einwohner als im Westen suchten 1990 im Osten den Tod. Seither ist die Selbstmordrate im ganzen Land gesunken, sie liegt jetzt im Osten kaum noch höher als im Westen.

Westdeutschland, die Menschen verdienen aber weniger als die Kollegen im Westen: Jeder fünfte Angestellte verdient weniger als 7,50 Euro pro Stunde, im Westen ist der Anteil dagegen weniger als halb so groß.

GETEILTE ARBEITSWELT A Auch 20 Jahre nach dem Ende der DDR unterscheiden sich die Arbeitswelten in West- und Ostdeutschland : In Ostdeutschland ist ein deutlich höherer Teil der Bevölkerung arbeitslos. Die Zahl der Erwerbstätigen ging seit 1991 um vier Prozentpunkte zurück. Die Arbeitszeiten heute sind länger als in

sich heute viel mehr leisten als vor der Wende, weil die Preise für viele Produkte deutlich gesun-

2007

1991

82

Ost

SICH MEHR LEISTEN FÜR WENIGER ARBEIT A Die Menschen in Ostdeutschland können

78 70

West

75

Verdienen: Die Lücke schrumpft

HARF ZIMMERMANN/AGENTUR FOCUS (4)

WENIGER GELD IM OSTEN A Nach der Wiedervereinigung hat ein Angestellter im Westen noch durchschnittlich 9000 Euro mehr im Jahr verdient als im Osten. Seitdem hat sich die Einkommenslücke zwar verkleinert – aber ein Maurer, der auf einem Bau in Ostdeutschland arbeitet, bekommt trotzdem immer noch weniger Geld als sein Kollege im Westen. Allerdings ist das Leben in den neuen Bundesländern auch erheblich günstiger. Westdeutsche können sich mehr leisten Durchschnittliche Kaufkraft pro Kopf bis 499 Euro 500 bis 999 Euro

Winter 2000: Der Pariser Platz im Schnee, samt Weihnachtsbaum

So rasch, wie die Optimisten hofften, ging es nicht: 20 Jahre nach der Wende ist das große Ziel noch weit entfernt, dass in West- und Ostdeutschland gleiche Verhältnisse herrschen. Die Menschen im Osten verdienen nicht so viel wie Westdeutsche, sie haben weniger gespart und müssen beim Einkauf mehr aufs Geld achten. Dass es schwierig würde, musste allen klar sein – aber die Optimisten der Wendezeit wussten oft

ken sind: Für ein Kilo Kaffee, das in der DDR sehr teuer war, mussten DDR-Bürger 1989 fast zwölf Stunden arbeiten. Einem Bürger der Bundesrepublik reichte dafür eine knappe Stunde. Heute verdient sich ein deutscher Arbeitnehmer ein Kilo Kaffee schon in einer guten halben Stunde. Teurer für die Ostdeutschen sind dagegendie Mieten geworden.

Erwerbstätige im Alter von 15 bis 65 Jahren in Prozent der Bevölkerung

So sieht unser neues Deutschland aus

AUFBAUGELD VON WEST NACH OST … A Seit 1990 sind gewaltige Summen von West- nach Ostdeutschland geflossen, damit der Osten ähnlich wohlhabend wird wie der Westen. Insgesamt sind nach Berechnungen der Freien Universität Berlin seit 1990 rund 1,6 Billionen Euro in den Osten geflossen. Diese Summe ist kaum vorstellbar – für das gleiche Geld könnte sich jede Familie zwei VW Golf kaufen – und trotzdem blieben noch viele Milliarden übrig.

Der Westen zahlt Länderfinanzausgleich in Millionen Euro

15,8

10

Zahlen: Der Kraftakt

… HAT DEN OSTEN STARK GEMACHT … A Mehr als 70 Milliarden Euro flossen in den sogenannten Aufbau Ost: Kaputte Straßen wurden neu geteert, neue Autobahnen, Brücken und Bahnhöfe gebaut, Eisenbahnschienen und hochmoderne Telefonnetze verlegt. Heute wären viele Regionen im Westen dankbar, wenn sie ähnlich moderne ICEStrecken und Flughäfen hätten wie viele Gegenden im Osten.

WENIGER SELBSTMORDE A Radikale Veränderungen können Menschen aus dem Gleichgewicht bringen: Wenn der Ar-

4,4

2,5

36,3

25,6 39,0

1000 bis 1499 Euro

Viel hat sich wirtschaftlich getan, viel ist noch zu tun. Wo wir heute stehen und wie wir heute leben, beschreiben Florian Eder und Tobias Kaiser

nicht, wie marode die DDR-Wirtschaft war. Sie unterschätzten die zerstörerische Wirkung der Planwirtschaft: Der Staat, der alles steuern und nichts aus der Hand geben wollte, hatte viel kaputt gemacht: Er verbot allein schon den Wettbewerb der Ideen, aus denen Unternehmen und Arbeitsplätze hätten entstehen können – und daraus auch Wohlstand für alle. Inzwischen ist Deutschland ein gutes Stück vorangekommen, durch

41,2

1500 bis 1999 Euro

viel Fördergeld für Straßen und Universitäten, durch Firmen, die sich im Osten angesiedelt haben, durch die Chancen, die sich für viele durch die Wende erst ergeben haben und die viele auch genutzt haben. Es war ein gemeinsamer Kraftakt in Ost und West. Die wirtschaftlichen Unterschiede gibt es heute noch. Aber, das ist die gute Nachricht: Sie werden kleiner. Mitarbeit: Ernst August Ginten, Kathrin Gotthold

19,4 13,2 5,0 Ost

2000 Euro und mehr

13,5

QUELLE: GFK

rend manche Ost-Städte inzwischen für Studenten hoch attraktiv sind – wegen ihrer guten Unis und auch wegen der billigen Mieten.

West

Im Westen verdient ein Bauarbeiter mehr Bruttostundenlohn im Baugewerbe 2008 20 17,28 15

QUELLE: ARBEITSKREIS VGR DER LÄNDER

QUELLE: STAT. BUNDESAMT

Der Osten schrumpft Veränderungen im Bevölkerungs bestand 1990 bis 2006 in Prozent Sachsen-Anh. -13,2 Meck.-Vorp. -12,0 -11,5 Thüringen -10,8 Sachsen Saarland -2,8 Bremen -2,6 Brandenburg -1,2 -0,9 Berlin 3,9 Nordrhein-Westfalen 5,4 Hessen 6,2 Hamburg Rheinland-Pfalz 7,7 7,9 Schleswig-Holstein Niedersachsen 8,1 Bayern 9,1 9,3 Baden-Württemberg

QUELLE: STAT. BUNDESAMT

DER AUSZUG AUS OSTDEUTSCHLAND A 1,8 Millionen Menschen weniger leben heute im Osten als 1989. Viele von ihnen suchten Arbeit und Glück im Westen – und noch heute ist der Strom der Menschen von Ost nach West viel größer als in die umgekehrte Richtung. Besonders auf dem Land finden viel zu wenige junge Menschen eine Chance für sich – wäh-

Arbeiten: Hohe Arbeitslosigkeit ist das Erbe der DDR

QUELLE: DESTATIS

Leben: Der Osten muss noch attraktiver werden

13,64

10 5

4000

0

Ost

West

2000

-6000 -8000 West

Ost

Berlin

… UND FLIESST WEITER A Der Aufbau Ost ist zwar abgeschlossen, aber es fließen weiterhin jedes Jahr rund 100 Milliarden Euro von den alten in die neuen Bundesländer – vermutlich noch bis zu zwanzig Jahre lang. Das sind vor allem Renten für ehemalige DDRBeschäftigte, Hilfen für Menschen mit wenig Geld und Unterstützung aus dem sogenannten Länderfinanzausgleich, mit dem reiche Bundesländer ärmere unterstützen, damit es den Menschen in ganz Deutschland gleich gut geht.

Wohnen: Mehr Familien im Eigenheim

FERNWEH: AUF INS AUSLAND! A Jahrzehntelang durften die Menschen in Ostdeutschland nicht reisen, wohin sie wollten – angefangen vom Besuch in der Bundesrepublik. An Fernreisen ins westliche Ausland war schon gar nicht zu denken. Nach der Wende holten viele dies nach: Im Urlaub „neue Eindrücke sammeln“ wollten nach der Wende 62 Prozent der Ostdeutschen, im Westen aber nur 47 Prozent. 1990 gingen drei Viertel der Urlaubsreisen von Ostdeutschen ins Ausland. Heute sind es noch 60 Prozent – die Reiselust in ferne Länder

VIELE KAUFEN HÄUSER A Seit der Wende haben sich 700 000 Ostfamilien ein Haus oder eine Wohnung gebaut oder gekauft. Dadurch hat sich der Anteil der Familien, die in den eigenen vier Wänden wohnen, in den neuen Bundesländern seit 1990 fast verdoppelt. In Westdeutschland haben zwar mehr Familien ein eigenes Haus, und der Anteil der Hausbesitzer steigt weiter. Trotzdem hat sich die Lücke zwischen Ost und West seit 1990 stark verkleinert.

ist bei den Ost-Urlaubern damit immer noch größer als im Westen. Dabei geben Ost-Urlauber nach Untersuchungen des Leif-Instituts in Leipzig im Jahresurlaub bis zu 60 Euro pro Familienmitglied mehr aus als Westbürger – obwohl diese im Durchschnitt mehr verdienen. SELBST GEPLANTER URLAUB A Das Kieler FUR-Institut hat herausgefunden, dass im Westen immer weniger Pauschalreisen gebucht werden, bei denen Flug, Hotel, oft auch die Mahlzeiten im Paket gekauft werden. Das liegt mit

daran, dass es in den vergangenen Jahren viel einfacher geworden ist, sich seinen Urlaub selbst zusammenzustellen: Mit Billigfliegern kostet die Anreise oft nicht die Welt, das Internet macht die Suche nach Hotels leicht.

Urlaubsmotive der Deutschen 2008 in Prozent 1991 Neue Eindrücke Ost West Ost West Ost West Ost West Ost West

Ost West

62

36 32 Viel Erleben 31

47 56

42 31 Unterwegs sein 43 31 31 28 Verwöhnen lassen 27 35 40 33 Ausruhen, faulenzen 20 32 40 35 Erinnerungen auffrischen 20 20 24 23

AN DER OSTSEE: DER OSTEN UNTER SICH A Zwar ist in ganz Deutschland das Interesse am eigenen Land gestiegen, doch es gibt Unterschiede. Mecklenburg-Vorpommern mit seiner schönen Ostseeküste geben 14 Prozent der Ostdeutschen als Ziel an – aber immer noch nur drei Prozent der Westdeutschen.

Sparen: Kräftiger in Ostdeutschland

So viele wohnen im eigenen Haus Angaben in Prozent 50 44,7 40,6 40

30

42,8 37,7

34,0

25,7

Ostdeutschland Westdeutschland Deutschland gesamt

20 1990

ÄRMER TROTZ EIGENEM HAUS A Vergrößert haben sich hingegen die Vermögensunterschiede zwischen Ost und West: Familien in Westdeutschland sind im Durchschnitt dreimal reicher als Familien im Osten,

2006

und der Abstand nimmt sogar zu. Das liegt vor allem daran, dass Häuser und Wohnungen in Ostdeutschland in den vergangenen Jahren Wert verloren haben. Dadurch besitzen West-Familien die teureren Häuser.

SPARSCHWEINE WACHSEN A Wer mehr verdient, spart mehr. Deshalb legten WestFamilien 2006 mehr zurück, nämlich durchschnittlich 173 Euro pro Monat, im Osten waren es 110 Euro. Aber der Osten hat enorm aufgeholt: 1991 hatte jede Familie nur 44 Euro gespart. Geldvermögen in der DDR 1989 Auf 10,6 % der Konten liegen 59,3 % des Vermögens

10,6

89,4

Anteil Konten in Prozent

QUELLE: FU BERLIN

-4000

Reisen: Die Ostdeutschen hatten viel nachzuholen

QUELLE: SOEP-MONITOR, DIW

-2000

QUELLE: REISEANALYSE

QUELLE: DEUTSCHE BANK, BMF

0

2004: Touristen bevölkern den Pariser Platz mit Berlins beliebtestem Fotomotiv. Nur links vom Brandenburger Tor sind noch grüne Baumkronen zu sehen. Die amerikanische Botschaft soll einmal diese letzte Baulücke schließen. Das Gebäude am rechten Bildrand (Nebenseite) mit der

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25. OKTOBER 2009

Kaufen: Ganz Deutschland kauft ähnlich ein PREISBEWUSST IM OSTEN… A Im Westen sind Familien eher bereit, mehr Geld für Lebensmittel, Kleidung und Haushaltsgeräte auszugeben. Für

Soviel Prozent der Haushalte besaßen ... 1993

West 85,2 85,4

97,4

ein Telefon

99,0 99,1

48,8

eine Geschirrspülmaschine

38,0

64,2 55,0

40,8

69,5 70,2

2,7

ein Mikrowellengerät

14,8

einen Wäschetrockner

Ost

2008 80,6 75,0

einen Fotoapparat

…UND ÖKOBEWUSST IM WESTEN A West-Familien haben im Durchschnitt mehr Geld zur Verfügung als ostdeutsche. Und so sind sie auch eher bereit, mehr für umweltfreundliche Produkte zu bezahlen. Ostdeutsche Familien, die von der Marktforschungsfirma GfK befragt wurden, haben eine andere Einstellung zur Natur: Sie glauben, dass sich vor allem der Staat um den Schutz der Umwelt kümmern sollte und nicht jeder einzelne.

ostdeutsche Mütter und Väter ist dagegen der Preis häufig wichtiger als die Qualität – im Westen dagegen ist weniger wichtig, was auf dem Preisschild steht.

