WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR. Wer ohne Sünde ist

December 5, 2017 | Author: Gerburg Friedrich | Category: N/A
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1 DIE ZEIT PREIS DEUTSCHLAND 4,00 WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR 15. September em DIE ZEIT ...

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PREIS DEUTSCHLAND 4,00 €

DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

15. Sept September p emberr 2011 2011 20 11 DIE DIE ZE DI Z ZEIT EIT No 38

Wer ohne Sünde ist DIE ZEIT fürs iPad Jeden Mittwochabend bereit zum Download: Die neue digitale Ausgabe der ZEIT Ab sofort im App-Store

ThekenTräume

Strafen oder vergeben – wie soll der Papst mit Menschen umgehen, die an der katholischen Moral scheitern? Vor dem Besuch Benedikts XVI. in Deutschland ist darüber ein heftiger Richtungsstreit entbrannt DOSSIER SEITE 17–19, GLAUBEN & ZWEIFELN SEITE 70 –72

Unterwegs mit dem legendären Barmann Charles Schumann Von Moritz von Uslar ZEITmagazin Seite 20

Titelfoto: Papst Benedikt XVI. begrüßt eine Frau in der Basilika Santa Maria degli Angeli bei einem Treffen mit Jugendlichen (Assisi, 17. Juni 2007); © Tony Gentile/Reuters

Ist es Liebe?

Israel will die Anerkennung Palästinas verhindern. Es begreift die Chance des Arabischen Frühlings nicht VON ALICE BOTA

Europa muss sich endlich ehrlich machen: Schuldenschnitt für Griechenland, Schuldenbremse für alle VON UWE JEAN HEUSER

A

it jedem neuen Versuch wird uns die Rettung Griechenlands vertrauter. Das griechische Volk beschimpft seine Politiker, weil sie zu viel sparen. Die Euro-Kontrolleure reisen an und zornig wieder ab, weil Athen seine Sparversprechen trotzdem nicht erfüllt. Dann geben sich die Griechen den üblichen Ruck – nur um kurze Zeit später achselzuckend festzustellen, sie brauchten leider doch mehr Geld als gedacht. Die Deutschen erklären in aller gebotenen Strenge, es gäbe keinen Rabatt für Athen, und nicken kurz darauf die nächste Tranche ab. Griechenland ist die Wiege des Theaters, und heute führt es ein Stück auf mit der ganzen Welt als Publikum. Allein, die Hoffnung auf ein glückliches Ende ist zerstoben, weil sich die traurige Wahrheit nicht länger verbergen lässt. Griechenland ist pleite. Das südlichste Euro-Mitglied hat nicht etwa ein lösbares Bankenproblem wie Irland, nicht eine Immobilienkrise wie Spanien, es leidet auch nicht bloß an fortgesetztem Regierungsversagen wie Italien. Es hat schlicht mehr Schulden, als es bei seiner schmalen Wirtschaftskraft und seinem verlotterten Finanzwesen je abzahlen kann. Die Behauptung, Griechenland sei zu »retten«, ist also eine (Selbst-)Täuschung. Berlin und Brüssel haben sie aufrechterhalten, weil sie hofften, die Krise würde schnell vorüberziehen. Danach wäre eine Umschuldung kein Drama mehr. Tatsächlich aber sorgen sie auf diese Weise dafür, dass die Krise täglich schlimmer wird.

uch das ist der Arabische Frühling: Es brennt die israelische Botschaft in Kairo, jüdische Mitarbeiter müssen aus Angst vor einem ägyptischen Mob fluchtartig das Land verlassen; im Süden Israels töten Raketen Menschen, in der Türkei wird der israelische Botschafter ausgewiesen. Das ist keine zufällige Verkettung einzelner Konflikte. Aus Israels Sicht sind die Ereignisse in der muslimischen Welt außer Kontrolle geraten und bedrohen den jüdischen Staat. Aber die größte Herausforderung steht Israel kommende Woche noch bevor: Der Versuch des palästinensischen Präsidenten Machmud Abbas, eine Vollmitgliedschaft seines Landes bei den Vereinten Nationen zu erstreiten. Es würde faktisch die Anerkennung Palästinas bedeuten. Israels Regierung hat mit der Weigerung, sich ernsthaft mit einer Zwei-Staaten-Lösung zu befassen, die Palästinenser erst dazu getrieben, einseitige Schritte zu unternehmen. Die Palästinenser wiederum spekulieren darauf, dass am Tag nach dem 20. September die arabische Welt sich wegen des schon angekündigten Neins Amerikas und anderer westlicher Mächte empören und ihre Solidarität mit den Brüdern in Palästina zeigen wird; dabei haben ihre Regierungen selbst jahrzehntelang wenig dafür getan, die Situation der palästinensischen Flüchtlinge in ihren Ländern menschenwürdiger zu gestalten.

Titelfoto aus dem Buch »Päpste« von Helge Sobik, edia Düsseldorf 2010

Es gibt auch ein anderes Israel, das die ewige Politik der Vergeltung satthat Die Folgen dieser Politik sind gefährlich, nicht nur, weil sie enttäuschte Palästinenser auf die Straßen treiben dürften. Die muslimische Solidarität könnte sich in Zorn entladen, der Israel heftig trifft. Einerseits, weil der jüdische Staat in der Region verhasst ist. Andererseits, weil die israelische Regierung seit dem Beginn des Arabischen Frühlings keine Sprache für die neuen Ereignisse gefunden hat. Eine neue politische Lage entstand – aber Israel antwortete mit der alten Politik. Premierminister Benjamin Netanjahu hat alle Chancen für eine Kursänderung vorbeiziehen lassen. Er will nicht wahrhaben, dass sich etwas Grundlegendes ändert: Die arabischen Völker erheben sich und verlangen nach Demokratie. Araber und Demokratie, das war vermutlich für viele Israelis ein ähnlich widersprüchliches Wortpaar wie Hoffnung und Naher Osten. So führt sich Netanjahu mitten in der Revolution auf wie ein trauriger Besitzstandswahrer – aber im Umsturz lässt sich nicht business as usual betreiben. Man sollte nicht vergessen, dass es auch ein anderes Israel gibt. Dieses Israel ist es leid, dass Politik zu Siedlungsthemen und Vergeltungsmanövern gerinnt. Zu Hunderttausenden demonstrierten die Menschen in Israel in diesem Sommer. Ihnen ging es nicht um Gaza, auch nicht um Ägypten oder Syrien. Aber sie zeigten, wie

das jüdische Land sich von der Aufbruchstimmung in der arabischen Welt anstecken lässt, wie Ausweglosigkeit sich in Hoffnung verwandeln kann. Netanjahu erklärte diese Hoffnung zur Gefahr. Er hält an seiner Politik der Angst fest. Der Angriff auf die israelische Botschaft in Kairo schürt diese Angst. Noch nie, mit Ausnahme der Erstürmung der amerikanischen Botschaft in Teheran 1979, ereignete sich solch ein Vorfall. Dass ein Land Botschaftsangehörige nicht schützen kann oder will, ist unerhört. Vermutlich wäre dies unter dem Diktator Mubarak nicht passiert. Aber wer deshalb meint, nun das wahre Gesicht des Arabischen Frühlings zu erkennen, der irrt. Der Westen muss akzeptieren, dass die Politik freier Völker (oder solcher, die darum kämpfen, sich frei nennen zu dürfen) anders sein wird als die eines Mubaraks, vielleicht auch hässlicher. Israel war bislang die einzige Demokratie im Nahen Osten, und dennoch hat es den Konflikt mit den Palästinensern durch Unterdrückung zu lösen versucht, hat auf Terror mit Ungerechtigkeit geantwortet. Auch die Demokratisierung des arabischen Raums wird nicht zwangsläufig jetzt und sofort zum Frieden führen. Aber Demokratie auf beiden Seiten bedeutet die einzige Chance auf Veränderung, wenn auch langfristig. Es wird antiisraelische Ausfälle geben, das sind Auswüchse der Arabellion, die Israelis, Europäer und Amerikaner ertragen müssen. Nur eines bleibt unverhandelbar: Neue arabische Regierungen müssen dem Frieden mit Israel verpflichtet sein. Allen, die auf dem Wege sind, Demokraten zu werden, muss dieses Bekenntnis abgerungen werden. Europas und Amerikas Solidarität mit Israel steht außer Zweifel. Doch es hat sich etwas verschoben. Solange die arabischen Staaten Diktaturen waren, die außenpolitische Sicherheit boten, schienen so gut wie alle Mittel legitim zu sein, um Stärke zu demonstrieren. Nun, da sich in den arabischen Ländern die politischen Systeme ändern, wird Israels Politik zunehmend als unangemessen und ungerecht empfunden. Deshalb genießen die Palästinenser weltweit große Unterstützung – die Zeit ist auf ihrer Seite. Den Palästinensern ist viel Unrecht widerfahren, sie verdienen, in ihrem friedlichen Kampf um Selbstbestimmung unterstützt zu werden. Wer befürchtet, dass Israels Sicherheit damit auf dem Spiel steht und deshalb eine Anerkennung Palästinas verweigert – der sollte einen Plan B in der Tasche haben, wie es mit der Zwei-StaatenLösung weitergehen soll nach diesem September. Es gibt Gründe, aus Solidarität mit Israel gegen eine Anerkennung Palästinas zu stimmen. Aber den Israelis muss klar werden, wie hoch der Preis ist, einem Volk etwas zu verweigern, was ihm zusteht. Siehe auch Politik Seite 12/13 www.zeit.de/audio

M

Niemand soll in dieser Krise behaupten, er wisse wo es langgehe Jüngstes Opfer ist die Idee einer freien Europäischen Zentralbank. Gedacht war sie als eine Art Tafelrunde der Stabilitätsritter. Unabhängig und unpolitisch. Aber weil die Regierungen angesichts der drohenden Griechenpleite zauderten, sprangen die Ritter ein und kauften gegen ihren heiligsten Schwur notleidende Staatsanleihen auf. Erst griechische, zuletzt auch italienische und spanische. Fast 150 Milliarden Euro hat die Zentralbank dafür ausgegeben. Geht ein Teil des Einkaufswerts verloren, ist sie selbst pleite, und Euroland muss sie auslösen. Unabhängig und unpolitisch war gestern. Zunächst hat dieses Gebaren den führenden deutschen Notenbanker Axel Weber vertrieben, jetzt auch seinen Mitstreiter Jürgen Stark. Mit ihnen geht die urdeutsche Idee, dass Zentralbanker nicht Politiker spielen dürfen, weil sie sonst ihre Mission gefährden. Eigentlich müsste sich Berlin empören, aber nichts da. Vielmehr werden die Währungshüter durch zwei hochrangige Politikhelfer ersetzt, die viel Erfahrung haben – im Retten von Banken und Staaten. Der Zentralbankchef Jean-Claude Trichet darf im kalten Zorn seine hiesigen Kritiker beschimpfen,

ohne dass die Regierung widerspricht. Die gegenseitige Abhängigkeit ist perfekt. Nicht dass der honorige Franzose sich seine historische Entscheidung leicht gemacht hätte. Doch indem er die Rechnung übernimmt, lässt er Deutschland und die anderen Euro-Länder davonkommen mit ihrer Unfähigkeit zu entscheiden, wie es mit Athen und dem Euro dauerhaft weitergehen soll. Sie haben sich von Rettung zu Rettung geschleppt, aber immer nur zum halben Preis. Die wahren Kosten werden verschleiert, wann immer Trichet einkaufen geht. Mit dem Sündenfall der Zentralbank kamen die Halbwahrheiten. Bis heute sagt die Koalition der Retter, Trichet habe keine Wahl gehabt, als er gegen seine Statuten verstieß. Natürlich hatte er eine Wahl. Ohne ihn hätte Euroland gleich entscheiden müssen, ob ein griechischer Schuldenschnitt nicht billiger wäre als der fortwährende Rettungsversuch. Aber wenn Griechenland fällt, so geht das Argument weiter, dann würden sich die Spekulanten auf Spanien und Italien stürzen. Bloß haben sie das längst getan. Als deutsche Bürger skeptisch wurden, hielt man ihnen entgegen, kein Land profitiere mehr vom Euro als das ihre. Im Jahr 2011 ist das auch so, im vergangenen Jahrzehnt aber litt die wachstumsarme Bundesrepublik lange unter den hohen gemeinschaftlichen Zinsen. Der neueste Clou ist die Behauptung, Euroland dürfe die Griechen gar nicht hinauswerfen, weil das in keinem Paragrafen vorgesehen sei. Also bitte, im Laufe der Staatsschuldenkrise hat man fast jedes Prinzip der Währungsunion gebrochen – und jetzt ist etwas ausgeschlossen, bloß weil es gar nicht geregelt ist? Europa hat solche Verteidiger nicht nötig. Niemand soll in dieser Krise sagen, er wisse genau, wo es langgehe. Aber es ist Zeit für Ehrlichkeit. Der Euro ist heute jeden Kampf wert, sofern er eine realistische Erfolgschance hat. Die Rettung der Unrettbaren gehört dazu nicht. Griechenland braucht einen Schuldenschnitt und danach Wirtschaftshilfe. Andernfalls verliert sich Europa im griechischen Dauerdrama. Gleichzeitig müssen alle Euro-Länder den Verzicht auf neue Schulden in ihre Verfassungen schreiben. Das ist kein Allheilmittel gegen schummelnde Staaten, aber die stärkste Fessel, die sich Euroland anlegen kann. Und im Gegenzug zur Einrichtung eines europäischen Währungsfonds müssen Schuldensünder künftig automatisch bestraft werden. Sonst drohen Kungeleien unter den Südländern, und die sind in Euroland nun einmal in der Mehrheit. Als erste Handlung muss der Fonds außerdem der Zentralbank ihre Staatsanleihen abkaufen, damit sie noch eine Chance auf Unabhängigkeit erhält. Erst dann kann Europa glaubwürdig versichern, dass nach dem Sonderfall der Griechen kein Land mehr fällt. www.zeit.de/audio

ZEIT ONLINE Beim Filmfest in Toronto versucht sich Regisseur Roland Emmerich an Shakespeare Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/filmfest-toronto

PROMINENT IGNORIERT

15 Monate? Ach was! Eine zwischen Holland und Frankreich gelegene Landfläche begeht dieser Tage den Weltrekord in Regierungslosigkeit. So muss man es, »Belgien«, richtigerweise umschreiben. Sein eigentliches Problem besteht darin, dass dort zwar Flamen und Wallonen siedeln, aber eben, il n’y a pas de Belges, es keine Belgier gibt, wie ein weitsichtiger Sozialistenführer schon 1912 dem König beschied. Das ist der wahre Rekord: Ein Staat ohne Volk: seit 1831! BIT Kl. Fotos v.o.n.u.: Michael Herdlein für DZ; Jason Bell/Camera Press/Picture Press; Getty Images

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ABONNENTENSERVICE: Tel. 0180 - 52 52 909*, Fax 0180 - 52 52 908*, E-Mail: [email protected] **) 0,14 € /Min. aus dem deutschen Festnetz, max. 0,42 € /Min. aus dem deutschen Mobilfunknetz

PREISE IM AUSLAND: DKR 43,00/NOR 60,00/FIN 6,70/E 5,20/ Kanaren 5,40/F 5,20/NL 4,50/A 4,10/ CHF 7.30/I 5,20/GR 5,70/B 4,50/P 5,20/ L 4,50/HUF 1605,00

AUSGABE:

38

6 6 . J A H RG A N G C 7451 C

3 8

Die Rechnung, bitte

4 1 90745 104005

Feind wird Mensch

Im »Kultursommer« der ZEIT ein Interview mit Isabelle Huppert und vieles mehr Seite 73–84

2 15. September 2011

POLITIK

DIE ZEIT No 38

Worte der Woche

In der Not rechts raus

Krise in den Köpfen

»

Gott ist unsere Zuversicht und Stärke. Darum fürchten wir uns nicht, selbst wenn die Welt unterginge.«

Die FDP flirtet mit dem Populismus VON PETER DAUSEND

Europa ist so viel mehr als eine Schuldenbremse. Eine Antwort auf Bernd Ulrich VON SIGMAR GABRIEL

Barack Obama, US-Präsident, zitiert während

der Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des 11. September 2001 einen Bibel-Psalm

»Eine der Lektionen von 9/11 ist, dass das Böse real ist. Aber auch der Mut.« George W. Bush, ehemaliger US-Präsident,

während der selben Veranstaltung

Fotos: Getty Images (o.); imago (r.); Getty Images

»Es darf keine Denkverbote mehr geben. Dazu zählt auch eine geordnete Insolvenz.« Philipp Rösler, FDP-Vorsitzender, über eine

mögliche Staatspleite Griechenlands

»Wir kämpfen einen titanischen Kampf.« Giorgos Papandreou, griechischer

Ministerpräsident, wirbt um Verständnis für die Schwierigkeiten des Sparens

»Es gibt den Vorschlag, die Flaggen von Schuldensündern vor den EUGebäuden auf Halbmast zu setzen.«

W

ZEITSPIEGEL

enn heute von Europa die Rede ist, dann nicht mehr im Zusammenhang von Frieden und Versöhnung, von Freiheit und Emanzipation, sondern vor allem mit Begriffen der modernen Finanzmarktökonomie wie Rettungsschirm, Stabilitätsmechanismus, Umschuldung und Staatsanleihen. Europa ist von einem Kontinent der Werte und Prinzipien zu einem schlichten Handelsplatz von Kursen, Preisen und dazugehörigen Wortschöpfungen geworden. Die große Idee des geeinten Kontinents scheint zusammengeschnurrt zu der einen Frage, wie die Gemeinschaft der europäischen Staaten die Schuldenkrise in den Griff bekommen kann. Die Visionen europäischer Staatsmänner, Europa nach dem Schrecken zweier Weltkriege zu einem Kontinent dauerhaften Friedens und Wohlstands zu entwickeln, ist den professionellen Beobachtern kaum noch eine Reminiszenz wert. Stattdessen regiert die Krise allerorten – auch in den Köpfen vieler Beteiligter. Auch Bernd Ulrich scheint davon befallen. Seine Antwort auf die Krise in Europa in der letzten Ausgabe der ZEIT fällt entsprechend skeptisch und kleinmütig aus. Der Autor erweist sich als ein geistiger Bruder der Bundeskanzlerin, wenn er Deutschen und Europäern Trippelschritte zur Bewältigung der Krise verordnet. Diese »Trippelschritte« allerdings haben während der letzten 18 Monate bereits Milliarden an Mehrkosten verursacht.

Marion Dönhoff Preis

Schuldenbremsen reichen nicht. Die Märkte müssen hart reguliert werden

Günther Oettinger, EU-Energiekommissar,

denkt über ungewöhnliche Wege nach, mehr Haushaltsdisziplin zu erzwingen

»Der israelische Angriff auf die ›Mavi Marmara‹ wäre eigentlich ein Kriegsgrund gewesen.« Recep Tayyip Erdoğan, türkischer Minister-

präsident, verschärft vor seinem Ägypten-Besuch den Ton gegenüber Israel

»Wir sind ein muslimisches Volk und für einen moderaten Islam.« Mustafa Abdul Dschalil, Vorsitzender des libyschen

Übergangsrates, über das neue Libyen

»Ich will dazu nichts sagen. Der ›Economist‹ hat schon alles gesagt.« Madonna, amerikanische Popsängerin, auf die

Frage, was sie von Berlusconi halte. Der britische ›Economist‹ schrieb zuvor, Italiens Premier sei »unfähig zu regieren«

»Von mir aus können Sie sich nackt an den Kronleuchter hängen.« Alice Schwarzer, Feministin, über politisch korrekten Sex

«

Hildegard Hamm-Brücher erhält den diesjährigen Marion Dönhoff Preis für internationale Verständigung und Versöhnung. Die langjährige FDP-Bundestagsabgeordnete wird mit dem Hauptpreis für ihr Lebenswerk geehrt, für ihren Einsatz für Bildung, Demokratie und Menschenrechte. Der Marion Dönhoff Förderpreis für internationale Verständigung und Versöhnung in Höhe von 20 000 Euro geht an die Stiftung Children For Tomorrow von Stefanie Graf, die sie 1998 in Kooperation mit der Flüchtlingsambulanz der Hamburger Universitätsklinik Eppendorf gründete. Die Stiftung setzt sich für Kriegsopfer ein. Kinder und Jugendliche, die durch Flucht und Vertreibung traumatisiert sind, finden in den Projekten der Stiftung Hilfe, mit dem Erlebten umzugehen. Hunderte Leser waren dem Aufruf der ZEIT gefolgt und haben Personen und Organisationen vorgeschlagen, die sich im Sinne Marion Dönhoffs engagieren. Der Marion Dönhoff Preis 2011 wird am 27. November im Hamburger Schauspielhaus zum neunten Mal verliehen. DZ

NÄCHSTE WOCHE IN DER ZEIT

Vatersein hat sich in den letzten Jahren radikal verändert. Der ideale Vater von heute kümmert sich ums Kind, er kennt mehrere Kartentricks und baut mit Links ein Baumhaus. Der reale Vater fragt sich, ob es schlimm ist, wenn er Basteln nicht leiden kann und ob Fernsehgucken an einem regnerischen Samstag wirklich so schlimm ist. Wie verbringen Männer eine gute Zeit mit ihren Kindern? Wir hätten da ein paar Ideen MAGAZIN

Bernd Ulrich schlägt als Medizin gegen die Eurokrise gewissermaßen ein Breitbandantibiotikum vor: eine nationale Schuldenbremse in allen EuroStaaten. Alles andere hält er für zu schwierig, zu langwierig, zu ambitioniert: So wenig Zutrauen in die Kraft der Aufklärung und des Arguments war selten. Die Gründungsväter der Europäischen Union jedenfalls waren weit mutiger – und hätten doch angesichts von zwei Weltkriegen mehr Grund zur Skepsis gehabt als wir heute. Die Forderung nach einer Schuldenbremse für alle Euro-Staaten ist für Bernd Ulrich die logische Folgerung aus seiner Analyse der Gründe für die aktuellen Krise: Er hält die unverantwortliche Ausgabepolitik der Mitgliedsstaaten für die Hauptursache. Auch Angela Merkels konservatives Mantra lautet ja: »Wir alle haben über unsere Verhältnisse gelebt.« Sozialdemokraten haben dafür gesorgt, dass die Schuldenbremse im Grundgesetz steht. Und es sind Sozialdemokraten, die die Schuldenbremse jetzt, wo es zur ersten Probe aufs Exempel kommt, gegen die Steuersenkungsideologen in Union und FDP verteidigen. Und es ist unbestreitbar: Der griechische Staat hat jahrzehntelang über seine wirtschaftliche Kraft gelebt. Die Regierungen haben überfällige Reformen immer wieder verschoben, den Staatsapparat unverantwortlich aufgebläht und es leider versäumt, ein halbwegs funktionierendes Steuersystem zu etablieren. Aber ein Blick in andere Euro-Staaten zeigt, dass es dort gerade nicht an einer unverantwortlichen Ausgabepolitik gelegen hat. Im Gegenteil: In Irland und Spanien sind die Schulden das Ergebnis einer verantwortlichen Ausgabepolitik. Diese Staaten haben sich verschulden müssen, weil die Regierungen dort ihre Bürger vor dem Ruin schützen mussten, den Banken und Spekulanten verursacht hatten. Irland etwa wurde lange als »keltischer Tiger« gepriesen, als Musterland der schönen neuen neoliberalen Welt: niedrige Steuern, geringe Sozialabgaben und vor allem schier grenzenlose Freiheit an den Finanzmärkten. Ganz nach dem Geschmack von Neoliberalen und Marktideologen, die dieses Modell – wie Guido Westerwelle – denn auch eifrig als Vorbild priesen. Irland hätte locker jede Schuldenbremse eingehalten, schließlich erwirtschaftete das Land noch 2007 einen Haushaltsüberschuss. Die Probleme begannen, als die Immobilienblase platzte und in ihrer Folge die neue Wunderwelt von intransparenten Finanzprodukten weltweit einstürzte. Hätten die Iren mit Blick auf die imaginäre Schuldenbremse auf die Rettung ihrer Banken verzichten sollen? Viele in Irland involvierte deut-

sche Banken – und am Ende den deutschen Steuerzahler – wäre das teuer zu stehen gekommen. Irland hat – ebenso wie Deutschland – nicht zu hohe Schulden, weil dort die Menschen oder die Regierungen unvernünftig gewirtschaftet und über ihre Verhältnisse gelebt hätten. Die Politik in diesen Ländern hat vernünftig reagiert, Banken rekapitalisiert, Konjunkturprogramme und Kurzarbeiterregelungen geschaffen, um eine noch schlimmere Wirtschaftskrise zu verhindern. So wichtig Schuldenbremsen auch sind, um in konjunkturell guten Zeiten Schulden abzubauen (statt Steuern zu senken) und Vorsorge für schwierige Phasen zu treffen – sie allein reichen eben nicht aus. Hinzukommen muss zwingend eine harte Regulierung der Finanzmärkte. Die aber, das zeigt die Erfahrung gerade auch mit Irland, kann allein im nationalen Rahmen nicht funktionieren. Schon hier wird mehr Europa notwendig sein. Der Geburtsfehler des Euro, das völlige Fehlen einer gemeinsamen Finanz-, Stabilitäts- und Wirtschaftspolitik, kann nur durch eine Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit behoben werden. Niemand hätte nach 1948 die D-Mark zum Erfolg geführt, wenn die damaligen Bundesländer in ihrer Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik hätten machen können, was sie wollen. Bayern wäre noch heute das wirtschaftlich rückständige Armenhaus Deutschlands. Wir brauchen eine Wachstumsperspektive für die Länder, die aus eigener Kraft in den kommenden zehn Jahren keine Chance haben, sich aus der Verschuldungskrise zu befreien und wirtschaftlich auf die Beine zu kommen. Das ist der eigentliche Grund, warum wir eine Besteuerung der Finanzmärkte brauchen. Dort müssen wir die Mittel generieren, die wir für Investitionen in Wachstum und Arbeit brauchen. Wir werden das weder aus den nationalen Haushalten bezahlen können noch dafür neue Schulden machen dürfen. Abgesehen davon gibt es auch keinen Grund, ausgerechnet allein die Finanzprodukte keiner Umsatzsteuer zu unterwerfen. Es ist eine Frage des politischen Anstands, diejenigen an der Bewältigung der Krise zu beteiligen, die zu großen Teilen auch zu den Verursachern gehören. Es ist Zeit, Europa endlich wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das setzt voraus, dass die Eliten ihre Verantwortung wahrnehmen und entschiedener als bisher für Europa als Hoffnungsprojekt werben. Denn Europa ist mehr als eine Interessengemeinschaft zur Rettung angeschlagener Banken, mehr auch als eine Freihandelszone. Europa ist nicht nur, aber eben auch eine Idee von Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität. So schwierig die aktuelle Krise

Wie weiter, Europa? Sind die Vereinigten Staaten von Europa unausweichlich? Nein, hat Bernd Ulrich in der letzten ZEIT geschrie-ben. In dieser Ausgabe erwidert SPD-Chef Sigmar Gabriel

auch zu bewältigen ist, es ist falsch und kurzsichtig, die europäische Idee nun zum reinen Wunschdenken und zum hohlen Pathos zu erklären. Die europäische Idee ist heute auch ein Angebot an die Welt bei der Beantwortung der Frage, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen. Sie stellt das Gemeinwohl über die wirtschaftlichen Einzelinteressen, die kulturelle Vielfalt über Anpassung, die Lebensqualität über die Anhäufung von Reichtum, nachhaltige Entwicklung über rücksichtslose Ausbeutung von Mensch und Natur, die Zusammenarbeit über einseitige Machtausübung und die universellen Menschenrechte und die Demokratie über das Recht des Stärkeren. Diese europäische Idee von Freiheit und gegenseitiger Verantwortung ist der eigentliche Schatz, den es zu bewahren gilt. Um diesen Schatz Zinsen tragen zu lassen, werden wir weiter an Europa arbeiten müssen. Wir werden lange Jahre Überzeugungsarbeit brauchen. Wer mehr Europa will, muss für mehr

Europa werben, damit die Bürgerinnen und Bürger diesen notwendigen Weg mitgehen. Dazu gehören auch Antworten auf ganz einfache Fragen: Warum gewährleisten wir die Freizügigkeit von Waren und Kapital, sind aber nicht in der Lage, die Rechte von Arbeitnehmern ähnlich wertzuschätzen? Warum leisten wir uns eine Europäische Kommission, lassen es aber zu, dass die nationalen Regierungen sie schon dadurch infrage stellen, dass sie möglichst schwache Repräsentanten an ihre Spitze setzen? Warum reden wir wortreich von gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik, sind aber weder in der Lage, entschiedene Schritte auf eine gemeinsame europäische Verteidigungsarmee oder gar eine abgestimmte europäische Antwort auf Ereignisse wie den Arabischen Frühling zu formulieren?

Europa ist nicht am Euro gescheitert, der Euro scheitert an Ideologen Die Europäische Union wird neben ihrer traditionellen Binnenperspektive – die Sicherung von Frieden und Wohlstand in Europa – immer mehr eine Außenperspektive entwickeln müssen. Sie muss in Zukunft die Interessenvertretung der Europäerinnen und Europäer in der Welt sein. Heute steht Europa für 30 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung, 2050 werden es nur noch 5 Prozent sein. In 30 oder 40 Jahren werden weder Deutschland noch Frankreich allein eine nennenswerte politische und wirtschaftliche Rolle spielen können – im Vergleich zu den großen politischen und ökonomischen Regionen der Welt wie die USA, China oder Indien. Nur Europa als Ganzes hat eine Chance im globalen Wettbewerb von Ideen und Werten, von Politik und Wirtschaft. Eine vertiefte europäische Union ist ohne den Verzicht auf Teile der nationalen Souveränität nicht zu haben. Dies müssen wir genauso ehrlich aussprechen wie die Tatsache, dass natürlich auch wir Deutschen einen Preis leisten müssen für staatliches Versagen wie in Griechenland oder für Exzesse an den Finanzmärkten wie in Irland. Doch bei alledem dürfen wir nicht unerwähnt lassen, dass wir die größten Gewinner der europäischen Einigung sind. Ökonomisch, weil kein anderes Land vom Euro so profitiert wie die Exportnation Deutschland. Und politisch, weil es ohne die europäische Einigung die deutsche Wiedervereinigung nicht gegeben hätte. »Mehr Europa«, da hat Bernd Ulrich recht, wird es nicht von heute auf morgen geben können. Ein langer, mühsamer Weg steht uns bevor – wie so häufig in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses. Es wird Staaten geben, die voranschreiten wollen, und solche, denen die europäische Integration zu schnell geht. Das ist nicht tragisch, denn das viel beschworene »Europa unterschiedlicher Tempi« ist doch längst Realität. Es geht nicht – wie Ulrich meint – um die Alternative Status quo oder europäischer Bundesstaat und auch nicht um Europa oder Untergang. Es geht um eine anhaltende Phase des Zusammenwachsens. Das beginnt mit einer neuen Wirtschaftspolitik, denn die konservativ-liberalen Ideologien der völlig freien Märkte, des »Privat vor Staat« und des Steuersenkungswettbewerbs sind katastrophal gescheitert. Europa ist nicht am Euro gescheitert, sondern der Euro an diesem Missverständnis konservativer Ideologien. Für diese Neuorientierung brauchen wir als nächsten Schritt weder eine neue bürokratische Großinstitution noch gleich einen europäischen Bundesstaat, sondern eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten, dem EU-Parlament und der EU-Kommission. Gelingt das, wird Europa auch institutionell zusammenwachsen. Aber es kostet Zeit, Geduld und Überzeugungskraft. Genau dafür aber ist Politik da. Der fantasielose Ruf nach einer Schuldenbremse als Allheilmittel ist dafür zu wenig. Es geht schon um mehr: So unbescheiden darf die Politik dann doch sein.