24,3 1,5

42,3 22,1

QUELLE: STATISTISCHES BUNDESAMT

SIEGESZUG DER TECHNIK A Seit der Wende hat sich die Einrichtung ostdeutscher Familien stark gewandelt: 1990 hatte nur jeder fünfte Haushalt ein Telefon, 1993 nur die Hälfte, heute gibt es in fast jeder Familie eines. Damals besaß auch nur ein Drittel aller Haushalte eine Waschmaschine, fast niemand einen Wäschetrockner. Heute gibt es nur noch ganz wenige Familien, die keine Waschmaschine besitzen.

Lernen: Der Osten ist vorn GUTE SCHÜLER A Die Schulen in Ostdeutschland sind einen eigenen Weg gegangen: Sie haben das Abitur nach zwölf Jahren behalten und haben darauf verzichtet, Hauptschulen einzurichten – im Osten gibt es nur zwei Schultypen. Davon profitieren die Schüler offenbar: in internationalen Vergleichen wie dem Pisa-Test schnitten Schüler aus Sachsen und Thüringen hervorragend ab.

TOLLE UNIS A Gute Betreuung, das heißt wenige Studenten pro Lehrkraft, sanierte Ge-

Lieben: Die Deutschen heiraten später bäude und niedrige Kosten für Wohnen und Leben locken viele Weststudenten an Ost-Unis.

So viele Studenten kommen auf einen Dozenten Rheinland-Pfalz Nordrhein-Westfalen Brandenburg Bremen Schleswig-Holstein Berlin Mecklenburg-Vorp. Hamburg Sachsen Hessen Niedersachsen Sachsen-Anhalt Thüringen Bayern Baden-Württemberg Saarland

24,3 21,2 21,1 19,4 18,8 17,9 17,5 17,4 17,0 16,6 16,0 15,5 15,4 15,0 14,9 14,6

VERLOBT, VERHEIRATET … A Lange heirateten die Menschen in der DDR früher als die Westdeutschen – auch eine Folge davon, dass in der DDR nur Eheleute Anspruch auf eine eigene Wohnung hatten. Seit der Wende steigt das Durchschnittsalter im Osten – was es im Westen schon lange tat. Heute heiraten Frauen mit im Schnitt 30 Jahren, Männer mit 33.

… UND WIEDER GESCHIEDEN A Für Ost und West gilt: Seit den 60erJahren sinkt im Verhältnis zur Bevölkerung die Zahl der Ehen, und mehr Paare werden geschieden. Auch hier

nähern sich die Kurven an – nach einem Einbruch im Osten nach 1989. Forscher führen den Einbruch auch darauf zurück, dass Ehe und Familie Menschen im tiefen Umbruch der Wendezeit Halt gaben.

Eheschließungen je 1000 Frauen unter 50 Jahren

Scheidungen je 100 Ehen

Früh. Bundesgebiet DDR/neue Länder

1200 1000 800 600 400 200

1960

2005

Früheres Bundesgebiet DDR/neue Länder

50 40 30 20 10 0

1970

QUELLE: STAT. BUNDESAMT

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QUELLE: STAT. BUNDESAMT

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QUELLE: STATISTISCHES BUNDESAMT

W E LT A M S O N N TAG N R . 4 3

2005

Mai 2008, der Platz ist komplett. Von links: Hotel „Adlon“, Akademie der Künste, DZ Bank, US-Botschaft, Commerzbank. Rechts vom Tor: Haus Liebermann, Palais am Pariser Platz, Eugen-Gutmann-Haus der Dresdner Bank und französische Botschaft

Lebenserwartung nach Geburtenjahrgängen in Jahren

Frauen (West) Frauen (Ost) 80 79,0

Männer (West) Männer (Ost)

82,3 82,0 77,2

75 76,2 72,6

75,8

70,0

70 1990/92

2005/07

Altersaufbau 2006 in Deutschland Jahre 100 90 80 70 60 Männer

600 000 300 000

50 40 30 20 10 0

Frauen

300 000 600 000

SAG MIR, WIE DU HEISST … A Insgesamt geht der Trend zu seltenen Namen. Trugen vor 20 Jahren noch etwa zehn Prozent aller Babys denselben Namen, sind es heute noch zwei Prozent. Ob Kinder aus dem Osten oder aus dem Westen kommen, lässt sich kaum mehr sagen.

Studierte Eltern orientieren sich oft an klassischen Namen, während Eltern, die nicht lange

zur Schule gehen konnten, für ihre Kinder oft die Namen von Musikund Filmstars wählen.

Die beliebtesten Vornamen für 2008 Platz

Jungen

Platz

Mädchen

1.

Maximilian

1.

Sophie/Sofie

2.

Alexander Leon Paul Luca

2. 3. 4. 5.

Marie Maria Anna, Anne Johanna

Finn/Fynn Leon Niclas/Niklas

1. 2. 3.

Mia Leonie Lea/Leah

Lucas/Lukas Luca/Luka

4. 5.

Hannah/Hanna Emily/Emilie

Finn/Fynn Leon Felix Luca/Luka

1. 2. 3. 4.

Hannah/Hanna Lea/Leah Leonie Emma

Lucas/Lukas

5.

Lara

3. 4. 5.

in Schleswig-Holstein 1. 2. 3. 4. 5.

in Mecklenburg-Vorpommern 1. 2. 3. 4. 5.

QUELLE: WWW.BELIEBTE-VORNAMEN.DE/GES. FÜR DEUTSCHE SPRACHE

OST UND WEST GLEICHEN SICH AN A Schaut man sich die beliebtesten Namen in

den Bundesländern heute an, fällt auf: Zwischen Süd und Nord gibt es größere Unterschiede als zwischen Ost und West. In den Nachbarländern MecklenburgVorpommern und Schleswig-Holstein gehören Finn und Leon, Lea und Leonie jeweils zu den Top 5.

… UND AUF OBST A Thüringen und Sachsen liegen aber auch bei

den Obstessern vorn. Frauen aus beiden Ländern essen 360 Gramm Obst am Tag, die aus Schleswig-Holstein nur 240 Gramm. Die größten Obstmuffel überhaupt sind Männer aus Hamburg mit im Durchschnitt nur 170 Gramm pro Tag.

Durchschnittlicher Verzehr von Wurst in g/Tag von Männern 90 80 70 60 50 40

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Heißen: Max und Mia, Felix und Sophie KEVINISMUS UND EMILISMUS A Kevin und Jessica tauchen in der Liste der zehn beliebtesten Vornamen in Ostdeutschland im Jahr 1996 dort auf, wo im Westen Michael und Lena stehen. Soziologen führten einen Begriff ein für das gehäufte Auftreten dieser Namen: „Kevinismus“ und „Chantalismus“. Besonders in Ostdeutschland gaben viele in den Jahren nach der Wende ihrem Nachwuchs Namen, die aus Amerika kamen – oder so klangen.

Brot und essen im bundesweiten Vergleich mehr Wurst und Schinken als die Westdeutschen. Thüringens Männer führen die Liste an.

QUELLE: MRI

LUST AUF WURST … A In den Lebensmittelläden der DDR war vieles oft nicht dann zu haben, wenn die Menschen Lust darauf hatten, zum Beispiel Südfrüchte – und Wurst. Heute streichen sich die Ostdeutschen die Butter am dicksten aufs

Sachs en Brand enbur g Mec Vorpkolenburgmmer n Thürin gen

VIELE JUNGE LEUTE ZIEHEN WEG A Ein weiterer Grund, warum der Osten schneller altert: Viele junge Menschen sind in den vergangenen 20 Jahren auf der Suche nach Arbeit von Ost nach West gezogen. Direkt nach der Wende waren die neuen Bundesländer die Länder mit der jüngsten Bevölkerung, heute sind es die Länder mit der ältesten. Der Westen ist zwar auch gealtert, hat aber vom Zuzug junger Menschen profitiert.

Berlin Breme n Hesse n Niede rsachs en Saarla nd Baden -Württ . Hamb urg Sachs en-An halt Bayer n

DER OSTEN ALTERT SCHNELLER A Allerdings altert Ostdeutschland schneller als der Westen. In den Jahren nach der Wende entschieden sich weniger ostdeutsche Frauen, Kinder zu bekommen. Wissenschaftler vermuten, weil die Menschen in Ostdeutschland noch lange Zeit nach der Wende Angst vor der Zukunft in dem neuen System hatten. Inzwischen ist die Zahl der Geburten in Ostdeutschland wieder angestiegen.

QUELLE: STATISTISCHES BUNDESAMT

Gesundheitssystem von Westdeutschland übernommen hat: Noch 1989 lebten die Menschen in Westdeutschland im Durchschnitt zweieinhalb Jahre länger als in Ostdeutschland. Inzwischen leben die Frauen in beiden Teilen Deutschlands gleich lang, bei Männern ist der Unterschied auf ein gutes Jahr geschrumpft: Ein im Jahr 2007 geborenes Mädchen hat statistisch heute eine Lebenserwartung von gut 82 Jahren.

QUELLE: STAT. BUNDESAMT/IFO DRESDEN

DEUTSCHLAND WIRD ÄLTER A Seit der Wiedervereinigung hat der Anteil der alten Personen an der Bevölkerung in ganz Deutschland zugenommen. Das liegt vor allem daran, dass Menschen in Ost und West heute länger leben als früher: Ärzte können heutzutage besser Krankheiten heilen, weshalb viele Menschen eine höhere Lebenserwartung haben. Das gilt vor allem für den Osten, der nach der Wiedervereinigung das

Essen: Früher kaum Auswahl, heute Überfluss

Rheinla nd-Pfa lz Schles wig-Ho lst. Nordr .-Westf alen

Altern: Junge Familien fehlen

Trikolore auf dem Dach ist die neue französische Botschaft

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Es gibt kaum jemanden, der so viel unterwegs ist wie Paul van Dyk: New York, Shanghai, Manila, Rio de Janeiro. Pro Jahr fliegt der 38-Jährige 16-mal um die Weltkugel. Als weltweit bekanntester Discjockey für elektronische Musik gibt er Konzerte vor Zehntausenden Fans. Eine Lücke in seinem Terminkalender zu finden ist schwer. Trotzdem nahm van Dyk, der in Ost-Berlin aufwuchs und heute im West-Berliner Stadtteil Charlottenburg lebt, sich mehr als zwei Stunden Zeit für die Schüler, die das „Kinderleicht“Interview führten: AnAufgezeichnet tonia Billmeier, 14, Ayvon Anette can Aslan , 14, Adrian Dowideit Schoenermark, 14, und Ziad Abboud, 15. Sie lernten, dass auch ein DJ ein Büro hat – dort fand das Interview statt. Zuvor trafen die vier van Dyk in Berlin-Friedrichshain zum Fototermin an der East Side Gallery, dem längsten noch stehenden Stück Mauer. Im selben Stadtteil im Osten Berlins besuchen die Schüler das Andreas-Gymnasium. Die Fragen hatten sie mit ihrer Klasse, der 9-3, vorbereitet. Die Schule hat eine lange Geschichte. Ende des 19. Jahrhunderts machte hier der spätere Außenminister Gustav Stresemann sein Abitur, später zu DDR-Zeiten Maybrit Illner. Die Schüler von heute wollten von Paul van Dyk wissen, wie sich seine Jugend in der DDR vom Leben der Jugendlichen heute unterschied.

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die durch die Wende arbeitslos geworden sind. Van Dyk: Ja, aber die Leute wären auch ohne die Wiedervereinigung jetzt arbeitslos. Weil die DDR eben wirtschaftlich schon so am Boden war. Natürlich ist es für die Betroffenen tragisch, wenn so etwas passiert. Aber letztendlich sind das die Rahmenbedingungen, in die diese Welt in den letzten zwei Jahrzehnten geschlittert ist. Manche nennen es Globalisierung, andere Turbokapitalismus. Wichtig ist, dass unsere Gesellschaft die Betroffenen mit dem sozialen Netz auffängt – und sie gleichzeitig fordert, sich weiter anzustrengen. Ganz egal, ob sie in Ost oder West leben. Adrian: Viele sind aber noch nicht

über die Teilung hinweg, sondern sagen noch „Ossi“ und „Wessi“. Als was sehen Sie sich? Van Dyk: Dadurch, dass ich so viel reise, fühle ich mich als Europäer, und dann als Deutscher. Ich bin innerlich wiedervereinigt, ein Wossi. Adrian: Sie haben sich mal in einem

„Stellt euch vor, ihr dürft nie mehr mit Oma telefonieren“

Aycan Aslan: Haben Sie sich da-

Van Dyk: Ich denke schon. Ich durf-

mals manchmal eingesperrt gefühlt? Van Dyk: Ich habe zu dieser Zeit an der Warschauer Brücke gewohnt, an der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Der Klub, in dem all meine Lieblings-DJs aufgelegt haben, war genau auf der anderen Seite der Spree, Luftlinie 500 Meter. Es gab aber für mich keine Möglichkeit, da jemals hinzugehen. Versuch mal, dich da reinzuversetzen. Da wird dir etwas verboten, was doch niemandem wehtun würde.

te zum Beispiel kein Abitur machen. Zwar hätte ich die Noten dafür gehabt, aber ich durfte nicht. Ich konnte dann mit viel Glück eine Ausbildung zum Nachrichtentechniker machen. Bei der Bewerbung musste man angeben, wo die Verwandten wohnen. Mir ist beim Bewerbungsgespräch gesagt worden, ich müsse den Kontakt zu meinen West-Verwandten einstellen.

Ziad: Haben Sie damals mitbekom-

Van Dyk: Natürlich nicht. Aber al-

men, dass Leute bei Fluchtversuchen erschossen wurden? Van Dyk: Ja, aus dem West-Fernsehen, ARD und ZDF. Später, als wir den Ausreiseantrag gestellt hatten, war das noch mehr ein Thema als vorher. Da kannte jeder jemanden, der bei einem Fluchtversuch verhaftet wurde und nun im Gefängnis saß, oder sogar einen, der verletzt oder erschossen wurde.

lein die Idee! Stellt euch mal vor, ihr bewerbt euch für eine Ausbildung, und der Chef sagt beim Bewerbungsgespräch, ihr dürft nie mehr mit eurer Oma telefonieren.

Interview beschwert, dass es in Deutschland so viel Neid gibt. War das in der DDR besser? Van Dyk: Dadurch, dass in der DDR alle relativ kleingekocht wurden, gab es wenige, auf die man hätte neidisch sein können. Und das waren dann Stasigrößen oder Parteikader, und dazu hat man dann besser eh nichts gesagt. Adrian: Aber was gab es denn, das in

der DDR besser war? Van Dyk: Die Struktur des Schul-

Der letzte Rest: An der East Side Gallery, dem längsten noch stehenden Stück Mauer in Berlin, traf sich Paul van Dyk mit Antonia, Adrian, Ziad und Aycan

Ziad: Und das hätte Ihnen die Zu-

Paul van Dyk ist einer der berühmtesten DJs der Welt, und er kommt aus der ehemaligen DDR. Im „Kinderleicht“-Interview erzählt er von seiner Jugend im „real existierenden Sozialismus“, seiner Ausreise eine Woche vor dem Mauerfall – und den Dingen, die ihn heute wütend machen

systems. Ich meine nicht, was dort gelernt wurde, sondern wie. Kinder entwickeln sich unterschiedlich. Einer blüht in der 4. Klasse auf, einer erst in der 7. Unser System jetzt ist so, dass sich schon vor der 5. Klasse entscheidet, ob du aufs Gymnasium gehst oder auf die Hauptschule. In der DDR sind alle die ersten zehn Jahre auf dieselbe Schule gegangen, ähnlich wie in der Gesamtschule. Ein solches System, ausgestattet mit mehr Lehrern, wäre wesentlich besser als das, was wir jetzt haben. Und die kostenlosen Kinderkrippen und Kindergärten. Da würden zum Beispiel Migrantenkinder von Anfang an Deutsch lernen – und nicht erst wie manche, wenn sie in die Schule kommen. Adrian: Was macht deutsch sein für

Sie heute aus? Van Dyk: Wir können sehr stolz da-

kunft verbaut?

Aycan: Haben Sie das dann auch ge-

macht?

Mutter den Antrag gestellt? Van Dyk: Meine Mutter hat für mich keine Zukunft in der DDR gesehen. Ich habe in der Schule häufig gefragt: Warum ist das so? Ich hatte zwei Lehrer, die mich dazu ermunterten. Zum Beispiel: Wenn unser Staat so toll ist, warum muss man eine Mauer drum herum bauen? In einem diktatorischen System ist es aber nie gut, wenn man hinterfragt. Ich bin sicher, dass ich über kurz oder lang auf einer ernsteren Ebene bei dem Staat angeeckt wäre.

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Aycan: Aber es gibt viele Menschen,

Ziad: Hätten Sie sich gewünscht, das Gleiche zu haben wie Jugendliche im Westen, etwa Markenjeans? Van Dyk: Nein, ich kannte das ja nur aus dem West-Fernsehen. Das war für mich wie eine irreale SoapOpera, in der die Menschen in Saus und Braus leben. Natürlich hat mich genervt, dass ich nicht die Schallplatten kaufen konnte, die mich interessiert hätten. Und dass ich nicht die englischen Liedtexte verstanden habe, denn wir hatten in der Schule ja nur Russisch.

Antonia Billmeier: Warum hat Ihre

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die DDR, so wie sie war, oder in der Bundesrepublik bleiben, wie sie heute ist? Dann würde wahrscheinlich kein Einziger sich ernsthaft in die DDR zurückwünschen.

RETO KLAR (2), CHRISTIAN KIELMANN

Ziad Abboud: Herr van Dyk, als Sie 14 waren, hatten Sie in der DDR keine Playstation, noch nicht einmal einen Computer. Was haben Sie an den Nachmittagen gemacht? Paul van Dyk: Damals hatte fast jeder ein Fahrrad. Wir haben oft ein Spiel gespielt, das hieß Fahrradfangen. Also wir haben uns mit wilden Fahrmanövern gejagt, was teilweise ziemlich gefährlich war. Und wir Jugendlichen in Ost-Berlin konnten auf dem Radio West-Berliner Stationen empfangen. Ich habe oft vorm Radio gesessen, zum Beispiel wenn ich Hausaufgaben gemacht habe.

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Aycan: Uff. Antonia: Sie waren 17 Jahre alt, als Sie und Ihre Mutter ausgereist sind. Wie war das? Van Dyk: Eineinhalb Jahre nach dem Antrag wurde uns ein spezieller Zug zugewiesen, über Rostock und Lübeck nach Hamburg. Alles, was wir hatten, mussten wir zurücklassen: alle Möbel, Fernseher, Waschmaschine, Fotoalben. Unsere Ausreise war im November, und wir hatten jeweils nur einen Koffer. Heute habe ich keine Bilder mehr aus meiner Kindheit, da fehlt ein Stück von mir. Meine größte Panik war, dass mir jemand meinen Hund wegnehmen würde. Er galt in der DDR als Ware, deshalb hatte ich mich vorher stundenlang beim Amt

angestellt, um ihn ausführen zu dürfen. Ich hatte dann riesige Angst, dass irgendein Wärter ihn mir im Zug wegnehmen würde. Das ist zum Glück nicht passiert. Antonia: Was haben Sie ge-

dacht, als Sie im Westen ankamen? Van Dyk: In der DDR kursierten Geschichten, dass im Westen die Straßen viel besser seien, nicht solche Buckelpisten wie bei uns im Osten. Als wir aber in Lübeck ankamen, war direkt die Bahnhofstraße eine Buckelpiste vor dem Herrn. Aber dann sind wir über die Autobahn nach Hamburg gefahren und haben an der Raststätte gehalten. Da wollte ich mir ein Raider kaufen. Das hieß damals noch Twix. Adrian Schoenermark:

Antonia: Was haben Sie gefühlt, als

Sie vom Mauerfall erfahren haben? Van Dyk: Für mich persönlich war es super. Ich habe in dem Moment begriffen, wie wichtig das war, dass jetzt der ganze Ostblock aufgeht.

und musste überlegen, ob ich mir davon etwas zu trinken kaufe oder lieber etwas zu essen. Adrian: Haben Sie immer noch

Freunde von früher aus der DDR? Van Dyk: Ich hatte mich von meinen Freunden abgenabelt, seit wir den Ausreiseantrag gestellt hatten. Damit es dann nicht so wehtut, wenn man weggeht. Weil – das vergisst man heute immer – ja auch am 8. November 1989 noch keiner wusste, dass das System einen Tag später zusammenbrechen würde. Deshalb habe ich mich von meinen Freunden so verabWas war die DDR, und warum ist das Thema für uns schiedet, als würde ich sie wichtig? Das diskutierte die Klasse 9-3 des Berliner nie wiedersehen. Als ich Andreas-Gymnasiums vor dem Interview dann zwei Wochen nach dem Mauerfall meine Freunde wiedergetroffen habe, konnte ich die Freundschaften nie wieder in dieser emotionalen Form aufbauen. Wir haben uns noch gemocht, aber es war nicht mehr dasselbe.

Nein, umgekehrt! Van Dyk: Ach so. Na ja, jedenfalls war da ein riesiges Regal voller Schokoriegel. Ich konnte mir einfach einen rausnehmen. Und zufällig kam genau in dem Moment jemand und hat das Regal sofort wieder aufgefüllt! Es gab in dieser Tankstelle mehr Auswahl als in jedem DDR-Supermarkt. Das war für mich die Traumwelt aus dem Fernsehen. Ich war so baff, dass ich die ersten drei Tage kein Wort gesagt habe. Neun Tage nach unserer Ausreise ist dann ja eh die Mauer gefallen.

Antonia: Empfinden Sie heu-

Das war eher für meine Mutter schwierig, weil sie alles verloren hatte. Wäre die Mauer eine Woche früher gefallen, hätten wir noch unsere Wohnung gehabt und unseren ollen Schwarz-Weiß-Fernseher. So standen wir ohne alles da. Es gab Tage in den ersten Monaten, da hatte ich nur eine Mark in der Tasche +

te Hass auf Honecker und die anderen, die an der Spitze der DDR standen? Van Dyk: Hass ist nicht das richtige Wort. Das System wurde ja von mehr Menschen getragen als den paar, die an der Spitze standen. Man müsste dann zum Beispiel auch Franz Josef Strauß hassen. Wisst ihr, wer das ist? Nein? Das war ein Westdeutscher, damals der Ministerpräsident von Bayern. Er hat der DDR einen Milliardenkredit gewährt, als sie eigentlich

schon bankrott war, und hat damit den Unrechtsstaat länger am Leben gehalten. Strauß hat das damals gemacht, weil die DDR als Billiglohnland für Westdeutschland produziert hat, so wie heute China. Die BRD hat von der DDR profitiert. Antonia: Sind Sie gar nicht wütend im Nachhinein? Van Dyk: Doch. Was mich wütend macht, ist, wenn ich so was sehe wie die Linkspartei, die sich bis heute nicht von dem distanziert hat, was in dieser Diktatur passiert ist. Es darf in der Politik nicht nur darum gehen, mehr soziale Werte zu schaffen, sondern auch darum, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen. Und es ist nun einfach mal so, dass 80 Prozent der Partei heute alte Kader aus dem Osten sind. Oder es macht mich wütend, wenn es auf den privaten Fernsehsendern immer diese „lustigen“ Ostalgie-Shows gibt. Das ist einfach extrem geschmacklos. Es sind Leute in der DDR gestorben, weil sie ihre Meinung gesagt haben. Diese Verklärung, die heute herrscht, die macht mich wütend.

rauf sein, im wiedervereinigten Land eines der effektivsten demokratischen politischen Systeme der ganzen Welt aufgebaut zu haben. Wenn man auf unsere Geschichte zurückblickt, das Dritte Reich und die DDR, ist das eine enorme Errungenschaft. Ich habe bei meinen Reisen erlebt, dass Demokratie das mit Abstand beste System ist auf unserem Planeten. Adrian: Wie viel wissen denn die Leute in den Ländern, die Sie besuchen, von der deutschen Geschichte, zum Beispiel von der Teilung? Van Dyk: Wie viel weißt du über Nord- und Südkorea? Adrian: Na ja, nicht sehr viel. Van Dyk: Siehst du, das ist eben das

Problem. Es ist eine absolute Perversion, eine Mauer mitten durch ein Land zu ziehen, durch ein Volk. Aber trotzdem ist das Bewusstsein in anderen Ländern darüber eher gering. In Amerika zum Beispiel wissen die Leute im Zusammenhang mit Deutschland eher etwas über die Love-Parade als über die deutsche Teilung.