Sigmar Gabriel ist seit 2009 Vorsitzender der SPD

Philipp Rösler weiß genau, wie er die FDP aus ihrer Not führen kann. Er kennt den Unmut der Leute über Griechenland-Hilfen und EuroRettung, über hart erarbeitetes deutsches Steuergeld und leichtlebige europäische Schuldenmacher, über immer mehr Rettungsschirme und immer weniger Rettungsaussicht. Die frei flottierende Zukunftsangst der Deutschen kanalisieren, der Euro- und Europaskepsis eine Heimat geben, die FDP in eine Partei verwandeln, die Wut und Angst einsammelt und im demokratischen Spektrum bindet – das wäre eine Strategie. Philipp Rösler weiß aber auch etwas anderes. Er kennt das Selbstverständnis der FDP als Pro-Europa-Partei. Er sieht, dass eine euroskeptische Strategie unweigerlich zum Bruch der schwarz-gelben Bundesregierung führt. Er hat erkannt, dass eine auf diesem Weg gerettete FDP eine ganz andere FDP wäre – und somit auch eine verlorene. Und das Wissen um den Verlust zählte stets mehr als das Wissen um die vermeintliche Rettung. Bis zum vergangenen Wochenende. In Mecklenburg-Vorpommern ist die FDP nach den Landtagswahlen noch halb so stark wie die NPD, in Berlin droht sie von der Piratenpartei überflügelt zu werden. Rechtsextreme und Internetnerds sind nun die politischen Vergleichsgrößen der Liberalen. Unter Westerwelle stürzte die FDP ab, unter Rösler schlägt sie im Niemandsland politischer Skurrilitäten auf. Ihre Existenzkrise verschärft sich. In dieser Lage – und mit Blick auf die Berlin-Wahl – hat Rösler den Versuch gestartet, das Schicksal der FDP zu wenden. Indem seine Partei nun die Euro-Skepsis aufgreift, zugleich aber den prinzipiellen proeuropäischen Rahmen nicht verlassen soll. Ein Versuch, der scheitern muss. Rösler wettert gegen Denkverbote bei der Euro-Rettung und schließt eine »geordnete Insolvenz« Griechenlands nicht aus. Damit zielt er auf eine weit verbreitete Grundstimmung in der Bevölkerung. Doch nicht die Menschen, die Märkte reagierten umgehend: Der Dax stürzte unter die 5000-Punkte-Marke. Hat Rösler das nicht bedacht, unterschätzt er die Bedeutung des Vizekanzlers der größten europäischen Wirtschaftsmacht. Hat er es in Kauf genommen, stellt er das Schicksal der FDP über das Schicksal des Landes. Die Ressentiments gegen die Schuldenstaaten bedienen, die Vorbehalte gegen EuroBonds ansprechen und die Leute gleichzeitig bei Europa-Laune halten – ein solcher politischer Kraftakt übersteigt alles, was Rösler und die FDP zu leisten in der Lage sind. Die Fliehkräfte der Wut und der Angst können nicht von der Anziehungskraft einer Partei ausbalanciert werden, von der sich die Wähler gerade in Scharen abwenden. Röslers tapsender Versuch mit dem Populismus beflügelt die Fantasie in jenem Teil der FDP, der sich die Euroskepsis nicht erst bei der Bevölkerung abgucken muss. Er trägt sie längst in sich. Diesen Liberalen war die ordnungspolitische Klarheit im Zweifel stets wichtiger als die europäische Gesinnung. Per Mitgliederentscheid wollen sie die FDP-Spitze auf ein Nein zum dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM festlegen. Manche dieser euroskeptischen Liberalen steuern einen Kurs, wie ihn die Tories in Großbritannien verfolgen: sich der weiteren europäischen Integration verweigern, den Ordnungsrahmen national abstecken – splendid German isolation. Anderen in der FDP geht nicht einmal das weit genug. An der Basis der Partei – und vereinzelt unter ihren Abgeordneten – finden sich längst Hardcore-Liberale, die sich nicht nur gegen die EuroRettung wehren. Sie widersetzen sich auch einem ehrgeizigen Klimaschutz, der Wende in der Atompolitik, einem erweiterten Verbraucherschutz und überhaupt allen neuen Eingriffen des Staates. Sie widersetzen sich, so sehen sie das, der Alleinherrschaft der Political Correctness. Eine FDP, die in der Not ihre Hemmungen fahren lässt, begibt sich auf den Weg in den Rechtspopulismus. Zwei Spielarten davon finden sich derzeit in Europa: die von Fremdenangst getriebene Verteidigung einer »christlichjüdischen und humanistischen Kultur« gegen die »Unmenschlichkeit« der islamischen Lehre, wie Geert Wilders sie in den Niederlanden inszeniert. Und der nationalchauvinistisch motivierte Widerstand gegen Euro und EU, wie ihn die »Wahren Finnen« verkörpern. Für den Wilders-Populismus fehlt der FDP zum einen ein Geert Wilders. Zum anderen haben diverse Rechtsverfehlungen, von der Unterwanderung der NRW-FDP durch Altnazis zu Beginn der fünfziger Jahre bis zu Möllemanns Zündeleien mit antijüdischen Ressentiments, die Liberalen gegen solche Versuchungen weitgehend immunisiert. Deshalb wird aus der FDP auch kein Sammelbecken für »Wahre Deutsche« werden. Eine enthemmte FDP würde vermutlich einen anderen, einen dritten Weg gehen. Sie würde den Freiheitsbegriff absolut setzen und jeden Regulierungsversuch des Staates als freiheitsbeschneidend diffamieren. Sie würde einen Weg gehen, der bei einer deutschen Spielart der amerikanischen Tea-Party-Bewegung enden könnte: Staatsfeindschaft minus Kreationismus und Sendungswahn. Das Programm dafür liegt bereits vor. Rösler hat mit seinem Vorstoß zur Enthemmung der FDP beigetragen.

POLITIK

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Reich, aber sexy Die Hauptstadt wird bürgerlich. Und ihr Bürgermeister Wowereit lächelt dazu. Ein Doppelporträt vor der Wahl VON IJOMA MANGOLD

Doch Künasts Angriff lief ins Leere. Weder bekommt sie die Stadt noch ihren Bürgermeister so richtig zu fassen. Klaus Wowereit sitzt fest im Sattel. Dafür gibt es auch einen guten Grund: Berlin hat sich tatsächlich in seiner Amtszeit rasant verändert. Und der Regierende Bürgermeister hat diesen Prozess gewissermaßen einlullend moderiert, indem er allen Alarmismus vermied. Wowereit hat vielleicht keine Visionen für Berlin. Man könnte aber auch sagen: Er nervt nicht mit Visionen. Dem Berlin-Visions-Contest haben die Berliner lange genug gelauscht und die Erfahrung gemacht, dass die Visionen sich zwar nie erfüllten, es mit der Stadt aber trotzdem voranging. Vermutlich sind es nämlich viel stärkere Kräfte, als sie durch irgendeine Landespolitik gestaltet werden könnten, die sich freisetzen, wenn eine Stadt wie Berlin im wirtschaftlich stärksten Land Europas plötzlich Hauptstadt wird. Wowereit hat sich diesem Wandel nicht entgegengestemmt, er hat ihn aber auch nicht aufdringlich orchestriert. Ein preußisches »Hunde, wollt ihr ewig feiern?« war von ihm nicht zu vernehmen. Er hat den Berlinern ihr Leistungsdefizit nie vorgehalten. Er hat ihnen die Ruck-Rede erspart – und das danken sie ihm. An wen hätte er sie auch richten sollen? Der Ruck kam ja ganz von allein: von außen, in Gestalt der Neuberliner. Tatsächlich hat sich die Stadt weit besser entwickelt, als man es ihr vor zehn Jahren zugetraut hatte. Damals stand Wowereit für den straßenschlauen Stolz, sich von den wirtschaftlichen Problemen der Stadt nicht demütigen zu lassen. Wo das neue Repräsentationsbedürfnis Berlins seine Mittel überstieg, sprang der Bund ein, während Klaus Wowereit dafür zuständig war, mit der eigenen guten Laune die spezielle Berliner Lebensform zwischen Projekt-Charme und Berlinale-Glanz zu personifizieren. Wie kann man es sich bei so vielen Problemen (immerhin 14 Prozent Arbeitslosigkeit) so ungeniert wohlgehen lassen, fragte mancher externe Beobachter erzürnt. Dabei hat sich der Charakter der Stadt unter der Hand stark gewandelt. Sie ist bürgerlicher geworden – auch wenn Klaus Wowereit dies nie laut sagen würde, weil es womöglich klassenkämpferische Reflexe auslösen würde. Die Epoche der Berliner Zwischennutzungen geht dem Ende zu, die Baulücken schließen sich, die Brachen verschwinden. Die ganze Romantik der unendlichen Möglichkeiten tritt in den Hintergrund. Stattdessen prägen Townhouses das neue Stadtbild, und die Mieten ziehen an. Wie zur Zeit des Mauerfalls hat Berlin noch immer etwa 3,4 Millionen Einwohner. Es fand aber ein gewaltiger Bevölkerungsaustausch statt. 1,5 Millionen Neubürger sind in die Stadt gekommen, während viele Altberliner vor allem nach Brandenburg in den Speckgürtel abgewandert sind. Spricht man Klaus Wowereit auf diesen Wandel an, folgt er erst mal seinem Erfolgsrezept: Vertrauensbildung durch Entdramatisierung. Der Begriff Verbürgerlichung gehe ihm gegen den Strich, schließlich seien wir doch alle Bürger. Aber natürlich, fügt er hinzu, seien durch den Regierungsumzug neue Player gekommen. »Ich möchte mir die Stadt ohne den Umzug gar nicht vorstellen. Das Elitäre ist aber Gott sei Dank in Berlin noch nicht eingezogen.« Wowereit bestreitet nicht, dass es einen sozialen Wandel in Berlin gibt. Je mehr gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen würden, desto mehr zögen die Mieten an. »Ich halte aber die Gentrifizierungsdebatte für fatal, weil sie immer nur negativ geführt wird. Wir haben ja Quartiermanagement gemacht, um eine soziale Mischung hinzukriegen. Und soziale Mischung besteht nicht darin, dass alles so bleibt, wie es ist. Wir wollen zur Stabilisierung des Quartiers auch Leute drinhaben, die ihre Miete selbst zahlen.«

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o ist Berlin nicht mehr länger nur ein Biosphärenreservat für die kreative Boheme, sondern auch ein Durchlauferhitzer für bürgerliche Aufsteiger. In dieser Stadt lässt sich nämlich zwischen Schlachtensee und Köpenick schon mit vergleichsweise kleinem Geld ein großbürgerlicher Repräsentationsstil entfalten, den man sich bei gleicher Vermögenslage in Westdeutschland nie leisten könnte. (Umgekehrt heißt das: Wer das Pech hat, von Berlin nach München zurückversetzt zu werden, muss sich wieder an bescheidene Verhältnisse gewöhnen.) Die erste Welle Neuberliner, das waren prototypisch die Etepetete-Münchner, die die Stadt zwar rasend aufregend fanden, ihre neuen Nachbarn aber doch gern wissen ließen, dass sie im Süden eine bessere Kinderstube genossen, die strengeren Gymnasien absolviert hatten und überhaupt eine feinere Lebensart gewohnt waren (womit sie tatsächlich recht hatten). Die zweite Welle der Neuberliner aber kam aus dem Ausland und importierte eine internationale Urbanität, die die Berliner dankbar aufgriffen. Abhängen im Atelier von Olafur Eliasson oder eine Einladung durch die Frau des italienischen Botschafters, um ihre neuen Kunstankäufe zu inspizieren – dahinter konnten Fragen der binnendeutschen Distinktion entspannt zurücktreten. Noch vor zehn Jahren gehörte es zum guten Ton der besseren Kreise zwischen Bogenhausen, Bad Homburg und Blankenese festzustellen, Berlin habe keine Gesellschaft. Der Satz sollte die eupho-

rischen Neu-Berliner demütigen und dem nicht zu leugnenden Braindrain in die Hauptstadt ein elitäres föderales Selbstbewusstsein entgegensetzen. Doch der Satz kam aus der Defensive: Die alten bundesrepublikanischen Eliten wollten sich den Schneid nicht abkaufen lassen, während ihnen erkennbar die Felle davonschwammen. Denn was hilft die geschlossenste Gesellschaft, wenn sich nieman mehr für sie interessiert? Mit der Hauptstadtfunktion sind die Bundestagsabgeordneten gekommen, die Botschaftsangehörigen, die Medien und die Lobbygruppen. Ein völlig neues Milieu hat sich in der Stadt eingerichtet – und hat sich dabei von der Stadt ebenso prägen lassen wie es diese mitgeprägt hat. Tatsächlich ist es erstaunlich, wie geschmeidig dieser soziale Transformationsprozess abgelaufen ist. Die Zeiten, als sich bessere Restaurants in Kreuzberg Buttersäureattentaten ausgesetzt sahen, sind vorbei. Die Stadt ist groß genug, um viele Welten nebeneinander bestehen lassen zu können. Berlin ist heute Parallelgesellschaft im besten Sinn. Und es ist längst eine wirklich internationale Stadt geworden. Nur um ein Gefühl für die Proportionen zu bekommen: Auf 104 000 Türken kommen 42 000 Polen, 17 000 Italiener, 14 000 Franzosen, 13 000 US-Amerikaner, 10 000 Briten, 8000 Spanier und 3000 Israelis (Stand Juni 2011). Weniges hat dem Stolz der Stadt so gut getan wie dieser internationale Zuspruch. Wenn die Amerikaner sich so begeistert in Berlin niederlassen wie vor 100 Jahren in Paris, müssen wir uns endlich nicht mehr selbst loben ...