Antonia: Es gibt Umfragen, denen

IMPRESSUM

zufolge sich mehr als jeder zehnte Deutsche die Mauer zurückwünscht. Was glauben Sie, warum? Van Dyk: Sicher gab es viele Leute, die nicht mit idealen Bedingungen ins vereinte Deutschland gestartet sind. Aber das hing eher mit den Vorbedingungen in der DDR zusammen als mit dem neuen, gemeinsamen Staat. Wenn man die Menschen vor die Entscheidung stellen würde: Wollt ihr zurück in

Eine Beilage der „Welt am Sonntag“ CHEFREDAKTEUR: Thomas Schmid REDAKTION: Jörg Eigendorf, Thomas Exner, Anette Dowideit, Florian Eder, Olaf Gersemann PRODUKTION: Rainer Marx LAYOUT: Ulrike Hemme INFOGRAFIK: Babette Ackermann-Reiche ANZEIGEN: Michael Wittke VERLAG UND DRUCK: Axel Springer AG, Axel-Springer-Str. 65, 10888 Berlin

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Eine helle Produktionshalle mit vollautomatischen Druckern und Fräsmaschinen, große Büros mit schwarzen Flachbildschirmen, ein Keller mit viel Platz für Farbtöpfe, Folien und Papier: „Simon Werbung“ in Weißenfels in Sachsen-Anhalt ist eine moderne Werbeagentur. Nur alte Schwarz-Weiß-Fotos lassen noch erahnen, wie vor 20 Jahren alles anfing, als Annerose Simon sich nach dem Mauerfall als Grafikdesignerin selbstständig machte. Damals machte sie alles

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trie in Weißenfels kreativ tätig: Sie entwarf Schuhe, Buchumschläge und Plakate und stellte aus Sträuchern und Früchten aus dem eigenen Garten Kränze her, die sie auf dem Markt verkaufte. Um ein Unternehmen zu gründen, fehlte aber immer das Startkapital. Zwar verdiente sie mehr als viele andere in der DDR. Es reichte aber trotzdem nie zum Sparen.

worden. 2002 unterkellerten sie das Haus, bauten eine Produktionshalle und den kleinen Glasanbau, wo sie heute ihre Kunden empfangen. Die Familie ackert. All das hätte An-

Die Simons: Richard, Annerose, Elke und deren Sohn Axel (linkes Bild, v. l.). Ihren Trabi von damals haben sie behalten

Kleines Vermögen. Doch Annerose

Simon gab nicht auf. Als im Novem-

RETO KLAR (2)

Mit 400 Mark zum Glück Jeder Ostdeutsche bekam nach der Wende ein Begrüßungsgeld. Die Simons haben damit einen Traum verwirklicht: Sie wurden Unternehmer von Hand: Mit einer Stichsäge schnitt sie Metallbuchstaben für Firmenlogos aus, mit Bleistift und Tusche entwarf sie Plakate und Visitenkarten. Wenn die 69-Jährige heute daran zurückdenkt, kann sie es selbst kaum fassen. „Wie wir das damals nur alles geschafft haben“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Mit der deutschen Einheit war für Annerose Simon die Chance gekommen, sich ihren großen Traum von der eigenen Werbeagentur zu verwirklichen. Schon zu DDR-Zeiten war sie neben ihrer Arbeit am Forschungsinstitut der Schuhindus-

ber 1989 die Grenzen nach West- mons aber widerstanden all diesen deutschland geöffnet wurden, Versuchungen. „Uns öffnete sich schien die richtige Gelegenheit tat- damals eine Welt, in der viel mögsächlich gekommen: Jeder DDR- lich war“, sagt Elke Simon-Kuch, Bürger, der in den Westen reiste, die Tochter der Unternehmensbekam damals 100 D-Mark gründerin: „Wer wusste Begrüßungsgeld. Viele gaschon, wofür wir das Geld ben ihr kleines Vermögen noch gebrauchen können.“ schnell für all das aus, was Die vier Simons überes in der DDR nicht gab legten ein paar Wochen. oder was sie sich vorher Und dann kauften sie von nie leisten konnten: Banaihren insgesamt 400 Dnen und Orangen, Kaffee Mark Begrüßungsgeld eiund Kakao, tragbare Kasnen gebrauchten Kopierer Von settenrekorder, Schallplatvon einer Computerfirma Britta Beeger ten und Kosmetik. Die Siin Göttingen. Damit legten

nerose Simon nicht ohne Hilfe geschafft. Tochter Elke studierte eigentlich Germanistik und Anglistik im nahen Halle. Nach den Vorlesungen kam sie nach Hause und half beim Zeichnen, Ausmalen, Schneiden und Vervielfältigen. Sohn Uwe lernte Drucker und

sie den Grundstein für ihr Familienunternehmen. Mutter Annerose stellte den Kopierer in ein acht Quadratmeter großes Arbeitszimmer in ihrem Einfamilienhaus, dazu einen Schreibtisch, ein Regal und einen Tisch für Gespräche mit Kunden. Ehemann Richard kaufte Farbtöpfe, Kunststoffplatten, Folien und Kopierpapier in West-Berlin. Anfang Mai 1990 erschien eine Zeitungsanzeige: „Übernehme Aufträge für grafische Gestaltung“. Warteschlange im Garten. Die Kun-

den kamen schnell. Simon entwarf

Firmenlogos, Visitenkarten, Anzeigen, Kataloge und Verpackungen von Hand. Im Bad bemalte sie Kunststoffplatten für Firmenschilder, im Wohnzimmer standen die großen Regale mit den bunten Folien, auf dem Küchentisch machte Ehemann Richard neben seinem eigentlichen Job als Lehrer die Buchhaltung. Zusätzlich war das Arbeitszimmer der Simons der erste Copyshop in Weißenfels und Umgebung. Durch den ganzen Garten standen Kunden Schlange, um für 28 Pfennig pro Seite Personalausweise, Führerscheine, Grundbuch-

auszüge und Testamente zu kopieren. Fünf Jahre lang machte Annerose Simon keinen Tag Urlaub, arbeitete oft sieben Tage die Woche, von morgens um halb acht bis nachts um eins. Eine anstrengende Zeit – aber auch eine schöne. „Ich möchte das nicht missen,“ sagt die Firmengründerin. Ihre Mühe zahlte sich aus: Bald hatten die Simons nicht nur das Geld für den Kopierer wieder hereingearbeitet, sondern konnten auch das Nachbarhaus mieten und später kaufen. Der Platz in ihrem Wohnhaus war einfach zu eng ge-

packte ebenfalls mit an. „Ohne meine Kinder wäre es nicht gegangen“, sagt Mutter Annerose. Tochter Elke entschied sich bald, ins Unternehmen einzusteigen, und sattelte auf Grafikdesign und Werbung um. Heute leitet sie als Geschäftsführerin den Familienbetrieb mit mittlerweile 24 Mitarbeitern. „Simon Werbung“ hat heute mehr als 1000 Kunden, darunter viele mittelständische Firmen vor allem aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Berlin. Aus dem Ein-Frau-Betrieb ist eine feste Größe in der Region geworden. Annerose Simon betrachtet ihren Erfolg manchmal staunend. Damals den Beruf aufzugeben, alles auf eine zu Karte setzen: „Das war doch ganz schön gewagt.“ Aber so eine Chance, wie die Wende sie ihr bot, kommt auch kein zweites Mal.

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War damals alles schlechter?

ALL-FIVE/JOACHIM MESSERSCHMIDT; PRIVAT; ECKHARD SOMMER

Jeder hatte einen Job, Wohnungen waren billig, alle waren gleich reich, Autos aber schwer zu bekommen – das sind gängige Ansichten über die DDR. Was davon stimmt? Tatsache ist: Der Staat wollte alles regeln, und nicht nur die Planwirtschaft machte den Menschen das Leben schwer

1973: Jugendliche am „Brunnen der Völkerfreundschaft“ auf dem Berliner Alexanderplatz (oben). 1979: Teilnehmer des Nationalen Jugendfestivals in Ost-Berlin (unten rechts). 1986: Jungpioniere bei einer Demonstration zum 25. Jahrestag des Mauerbaus (oben rechts)

„Es gab in der DDR Kinderbetreuung für alle“ Als Ursel Olupitan ihre Tochter Susan auf die Welt brachte, war sie alleinstehend. Der Vater ihres Kindes war in Nigeria. Die beiden hatten sich während des Studiums in Leipzig kennengelernt, wo er Gaststudent für ein Semester war. Doch dann musste er wieder zurück in sein Heimatland, weil dort ein Bürgerkrieg ausgebrochen war. Ursel Olupitan arbeitete in der Chemiefabrik Buna. Sechs Wochen vor der Geburt ihrer Tochter und sechs Wochen danach gab es bezahlten Mutterschutz. Anschließend ging die junge Mutter gleich wieder an die Arbeit, die kleine Susan kam in eine Kinderkrippe. „Es war überhaupt kein Problem, einen Platz zu bekommen“, erzählt Olupitan. Der Krippenplatz sei „absolut nicht teuer“ gewesen.

Die kleine Susan Olupitan

Heute können junge Mütter in vielen Städten nur davon träumen, so schnell einen Betreuungsplatz für ihren Nachwuchs zu bekommen. Die Wartelisten sind oft lang. Wollen die Mütter trotzdem arbeiten gehen, müssen sie häufig teure private Kinderbetreuung bezahlen. Allerdings gab es auch eine Kehrseite der Medaille. Die DDRMachthaber nutzten das breite Netz an Kinderkrippen, Kindergärten und Tagesstätten, um den Kindern früh „sozialistische Werte“

einzuimpfen. Mütter konnten auch nicht wählen, ob sie zu Hause bleiben oder arbeiten wollten, sagt Olupitan: „Es gab damals gar nicht die Möglichkeit, nur Hausfrau zu sein – schon allein aus finanziellen Gründen nicht.“ Und Zuschüsse vom Staat wie das heutige Kinderund Elterngeld gab es auch nicht.

„Die Wohnungsmieten waren damals niedrig“ Es war 1974, als Familie Merx nach Halle-Neustadt zog. In ihrer Plattenbauwohnung gab es ein Schlafzimmer für die Eltern, ein Kinderzimmer für den Sohn und ein Wohnzimmer. „Unsere Wohnung war sehr modern, und ich fand Halle-Neustadt wunderschön“, erzählt Monika Merx. Schließlich gab es überall in der neuen Siedlung Zentralheizung und warmes Wasser – für damalige Verhältnisse war das etwas Besonderes. Die Miete für die „Vollkomfortwohnung“ betrug 94,80 Mark einschließlich Heizkosten. Im Durchschnitt kostete in der DDR ein Quadratmeter pro Monat eine Mark, und die Mieten blieben über Jahrzehnte hinweg gleich. Allerdings gab es viel zu wenige Wohnungen. Deshalb teilte sie die Stadtverwaltung zu. Besonders wichtig war dabei die Familiensituation: Studenten bekamen fast nie eine eigene Wohnung, sie lebten in der Regel in Wohnheimen. Erst mit der Hochzeit bekam ein Paar Anspruch auf eine eigene, kleine Wohnung. Teilweise mussten die Menschen lange auf eine größere oder moderne Wohnung warten. Denn gebaut wurde vor allem dort, wo große Betriebe lagen. Die eigentlich schönen Altbauwohnungen in vielen Städten kamen derweil völlig herunter.

„In den Restaurants war fast immer das Essen aus“ Wer jemals in einem Restaurant in der DDR aß, kennt folgenden Gesprächsablauf: „Ich hätte gern das Schnitzel mit Kartoffeln.“ „Das ist aus.“ „Dann nehme ich das Gulasch mit Nudeln.“ „Das ist auch

Familie Ringpfeil zu DDR-Zeiten

aus.“ „Ja was haben Sie denn noch?“ „Nur die Bockwurst mit Brot!“ In der DDR hießen die Restaurants Versorgungseinrichtungen. Was dort auf der Speisekarte stand, hing nicht davon ab, was die Kunden am liebsten bestellten. Die Zutaten wurden vielmehr vom Ministerium für Handel und Versorgung zugeteilt. So kam es, dass mal besonders viel Rotkohl auf der Karte stand und man an anderen Tagen hauptsächlich Eiergerichte bestellen konnte. Die Preise für die Menüs waren genau vorgeschrieben, erzählt Daniela Ringpfeil, die vor der Wende mit ihrem Mann Gören eine Gaststätte im Ort Grüngräbchen in Sachsen führte: „Es gab Vorgaben, wie viel Prozent Fleisch in einem Gericht enthalten sein musste, wie viel Gemüse und wie viel Kartoffeln. Anhand dieser Anteile mussten wir dann die Preise der Menüs genau ausrechnen. Und wenn wir Hochzeitsfeiern in der Gaststätte hatten, haben wir manchmal Ausgefallenes wie Ananas, Champignons oder Mandarinen besorgt.“ Dafür mussten die Ringpfeils dann teilweise stundenlang durchs Land fahren.