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eute hat Berlin durchaus Gesellschaft – wenn auch nicht im orthodoxen Sinn. Es ist keine geschlossene Gesellschaft, sondern es sind eher Gesellschaften im Plural, die sich aber, weil es keine Anciennitätsrechte gibt, viel mehr und fruchtbarer mischen als in anderen Städten. Berlin mag viele soziale Brennpunkte haben, sozial ist es lange nicht so segregiert wie Hamburg, wo man jedem aufgrund seiner Kleider und seines Wohnorts auf 100 Euro genau seine Einkommensklasse ansehen kann. Die Toleranz für Unterschiede hat zugenommen. Daran ändern auch die brennenden Autos nichts, sie sind viel eher Ausdruck hilfloser Ohnmacht, den Geist der Stadt gerade nicht mehr im eigenen Sinne monopolisieren zu können. Während Wowereit also auf der Vorderbühne den Partyhasen spielte, hat er im Hintergrund die Verbürgerlichung Berlins betrieben. Er selbst, der smarte Aufsteiger aus Tempelhof, ließ sich auf der Fashion Week Champagner nachfüllen, während sein KulturStaatssekretär Andre Schmitz die bürgerliche Repräsentationskultur mit Schinkel, Stadtschloss und Staatsopern-Klassizismus vorantrieb. Die Angstlust, mit der man sich noch in den neunziger Jahren ausmalte, wie Berlin den aus der rheinischen Idylle eintreffenden Bundestagsabgeordneten einheizen würde, ist heute völlig abwegig. Berlin hat zwar keine alten Familien, die in Hinterzimmern die Stadt unter sich aufteilen, dafür kann es Bürgerlichkeit neu erfinden und mit Offenheit kombinieren. Tatsächlich kann man die beiden politischen Hauptleistungen Wowereits durchaus als bürgerlich bezeichnen: Er hat zum einen die damalige PDS in ihrem klassenkämpferischen Stolz gebrochen, indem er sie in die Regierungsverantwortung zwängte und ihr perfiderweise auch noch den Posten des Wirtschaftssenators zuschob. Und er hat mit seinem damaligen Finanzsenator Thilo Sarrazin den Haushalt konsolidiert und den maßlosen öffentlichen Dienst mit harter Hand geschrumpft: bürgerliche Fiskalpolitik. Erstaunlicherweise ist es der CDU nicht gelungen, die neuen Bürgerlichen an sich zu binden. Und auch die Grünen, die nicht erst seit Kretschmann in Baden-Württemberg gerade in den Milieus urbaner Bürgerlichkeit viele Sympathien genießen, haben dieses neue, zugleich neugierig-mobile wie stabilitätsorientierte Milieu nicht umarmt. Warum nur ist Opposition gegen den Regierenden Bürgermeister nicht von mehr Erfolg gekrönt? Klaus Wowereit verpackt seine Antwort in eine Frage: »Sind die so schwach, oder bin ich so stark?« Er geht wohl davon aus, dass beides zusammenkommt. Und er fügt hinzu: »Die Stadt hat über die letzten Jahrzehnte mit ihren Schicksalsschlägen leben müssen, und sie weiß, was sich in den letzten zehn Jahren alles positiv verändert hat.« Seine politischen Gegner hätten es ja mit kritischen Angriffen versucht, bei dem Thema Schule oder Innere Sicherheit: »Aber es verfängt nicht, weil die Leute genau wissen, dass das bei uns so schlecht nicht gelaufen ist.« Während die CDU immer noch einen West-Wahlkampf mache und die Linke einen Ost-Wahlkampf, stehe er für das ganze Berlin. Und dann sagt er, als wolle er diesmal doch ein bisschen mehr wie der Einpeitscher klingen: »Wir brauchen Veränderung, ich finde mich nicht ab mit so einer Biotop-Mentalität. « Vielleicht war Klaus Wowereit genau der richtige Mann für den erstaunlichen Wandel Berlins. Frühestens in fünf Jahren wird die neue Berliner Bürgerlichkeit ihren eigenen, weizsäckerhaften Gegenkandidaten hervorgebracht haben.

Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT

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er noch mal Ost-Luft schnuppern möchte in Berlin, kann zum Beispiel in den Stadtteil Weißensee fahren. Vom Alexanderplatz ist es mit der Straßenbahn zwar nicht einmal eine Viertelstunde, doch die Ästhetisierung der Lebenswelten steht noch ganz am Anfang. Entlang der Berliner Allee herrscht erkennbar kein Dresscode, das lieblich Dekorative wird stolz zurückgewiesen. So sah das auch schon vor fünfzehn Jahren aus, als das Abgewrackte des Sozialismus eine demütigende Verbindung mit dem Billig-Bunten der neuen Westwaren einging und zwischen die brüchigen Altbaufassaden die fiesesten westlichen Ramschketten zogen. Es ist kein verwahrlostes Stadtviertel, die Bewohner eifern nur nicht jenem Bild von Wohnlichkeit, Gesundheit und guter Laune nach, wie es das Werbeplakat zum Hypothekenkredit vorsieht. Doch biegt man von der Berliner Allee ab in eine der Kopfsteinpflasterstraßen, die zum Weißenseer Park führen, ändert sich die Szenerie. Zwischen den herrlichen Bäumen stehen elegante neue Architektenhäuser. Dahinter ruht der See. Vorhänge kennt man hier nicht, und so sieht man durch die Fensterfronten die hohen Bücherregale. Eine Mustersiedlung der Gentrifizierung. Noch stehen überall die Kräne, aber es besteht kein Zweifel, dass Schönheitssinn, Selbstpflege und überhaupt die ästhetische Erziehung des Menschen künftig eine herausgehobene Rolle spielen werden. Wer hier baut, vertraut darauf, dass sich die Nachbarschaft insgesamt nach dem eigenen Bild wandelt. Hier wohnt Heinz Bude. Als Soziologe beobachtet er die Veränderungen der Gesellschaft. Aber anders als bei vielen seiner Kollegen hat man immer den Eindruck, einen Feldforscher vor sich zu haben, der die Gesellschaftsdiagnosen, die er anstellt, gern selbst verkörpert. Drei Jahrzehnte lang lebte Heinz Bude in Kreuzberg. Jetzt ist er mit seiner Frau und seiner Tochter nach Weißensee gezogen. »Kreuzberg«, sagt Heinz Bude, »ist für uns furchtbar geworden, weil es da zu viele gibt, die nicht wirklich etwas zu tun haben, die im Café sitzen und Bilder von sich selbst entwerfen.« Berlin sei jetzt im Umbruch von der experimentellen zur residenziellen Stadt. Jetzt würden die Claims abgesteckt: »Hier monopolisiere ich, da monopolisierst du.« Dabei lächelt er sardonisch, denn er weiß, dass solche Sätze Anstoß erregen. Aber für Bude ist das Vielfalt. Großstadt ist kein Ort der Homogenität: »Die unvollständige Integration ist das Wesen der Stadt.« Einer der Motoren für diesen Wandel zum Residenziellen sei das Modell der Baugemeinschaft, bei dem sich mehrere Familien zusammentun, um gemeinsam ein Haus zu bauen. Das spart die Kosten des Investors und stärkt zugleich den Eigentümerstolz: »Wir sind unsere eigenen Herren.« Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung unterstützt dieses Modell, indem sie den Baugemeinschaften entsprechende Grundstücke anbietet. Die Berliner Logik der Baulücke und die Idee einer »Verfriedlichung der Stadt durch genossenschaftliches Engagement« ergänzen sich in diesem Modell. »Es ist«, sagt Bude, »die Renovierung eines Stadtbürgertums, und das hat auch etwas mit dem Anspruch des Wirken-Wollens zu tun: Wir wollen soziale Repräsentation.« Bude scheut das Wort nicht. Er versteht es positiv. Denn wer wirken will, ist in der Pflicht. Der Ausdruck des Selbst hat immer etwas mit Eigenverantwortung zu tun, und nur so entstehen Bürgergesellschaften. Am kommenden Sonntag wählt Berlin ein neues Abgeordnetenhaus, das Landesparlament. Wenn der Wahlkampf ein Thema hatte, dann die Gentrifizierung. Also die Sorge, dass immer mehr Menschen mit Geld in die Stadt kommen und die alten Kiezstrukturen zerstören, dass die steigenden Mieten einen sozialen Verdrängungsprozess in Gang setzen. Gentrifizierung ist ein Begriff, der auf moralische Zerknirschung setzt. Genauer auf Selbstzerknirschung, denn am liebsten führen ihn diejenigen im Munde, die zu den aufgeklärten Antreibern dieses Prozesses gehören. Dabei müsste man eigentlich fragen: Wer hätte sich träumen lassen, dass ausgerechnet das arme Berlin einmal ein Gentrifizierungsproblem haben würde? Es könnte schlimmere Nachrichten geben. Gentrifizierung ist ein Zeichen von Dynamik, einer Dynamik, die man Berlin nicht zugetraut hatte. Gentrifizierung meint im Positiven: Es kommt Geld in die Stadt, die Stadt zieht bürgerliche Milieus an. Aus der abgeschlossenen und durchsubventionierten Insel Berlin ist ein Ort erhöhter sozialer Mobilität geworden, an dem neue Lebensentwürfe schneller erfunden werden als im Rest des Landes. Deshalb feiert die Stadt ihren Spitzenkoch Tim Raue, der wie kein Zweiter die Verbindung aus Mutterwitz und Urbanität verkörpert. Anders gesagt: Schlimmer als Gentrifizierung wäre ihr Ausbleiben. Als vor einem Jahr Renate Künast von den Grünen erklärte, sie wolle Klaus Wowereit herausfordern, haben ihr alle gute Chancen zugerechnet. Zu sehr schien der Regierende Bürgermeister für Selbstzufriedenheit und das Party-Berlin zu stehen.

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DIE ZEIT No 38

Machtwechsel

Illustration: Peter M. Hoffmann für DIE ZEIT/www.pmhoffmann.de

Schneller, internationaler, gefährlicher – die Dauerkrise sortiert die Gewichte in Deutschland neu. Ein Überblick über Gewinner und Verlierer VON BERND ULRICH

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er Tag, an dem die internationale Politik in eine neue Dimension eintrat, lässt sich exakt bestimmen: Es war der 15. September 2008. Damals, vor genau drei Jahren, ging die amerikanische Investmentbank Lehman pleite. Seither jagt ein Großereignis das andere: Finanzkrise, Arabellion, Fukushima, immer wieder die EU-Schuldenkrise, Krieg in Libyen, um die wichtigsten zu nennen. In diesen drei Jahren ist die Politik schneller geworden, krisengetriebener und internationaler. Wenn das so bleibt, dann wandelt sich auch die deutsche Politik fundamental. Die Konturen des Neuen sind schon erkennbar. Vom wild bewegten Heute aus gesehen ist erstaunlich, wie wenig sich das politische System der Bundesrepublik in den Jahrzehnten nach dem Krieg, sogar nach der Einheit geändert hatte: Der Bundespräsident war eine Art Hoheit des Politischen, der Außenminister der zweitwichtigste Mann der Regierung, der Verteidigungsminister eine mäßig bedeutende Figur, das Parlament ein Epizentrum der Demokratie, die CSU eine Großmacht deutscher Politik. Beschleunigung, Internationalisierung und Dauerkrise jedoch haben die Struktur der Politik massiv verändert. Gewinner sind die operativen Ressorts, also jene Teile der Regierung, die Geld oder Truppen bewegen können. Dazu gehören natürlich das Kanzleramt und die Kanzlerin. Sie muss – und kann – bei internationalen Krisen strategische Entscheidungen treffen, die vom Rest der Republik nur noch nachvollzogen und allenfalls unter Inkaufnahme größter Schäden konterkariert werden können. Im Falle der Schuldenkrise schlägt sich schon ernst zu nehmender öffentlicher Widerspruch zum Kurs der Kanzlerin als Börsenbeben nieder, wirkt also kontraproduktiv. Auch der Finanzminister, der vordem wenig mehr war als ein Sparmeister, ist heute ein internationaler Akteur erster Güte, mächtiger als je zuvor. Seine Worte bewegen Milliardensummen, seine Entscheidungen erst recht. Kein Wunder, dass Jürgen Trittin, der starke Mann der Grünen, durchblicken lässt, er wolle in einer künftigen rot-grünen Koalition lieber Wolfgang Schäuble beerben als Guido Westerwelle. Schließlich gewinnt als Teil eines allmählich entstehenden internationalen Gewaltmonopols und als schnelle Krisenreaktionskraft der Verteidigungminister. Er bestimmt in Sachen Krieg und Frieden das Wollen des Landes, indem er das Können der Bundeswehr definiert. Verlierer der Entwicklung sind all jene, die eher repräsentative Ämter innehaben. Dass der Bundespräsident seit einiger Zeit kaum noch von Belang ist, liegt nicht allein an den schwachen Politikern Horst Köhler oder Christian Wulff. Wer in diesen schnellen, harten, globalen Zeiten nicht operativ eingreifen kann, dessen Reden sind eben auch bedeutungslos. Worte, für die einer nicht mit Taten einstehen muss, will in Wirklichkeit keiner hören. Wahrscheinlich braucht es einfach auch den operativen

Druck, um geistig auf Höhe der Wirklichkeit zu bleiben, wer nicht handelt, wird nicht klüger, jedenfalls nicht in der Politik. Auch deshalb wirkten Wulffs späte Einlassungen zum Euro so beliebig. Die Banalität des Repräsentativen trifft in abgeschwächter Form auch den Wirtschaftsminister, der seit eh und je viel zu reden, aber wenig zu sagen hat. Heute verpufft er ganz – es sei denn er stellt sich quer. Dass Philipp Rösler Wirtschaftsminister ist, wurde erst spürbar, als er öffentlich gegen die Griechenlandpolitik der Kanzlerin anging. Querstellen ist aber in der Politik, zumal in der modernen Hochgeschwindigkeits- und Krisenpolitik, ein Mittel, das man nur selten anwenden kann, es ist im Grunde überhaupt keine richtige Regierungspolitik, sondern der Beginn von Opposition. Paradoxerweise leidet unter der Internationalisierung der Politik am meisten der Außenminister. Diplomatie als politische Kunstform wird heute kaum mehr betrieben, bei den wichtigen Konferenzen geht es zu wie in der Innenpolitik – robust, klar, direkt. Operativ hat der Außenminister ohnehin nicht viel an den Füßen, nun nehmen ihm Kanzler, Finanz- und Verteidigungsminister den letzten Rest an großer Politik weg. Die meisten Beamten des Auswärtigen Dienstes denken und hoffen, ihr Bedeutungsverlust rühre vom Abstieg Guido Westerwelles her. Tatsächlich ist es umgekehrt: Selbst ein Hans-Dietrich Genscher oder ein Joschka Fischer könnten die faktische Entmachtung des Außenministeriums kaum kompensieren. Als Verlierer muss auch die Regionalpartei CSU gelten. Schon durch die deutsche Einheit hat ihr relatives Gewicht abgenommen, es folgte die Profanisierung durch den Zwang, in Bayern zu koalieren – und nun der Internationalisierungsschub. Er macht die CSU vollends zur Bayernpartei. Für die Stürme, die seit drei Jahren über den Globus fegen, sind die Schiffe der CSU einfach zu klein. Dasselbe Problem hat die geschrumpfte FDP. Ähnlich wie die CSU und anders als die Grünen ist sie in ihrem Denken uninternational, darum auch verführt die Krise der EU die Liberalen zu einer euroskeptischen, nationalen Haltung. Wie in der Libyen-Entscheidung lautet das unausgesprochene Motto der FDP: im Zweifel national. Das jedoch ist weniger der Ausfluss einer nationalistischen Ideologie als die Folge ihrer Kleinheit. Wenn die Grünen vorerst trotz ihrer geringen Größe zu den Gewinnern der Internationalisierung zählen, dürfte das an der ihnen angeborenen Globalität liegen. Ob Klima, Wasser, Artenschutz oder Menschenrechte, die Grünen können einen grenzübergreifenden Anspruch behaupten. All diese Veränderungen sind für die eine oder andere Partei ärgerlich, vielleicht sogar tödlich, für die Demokratie jedoch unbedrohlich. Das ist anders beim letzten Verlierer dieser Reihe: dem Parlament. Es ist mit seinen erhabenen Abstimmungsprozessen und seinen drei Lesungen pro Gesetz schlicht zu langsam. Hier entsteht eine gefährliche Legitimationslücke. Und noch weiß niemand, wie sie zu schließen wäre. Es kommt ja in all der Hektik auch keiner dazu, gründlich darüber nachzudenken. www.zeit.de/audio

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Wehret der Konterrevolution! Pierre Rosanvallons fordert neuen Bürgermut gegen wachsende Ungleichheit Ein Jahr nach Erscheinen von Stéphane Hessels Streitschrift Indignez-vous! ist von der Empörung, die Frankreich vergangenen Herbst erfasste, nicht viel übrig. Soziologen hatten die Explosion der Pariser Banlieues prophezeit, stattdessen brannten die Vorstädte Londons. In Madrid und Tel Aviv gingen die Empörten auf die Straße, während sich in Paris die Massen eher beim Strandspektakel Paris Plage einfanden. Mitten in diese Stimmung bricht ein neues Buch hinein. Es heißt La société des egaux und es hat, so formuliert es der Chefredakteur der Tageszeitung Libération, »eingeschlagen wie eine Bombe«. Pierre Rosanvallons Studie, deren Titel sich nur sehr notdürftig mit »Gesellschaft der Gleichen« übersetzen lässt (weil es das Sprachspiel mit den »Egos« unterschlägt), wirkt auf den ersten Blick wie die sozialtheoretische Untermauerung von Hessels kurzer Protestschrift für eine faire Gesellschaft. Rosanvallon, Professor am Collège de France und Chefredakteur des Internetmagazins La vie des idées, spricht von einer Konterrevolution: Fast das ganze 20. Jahrhundert war es das Ziel der Gesellschaften, das Gefälle zwischen Arm und Reich auszugleichen. Seit den achtziger Jahren erleben wir eine spektakuläre Umkehrung dieser Tendenz. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Für Rosanvallon ist die zunehmende soziale Ungerechtigkeit zugleich Indiz, aber auch Motor eines sehr viel dramatischeren Prozesses, nämlich des Zerfalls der Demokratie. »Die Demokratie«, notiert er, »behauptet ihre Lebendigkeit als politisches System in dem Augenblick, da sie als soziale Form zerfällt.« Das bedeute auch den Abschied von der Meritokratie, denn reich sei man heute aufgrund von Spekulation und Erbschaft, nicht aufgrund von Leistung. »Die Figur des Pfründenbesitzers kehrt zurück«, schreibt er. Von unten nach oben zu kommen sei kaum noch möglich. Rosanvallon will nichts Geringeres als einen neuen Gesellschaftsvertrag, der sich an den

Idealen der amerikanischen und der Französischen Revolution orientiert. Bürger sollen sich wieder als Bürger begegnen und nicht als Vertreter von Minderheiten. Das ist ein von der französischen Linken genüsslich goutierter Seitenhieb auf die »positive Diskriminierung« durch Präsident Sarkozy, der ein paar »Benachteiligte« in sein Kabinett hol-

te, die Vorstädte aber weitgehend durch Inhaftierungen befriedete. Ganz einfach macht der Professor es der Linken aber auch nicht. Es genüge nicht, sich einfach auf die Idee der materiellen Gleichheit zu kaprizieren oder die Finanzmärkte an die Kandarre zu nehmen. »Die Linke muss eine demokratische Kultur zurückerobern, dort, wo man lebt, gemeinsam etwas unternehmen.« Wie damals eben, 1789. MARTINA MEISTER

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Die Ohnmacht des starken Staates Foto: Yemane Gebremedhin für DIE ZEIT

Äthiopiens Regime will die Folgen der Dürre aus eigener Kraft bekämpfen. Doch das Land steuert auf eine verheerende Hungersnot zu VON BARTHOLOMÄUS GRILL

Die Dürre tötet das Vieh und vernichtet die Lebensgrundlage der Menschen im Süden Äthiopiens

Ein misstrauischer Regierungsbeamter knurrt uns an. Es passt ihm gar nicht, dass Presseleute einfach so herumfragen und womöglich apokalyptische Berichte schreiben. Er bestellt uns zum Rapport in die zwanzig Kilometer entfernte Distrikthauptstadt Moyale. Auf die Außenwand der Verwaltungszentrale ist das Bild einer Biene gesprüht, das Symbol der allmächtigen Staatspartei: ein fleißiges Insekt, das schmerzhaft stechen kann. Das Regime hatte sich zur Bekämpfung des Hungers im Land Großes vorgenommen: Bis 2015 wollte man die landesweiten Ernteerträge verdoppeln und das strukturelle Nahrungsmitteldefizit abbauen. Das ist angesichts eines jährlichen Bevölkerungswachstums von 2,9 Prozent allerdings ein ziemlich utopisch anmutendes Ziel. Seit der großen Hungersnot

O ze a n

Die Regierung verpachtet riesige Ländereien an ausländische Konzerne

1984 hat sich die Einwohnerzahl Äthiopiens von 42 tergrund wirkt Äthiopien weniger wie ein Land, auf 84 Millionen verdoppelt, jeden Monat kommen das aus eigener Kraft die Not bekämpft denn wie ein Menetekel für die globale Ernährungs240 000 Neugeborene hinzu. Was das bedeutet, haben wir auf unserer Fahrt krise im 21. Jahrhundert. Jatani Guyo hat keine Zeit für düsdurchs dicht besiedelte Rift Valley in die Dürrezone tere Spekulationen über die Zubesichtigt. Es ist eigentlich eine üppige, fruchtkunft, er ist vollauf mit den bare, regenreiche Region, die so gar nicht AFRIKA rafik Tagesproblemen beschäftigt. in unser Bild von einem darbenden G IT ZE »Eine solche Dürre gab es seit Land passen will. Doch die Äcker 60 Jahren nicht mehr«, sagt sind durch die Erbteilung von ERITREA NORDJEMEN der Sprecher der DistriktGeneration zu Generation kleiSUDAN verwaltung. An der Ursaner und kleiner geworden, und ÄTHIOPIEN che hat er keinen Zweifel: schon bald werden die Parzellen Addis »Der Klimawandel. Die die vielköpfigen Familien nicht Abeba Niederschläge werden immehr ernähren können. Zudem SÜDDambi mer weniger, in dieser Saifehlen den verarmten SubsisSUDAN Moyale son ist ganna, die große Retenzbauern die Mittel für eine SOMALIA genzeit zwischen März und produktivere Landwirtschaft: BeKENIA Juni, ganz ausgeblieben.« Nach sitzrechte, Investitionskapital, KnowHochrechnungen der UN sind zurhow, Dünger, Marktzugang. Die äthio500 km zeit 4,6 Millionen Äthiopier vom Hunpische Regierung verpachtet zudem riesige Ländereien an ausländische Agrarkonzerne, die Nah- ger bedroht, vor allem in den semiariden Randrungsmittel exportieren! Wie mag es erst im Jahre regionen Afar, Somali und hier im tiefen Süden, 2025 sein, wenn sich 150 Millionen Menschen die im Land der Borena. »Wir brauchen Unterstütknappen Ressourcen teilen müssen? Vor diesem Hin- zung, aber die Koordination der humanitären Einsätze liegt allein in unserer Verantwortung«, betont Guyo. Die Regierungsstellen wollen blindem Aktionismus vorbeugen – ein Seitenhieb auf die Vorauskommandos der internationalen Hilfsindustrie, die sich nebenan, im einzig guten Hotel am Platz, gegenseitig auf die Füße treten: UN, Rotes Kreuz, EU-Emissäre. »Die Maßnahmen laufen vier Monate zu spät an«, kommentiert Ursula Langkamp von der Deutschen Welthungerhilfe, die uns auf dieser Reise begleitet. »Schon im letzten Jahr haben die Meteorologen die Dürre vorhergesagt, wir haben im Januar erstmals vor ihren Auswirkungen gewarnt. Aber erst Berichte der BBC über die somalischen Flüchtlingslager haben die Geber wachgerüttelt.« Die Welthungerhilfe engagiert sich seit vier Jahrzehnten in Äthiopien; zurzeit unterstützt sie 13 000 Dürregeschädigte im Borena-Land und arbeitet mit Gayo zusammen, einer einheimischen Nichtregierungsorganisation, die die Verhältnisse genau kennt. »In den kommenden Monaten geht es um akute Nothilfe. Danach erwartet uns eine noch viel schwierigere Aufgabe: der Wiederaufbau der dezimierten Viehbestände. Das wird Jahre dauern.« Rückfahrt durch endlose, staubige, dürstende Savanne. Die dunklen Wolken, die sich am frühen Morgen am Horizont zusammengeballt hatten, waren nur ein trügerisches Versprechen, das in der Tageshitze verdunstet ist. 16 von 24 Wasserstellen im Umland sind ausgetrocknet, eine Frau erzählt, dass sie jeden Tag fünf Stunden bis zum nächsten Staubecken laufen muss, 15 Kilometer hin, 15 Kilometer zurück, auf dem Rücken einen 20-Liter-Kanister. Wir erreichen Amarole, ein winziges Dörfchen abseits der Straße. Stille liegt wie eine unfassliche Bedrohung über den Strohdächern. Die Menschen wirken apathisch, sie warten auf Regen, der nicht kommt. Die Katastrophe naht schleichend, in Amarole sieht man ihre Vorboten: den Viehpferch, in dem ein paar ausgemergelte Kühe liegen, die leeren Kornspeicher, die verdorrenden Wüstenlilien, der unterernährte Junge, der sich kaum auf seinen storchendünnen Beinchen halten kann. Manche Familien schlachten aus Not sogar Hühner und brechen ein Tabu – in der Kultur der Borena ist der Verzehr von Geflügel aller Art verpönt. Dann sehen wir die alte, entkräftete Frau, die vor ihrer Hütte ein Kalb tränkt. Sie flüstert dem völlig abgemagerten Tier etwas zu, streicht zärtlich über seinen Rist, beobachtet, wie es gierig das Wasser aus einem Alunapf säuft. Es ist, als hinge ihre ganze Hoffnung, ihr ganzer Lebenswille an diesem Kalb. Als wären auch ihre Tage gezählt, wenn es einginge. her

her. Sie wissen, dass das verboten ist. Sie wissen auch, dass sie durch den Raubbau die eigenen Lebensräume zerstören. Entlang der einzigen Teerstraße ist der Busch stellenweise schon kahl. Im Teufelskreis der Dürre haben die Menschen keine andere Wahl.

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Land zum Inbegriff für afrikanisches Elend gemacht. Heute gibt es ein Frühwarnsystem für Hungersnöte und ein Sicherheitsnetz, das 7,5 Millionen bedürftige Kleinbauern versorgt. Überdies wurde eine staatliche Getreidereserve von über 300 000 Tonnen angelegt. Man sieht hier noch nicht die schockierenden Bilder von Scharen spindeldürrer Kinder mit aufgeblähten Bäuchen. Die Frage ist, ob die Maßnahmen für das Ausmaß dieser Not reichen. Nach Schätzungen der Hilfsorganisation Oxfam sind seit Jahresanfang eine halbe Million Rinder verendet. Für die Halbnomaden im Süden Äthiopiens ist das eine Katastrophe von biblischen Ausmaßen. Rinder bilden das Rückgrat ihrer Ökonomie, sie genießen einen geradezu heiligen Status. Viele Wanderhirten müssen nun das restliche Vieh verkaufen, um zu überleben. Der Besitzer zweier klappriger Kühe, die an einem Pappkarton kauen, rechnet vor, dass sie höchstens noch ein Sechstel des üblichen Marktpreises einbringen. Gleichzeitig sind viele Nahrungsmittel unbezahlbar geworden, ein Zentner Weizen kostet umgerechnet rund 21 Euro, dreimal so viel wie vor einem Jahr. In ihrer Not suchen die Dürreopfer nach alternativen Einkommensquellen: Sie schlagen Brennholz, stellen Holzkohle

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Dambi/Addis Abeba enn die Bäume auf dem Kopf stehen, ist die Welt aus den Fugen geraten. Im Land der Borena stehen viele Bäume auf dem Kopf. Es sind die ersten sichtbaren Zeichen der Dürre, die den Süden Äthiopiens heimgesucht hat. Die Menschen fällen Bäume und drehen sie auf die Kronen, damit ihre halb verhungerten Rinder die Blätter abzupfen können. Seit drei Jahren hat es hier nicht mehr richtig geregnet. Eisgrau der wolkenlose Himmel, weit und breit kein Fleckchen Grün, grauer, krachdürrer Busch, der lateritrote Boden betonhart und schrundig, ausgedörrt von der Sonne. Je weiter wir in das Tiefland im Süden fahren, desto mehr auf den Kopf gestellte Bäume sehen wir. Dann tauchen die ersten Rinderkadaver auf, fünf, zehn, Dutzende. Hinter einer Siedlung namens Dambi steigt süßer Verwesungsgestank in die Nase, überall Knochen, Schädel, Klauen, Hörner, verdorrte Felle, von Hyänen abgenagte Skelette. Unweit dieses Viehfriedhofs begegnet uns ein Mann, der wie das Dorf heißt: Dambi, Vorname Mohammed. Vor Kurzem war er noch ein reicher und angesehener Viehhalter. Heute zeugt nur seine sure vom einstigen Wohlstand, seine muslimische Kopfbedeckung, die aus Goldfäden gestickte Minarette zieren. Dambi besaß 95 Rinder, das ist eine stattliche Zahl, wenn man bedenkt, dass in seiner Volksgruppe der Borena eine Herde durchschnittlich 50 Stück zählt. Als die ersten Tiere tot liegen blieben, trieb er seine Herde in der Hoffnung auf Grünfutter in Richtung Süden, hinüber nach Kenia. Aber Dürren machen nicht an Staatsgrenzen halt, und weil viele Halbnomaden genau so handelten wie Dambi, waren die letzten Flächen, auf denen noch ein paar kümmerliche Grashalme sprossen, schnell überweidet. »In drei Wochen sind 90 meiner Rinder verreckt. Einfach umgefallen, eines nach dem anderen«, berichtet Dambi. 37 Jahre ist der Mann alt, er redet, als sei seine Zukunft schon vorbei und die jahrhundertealte Hirtenkultur der Borena dem Untergang geweiht. Er habe, sagt er, das Vertrauen in diese Lebensweise verloren. »Wenn die letzten Rinder tot sind, werden die Menschen verhungern.« Mohammed Dambi hat noch ein paar Ersparnisse, um seine achtköpfige Familie durchzubringen. Aber er wird sich bald in die Schlange derer einreihen müssen, die für Lebensmittel anstehen. Just an diesem Tag ist in seinem Dorf die erste Hilfslieferung eingetroffen, Weizen und Hülsenfrüchte aus Spanien. Geduldig nehmen die Bewohner die Rationen in Empfang. Eine Frau ruft uns zu: »Ihr schaut nur auf Somalia, aber wir hungern auch!« Anders als sein Nachbarland ist Äthiopien kein fragiler oder gar gescheiterter, sondern ein allgegenwärtiger Staat. Das Regime des Präsidenten Meles Zenawi ist autoritär, wer opponiert, landet schnell im Gefängnis. Dass Äthiopien trotzdem auf massive Unterstützung des Westens, vor allem der USA, zählen kann, ist seiner Rolle als christlich-orthodoxes Bollwerk gegen den Islamismus am Horn von Afrika geschuldet. Kein anderes Land der Welt erhält mehr Nahrungsmittelhilfe. Zenawi nimmt sie dankend an – und reagiert allergisch auf jede Form von Kritik. Aber es wäre zu einfach, der Regierung vorzuwerfen, dass sie sich allein auf den Beistand der Außenwelt verlassen würde. Die staatlichen Institutionen funktionieren hier einigermaßen. Die Regierung will das Image des »ewigen Hungerlandes« abstreifen, das ihr seit Mitte der achtziger Jahre anhaftet. Damals hatte eine Hungersnot eine ganze Phalanx westlicher Popstars zu Benefizkonzerten veranlasst und das

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DIE ZEIT No 38

Rückzug im Bombenrauch Nach dem jüngsten Anschlag fürchten Kabuls Bewohner vor allem eines: Den Abzug der Nato