Deutschland den Studienplatz oder die Lehrstelle, die man sich wünscht. In der DDR war das anders. Dort waren gute Noten zwar auch gefragt. Aber viele Studenten konnten sich ihr Studienfach nicht aussuchen, sondern wurden zugeteilt: Wurden zum Beispiel gerade viele Physik- oder Mathematiklehrer gebraucht, gab es dafür besonders viele Studienplätze. Die Wahl des Studienplatzes hing weniger von den Interessen und Talenten der Schüler ab, sondern vom Bedarf der Firmen. Abitur konnten von vornherein nur Schüler machen, deren Familien nicht als kritisch gegenüber der SED-Diktatur eingestuft wurden. Für viele Kinder blieb deshalb ihr Traumberuf unerreichbar. Ein Beispiel ist die Familie Harmuth aus Leipzig. Vater Hannes hatte eine Buchbinderei. „Ich galt als Kapitalist, also als Systemgegner, nur weil ich ein eigenes Unternehmen hatte“, erzählt er. Die meisten Firmen gehörten zu der Zeit dem Staat. Die Familie hatte damals drei kleine Kinder. Zwei von ihnen, Philipp und Ulla, durften kein Abitur machen. „Die Lehrer sagten damals zu den beiden: Die Weltanschauung deines Vaters ist nicht dazu geeignet, dass du die höhere Schule besuchst“, erzählt Hannes Harmuth. Weil sie ihren Kindern eine bessere Zukunft wünschten, schrieben die Eltern 1985 an die Regierung: „Wir beantragen, zum

nächstmöglichen Termin die DDR verlassen zu dürfen.“ Bis es so weit war, vergingen viereinhalb Jahre. Heute wohnt die Familie in Aachen, Philipp und Ulla haben studiert, der jüngere Bruder Albrecht besitzt eine Kfz-Werkstatt.

„In der DDR hatte jeder einen Job“ Jeder DDR-Bürger hatte das Recht auf einen Arbeitsplatz. Das war sogar im Gesetz festgeschrieben. Der Staat erreichte dieses Ziel, indem er selbst viele Arbeitsplätze schuf. Der größte Teil der Menschen arbeitete in den sogenannten Volkseigenen Betrieben (VEB) und Genossenschaften. Der DDR gehörten damit fast alle Wohnungen, Lebensmittelläden, Autohersteller, Banken und Energieunternehmen. Private Betriebe existierten kaum. Viele Menschen waren glücklich, einen sicheren Job zu haben. Das Problem war aber, dass die DDR mit diesem System nicht produktiv war. Um ein Fahrrad zu bauen, wurden zum Beispiel 20 Menschen beschäftigt, obwohl zehn Arbeiter dafür gereicht hätten. Mehr Angestellte kosten eine Firma aber auch mehr Geld – deshalb waren nach 1990 viele Firmen nicht wettbewerbsfähig und mussten aufgeben. Die Mitarbeiter wurden arbeitslos. So wie Norbert Köhler aus Rostock. Er verlor 1992 seinen Job bei der Schulspeisung. Damals war er 35 Jahre alt. „Wir sind die Verlierergeneration“, findet Köhler. Bis heute hat er nie wieder einen richtigen Job gefunden, obwohl er Lastwagenfahrer ist und sich gleich nach der Kündigung wieder beworben hatte. Viele gut ausgebildete Menschen suchten ebenfalls einen neuen Job. Zwei Millionen Bürger der ehemaligen DDR zogen in die alte Bundesrepublik, um einen neuen Arbeitsplatz zu finden.

„Man durfte sich seinen Beruf nicht aussuchen“

„Auf Autos musste man viele Jahre warten“

Egal was jemand von Beruf werden möchte, ob Pilot, Kraftfahrzeugmechaniker oder Arzt: Nur mit guten Noten bekommt man heute in

Ein typisches Auto in der DDR, der Trabant, den alle Trabi nannten, kostete in der DDR etwa 10 000 Mark. Das klingt zunächst nicht

Familie Harmuth aus Leipzig +

einmal nach sehr viel Geld. Trotzdem hatte längst nicht jeder einen Wagen. Kurz vor der Wende besaßen 55 Prozent der DDR-Bürger ein Auto, im Westen waren es 61 Prozent. Denn gemessen an den bescheidenen Gehältern waren die Autos sehr wohl teuer. Außerdem konnte man damals nicht einfach zum Händler gehen und ein Auto kaufen. Stattdessen bestellte man es – und musste dann bis zu 15 Jahre darauf warten. Man konnte auch versuchen, ein Auto gebraucht zu kaufen. Dann war es aber etwa dreimal so teuer. Kurt Päßler aus der sächsischen Stadt Oelsnitz wartete auf seinen ersten Trabi 14 Jahre. Die Farbe des Autos konnte man sich nicht frei auswählen, erzählt er: „Man kam

Kurt Päßler mit Trabi Cabrio

zum Abholtermin und nahm den Wagen mit, der auf dem Hof stand.“ Päßlers Trabi kostete 13 500 Mark. Er arbeitete damals als Verkäufer in einem Lebensmittelladen und hatte ein Monatseinkommen von 700 Mark. „Das Auto war damals sehr teuer für mich, aber ich hatte ja genug Zeit, das Geld zu sparen.“ Der heute 68-Jährige bekam sein Auto im März 1989, also nur wenige Monate, bevor die Mauer fiel. Danach waren die Ost-Autos auf einmal viel billiger zu haben, erzählt er. „Die Leute haben ihre Trabanten damals verschenkt oder zu Schleuderpreisen verkauft. Die wollte keiner mehr haben.“ Er selbst blieb der Marke allerdings treu. Er machte aus seinem Trabi ein pinkfarbenes Cabrio. Heute fährt er damit noch regelmäßig zu Trabi-Oldtimertreffen.

„In der DDR waren alle Menschen gleich reich“ Nicht jeder verdiente in der DDR dasselbe. Aber die Unterschiede zwischen den Einkommen waren viel geringer als heute. Eine Verkäuferin verdiente pro Monat 600 bis 800 Ostmark, ein Ingenieur höchstens 1200 Mark. Das Kuriose: Manche Handwerker hatten ein höheres Einkommen als Bürger, die studiert hatten. Das halten Experten für einen der Gründe, warum das Wirtschaftssystem der DDR nicht überlebte. „Es war ein schwerwiegender Fehler, die Intellektuellen nicht besser zu entlohnen“, sagt Edgar Most, früher Vizechef der DDR-Staatsbank. So lohnte es sich für die Menschen nicht, zu studieren oder sich am Arbeitsplätzen besonders anzustrengen. Most selbst hatte es durchaus besser als der Durchschnitt. Er verdiente 2800 Mark und bekam zusätzlich 1500 Mark Aufwandsentschädigung. Von diesem Geld sollte er zum Beispiel Dienstreisen bezahlen, „aber wir machten ja kaum Reisen damals.“ Dazu kam, dass durch seine privilegierte Stellung im Beruf immer wieder kleine und große Vorteile genießen konnte. „Wir hatten zum Beispiel keine Probleme, einen Telefonanschluss zu bekommen. Und wenn an unserem Auto der Auspuff kaputtging, mussten wir nicht wie andere Bürger lange auf ein Ersatzteil warten.“ Heute sind die Einkommensunterschiede der Deutschen untereinander viel größer. Firmenchefs verdienen oft ein Vielfaches ihrer Angestellten. Most findet, dass das oft nicht mehr verhältnismäßig ist: In der DDR gab es „viel weniger Neid in der Gesellschaft“. Der Zusammenhalt, zum Beispiel unter Nachbarn, sei größer gewesen. „Heute beginnt die Neidgesellschaft schon im Kindesalter. Wer in der Schule billigere Klamotten trägt, wird oft bemitleidet oder sogar ausgelacht.“ Allerdings: Die Gleichheit in der DDR wurde damit erkauft, dass fast alle deutlich ärmer waren: Der Lebensstandard war viel niedriger Anette Dowideit, als heute. Karen Haak, Juliane Wildermann

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Kirsten Berger-Vogeley ist eine Frau, die etwas von Autos und von Organisation versteht. Seit 16 Jahren führt sie mit ihrem Mann eine Autowerkstatt, eine Autovermietung, einen Reifenhandel und ein Abschleppunternehmen. Außerdem ist die lebhafte Frau mit den blonden Haaren und den blauen Augen Mutter von drei Söhnen. Berger-Vogeley zweifelte nicht, dass sie auch die Sache mit der Schule hinbekommen würde. Ihr Heimatort, Benneckenstein im Harz, liegt im Bundesland Sachsen-Anhalt, gleich an der Grenze zu Niedersachsen und zu Thüringen. Auf 600 Metern Höhe schweift der Blick über Bergwiesen und fichtenbestandene Hügel. Doch Benneckenstein schrumpft und altert, den meisten Nachbarorten in SachsenAnhalt geht es ebenso. Viele Gymnasien und Sekundarschulen schließen. Und der Morgenbus in die Kreisstadt Wernigerode fährt schon um 5.50 Uhr. Vogeley kam auf eine ebenso nahe wie ferne Lösung: Sohn Moritz in Braunlage zur Schule zu schicken. Als Kirsten Berger-Vogeley in den 80er-Jahren selbst zur Schule ging, hätte sie nicht einmal im Traum daran gedacht: Da gehörte Benneckenstein zum Grenzgebiet der DDR. Und Braunlage war Grenzort der alten Bundesrepublik und nicht nur zwölf Kilometer, sondern ein Sperrgebiet, mehrere Grenzzäune, eine Wachhundlaufanlage und einen Todesstreifen entfernt. In Braunlage, das zu Niedersachsen gehört, waren Bürgermeister und Schuldirektor sofort bereit, die Kinder von Benneckenstein aufzunehmen. In Magdeburg erlaubte das Kulturministerium von Sachsen-Anhalt das Abwandern der Landeskinder per Ausnahmegenehmigung. Eine Busverbindung gab es zwischen Benneckenstein und Braunlage nicht. Kurz entschlossen tauschten Kirsten Berger-Vogeley und zwei andere Mütter ihre Autos gegen VW-Busse. Zwei Jahre fuhren die Mütter erst 13, dann 21 Kinder nach Braunlage. Als 2008 die Zahl der pendelnden Kinder stieg, wurde auch ein Schulbus eingesetzt. „Wir sind froh, dass diese Zusammenarbeit funktioniert und sind sehr zufrieden“, sagt Berger-Vogeley. Die Kinder sind nicht die Einzigen, die Benneckenstein am Morgen verlassen. Die Berufsbekleidungsfabrik, die früher 800 Menschen Arbeit gab, beschäftigt heute noch ein paar Dutzend Mitarbeiter. Ähnlich ist es im Kompressorenwerk, die Stuhlfabrik bietet als größter Arbeitgeber noch 100 Arbeitsplätze, überschlägt Bürgermeister Hans-Herbert Schultes. In der Nacht beginnt in Benneckenstein deshalb der Pendlertreck nach Westen. Pendeln nach Salzgitter. Dietmar

FLORIAN HASSEL (5)

Zur Schule in den Westen. Berger-

Die Brockenwirte Hans und Daniel Steinhoff (rechts) haben auf dem höchsten Berg des Harzes Restaurants und ein Hotel aufgebaut. Hohe Gäste streiten auf dem Gipfel regelmäßig über den Stand der deutschen Einheit

Eins zu werden kann mühsam sein Im Harz soll Tourismus die ehemalige Grenzregion voran- und die Menschen zusammenbringen. Eine schwierige Aufgabe Lahr im Schwarzwald, 500 Kilometer entfernt ist das. „Was soll aus dem Harz werden, wenn die ganzen Jungen weggehen?“, fragt Tronnier. Gleichzeitig sagt er aber auch über Marias Umzug: „Es ist das Beste, was ihr passieren konnte. Wir hoffen, dass sie dableibt.“ Im Wald oberhalb des Dorfes ist ein Teil der Grenzanlagen erhalten – von der Hundelaufanlage bis zum Beobachtungsturm im Todesstreifen. Im Büro von Bürgermeisterin Inge Winkel steht das Modell eines DDR-Grenzsoldaten. Am 18. Oktober eröffnete Winkel eine Dauerausstellung zur Grenzgeschichte. „Wir sind froh, dass wir wenigstens das verkaufen können.“