Foto (Ausschnitt): Ulrich Ladurner für DIE ZEIT

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Ein afghanischer Soldat bei der Ausübung seiner Pflicht

ie deutsche Botschaft in Kabul, ohnehin von hohen Barrikaden umgeben, lässt gerade eine eine Millionen Euro teure SpezialSchutzmauer gegen Selbstmordattentäter um das eigene Gebäude bauen. Fast hätte man das Ungetüm jetzt gebraucht. Am Dienstag dieser Woche drang ein Trupp schwer bewaffneter Taliban-Kämpfer am hellichten Tag in den innersten Sicherheitsbereich der afghanischen Hauptstadt vor. Sie führten einen Lastwagen voll Waffen mit sich. Mit Panzerfäusten und Raketenwerfern ausgestattet, versteckten sich die Kämpfer, vermutlich ein Dutzend an der Zahl, in einem 13-stöckigen Hotel-Rohbau und beschossen von dort US-Botschaft, Nato-Hauptquartier und das Viertel der deutschen Botschaft. Die deutschen Diplomaten hörten die Einschläge in ihrer Nähe, vernahmen, wie Glas klirrte und Metall schepperte. Sie hörten nahes Maschinengewehrfeuer. Der größte Teil des Botschaftspersonals verkroch sich in Schutzräumen im Bunker. Einige Diplomaten aber sahen zu, wie draußen der Bombenrauch aufstieg wie zu alten Kriegszeiten, Hubschrauber griffen die Attentäter aus der Luft an, einige stürzten sich mit ihren Sprengstoffwesten vom Dach des Rohbaus in den Tod. »Unsere Schutzmauer«, resümierte einer der Diplomaten, »ist keine Hysterie.« Die Einsicht, dass nur allergrößte und teuerste Anstrengungen Schutz vor den Anschlägen der Taliban bieten, steht in bizarrem Kontrast zur offiziellen Kommentierung ebendieser Angriffe. Die Kämpfe in Kabul dauerten noch an, da ließ Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen aus Brüssel vernehmen, die Allianz halte am Zeitplan für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Armee und Polizei fest. Derweil beruhigte ein US-General die Zuschauer von CNN, dass diesmal nur wenige Tote zu beklagen seien. Ins gleiche Horn stieß man in deutschen Botschaftskreisen: Der Angriff sei gescheitert, es habe nur wenige Tote gegeben, keine Blutbäder wie früher im Irak. Das ist die offizielle Linie. Denn alle – Nato, Amerikaner, Deutsche – wollen bis spätestens 2014 aus Afghanistan raus. Also werden Attentate wie das vom vergangenen Dienstag nach herrschender Lesart als Aufbäumen eines geschwächten Gegners dargestellt,

VON GEORG BLUME

der militärisch sonst nicht mehr viel auf die Bei- müssen und können mit den heute noch kämpfenden 20 000 bewaffneten Taliban fertig werden. ne bekomme. Kabuls Einwohner sehen das anders. Der An- Dieses Szenario beschwören jedenfalls die Generägriff vom Dienstag weckt bei ihnen Erinnerungen le und Botschafter in den verbarrikadierten Ausan die neunziger Jahre, als die Hauptstadt in ei- ländervierteln von Kabul. Auf dem Papier sieht nem jahrelangen Bürgerkrieg zerschossen und zer- das gut aus. Aber die Realität, ahnt man, ist eine bombt wurde. Seit dem Einmarsch der Nato vor andere. Viele afghanische Soldaten und Polizisten gut zehn Jahren genossen die Kabulis eine Phase müssen in der Nato-Ausbildung erst Lesen und des Friedens und der Ruhe, der Krieg gegen die Schreiben lernen. Ihre Loyalität gegenüber dem Taliban fand anderswo im Land statt. Doch am Staat ist oft fraglich, die Regierung ist anerkannDienstag waren über die Hälfte aller Straßen ge- termaßen korrupt, die Taliban gelten als ordentsperrt. Wer im Zentrum arbeitete, kam abends lich, und mit kühnen Attacken wirken sie nicht wie ein Feind auf dem Rückzug. Und jeder nicht nach Hause. In der sonst so lebendigen weiß auch, dass es Afghanistans SicherBasarstadt herrschte Totenstille. Zwar 500 km heitskräfte nach dem Abzug der inhatten die Taliban auch in Kabul ternationalen Truppen nicht nur zuletzt häufiger verheerende Anmit den Taliban zu tun haben schläge verübt – unter anderem CHINA Kabul werden. Auch andere Milizen auf das Hotel Intercontinental rüsten auf. Kabul wirkt dieser und das britische KulturzenAFGHANISTAN Tage manchmal wie eine Stadt, trum. Doch noch nie war es IRAN die auf einen verheerenden ihnen gelungen, die ganze, PAKISTAN Sturm wartet. riesige Stadt lahmzulegen. »Jeder neue Anschlag ist auch »Wie konnten GuerillaINDIEN ein Rückschlag auf die WirtKämpfer mit so vielen Waffen in schaft«, sagt Hamidullah Zazai, die Mitte unserer Stadt gelangen?«, I nd i sc h er Ozean Leiter eines NGO-Zentrums, der seifragt sich der Archäologe Mir Ahmad nen Mitarbeitern den gesamten Dienstag Joyenda, stellvertretender Leiter des historischen Forschungszentrums AREU (Afghanistan Re- Ausgangssperre erteilt hatte. Leute würden nicht search and Evaluation Unit) in Kabul. Joyenda ist mehr am Arbeitsplatz erscheinen, Geschäfte ihren alteingesessener Bewohner, er erlebte einst die letzte Ort wechseln, Immobilien an Wert verlieren, Inveszivile Blütezeit der Stadt Anfang der siebziger Jahre. titionen würden zurückgezogen. Kabuls Wirtschaft Joyenda erkennt in dem Hotel-Rohbau, von dem hängt von der Präsenz der internationalen Militärs aus die Taliban kämpften, ein weiteres Symbol des ab, ihr Einbruch nach dem Abzug ist absehbar. Das Büro des alten Mir Ahmad Joyenda liegt in Missstands: Der Bau sei ein Spekulationsobjekt von Drogendealern und anderen Kriegsgewinnlern – ge- einem grünen Hinterhof an einer alten Basarstraße nau diejenigen, die mit ihrer Misswirtschaft Kabul Kabuls, die heute von Immobilienspekulanten für reif für die nächste Übernahme durch die Taliban moderne Einkaufspaläste niedergerissen wird. Joynach 2014 machten. Für den Intellektuellen Joyenda enda schimpft auf die Spekulanten, die seine alte ist der jüngste Taliban-Angriff ein weiterer Beweis Stadt zerstören, oft genauso hart wie auf die Talifür die Unfähigkeit der afghanischen Soldaten und ban. Deshalb fiel ihm an diesem Tag auch sofort Polizisten, die Stadt zu schützen. Die sind seit Juli der Hotel-Rohbau auf, in dem Kämpfer sich veroffiziell für Kabuls Sicherheit verantwortlich. »Dies steckten. Nur ein Nato-Hubschrauber war am ist ein Tag, der uns Angst vor der Zukunft macht. Ende in der Lage, die Taliban dort im DachgeDie Ausländer sollten sich ihren Abzug noch einmal schoss zu beschießen. Nichts geht in Kabul ohne überlegen«, sagt Joyenda. Aber gerade das wollen die Ausländer, glaubt Joyenda – außer Bombenausländische Militärs und Diplomaten nicht hören. anschläge und Korruption. 340 000 ausgebildete afghanische Soldaten und Polizisten will man 2014 hinterlassen. Sie A www.zeit.de/audio

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Elitäre Gedichte haben Angst

Aufruf an die Journalisten, mit Rechtschreibfehlern der Toten zu gedenken

Hab ich Angst vor den Arbeitern? Ja.

Ich saß am Kanal, am Kinderkanal,

Hab ich Angst, dass sie aufhören zu

es war die Zeit der ersten Zahnfäule der Menschheit

arbeiten? Vielleicht. Hab ich Angst, dass

und Gedanken kamen riesig, wie aus Frühling selbst, zu mir,

sie mich verachten? Ja. Hab ich Angst

ich erwog ihre Pläne und muthwillig zwitschte der Bird...

sind? Nein, weil sie schlechte Dinge ausführen. Und keine Phantasie haben. Hab ich Angst vor den Kritikern? Nein. Vor Arbeitslosen? Nein. Sie haben genug Zeit. Vor dem Wahnsinn? Ja. Vor dem eigenen oder dem der Arbeitslosen? Vor dem Wahnsinn an sich. Nicht nur

Auf einmal die korrekte Schreibweise das kommt wie Flutwellen, das Niveau, das nicht hoch zu sein braucht, um alles zu planieren. Doof sein darf man ja, aber am richtigen Ort, (Bitte? Ja, oben.) und es gibt einen Kanon an Fehlern, die zu einer bestimmten Zeit gar nicht gehen. Das ist das um und auf des Journalismus: ride the common sense hard.

dem im Schatten, was ich oder die

Im Fluss, sonst so mild, sah ich meine Mutter schwimmen.

Arbeitslosen kriegen, sondern auch dem

Ihr rosa Halstuch hatte der Strom benutzt, um sie zu erwürgen.

der Sonne, woran die Getragenen

Waffen der Logik. Ist es denn Sünde, ein Moralist zu sein? Fragte

leiden. Auch im Helikopter zu sitzen

der Ex-Polizist, der, zum Flussgeist geworden, weiter wirkte und stöhnte.

verbiegt den Nacken. Und wenn man dann noch weiß, dass es niemandem

DU BIST EIN EINFACHER NENNER!

zugutekommt außer Angestellten, das

DU SAGST EINFACH WIES VIELLEICHT IST!

deprimiert einfach auf Dauer. Was ist

DU BIST EIN EINFACHER NENNER!

also die Schwierigkeit beim Schreiben?

DU SAGST EINFACH WIES VIELLEICHT IST!

Die Angst vor den Angestellten.

Foto: Schleyer/ullstein bild

vor den Angestellten? Ja. Weil sie schlau

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POESIE NRO: 28

POLITIK & LYRIK

Und jedes Wort beleidigt deine Mutter und du arbeitest für die und entschuldigst sie, und sie kocht weinend Grießbrei, und jeder hat seine Kultur. Ghadaffhi, Bethoven, Marx, Fukuyama, Hegel ist Mogeln allein im Pyjama.

ANN COTTEN, geboren 1982 in Iowa (USA), lebt seit 1987 in Wien, seit 2006 in Berlin. Studium der Germanistik, Abschluss mit einer Arbeit über die Liste in der Konkreten Poesie. Fremdwörterbuchsonette ist ihr erstes Buch. Für ihr Debüt wird Ann Cotten 2007 mit dem ReinhardPriessnitz-Preis ausgezeichnet, 2008 erhält sie das George-SaikoReisestipendium und den BrentanoFörderpreis für Literatur der Stadt Heidelberg. Seit März unterrichtet sie ein Semester lang Kulturwissenschaften in Nagoya, Japan

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POLITIK

DIE ZEIT No 38

Jean-Noël und Alexandre, genannt: Das »System Guérini«

Marseille hilippe Duret sagt etwas Merkwürdiges: »Ich habe noch nie eine Wahlurne geöffnet.« Merkwürdig deswegen, weil Duret jahrelang für die parteiinternen Wahlen der Sozialistischen Partei (PS) in Allauch zuständig war. Allauch ist eine Kleinstadt nahe dem südfranzösischen Marseille. Beide Kommunen gehören zum Departement Bouches-du-Rhône und damit zum Reich Jean-Noël Guérinis. Der 60-jährige Sozialist ist Präsident des Departements, eine Art gewählter Verwaltungschef. Er verfügt über ein Budget von 2,4 Milliarden Euro. Zugleich herrscht er über den Landesverband der Partei. Dort legt er persönlich die Ergebnisse der Abstimmungen fest. Weshalb es unnötig ist, die Urnen zu öffnen. In diesem Teil Frankreichs kommt es vor, dass die Leute leiser sprechen, wenn sie Guérinis Namen nennen. Wenn in der Kathedrale von Marseille die Weihnachtskrippe aufgebaut wird, steht neben dem Jesuskind eine Figur, die den »Herrn Präsidenten« darstellt. Guérini kann aber auch unchristlich werden. Parteiinterne Kritiker bellte er kürzlich an: »Ich bringe alles ans Tageslicht, die Telefongespräche, die SMS, alles. Die Treffen mit den Journalisten. Das wird Blut geben, bis der Hafen überläuft.« Es gibt, um genau zu sein, zwei Guérinis. Darauf wies der Präsident ausdrücklich hin, als gegen Alexandre Guérini, seinen sieben Jahre jüngeren Bruder, im vergangenen November wegen des Verdachts auf zahlreiche Wirtschaftsdelikte Untersuchungshaft verhängt wurde: »Er ist er, und ich bin ich.« Seit vergangener Woche indes ermittelt der Untersuchungsrichter auch gegen Jean-Noël, den Erstgeborenen. Wegen Korruption und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Ein Schock für die PS. Erst kam ihr mit Dominique Strauss-Kahn der aussichtsreichste Kandidat auf das Amt des Staatspräsidenten abhanden, und nun das. Wer sich im Oktober als Kandidat der Partei auch durchsetzen mag, ihr einstiger Chef François Hollande oder seine Nachfolgerin Martine Aubry, beiden wird jetzt angekreidet, sich jahrelang auf den stärksten Landesverband der Partei und damit auf das »System Guérini« gestützt zu haben. Da nützt auch das Aufrechnen mit Spendenskandalen der Regierungspartei UMP wenig; es macht den Sozialistensumpf nicht vergessen. Profitieren wird nur der rechtsradikale Front National. Die »Brüder Guérini« sind ein stehender Begriff in Marseille. In den dreißiger Jahren war ein korsisches Brüderpaar gleichen Namens im kriminellen Milieu aufgestiegen. Während der Besatzungszeit gingen Antoine und Mémé Guérini in die Résistance; nach dem Krieg dominierten sie das organisierte Verbrechen der Stadt. Damals war ein Widerständler und Sozialist Bürgermeister; dieser stützte sich auf die Partei, auf die Vergabe von Neubauwohnungen und Arbeitsplätzen, auf die fast ausnahmlos ihm gehörende Presse – und im Notfall auf die Kameraden aus der von den beiden älteren Guérinis beherrschten Unterwelt, die beispielsweise auf einer Delegiertenversammlung die Satzungsprobleme mit dem Revolver lösten. Das war im Jahre 1965, damals waren die zwei anderen Guérinis noch Kleinkinder. Auch sie, Jean-Noël und Alexandre, sind im korsischen Bergdörfchen Calenzana zur Welt gekommen. Wie Antoine und Mémé. In Calenzana gibt es viele Guérinis. Sinnlos zu fragen, wie eng sie miteinander verwandt sind. Jean-Noël und Alexandre wachsen in Marseille auf. Ein Onkel, auch er ein Guérini, wird ihr Gönner. Er nimmt den älteren der Brüder in die Partei auf, als dieser 16 Jahre zählt. Eine Karriere beginnt. Der junge Mann wird in der Verwaltung des sozialen Wohnungsbaus untergebracht. Jean-Noël ist anstellig, steigt in der Partei auf, übernimmt schließlich 1998 das Departement. Außerdem den PS-Landesverband. Er führt ihn mit eiserner Hand.

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Fotos [M.]: Franck Crusiaux/Gamma-Rapho/Getty (l.); Fedephoto/StudioX

Wer sich gegen den Präsidenten stellt, bekommt kein Geld mehr Alexandre, der jüngere Bruder, hat unterdessen Firmen aufgebaut. Bauhandwerk, Abfallbeseitigung, Gebäudesicherheit, Immobilien. Eine ganze Galaxis, sie besteht überwiegend aus dunkler Materie. Außerdem hält Alexandre eine Schlüsselstellung in der Partei: Mitgliederwesen und Kaderpolitik. An seiner Seite ein gewisser Théo Balalas, ehemaliges Mitglied der Terrororganisation OAS, die gegen die Dekolonisierung Algeriens kämpfte; zu Beginn der siebziger Jahre gründete Balalas gar den Marseiller Stadtverband des Front National – was ihn gleichwohl nicht daran hindert, den Aufstieg der Guérinis zu begleiten. Der Geschäftsmann und der Exterrorist machen ganze Arbeit. Binnen weniger Jahre verdoppelt sich die Mitgliederzahl im Landesverband auf 15 000 Sozialisten, und das wäre munter so weitergegangen, wenn der Schwindel mit den gefälschten Mitgliedskarten nicht im Jahr 2000 aufgeflogen wäre. Ein Drittel der 90 Ortsverbände im Guériniland wird von Beschäftigten des »Conseil Général« angeführt, das ist der Rat des Departements; anderen Sektionen stehen Verwandte von Angestellten des Conseil vor. »Die Guérinis haben unsere Partei erobert, um die staatliche Verwaltung in ihre Hand zu bekommen, und die Verwaltung, um die Partei zu beherrschen.

Aber das war bloß Mittel zum Zweck«, sagt Philippe Sanmarco; der 64-jährige Sozialist ist ein erbitterter Feind des Bruderpaars. »Alexandre hat nämlich nicht nur die Wahlkandidaten der PS ausgesucht, sondern auch die Verantwortlichen für die Vergabe öffentlicher Aufträge.« Aufträge an wen? An Freunde, die den Rat des Departements mit Büromaterial, Gebäudeservice und vielem anderen versorgten. Und den »Herrn Bruder«, wie Alexandre genannt wird, mit Prämien – so heißt es jedenfalls. Das ermittelt jetzt ein Richter. Er muss sich in einem Gewirr von Beteiligungen, Geschäftsbeziehungen und Kontoverbindungen zurechtfinden, korrespondiert mit Kollegen in Luxemburg, der Schweiz, Großbritannien, Panama, in den Vereinigten Staaten, auf den Philippinen und den britischen Jungferninseln. Er verhörte ei-

nen von Spanien ausgelieferten Geschäftsmann, der schon wegen kommunalwirtschaftlicher Betrügereien in Korsika verfolgt wird; dem Mann wird eine Verbindung zur Mafia nachgesagt. Nicht die einzige Connection Alexandres, die daran denken lässt. Gegen ihn ermittelt die Justiz auch wegen Geldwäsche. Und wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Manche Partner Alexandres könnten glatt als seriös gelten. Dem Abfall-, Wasser- und Transportgiganten Veolia verkaufte er für mehr als 40 Millionen Euro zwei seiner Firmen. Gute Geschäfte vergisst man nicht. Als Henri Proglio, damals Veolia-Chef, im Jahr 2009 Kummer mit einem renitenten Bürgermeister hat, ruft er unvorsichtigerweise Alexandre an – die Polizei zeichnet das Gespräch auf: »Scheiße, Alexandre, das geht mir auf den Sack« – »Ja, der Idiot.« Bis Alexandre verspricht,

Zwei linke Brüder dem Widerspenstigen ein Brieflein zu schreiben, woraufhin Proglio flötet: »Hören Sie, Alexandre, was auch geschieht, wenn ich Ihnen irgendwie irgendwo behilflich sein kann, ich bin an Ihrer Seite.« Alexandre musste trotzdem ins Gefängnis. Proglio ist heute Chef des Stromkonzerns EDF. Was das alles den großen Bruder angeht? Wie so oft, wenn es um kommunalen Filz geht, gilt die Regel: Folge dem Müll. Insgesamt vier Abfallbeseitungsanlagen der Region werden von Firmen aus Alexandres Reich betrieben, darunter eine in La Ciotat, einem Ort bei Marseille. Auf einem Grundstück, das dessen damaliger Eigentümer im Jahr 2004 loswerden wollte. Es grenzte an eine Müllanlage von Alexandre, und der wollte expandieren. Die Gemeinde machte indes von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch, um just das zu verhindern. Sie hatte aber nicht mit dem Conseil Gé-

néral gerechnet, dessen Vorkaufsrecht vorrangig war. Jean-Noël ließ das Grundstück also mit Steuergeldern kaufen – aus »Umweltschutzgründen«, wie er verlauten ließ. Sodann durfte Alexandre darauf Müllanlagen errichten. Philippe Sanmarco, der Widersacher der Guérinis in der Sozialistischen Partei, erinnert sich, dass Alexandre eine besondere Methode hatte, Druck auszuüben: »Wenn ein Bürgermeister nicht spurte, dann sagte er ihm: Ich kann ja eben meinen Bruder anrufen.« Eine wirksame Drohung, denn öffentliche Arbeiten in den Kommunen werden zu 80 Prozent vom Conseil Général subventioniert. Also Kindertagesstätten, Grünflächen und überhaupt das, wovon Bürgermeisterwahlen gemeinhin abhängig sind. Philippe Duret aus Allauch, der Wahlbeauftragte ohne Zugang zu den Wahlurnen, fügt eine Anek-

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Mail aus: ACHILTIBUIE

In Südfrankreich haben zwei Parteigrößen der Sozialisten sich Verwaltung und Wirtschaft unterworfen. Nun werden sie zur Last für Präsident Sarkozys künftige Herausforderer VON GERO VON RANDOW dote vom November 2008 an. Die Szene spielt in der Stadthalle von Reims, in der die Sozialisten einen Parteitag abhielten, aus dem schließlich Martiny Aubry als Parteivorsitzende hervorging. Königsmacher war damals Jean-Noël Guérini; als der mitbekam, dass Duret sich mit einem Opponenten Aubrys unterhielt, habe er sich vor Duret aufgebaut und ins Handy gerufen: »Wir streichen die Subventionen für Allauch.« Gesagt, getan. Das sind die schweren Kaliber. Mindestens so wirkungsvoll ist das System der persönlichen Gefälligkeiten. Baugenehmigungen, Wohnungen, Ferienjobs und Praktikantenstellen für den Nachwuchs bewährter Genossen. Nicht, dass derlei Praktiken ein Monopol der Sozialisten wären. Auch die Rechte um den Marseiller Bürgermeister Jean-Claude Gaudin ist dafür bekannt. Immerhin bereichere sich Gaudin

nicht, sagen die Leute in Marseille. Und Jean-Noël Guérini? »Der hat seinen Bruder.« Gaudin und Guérini, der UMP-Bürgermeister und der PS-Ratspräsident, sie würden einander bei Gelegenheit gerne vom Thron stürzen, aber in ihrem Gleichgewicht der Kräfte haben sie sich eingerichtet. Beide subventionieren ihre jeweilige Klientel. Die hat sich in Vereinen organisiert, oftmals reine Phantomverbände, zum Geldempfang gegründet und dazu, dass deren Vorsitzende im Stadtteil als Gönner auftreten können. Andere Assoziationen existieren tatsächlich, sie sind in den ärmsten Stadtvierteln oft die einzigen Arbeitgeber. Zum Beispiel ein Verein, der den Marseillern die Kultur der Roma nahebringen will. Das gilt als links. Also gehört der Vereinsvorsitzende zur Klientel der Guérinis. »Wir haben 25 Beschäftigte, das Geld kommt vom Con-

seil Général. Glauben Sie im Ernst, ich würde da die Klappe aufreißen? Ich will doch nicht 25 Entlassungsbriefe schreiben.« So viel zum Thema Zivilgesellschaft. Doch seit dem Februar 2009 ist Sand im Getriebe. Damals erhielt die Staatsanwaltschaft einen anonymen Brief, der das »System Guérini« denunzierte. Für Alexandre Guérini kommt nur einer als Autor infrage: ein Mann von der Regierungspartei UMP, der gern den Bürgermeisterjob seines Parteifreunds Gaudin hätte. Alexandre ist nicht der Typ, der finstere Gedanken für sich behält. Als er seinen mutmaßlichen Widersacher auf der Terrasse des Cercle des Nageurs erblickt, Treffpunkt lokaler VIPs und halbweltläufiger Geschäftsleute, beschuldigt er ihn unflätig, macht obszöne Gesten, schlägt mit den Fäusten in die Luft – und trollt sich, vielleicht weil ihm rechtzeitig wieder einge-

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Von: [email protected] Betreff: Nimby

fallen ist, dass der UMP-Mann den schwarzen KarateGurt trägt. Schon damals wurde registriert, wie gut die Brüder über den Stand der Ermittlungen Bescheid wussten. Von der Polizei aufgezeichnete SMS sollen sogar nahelegen, dass eine der Informationen von einem Vertrauten Sarkozys stammt, dem Chef des Inlandgeheimdienstes, der lange Zeit Polizeichef in Marseille war und ebenfalls auf Korsika bestens vernetzt ist. Die Tageszeitung Canard enchainé berichtet unterdessen von Bestechungsversuchen und Morddrohungen gegen Richter und Polizisten. Und gegen Jean-Noël Guérini wird nun auch wegen Beweisvernichtung ermittelt. Der Präsident betritt seit Eröffnung des Verfahrens seine Büros nicht mehr. Er lässt sich von Strohmännern vertreten und geht in Allauch golfen.

Es ist nicht einfach, das Akronym Nimby in all seiner Bedeutungstiefe nachzuempfinden. Briten brandmarken mit ihm Leute, die Einspruch gegen Bauvorhaben erheben, deren einziger Nachteil darin besteht, die Umgebung der Beschwerdeführer in Mitleidenschaft zu ziehen. In dem diesen Menschen in den Mund geschobenen Schlachtruf, kurz für not in my backyard, »nicht in meinem Hinterhof«, schwingt mit, dass es sich bei ihnen um sture Egoisten handele, um uneinsichtige Fortschrittsfeinde mit fehlendem Gesellschaftsbewusstsein. Kurzum, um Feinde der Allgemeinheit. Der amerikanische Immobilienhai Donald Trump machte sich den Begriff vor ein paar Jahren zu eigen, als Einheimische seine Pläne für das »großartigste Golfresort der Welt« zu Fall bringen wollten. Trump traf sich mit dem schottischen Ministerpräsidenten zum Dinner. Der verhalf seinen Plänen zum Durchbruch. Schließlich versprach der Milliardär 1400 Arbeitsplätze. Doch nun will der schwedische Energiekonzern Vattenfall vor dem Golfresort zwölf riesige Windturbinen ins Meer bauen. Ein 150-Millionen-Pfund-Projekt. Ein Segen für die einheimische Wirtschaft und für die hochfliegenden Pläne der Regierung für grüne Energiegewinnung. Trump ist entsetzt. Er erhebt Einspruch, will »die einzigartige Schönheit der schottischen Landschaft schützen«. Aber jeder lacht sich ins Fäustchen. Ein Nimby!

Mail aus: PEKING Von: angela.kö[email protected] Betreff: Erntezeit

Früh am Morgen stehen plötzlich mit langen Stangen bewaffnete Menschen auf der Mauer meines Hofhauses. Die Schlacht hat begonnen. »Dattelernte«, schreien sie und schlagen mit Wucht auf die voll beladenen Äste ein, die in meinen Hof ragen. Es regnet Datteln, es hagelt Datteln, nicht die braunen, die es in Europa zu kaufen gibt, sondern ihre roten chinesischen Verwandten, auch Jujube genannt: nicht ganz so süß, mit einer feinen säuerlichen Note. Stärken das Qi, nähren das Blut, beruhigen den Geist. Nachbarinnen kapern meinen Hof, eine lachende schwatzende kichernde Meute, es werden immer mehr. Nachbar Wei klettert aufs Dach, er rüttelt und schüttelt, Datteln rollen uns in die Kleider, schießen gegen unsere Köpfe, Blätter verkeilen sich in unseren Haaren, wir wirken wie eine Truppe Söldner im Busch. Wir sammeln Dattelberge, schieben uns Datteln in den Mund und sprechen über das Allzeit-Nummer-einsLieblingsthema aller Chinesen: Essen. Was gibt es Schöneres als noch beim Essen schon an das nächste Essen zu denken: das Mondfestmahl an diesem Abend? Eine Stunde später ist der Spuk vorbei. Die Nachbarinnen ziehen ab, Dattelsäcke geschultert, den Hof haben sie vorher blitzblank gefegt. Kurz darauf klingelt der kleine Sohn der Nachbarin, Quitten im Arm: die Ernte aus ihrem Hof. Wir leben in einem Dorf. Inmitten einer 23-Millionen-Stadt.

Mail aus: ISLE OF MAN Von: [email protected] Betreff: Lange Beine, kurze Schwänze

Dass man sich hier, mitten in der Irischen See, außerhalb der EU befindet, merkt man als Erstes an den Katzen. Sie haben keine Schwänze. Dafür sind ihre Hinterbeine erstaunlich lang. Die Bewohner der Isle of Man sind offenbar stolz auf ihre manx cats, denn sie verkaufen Ansichtskarten von ihnen. Die schlüssigste Erklärung für die gestutzte Feliden-Art lautet, dass Noah die Ladeklappe der Arche gerade in dem Moment zuschlug, als die manx cat an Bord schwuppste. Mi-Autsch. In Kontinentaleuropa vermutlich ebenso wenig durchsetzungsfähig ist eine Spezialität der Süßigkeitenläden: Ziegenmilcheis, direkt aus heimischen Eutern, erhältlich in den Geschmacksrichtungen Erdbeer und Vanille. Was gibt es noch auf diesem unterschätzten Eiland? Neben einem eigenen Parlament und niedrigen Steuern verfügt Man über eine grandiose Trambahn, die den Norden mit dem Süden verbindet. Die Belle Epoque, Europas Vorkriegszeit, ist in den Holzwaggons der Manx Electric Railway nie zu Ende gegangen, sie ruckeln und zuckeln noch wie vor 120 Jahren über Kliffe und Weiden. Wenn nur Manannan nicht wäre. Der keltische Gott hüllt seine Insel regelmäßig in dichten Regen und Nebel. Das tut er aber nur, glauben ihre Bewohner, um sie vor bösen Mächten zu bewahren.

10 15. September 2011

POLITIK

DIE ZEIT No 38

»Integration heißt dienen«

Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül über die Aufbauleistungen der Türken in Deutschland, Islamphobie und neue Konflikte mit Israel

Fotos: Agata Skowronek für DIE ZEIT/www.askowronek.com

ZAMAN: Seit 2005 verfolgt Deutschland eine aktive

In Ankara residiert Präsident Abdullah Gül, in Istanbul erholt er sich, wenn er kann. Die Aussicht sei hier schöner, sagt er beim Gespräch in der Präsidentenresidenz im grünen Stadtteil Tarabya und zeigt auf den Bosporus. Es sei hier einfach zu schön, vor allem, wenn der Vollmond scheine. Manchmal verlege er offizielle Gespräche oder Treffen mit Amtskollegen auch nach draußen, dann sitze man direkt am Wasser unter einem Sonnensegel. Heute ginge das leider nicht, entschuldigt Gül sich, da seine Frau dort bereits ein Treffen habe und natürlich den Vorzug bekomme. Wir nehmen also vor einem Springbrunnen im Salon Platz. Gül empfängt die ZEIT und die türkische Zeitung ZAMAN (deutsch: »Zeit«) im fünfzigsten Jahr der türkischen Migration nach Deutschland. Aus diesem Anlass wagen wir zum ersten Mal ein kleines Experiment: ein gemeinsames Interview der ZEIT und der ZAMAN.

DIE ZEIT: Herr Präsident, vor 50 Jahren begannen die Türken nach Deutschland auszuwandern. Sie selbst waren damals 11 Jahre alt. Dachten Sie als kleiner Junge: »Hoffentlich gehen wir auch nach Deutschland?« Abdullah Gül: Um ehrlich zu sein: nein. Auch niemand aus meiner Verwandtschaft ist als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen. Aber ich habe die Zeit hautnah miterlebt. Ich stamme aus Kayseri, von dort sind viele nach Deutschland ausgewandert. Wie viele es waren, hat man besonders in den Sommerferien gemerkt. Da kamen sie mit ihren schönen Autos. Volkswagen, Opel, Ford Taunus. Sie fielen auf, auch weil sie schicke Hüte und Kleidung trugen. Die Gastarbeiter waren das Stadtgespräch! Kayseri ist eine Handelsstadt, und immer, wenn die Arbeiter aus Deutschland kamen, freute man sich auch aufs Geschäft. Das war immer sehr aufregend.