Gottstein, 42 Jahre alt, mit dem Kreuz eines Preisboxers, ist Montageschlosser in Gemeinsame Probleme. der Lastwagenfertigung Die Aufgabe, mehr Tourisvon MAN im eineinhalb ten anzuziehen, müssen Autostunden entfernten viele Städte und Dörfer im Salzgitter. Auf den Weg Harz lösen. Tourismus ist zur Frühschicht macht er im Ex-Grenzgebiet „der sich um 4.15 Uhr. „Ich bin Von Florian einzige Industriezweig und glücklich, diesen Job zu Hassel enorm wichtig, um die haben“, sagt Gottstein. Leute da oben zu halten“, „Die Firma zahlt gut, es sagt in Halberstadt Landgibt Weihnachts- und Urlaubsgeld, Betriebsrente und Spar- rat Michael Ermrich. „Andere förderung. Das wird im Osten doch deutsche Problemgebiete haben noch nicht einmal den Tourismus. kaum noch geboten.“ Seit 18 Jahren pendelt Gottstein Wenn die Einheit hier nicht läuft, nach Salzgitter. Vor ein paar Jahren dann läuft sie nirgendwo.“ Immerhat er sich in Benneckenstein ein hin, so der Landrat, vereinigten Haus gekauft. Wegziehen will er Niedersachsen und Sachsen-Anhalt nicht. Das ist nicht die Regel. Seit 2004 zwei Schutzgebiete zum Nadem Mauerfall ist die Einwohner- tionalpark Harz. Seit Jahren steigen zahl von Benneckenstein um über die Besucherzahlen beim gemein1000 zurückgegangen. Von den 2159 samen Harzfest im Herbst. Eine Einwohnern des Orts sind fast 700 Harz-Card erlaubt den Besuch von älter als 60 Jahre. Anderswo im Attraktionen im ganzen Harz. Und der traditionsreiche Harzclub kümHarz ist es ähnlich. „Die Jungen ziehen weg, weil es mert sich seit dem Mauerfall mit keine Arbeit gibt“, sagt Bürger- Tausenden Mitgliedern um Brauchmeister Schultes. „Sie gehen und tum und Geschichte. Freilich: Dem Nationalpark ginkommen nicht wieder.“ Um die Kinder von Benneckenstein wurde gen lange Querelen über Verwalvor ihrem Schulbeginn in Braunla- tungssitz und Führung voraus. Und ge hart gekämpft. „Viele Benne- im Harzclub wurde der Vorsitzende ckensteiner waren dagegen, dass – Landrat Ermrich – kürzlich angedie Kindern ‚in den Westen‘ soll- griffen, weil er angeblich die Inteten“, sagt Kirsten Berger-Vogeley. ressen des ehemals ostdeutschen „Uns ging es nur um den Schulweg – Harzes zum Nachteil der ehemals nicht um West oder Ost. Aber ich westdeutschen Regionen fördert. Walter Lampe ist Bürgermeister kann sie auch verstehen – die Kinder Samtgemeinde Oberharz, eines der fehlen ja später hier.“ Ein paar Kilometer weiter liegt Zusammenschlusses von fünf niedas Dorf Sorge. Es macht seinem dersächsischen Gemeinden im Namen alle Ehre. Statt der einst 250 Landkreis Goslar. Kürzlich wählEinwohner leben hier noch 115. Det- ten elf ehemalige DDR-Orte kurz lef Tronnier baute nach der Wende hinter der ehemaligen Grenze für den „Sonnenhof “, ein freundliches, ihren geplanten Zusammenschluss an eine Alpenhütte erinnerndes Anfang 2010 den Namen „Stadt Hotel. Tochter Sandra wurde Oberharz am Brocken“. Die NieRechtsanwaltsgehilfin. Tochter dersachsen zogen in Magdeburg geMaria lernt gerade Polizistin – in gen die Doppelgänger vor Gericht –

und verloren am 9. Oktober bei der ersten Verhandlung. „Wir legen Einspruch ein“, sagt Bürgermeister Lampe. „Wir wollen uns nicht unseren historischen Name stehlen lassen.“ Lampe residiert in Clausthal-Zellerfeld, einer Stadt von 14 500 Einwohnern, das lange vom Erzbergbau lebte. Heute bringen außer der aus einer Bergbauakademie entstandenen Technischen Universität und kleinen Mittelständlern vor allem Touristen Geld. Zur Gemeinde gehörende Orte wie Altenau leben nur vom Tourismus. Verjüngung versäumt. Das taten sie

lange sehr gut. Die Gäste kamen wegen der zum Wandern oder Skilaufen einladenden Natur. Dazu kam in der alten Bundesrepublik die Förderung als sogenanntes Zonenrandgebiet. „Die Tourismusbetriebe überlebten, ohne sich über Gebühr anzustrengen und zu investieren“, sagt Bürgermeister Lampe. Auch Braunlage, der niedersächsische Nachbar Benneckensteins, hat eine Frischzellenkur lange versäumt. Der Kur- und Skiort hat eine über 100 Jahre alte Tourismustradition. „Es ist das Sankt Moritz des Harzes“, sagt Bürgermeister Stefan Grote. Doch es ist ein heruntergekommenes Sankt Moritz: mit altmodischen Hotels und Geschäften, die auch als Kulisse für einen Film über die Adenauer-Zeit dienen könnten. An der Hauptkreuzung steht das Hotel „Brauner Hirsch“, früher das erste Haus am Platze, seit Jahren leer. Hundert Meter weiter, gegenüber der Touristeninformation, gähnt mit zerborstenen Scheiben die Halbruine des „Kurhotels Rogener“. Nach der Grenzöffnung wurden die westdeutschen Harz-Hotels von Touristen überschwemmt. Doch ab Mitte der 90er-Jahre traf es die Orte gleich mehrfach: Die Gästezahlen gingen zurück. Die Zonenrandzulage war Vergangenheit. Und die Förderung durch Land und EU war nach der Wiedervereinigung für die ostdeutschen Gemeinden im Harz deutlich höher. „Bei uns wurde auch nach der Grenzöffnung lange kaum investiert“, sagt Bürgermeister Lampe in Clausthal-Zellerfeld. „Früher waren die schlechten Straßen drüben. Jetzt haben wir sie hier.“ Die Gemeinde versucht nun, mehr Besucher mit einer neuen Wellness-Therme in Altenau oder einer besseren Präsentation des reichen Bergbau-Erbes anzulocken.

tes ussicht, net loss, tolle A ch S it h es er ön ch u ch e: S ein Bes Wernigerod termaßen m – verdien u tr en tz d Sta

Nach Braunlage kommen immer noch jährlich Hunderttausende vor allem ältere Gäste. Der Ort hat die am höchsten gelegenen Skipisten des Harzes. Doch 2007 und 2008 mahnten zwei schneelose Winter die Braunlager, dass „wir mehr tun und im Sommer junge Familien mit Kindern für uns gewinnen müssen“, so Bürgermeister Grote. Jetzt lockt der Ort mit „Monsterrollern“ – eine Art Tretroller mit breiten Reifen, zur sommerlichen Abfahrt. Grote will auch einen Freizeit- und Ferienpark ansiedeln. Die Betreiber stünden bereit – nicht aber die bis zu 100 Millionen Euro, die der Park kosten soll. Harte Konkurrenz. Fünf Kilometer

Kraft der Erinnerung: Mit einem Museum zur Grenzgeschichte will das Krisendorf Sorge Leute anziehen

Bürgermeister im Blaumann: Maschinenbauer HansHerbert Schultes (Mitte) wacht über Benneckenstein

Schleichender Niedergang: In Braunlage stehen selbst im Zentrum ehemalige Hotelgebäude leer +

weiter, östlich der ehemaligen Grenze, gibt es in Hasselfelde einen Ferienpark schon seit fast einem Jahrzehnt. Ehemalige DDR-Orte wie Thale ziehen seit Jahren mit einem familienfreundlichen Angebot von der Bobbahn bis zum Kindertheater Gäste an. Und da ist Wernigerode, mit einem prächtig sanierten Schloss, einer attraktiven Altstadt und modernen Hotels ein Kronjuwel des Harzes. Politiker beschwören gern eine einheitliche Vermarktung des Harzes, um mehr Touristen anzulocken. In der Realität freilich „sind alle letztlich Konkurrenten“, gibt auch Landrat Michael Ermrich zu. Einer streitet ganz oben – auf dem Brocken – für die Einigung: Hans Steinhoff. Von August 1961 bis 1990 war das Wahrzeichen des Harzes als Teil der Grenze militärisches Sperrgebiet und fest in der Hand der DDR-Grenztruppen, der Stasi und der sowjetischen Armee. Heute ist das Bergplateau fest in der Hand von Steinhoff, dem Brockenwirt. Nach der Grenzöffnung fuhr der gelernte Küchenchef und Konditor mit einem Trabi auf den Brocken und verkaufte Erbsensuppe und Glühwein. Heute ist der 65 Jahre alte Steinhoff Herr über ein Gastronomie-Imperium mit Restaurants und einem Hotel auf dem Brocken. An einem sonnigen Oktobermorgen drängeln sich auf dem Bergplateau Schulklassen, wanderlustige Rentner aus West und Ost und eine Kompanie der Bundeswehr: Die ist zu Trainingszwecken samt Gepäck auf den Brocken marschiert. Und wieder einmal versammelt Steinhoff Minister, Lokalpolitiker und Geschäftsleute aus dem ganzen Harz beim Brockenstammtisch. Thema: Wie stark ist der Harz zu-

sammengewachsen? Wie so oft bei den seit 1991 stattfindenden GipfelTreffen, bei denen die Themen vom Tourismus über Rechtsextremismus bis zum Klimawandel reichen, sehen die Gäste auch den Wasserstand der Einheit unterschiedlich. Weit unter dem Brocken kommt die deutsch-deutsche Einigung bald wohl ein ganzes Stück weiter. Dann wird die bisher nur auf ehemaligem DDR-Gebiet fahrende Harzer Schmalspurbahn, eine große Touristenattraktion, vom zu Sachsen-Anhalt gehörenden Ort Elend ins niedersächsische Braunlage weitergebaut. Als Gegenzug wird der wiederum zu Sachsen-Anhalt gehörende Ort Schierke vielleicht per Seilbahn an Braunlages Skigebiet angeschlossen. Beides kostet etliche Millionen Euro und ist bisher nur ein Projekt. Schon Wirklichkeit sind die Kinder aus Benneckenstein, die seit der Initiative Kirsten Berger-Vogeleys in Braunlage lernen. Dort stellen sie heute 40 der 200 Schulkinder und verstärken von Nachwuchssorgen geplagte Fußball- und Eishockeymannschaften. Steven Miehe wird seine Tochter Gina im nächsten Schuljahr aus Benneckenstein zur Schule nach Braunlage bringen. Miehe, ein 36 Jahre alter Schlosser, übt sich seit der Grenzöffnung in deutsch-deutscher Verständigung. Als Skispringer trat Miehe, einst Mitglied der DDR-Juniorennationalmannschaft, jahrelang für Braunlage an. Tochter Gina will Biathletin werden. Beim Schießsport auf Skiern liegt die West-Stadt Clausthal-Zellerfeld im Harz an der Spitze. Ein Schnuppertraining hat Gina Miehe dort schon absolviert. „Es ist eine tolle Sache, dass dies auch über Ländergrenzen so einfach möglich ist“, sagt ihr Vater Steven. „Im Sport ist der Harz schon erfolgreich zusammengewachsen.“ Niedersachsen Sachsen-Anhalt Goslar ClausthalZellerfeld

Halberstadt Wernigerode Brocken

Altenau Elend Harz Braunlage

Elbingerode Hasselfelde

Benneckenstein DEUTSCHLAND

Thüringen

10 km

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Es stimmt wirklich: Da war mal eine Zeit ohne iPod und Handykamera Die bunte Warenwelt in Ost und West vor 20 Jahren – und was aus ihr seither geworden ist. Eine Zusammenstellung für die erste deutsche Nachwendegeneration Musik hören, Freunde treffen, feiern: Das kleine Glück des Alltags war oft gar nicht so verschieden in Ost und West vor dem Fall der Mauer. Unterschiede gab es aber auch: Die Kassettenrekorder waren klobiger in der DDR, die Turnschuhe hatten nicht drei Streifen. Nutella hieß Nudossi, die

Jeans nicht Levi’s, sondern Boxer. Und dann waren da noch die großen Unterschiede: So wurde der Trabant 601 in Zwickau von 1964 bis 1990 fast unverändert gebaut, obwohl es vieles an dem Auto zu verbessern gegeben hätte. Aber technischen Fortschritt gab es kaum in Ostdeutschland.

Der kam, oft recht rasant, in den vergangenen 20 Jahren über alle Deutschen gleichermaßen: Mit Fernsehern von damals haben die heutigen Flachbildschirme wenig zu tun. Und neben dem iPod sehen sowohl der DDR-Rekorder als auch Sonys Walkman Florian Eder recht alt aus.

FOTOGRAFIEREN A Ein Jugendtraum im Westen: die Polaroidkamera. Die Filme waren teuer – auch ein Grund, warum sie aus der Mode kam. Die Beirette im Osten teilte das Los aller Kompaktkameras: die Ablösung durch digitale Technik – heute im Handy.

LAUFEN A Heute sind die Sambas (unten) wieder angesagt. Ende der 80er-Jahre wurden sie nur als Turnschuhe, nicht auf der Straße getragen – wie die DDR-Marke Germina (rechts). Lila Basketballstiefel gab es damals auf keiner Seite der Grenze.

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Das japanische Stoff-Äffchen, das im Westen Millionen Kinderherzen eroberte, war jenseits der Mauer unerwünscht. Trotzdem tauchten dort bald sehr ähnliche Plüschtiere auf. Der DDR-„Tiemi“ erklärt hier seinem West-Cousin, warum Getroffen haben wir uns noch nie, liebes Monchichi, aber schau mich doch mal an: Wie Du bin auch ich in die Jahre gekommen, mit 30 ist man eben nicht mehr so frisch wie mit zwei. Eine Hand fehlt mir, ich bin ein bisschen größer als Du, und mein Name ist „Tiemi“ und damit – zugegeben – ziemlich bodenständig und deutsch. Aber sieh mal meine Stupsnase an, mein braunes Fell oder meinen Daumen, den ich in den Mund stecken kann: All das hast Du auch. Wir sind uns sehr ähnlich, als wären wir miteinander verwandt. Und das obwohl die Welten, in die wir in den 70er-Jahren hineinproduziert wurden, fast gar nichts miteinander gemein hatten: Du lebtest in den vollgestopften Kinderzimmern im Westen Deutschlands, ich in den meist bescheidener ausgestatteten Zimmern ostdeutscher Kinder. Eigentlich waren wir oft nur ein paar Kilometer voneinander entfernt. Doch wegen der Mauer zwischen Ost und West hatte Dein Leben mit meinem eigentlich nichts zu tun – bis auf die Tatsache, dass wir beide, Du und ich, für viele, viele deutsche Mädchen und Jungs über Jahre hinweg das beliebteste Spielzeug waren. Weite Reise. Liebes Monchichi, Du wurdest (und wirst heute noch immer) in Japan hergestellt und musstest eine lange Reise antreten, um zu Deinen deutschen Fans zu gelangen. Schiff oder Flugzeug braucht man zwar nicht, um meine Heimat zu besuchen. Doch es kostet schon etwas Zeit und Geduld, um dort hinzugelangen. Tief in den Thüringer Wald geht es, an Erfurt vorbei, an Saalfeld, dann Suhl, immer weiter und weiter, der Akzent der Leute beginnt sich schon bayerisch zu färben, da endlich sind wir an meiner Geburtsstätte angekommen. Wie ein riesiges U sieht das Gelände der Firma aus, die früher Spielwarenkombinat Sonneberg hieß. Grashalme haben sich in Millionenschaften durch die Ritzen im Betonboden gefressen. Stromkabel hängen wirr von den Decken der Lagerhallen. Die Depots – früher gefüllt mit Massen von Plüsch, Plaste und Stoff – bergen nur Staub und Luft. Allein die Größe des Geländes und das edle Holzparkett auf dem Boden des Raums für die Puppenherstellung deuten an, dass die Stätte hier bessere Zeiten gesehen hat. Wie ganz Sonneberg übrigens.

MASSIMO RODARI (2)

EINCREMEN A Florena wurde in einem DDRStaatsbetrieb hergestellt. Nach der Wende kaufte ein westdeutscher Konzern das Unternehmen: Beiersdorf, der Hersteller von Nivea. Heute gibt es beide Marken zu kaufen.

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„Tiemi“ heißt das Stoffäffchen, das ab 1979 in einer staatlichen Spielzeugfabrik der DDR in Sonneberg hergestellt

Hallo, ich bin das Das knapp 37 000 Menschen stellten in den 23 000 Einwohner zählende Städt- Werkshallen pro Tag bis zu 15 000 chen Sonneberg trug schon Anfang Puppen her. Irgendwann machten des 20. Jahrhunderts den stolzen sie dann auch mich. Namen „WeltspielwarenNeues vom Klassenfeind. stadt“. Weil die Region Weißt Du, liebes Monseit jeher wenig Arbeitschichi, offiziell galt Deine möglichkeiten bot, aber an zweite Heimat Westeinem wichtigen Handelsdeutschland bei uns in der weg lag, hatten die BewohDDR als Klassenfeind. ner schon früh die Idee, Das hieß: Kontakt nach vorbeireisenden Händlern Von Ileana „drüben“ war unerselbst gemachte SpielzeuGrabitz wünscht – genauso wie alge und Puppen zu verkaule Produkte, die von Deifen. Mit der Zeit wurde ner Seite der Mauer kaaus den vielen Heimwerkern eine richtige Spielzeugindus- men. Und Du? Ein kleiner, brauner trie, die zu ihren Hochzeiten fast Stoffaffe mit pinkfarbenem Schnuldie Hälfte des weltweiten Spielwa- ler, den man für ordentlich Geld als Rennfahrer, Schlafmütze oder gar renhandels belieferte. Nach 1945 aber änderte sich die als Bräutigam verkleiden konnte Welt hier gewaltig: Während west- und der noch dazu aus Japan kam – deutsche Unternehmer frei wirt- Du warst ein Symbol für das verschaften konnten, wurden die Fa- hasste, kapitalistische System und milienbetriebe im Osten des Lan- hättest entsprechend für die Obedes enteignet, in sogenannte volks- ren in der DDR das Feindbild eigene Betriebe (VEB) überführt schlechthin sein müssen. Doch es und später in Kombinaten zusam- kam anders. Ausgerechnet Du sollmengefasst. Und da West-Spielzeug test der Anstoß sein, dass das Spielnicht nur in der DDR unerwünscht warenkombinat Sonneberg mich war, sondern auch in den meisten fast eine Million Mal fertigte. Am anderen Ländern des Ostblocks, Ende war ich, der Tiemi, Dir, dem hatte das Spielwarenkombinat Son- Monchichi, nachempfunden – obneberg bald Kundschaft über die wohl das natürlich niemand offiziostdeutschen Grenzen hinaus: ell zugegeben hätte.

Große Geschichte.

Kopie der realen Welt. Tatsächlich,

das kann man heute im Spielzeugmuseum in Sonneberg sehen, hatte Spielzeug in Ost- und in Westdeutschland schon immer einiges gemein. Auch bei uns in der DDR gab es eine Art Lego, mit dem die Kinder alles mögliche bauen konnten – nur sahen die Häuser eben auch aus wie die grauen Plattenbauten, die bei uns im Sozialismus angesagt waren. Kleine daumenoder schnullerlutschende Äffchen wie Dich und mich gab es natürlich weder im Osten noch im Westen des Landes tatsächlich. Und so hat meine Schöpfung auch nichts mit den Nachbauten der realen Welt zu tun, die Eltern so gerne fördern. Seit die japanische Firma Sekiguchi Dich Mitte der 70er-Jahre – anfangs als völlig nacktes Geschöpf – auf den Markt gebracht hatte, waren die Kinder im Westen elektrisiert. Millionenfach kamst Du nach Westdeutschland. Als Junge, als Mädchen, als Baby, später als Oma und Opa hast Du Dich in den Kinderzimmern jenseits der Mauer breitgemacht. Und die Mädchen und Jungs in der DDR? Auch sie hörten von Dir, sahen Dich im – verbotenen – West-Fernsehen oder bei Verwandten von drüben. Sie sprachen und träumten von Dir,

MUSIKHÖREN A 1979 wurde er vorgestellt, zehn Jahre später musste man ihn haben, wollte man nicht seltsam wirken: den Walkman von Sony. Im Osten: nichts Tragbares. Die Revolution kam am 23. Oktober 2001, dem Tag, als Apple den ersten iPod vorstellte.

AUTOFAHREN A Der Trabi bestimmte das Straßenbild in der DDR – über drei Millionen wurden zwischen 1957 und 1991 gebaut. Das Erfolgsmodell der 80er-Jahre im Westen: der VW Golf II. Heute sehen sich die Benziner Elektro-Autos wie dem Mini E gegenüber. +

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wurde. Heute ist das Gelände des ehemaligen Kombinats eine Brache

Ost-Monchichi und wohl viele hätten einiges darum gegeben, Dir in ihren Kinderzimmern ein Plätzchen zu geben. Ran an die Devisen. Dass ich 1979

das Licht der DDR-Welt erblickte, liegt aber nicht unbedingt daran, dass den Funktionären die Spielzeugträume ostdeutscher Kinder besonders am Herzen lagen. Nein, es ging wie so oft ums Geld – und zwar ironischerweise darum, ausgerechnet die starke D-Mark, sogenannte Devisen, aus der Bundesrepublik herüber zu uns in die DDR zu holen. Die DDR brauchte Geld, dringend und mit den Jahren immer mehr. Im Sozialismus sorgte der Staat für den Wohnraum, die Renten, Löhne und Bildung der Bürger und kam auch für die Betreuung von Kindern und Kranken auf. All das ist natürlich sehr teuer. Und weil die DDR-Wirtschaft das viele Geld nicht abwarf, verschuldete sich der Staat – und suchte händeringend nach neuen Geldquellen. Ich, der Tiemi, war eine davon. Das China von heute. Tatsächlich

war in Ostdeutschland hergestelltes Spielzeug im Westen heiß begehrt. Denn es war viel billiger zu haben als alles, was im Westen produziert wurde. Das lag daran, dass

ein DDR-Arbeiter viel weniger verdiente als einer im Westen. Da eine Westmark noch dazu viel, viel mehr wert war als eine Ostmark, war es für den Westen unglaublich preiswert, Spielzeug in der DDR einzukaufen. Ein bisschen war die DDR der 70er- und 80erJahre für den Westen so etwas wie heute China. Heute lassen westliche Spielzeugverkäufer ihre Puppen und Teddys am liebsten in Fernost herstellen, weil Arbeit dort viel billiger ist als bei uns.

Tiemis Kollege und Vorbild: Das OriginalMonchichi

Seltsamer Name. Als Du, liebes

liebt hat: Eine Kopie kann da nicht helfen. So war es zwar irgendwie schade, aber für die DDR-Kinder am Ende doch okay, dass ich, der Tiemi, vor allem für den Westen bestimmt war. Wohl 60 Prozent der eine Million Tiemis landete in den Regalen westlicher Läden, unter anderem auch im berühmten Pariser Kaufhaus Galeries Lafayette. Ein Fünftel ging ins „sozialistische Ausland“. Und so blieb nur ein einziges Fünftel übrig für die Kinder bei uns in der DDR.

Monchichi, Westdeutschland erobertest, dauerte es also nicht lange, bis sich die DDR entschloss, auf den Zug aufzuspringen. 100 Kilometer von Sonneberg entfernt im – ebenfalls zum Kombinat gehörenden – VEB Biggi gab es eine Spielzeugdesignerin, aus deren Hand ich entstand. Sie hieß Frau Tieme. Nun kannst Du leicht erraten, woher mein seltsamer Name stammt. Wie gesagt, auch im Osten träumten die Kinder von Dir. Aber wie es so ist, wenn man sich ver-

Der Niedergang. Die 80er-Jahre kamen und damit mein Ende. Als die Mauer fiel, brach die Wirtschaft der DDR zusammen, das Kombinat Sonneberg wurde rasch aufgelöst, die Produktion eingestellt. Monchichi, Dich gibt es noch immer, mich kann man nur mit Glück bei Ebay finden – oder in alten Spielzeugsammlungen von Menschen in Ostdeutschland. Aber wäre es nicht traurig, wir hätten uns nie gefunden?

FERNSEHEN A Fernseher waren nie Schmuckstücke – nicht einmal das gelbe DDR-Gerät. Die längste Zeit versteckten Ost- wie West-Haushalte sie in Schrankwänden. Röhrenfernseher werden heute kaum noch verkauft – je flacher, desto besser.

PROMO (9); PA (6); VEB (2); DDP; DPA; IMAGO

TRINKEN A Was Coca-Cola im Westen versprach, das tat Vita Cola im Osten: An Feiern ohne die braune Brause als Grundlage für Mixgetränke war kaum zu denken. Bionade lässt sich zwar schlecht mit Alkohol strecken – ist aber heute mancherorts drauf und dran, Cola abzulösen.

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Der Turmbau zu Jena

„Jena ist wie ein Leuchtturm, auch in unternehmerischer Sicht“, sagt Andreas Hörcher, der 31 Jahre alt ist und die Sprache eines Chefs schon perfekt beherrscht. Er ist Geschäftsführer der Online-Marketingfirma Finnwaa, hat 13 Mitarbeiter und möchte mit seinem Unternehmen nirgendwo anders hin. An Jena gefällt ihm, dass es dort viele Studenten gibt und viele Menschen mit Ideen. Und gleichzeitig seien die Kosten nicht so hoch wie zum Beispiel in München. Der Jungunternehmer ist mit seiner Firma spezialisiert auf kompliziert klingende Sachen wie Suchmaschinen-Marketing und Web-Controlling. Hierhin geführt hat ihn eine reine Ost-Karriere. Aus seiner Geburtsstadt Rudolstadt zog er nach dem Abitur nach Jena, studierte an der Fachhochschule Betriebswirtschaftslehre. Vor drei Jahren bezog er dann im Turm ein kleines Büro im 16. Stock und gründete seine eigene Firma. Dazu schloss er sich der sogenannten TowerByte-Genossenschaft an, in der ehemalige Intershop-Führungskräfte Existenzgründern Starthilfe geben. „Man profitiert von den Erfahrungen und Kontakten anderer, und die Atmosphäre ist nett“, sagt Hörcher. Seine Firma wuchs schnell, heute hat sie große Unternehmen wie Jenoptik und Analytik Jena als Kunden.

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Andreas Machners Geschichte ist genauso wechselvoll wie die des Turms, der ihn prägte. Schon nach dem Abitur bekam er zum ersten Mal mit oder besser in dem Gebäude zu tun. Für sein Mathe- und Physikstudium musste er wie jeder Student auch Russisch lernen, und die Vorlesungen waren im 10. Stock des damals noch ziemlich neuen Stadtturms. Doch Machner schaute mehr aus dem Fenster als in die Bücher. Weil er die Sprache des „Bruderstaates“ nicht gut genug beherrschte, flog er aus dem Studium. Stattdessen arbeitete er dann als Fernwärmenetz-Monteur im Kraftwerk. Weil auch das nicht das Richtige war, fing er irgendwann als Kellner in einem Restaurant an. „Da verdiente man in der DDR mehr als ein Universitätsprofessor“, erinnert sich Machner. Dann kam die Wende, und Machner versuchte sein Glück erst mal im Westen. Nach ein paar Monaten kehrte er abgebrannt aus Italien zurück – und startete in Jena richtig durch. Zuerst engagierte ihn eine amerikanische Kette als Manager in einem ehemaligen Arbeiterwohnheim, das zum Hotel umgebaut wurde. Es folgten weitere Stationen in anderen Häusern. Und dann kam seine große Stunde ausgerechnet an dem Ort, wo er zu DDR-Zeiten seine große Niederlage erlebt hatte. Er bekam den Auftrag, im obersten Stock des Intershop-Towers eine Art Luxuskantine für die Internet-Millionäre aufzubauen. Daraus ist mittlerweile ein erfolgreiches Feinschmeckerrestaurant geworden. Machner ist jetzt 50 und kann sich freuen: „Ich bin ganz oben angekommen.“

Ideal für einen reichen Konzern aus dem Westen? Weit gefehlt. Die neuen Hausherren im Turm von Jena wurden drei Jungs aus der Stadt, die erst wenige Jahre zuvor gemeinsam eine Internetfirma gegründet hatten – die Intershop AG, nach der dann auch der Turm benannt wurde. Der Name war ironisch gemeint: Intershops hießen zu DDR-Zeiten die Läden, in denen es auch im Osten Westwaren zu kaufen gab – aber nur für Westgeld. Eine Erniedrigung für die DDR-Bürger, die sich mit den Einheitswaren zufriedengeben mussten. Doch jetzt waren es drei Ossis, die mit ihrer jungen Internetfirma Erfolge feierten. Die Intershop AG hatte weltweit bald 1400 Mitarbeiter, war an der Börse Milliarden wert. Die Keksrolle wurde zum Turm der Millionäre. Aber auch da endet die Geschichte nicht. Nach der Internetkrise Anfang des Jahrtausends räumten die Intershopper viele Büros. Nach und nach ziehen jetzt neue Mieter ein. Existenzgründer und Ingenieure, Programmierer und Anwälte suchen ihr Glück. Wenn der JenTower, wie ihn manche jetzt nennen, ein Symbol ist, dann steht er heute für unternehmerische Fantasie und Neuanfang.

26. ETAGE – DER INTERSHOPPER Wie verrückt Marktwirtschaft sein kann, erlebte Olaf Behr, 40, aus nächster Nähe. Nach dem Studium stieß der gebürtige Jenenser 1997 zur Firma Intershop, die ein paar Jahre zuvor von drei Jungunternehmern aus der Stadt gegründet worden war. In wenigen Jahren wurde aus dem kleinen ostdeutschen Betrieb ein weltweit operierender Internetkonzern, dessen Umsätze und Mitarbeiterzahlen sich Jahr für Jahr vervielfachten. Deshalb zählte zu Behrs wichtigsten Aufgaben, irgendwie Büroflächen aufzutreiben. „In den Anfängen haben wir Jenas Immobilienmarkt gerockt und in der Innenstadt so ziemlich alles gemietet, was zu kriegen war“, berichtet Behr. 1998 ging Intershop an die Börse, war dort irgendwann elf Milliarden Euro wert – und Dutzende seiner Mitarbeiter waren auf dem Papier plötzlich Millionäre. Es half nur noch eins: Behr mietete den riesigen Universitäts-Turm und ließ auf das Dach riesige Leuchtbuchstaben montieren: „INTERSHOP“. Doch nach der Jahrtausendwende kam die Krise an den Börsen, die Aktienkurse stürzten ab, Milliarden wurden verbrannt. Von früher 800 Intershop-Mitarbeitern in Jena sind noch 230 geblieben, verteilt auf 14 Etagen im Turm. „Nach dem verrückten Auf und Ab ist Intershop jetzt ein gesundes Unternehmen, das leicht expandiert“, sagt der Mann, auf dessen Visitenkarte „Manager Operations Central Europe“ steht – der aber trotzdem mit dem Trekkingrad zur Arbeit fährt. „Das geht viel schneller.“

15. ETAGE – DER VERMESSER Für Jens Gabler, 42, kam die friedliche Revolution gerade im rechten Moment. Der Vermessungsingenieur aus Schmölln in Thüringen hatte zu DDR-Zeiten gerade noch sein Studium beenden können. Dann fiel die Mauer. Und das bedeutete neben vielen anderen Dingen auch viel Arbeit für Vermesser. „Straßen, Brücken, Tunnel, Gebäude – es wurde extrem viel gebaut, und dafür brauchte man Vermesser“, berichtet Gabler, der sich wie viele Kollegen in den 90er-Jahren selbstständig machte: „Es war ein richtiger Hype!“ Gabler baute in wenigen Jahren ein Vermessungsbüro mit 14 Mitarbeitern auf. Kurz nach der Jahrtausendwende verebbte dann die Auftragsflut, „es war sozusagen alles vermessen“, sagt Gabler. Der Konkurrenzkampf wurde härter. Aber Gabler jammerte nicht, sondern suchte lieber neue Möglichkeiten für seine Firma. So bietet er Städten und Dörfern jetzt ein grafisches Informationssystem über das Internet an. „Jeder hat die Chance, etwas aus seinem Leben zu machen. Aber man muss schon selbst für sich sorgen“, findet er. Der Mauerfall war für ihn nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen wichtig. Für Gabler zählt auch die Freiheit: „Ich war bei den Demos dabei, habe erlebt, wie Leute aus nichtigen Gründen festgenommen und ins Gefängnis gesteckt wurden. Ich bin froh, dass es diesen Unrechtsstaat nicht mehr gibt!“

4. ETAGE – DER ONLINEFOTOENTWICKLER

SVEN LAMBERT (6); INFOGRAFIK: WELT AM SONNTAG/BABETTE ACKERMANN-REICHE

6. ETAGE – DER MARKETINGMANN

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28. ETAGE – DER AUFSTEIGER

Mit einem riesigen Hochhaus wollte das DDR-Regime Macht und Größe demonstrieren. Doch erst nach der friedlichen Revolution kam richtig Leben in die Bude. Heute ist das höchste Bürogebäude Ostdeutschlands ein Symbol für den Neubeginn Wenn man am Bahnhof „Jena- Hohn und Spott. Die Jenaer, die mit Paradies“ aus dem Zug steigt, sieht Großmannssucht noch nie viel am man ihn. Wenn man in einem der Hut hatten, nannten den FremdStraßencafés auf dem Marktplatz körper „Penis Jenensis“ oder eine Cola trinkt, spiegelt sich die „Keksrolle“. Und der VorzeigebeSonne in seinen Fenstern. Auf dem trieb der DDR, das Kombinat CarlBalkon am Stadtrand, beim Spa- Zeiss Jena, für dessen Forschung ziergang am Fluss, vor dem Super- der Turm eigentlich gebaut worden markt. Es ist eigentlich ganz egal, war, zog niemals ein. Stattdessen wo man sich in Jena gerade befin- musste die Universität in die Keksdet: Von überall aus sieht rolle; begeistert war auch man die gläserne Fassade sie nicht. des Turms. So endete die MachtdeGenau das war auch monstration des SED-ReSinn der Sache. Wäre es gimes in einer Pleite. Der nach der DDR-Regierung Turm wurde zum Symbol gegangen, hätte der Bedafür, was in der Planwirttonturm noch viel weiter schaft alles schiefgeht. Von Steffen geleuchtet. Über die Nach dem Fall der Mauer Fründt Grenzen der Universitätsverkaufte das Land Thüstadt hinaus, über die ringen das heruntergeGrenzen hinweg – bis in wirtschaftete, asbestverden Westen. Seht her, was wir kön- seuchte Gebäude an einen Investor nen! Wolkenkratzer hochziehen aus dem Westen. Kaufpreis: eine fast wie in New York. Dafür baute D-Mark – also etwa 50 Cent. der Staat Anfang der 70er-Jahre Doch damit ist die Geschichte mitten in Jena einen Turm, der mit des Turms von Jena noch nicht vor155,40 Metern noch heute das bei. Im Gegenteil, da ging sie erst höchste Bürogebäude im Osten ist. richtig los. Für angeblich 45 MillioDoch obwohl sie für ihren nen Euro wurde der Turm inzwiTraum von Macht und Größe den schen komplett saniert, um zwei Stararchitekten Hermann Hensel- zusätzliche Etagen aufgestockt und mann engagierten und ein histori- in eine Glasfassade gewickelt. Aus sches Altstadtviertel abrissen, ern- dem maroden DDR-Turm wurde teten die Turmbauer von Jena nur ein etwas protziger Prestigebau.

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1. UNTERGESCHOSS – DER HAUSMEISTER Wenn er wollte, könnte Axel Nicolai, 30, von seiner Schaltzentrale im Untergeschoss aus das ganze Haus steuern. Jalousien runter, Klimaanlage an, mehr Licht – alles per Knopfdruck: „Das ganze Haus ist vernetzt.“ Doch meistens sitzt der Haustechniker nicht hier unten auf seinem Drehstuhl, sondern ist im Gebäude unterwegs, weil irgendwas nicht funktioniert. Dann repariert er oder ruft eine Handwerksfirma. Nicolai war zehn, als die Mauer fiel. Deshalb ist für den Heizungsbauer Ost und West kein großes Thema. Zehn Jahre lang war er nach der Lehre im Westen unterwegs, auf Montage. Dann kehrte er nach Hause zurück. „Viele wurden im Westen enttäuscht, vor allem menschlich. Auf dem Bau gab es aber solche Probleme nicht, da sind alle wie du und ich.“ Nun wohnt er wieder in dem kleinen thüringischen Ort Tiefengruben. Die 250 Einwohner würden im Hochhaus in eine einzige Etage passen, aber Nicolai gefällt es, dass im Dorf jeder jeden kennt. Im Grunde ist er mit allem zufrieden, nur nicht mit den Lohnunterschieden. „Als Heizungstechniker verdient man im Osten 1000 Euro netto, im Westen aber 1700 bis 1800. Für die gleiche Arbeit – das ist nicht gerecht!“

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Wenn man in der 4. Etage aus dem HightechFahrstuhl steigt, steht man vor einer geschlossenen Glastür, daneben eine notdürftig angeklebte Plastikklingel. Vor der Kaffeeküche steht neben einem Stapel Getränkekisten eine Tischtennisplatte. „Gespielt wird aber erst ab 18 Uhr“, sagt Ronald Tscherepanow, der mit seiner lässigen Kleidung und den langen Haaren auch als Langzeitstudent durchgehen würde. Doch der 37-Jährige ist Geschäftsführer der von ihm gegründeten Firma Gagamoto. Mit fünf Mitarbeitern bietet er einen OnlineFotoservice an. Kunden können ihre Bilder per Internet einschicken und zum Beispiel auf Tassen oder Puzzles drucken lassen. Der Thüringer, der in Weimar Informatik studierte, machte danach Praktika in Düsseldorf und München. Dann zog es ihn in den Turm von Jena, wo er den Aufbau einer anderen Fotofirma koordinierte. Vor einem Jahr machte sich Tscherepanow selbstständig, und sein Unternehmen erzielt schon jetzt Gewinn. Jena sei für ihn die optimale Stadt, sagt er. In welchem Teil Deutschlands sie liegt, spielt für ihn keine Rolle. „In meiner Branche stellt sich die Frage Ost oder West eigentlich gar nicht mehr, das Geschäft ist international.“

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