Sieht sich als »emotionaler Präsident« vieler Türken in Deutschland: Gül in seiner Residenz in Istanbul

Vermittler Abdullah Gül ist seit 2007 Präsident der Türkei. Er wurde nach einer heftigen politischen Auseinandersetzung der AKP-Regierung mit dem türkischen Militär gewählt. Die Wahl des konservativen ehemaligen Premierministers und langjährigen Außenministers zum Präsidenten war ein wichtiger Sieg für die AKP. Gül erwies sich im Amt jedoch als weitaus weniger polarisierend, als der Widerstand des Militärs es andeutete. Der 60-jährige Politiker ist eine beliebte, ausgleichende Persönlichkeit, die weit über die Wählerschaft der AKP hinaus geschätzt wird. Gül stammt aus einer Handwerkerfamilie in Kayseri, er hat in Istanbul, London und Exeter Wirtschaft studiert und als Banker in Saudi-Arabien gearbeitet. In seiner Zeit als Außenminister und als Präsident verfolgte er wichtige Vermittlungsmissionen, unter anderem den historischen Besuch in Armenien 2008.

ZAMAN: Deutschland ist ja das Land der Dichter und Denker. Gibt es unter diesen einen, den Sie besonders mögen? Gül: Nicht nur einen. Deutschland hat viele Denker hervorgebracht. Kant, Hegel. Goethe verehren wir Türken ja sowieso wegen seines West-östlichen Divans. Glücklicherweise gibt es viele der deutschen Klassiker auf Türkisch. So konnten sie auch das türkische Denken beeinflussen. Diesen Einfluss gab es auch durch die Wissenschaft, vor allem durch deutsche Juden, die in den dreißiger und vierziger Jahren in die Türkei kamen. ZEIT: Haben die türkischen Gastarbeiter in Deutschland genug Anerkennung bekommen? Gül: Die Türken sind damals einer Einladung gefolgt. Deutschland brauchte Arbeitskräfte, die Türken machten sich auf den Weg. Natürlich wusste man hier auch damals schon, wie fleißig und diszipliniert die deutsche Gesellschaft war. Und bei den Türken ist es so: Wenn das Umfeld stimmt, können sie sehr hart arbeiten. Und das haben sie. Sie haben Deutschland dabei geholfen, wieder auf die Füße zu kommen. Die türkischen Gastarbeiter haben mit Schweiß auf der Stirn ihren Beitrag dazu geleistet, dass Deutschland eine der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt geworden ist. Und ich bin sicher, dies wurde auch genug gewürdigt. Besonders in der damaligen Zeit. Jetzt scheint dieser türkische Beitrag vergessen. Die Probleme sind in den Mittelpunkt gerückt. Die gibt es auch, klar – schließlich sind die Türken damals aus einer völlig anderen Kultur nach Deutschland gekommen. Viele kamen direkt aus dem anatolischen Dorf in Großstädte wie München oder Frankfurt, ohne vorher je in Istanbul, Ankara oder Izmir gewesen zu sein. Das war ein Kulturschock. Weder die Türkei noch Deutschland gaben diesen Menschen eine Orientierung.

Was bleibt nach dem Bruch mit Assad zwischen der Integrationspolitik. Ungefähr zur gleichen Zeit be- Türkei und Syrien? gann die Türkei, sich mehr um die »Auslandstürken« Gül: Wir sind Nachbarn, und wir haben die Bande zu kümmern. Gibt es einen Wettbewerb um die zwischen den Völkern enger geknüpft. Wir hatten Deutschtürken? zugleich enge Beziehungen zur Regierung von SyGül: Das glaube ich nicht. Viele unserer Landsleute rien. Wir drängten auf schnelle Reformen. Ich selbst leben im Ausland. Wir wollen uns auf ihre Bedürf- habe das bei Herrn Assad immer wieder zur Sprache nisse einfach professioneller einstellen. Deshalb ha- gebracht, schon vor Ausbruch des Arabischen Frühben wir dafür eine eigene Behörde gegründet, die im lings. Die Regierung aber tat nichts, und dann kam Arbeitsministerium angesiedelt ist. Die Türkei und es zur Eskalation. Autoritäre, geschlossene Regime Deutschland haben doch eigentlich ein gemeinsa- können in dieser Form nicht mehr weitermachen. mes Ziel: die Integration dieser Menschen. In den ZEIT: In der Türkei halten sich viele syrische Opersten Jahrzehnten ging es darum, die Wirtschaft in positionelle auf. Wechseln Sie jetzt die Verbündeten: Gang zu bringen, jeder war mit Arbeiten beschäf- von den arabischen Herrschern zu den arabischen tigt, man dachte nicht daran. Jetzt denkt man daran. Revolutionären? ZEIT: Wie wichtig ist die Sprache? Gül: Wir haben in der Türkei gewisse Standards des Gül: Alles steht und fällt mit der Sprache. Heute Rechts und der Demokratie erreicht. Das wünschen sollte es so sein, dass ein deutscher Staatsbürger tür- wir uns auch für die Völker in der Region. Wir symkischer Abstammung akzentfreies Deutsch spricht. pathisieren mit ihnen, wenn sie ihre Rechte einforUnd wie lernt man das am besten? Im Kindergarten. dern. Genauso wie in London, Berlin und Paris die Und wenn Türken in Deutschland ihre Kinder Menschen friedlich zusammenkommen, so können nicht in den Kindergarten schicken, dann muss man sie es auch in der Türkei tun. Das ist ihr volles Recht, herausfinden, warum das so ist. Das bedeutet doch wir können da nicht einschreiten. Integration: die Regeln des Landes befolgen, in dem ZEIT: Was hat die Türkei der arabischen Welt anman lebt. Diesem Land dienen. Das wiederum zubieten? braucht Motivation. Was mich traurig macht, ist, Gül: Es gibt historische Gemeinsamkeiten, wir hadass die Motivation manchmal ausbleibt. ben dieselbe Religion. Aber die Türkei wird auch als ZEIT: Woran liegt das? Quelle der Inspiration gesehen. Die Araber sehen, Gül: Das kann man zum Beispiel an der deutschen dass in einem Land mit muslimischer Bevölkerung Visapolitik sehen. Ich erhalte EDemokratie herrscht, ein MehrMails von namhaften Geschäftsleuparteiensystem, die Gleichstellung ten und Wissenschaftlern, die mir von Mann und Frau. Warum, fravon der restriktiven Vergabepraxis gen sie, sollte das nicht auch bei deutscher Behörden berichten. Die ihnen so sein? Staatsbürger anderer Länder, die ZEIT: Die Lage in Nahost ist hochnicht, wie wir, EU-Beitrittskandidaexplosiv. Warum verschärft die Türten sind, kennen solche Hürden aus kei ausgerechnet jetzt ihren Streit Deutschland nicht. An so einem Vimit Israel? sum kann ein individuelles Schicksal Gül mit den ZEITGül: Das liegt eher an Israel als an hängen. Man tut so, als gäbe es die Redakteuren Özlem Topçu der Türkei. Im vergangenen Jahr ist engen Bande zwischen unseren bei- (l.) und Michael Thumann ein türkisches Hilfsschiff mit Menden Ländern nicht. Das demotiviert schen aus 37 Ländern in internatioauch die Türken, die in Deutschland leben. nalen Gewässern angegriffen worden. Man hat im ZEIT: Wer ist der Präsident der Türken in Deutsch- Nachhinein keinerlei Waffen gefunden, die für einen Gegenangriff geeignet gewesen wären. Nach land – Herr Wulff oder Sie? Gül: Natürlich ist Herr Wulff der Präsident der tür- diesem Angriff hätte man eine Entschuldigung von kischstämmigen deutschen Staatsbürger. Aber es Israel erwarten können. Sie haben sich nicht entgibt ja auch Deutschtürken, die die Türkei immer schuldigt und so aufgeführt, als wären sie im Recht. noch als ihr Mutterland betrachten, deren Familien Dabei hatten sie internationales Recht verletzt. hier leben. Viele von denen sehen mich vielleicht als ZEIT: Wäre die Krise gelöst, wenn Israel sich entihren emotionalen Präsidenten. Sie sind deutsche schuldigen würde? Staatsbürger. Doch kann man nicht einfach fordern, Gül: Ja, das ist unsere unmissverständliche Forderung. dass sie die enge Verbindung zu ihrem Herkunfts- ZEIT: Israels Embargo gegen den Gaza-Streifen land schwächen. wäre dann also für Sie kein Thema mehr? ZAMAN: In der Türkei leben Zehntausende Deut- Gül: Der wichtigste Punkt für uns ist, dass bei sche – sehen Sie sich auch als deren Präsident? der Aktion gegen das Hilfsschiff Menschen getötet Gül: Ohne jeden Zweifel! Ich habe deutsche Lands- wurden. Doch auch das Embargo ist nicht vom leute, genauso wie ich christliche, jüdische oder ar- internationalen Recht gedeckt. Deshalb haben menische Landsleute habe. Ich bin ihr Präsident, ich die EU, Russland und die amerikanische Refeiere mit ihnen, wenn sie ihre Feiertage haben, ich gierung in ähnlicher Weise gefordert, dass es aufbesuche ihre Gotteshäuser. Natürlich sind sie in der gehoben wird. Minderheit, deshalb vergisst man sie manchmal. ZEIT: Könnte Deutschland zwischen Israel und der Aber ich vergesse sie nicht. Türkei vermitteln? ZAMAN: In Deutschland und Europa hoffen viele Gül: Das kann Berlin wohl nicht leisten. auf einen »Euro-Islam«, in Berlin tagte eine Islam- ZEIT: Schade. Spielen Deutsche für die Türken in konferenz. Was halten Sie davon? dieser Region denn keine Rolle? Gül: Der Islam ist ja auch eine Religion Deutschlands, Gül: Deutsche und Türken teilen viel und haben auch von deutschen Staatsbürgern. Deshalb muss sich nicht erst mit dem Anwerbeabkommen vor 50 man sich um die Anhänger dieser Religion kümmern Jahren kennengelernt. Wir waren im Ersten Weltund dafür sorgen, dass sie sie ausüben können. krieg Waffenbrüder. Meine Residenz liegt hier an einem Ort, wo im Ersten Weltkrieg historische TrefZAMAN: Haben Sie von Thilo Sarrazin gehört? fen zwischen Deutschen und Türken stattfanden. Gül: Von wem? ZAMAN: Thilo Sarrazin, dem ehemaligen Bundes- (Zeigt auf das Panoramafenster.) Dort unten auf dem Bosporus sind die deutschen Kriegsschiffe unter bankvorstand. Gül: Ach ja, natürlich. Ich habe die Debatte verfolgt türkischer Flagge gefahren, die im Schwarzen Meer und kenne seine Thesen. Nun, jede Gesellschaft die Russen beschossen haben. Es gab deutsche Gebringt solche extremen, marginalen Ansichten hervor. neräle in den türkischen Streitkräften, deutsche Ärzte und Krankenschwestern. Es gibt auch Gräber Man sollte sich nicht zu lange mit ihnen aufhalten. ZAMAN: Sehen Sie in Europa die Gefahr einer von deutschen Krankenschwestern, die türkische Soldaten gepflegt haben. Unsere engen Beziehungen Islamfeindlichkeit? Gül: Ja, die sehe ich. Die Frage ist doch: Was ist ein reichen weit vor 1960 zurück. moderner Staat? Für mich ist das ein multikultureller ZAMAN: Das ist alles lange her. Was können die Staat. Es war Europa, das diesen modernen Staat mit Regierungen heute für die Vertiefung der Beseiner Demokratie und seiner Rechtsstaatlichkeit der ziehungen tun? Welt geschenkt hat. Die Theorien und ihre Umset- Gül: Ich wünsche mir zwischen Deutschland und zungen sind ureuropäisch. Dass gerade dieses Europa der Türkei ein ähnliches Verhältnis wie zwischen eine Islamfeindlichkeit hervorbringt, empfinde ich Deutschland und Frankreich. Wir sollten Regieals totalen Widerspruch. Es muss darum gehen, je- rungskonsultationen mit Deutschland haben. Das den zur Integration anzuspornen und jedermanns ist uns wichtig. Als Bundespräsident Wulff verganKultur zu tolerieren. Man kann die muslimische genes Jahr hier war, war er erstaunt, wie viele MitEinwanderung nach Europa ja nicht mehr rück- arbeiter meines Kabinetts Deutsch sprechen. Meine gängig machen. Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Chefberaterin war auf einer österreichischen Schule, Fremdenfeindlichkeit – das sind Krankheiten, die, der künftige Botschafter in Berlin war auf einer einmal ausgebrochen, schwer zu therapieren sind. deutschen Schule. Mir ist wichtig, dass der türkische ZEIT: Welche Rolle spielt der Islam im Arabischen Botschafter in Deutschland Deutsch spricht wie ein Deutscher. Das war bisher ein Defizit. Wir sind Frühling? Gül: Keine wesentliche. Den wichtigsten Part hatte also bestens vorbereitet auf die deutsch-türkische die arabische Jugend. Die Regime haben ihr Anse- Freundschaft. hen verloren. Wir leben in einer Welt, in der alle ZAMAN: Was können Türken und Deutsche dafür Kommunikationswege offenstehen. Alle verfolgen tun, dass sich das Verhältnis zwischen Europa und alles und vergleichen das mit ihrer eigenen Situation. der islamischen Welt entspannt? Die jungen Araber sehen sich in einem Leben ohne Gül: Politiker oder Unternehmer türkischer HerWürde. Sie sehen, was richtig und falsch ist. Der kunft in Deutschland, Künstler und Sportler können Unterbau der Revolution ist die Kommunikations- gute Integrationsbeispiele geben. In der deutschen technologie. Der Westen hat mit dieser Technologie Fußballnationalmannschaft gibt es junge talentierte den stärksten Beitrag für diese Revolution geleistet. Spieler türkischer Herkunft. Alle sind stolz auf ihren Erfolg. In den USA gibt es seit Langem eine EinwanZAMAN: Fördert Technologie Demokratie? derung von klugen Köpfen. Große Länder haben Gül: Ja, so ist es in Ägypten und Syrien. ZEIT: Was empfanden Sie, als Hosni Mubarak im stets ihre Türen geöffnet und Menschen aufgenommen. Man darf keine Angst davor haben, und auch Februar stürzte? Gül: Als die Menschen aufbegehrten, ist das Regime die Deutschen sollten sich davor nicht fürchten. wie eine Pappschachtel zusammengeklappt. Für mich kam das viel zu spät. Die Regime mussten drin- Die Fragen stellten SÜLEYMAN BAG, gend ihre Länder reformieren. Und da sie das nicht MAHMUT CEBI (ZAMAN), MICHAEL THUMANN machten, kam der Druck von unten. Das Volk kann und ÖZLEM TOPÇU (DIE ZEIT) nicht länger mit solchen alten Regimen leben. ZEIT: Aber mit dem syrischen Herrscher Baschar alDie neue Rolle der Türkei: www.zeit.de/tuerkei Assad unterhielten Sie lange Zeit enge Beziehungen.

12 15. September 2011

POLITIK

DIE ZEIT No 38

Das einsame Land Israel gerät immer tiefer in die diplomatische Isolation. Jetzt wollen die Palästinenser vor den Vereinten Nationen ihre Anerkennung als Staat erzwingen VON JÖRG LAU

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ann man ein Veto gegen das Ziel schers Hosni Mubarak im Februar aber ist Außenseiner eigenen Politik einlegen? politik plötzlich Teil der Innenpolitik – und umgeWenn nicht noch ein Wunder ge- kehrt. Die ägyptische Regierung kann und will die schieht, wird die Welt nächste Volksmeinung nicht mehr ignorieren. Das VerhältWoche erleben, dass die Vereinig- nis zu Israel ist die Sache aller Ägypter geworden. ten Staaten und Deutschland – Niemand weiß das besser als der türkische Ministerdie entschiedensten Förderer einer präsident Tayyip Erdoğan, der Anfang der Woche in Zweistaatenlösung – Palästina die Anerkennung ver- Kairo wie ein populärer arabischer Führer empfangen weigern, und zwar auf der Hauptbühne der interna- wurde. Erdoğan versteht sich prächtig auf das Wechseltionalen Politik. Die Palästinenser wollen beim Si- spiel von Innen- und Außenpolitik. Daheim hält er mit cherheitsrat die Vollmitgliedschaft in den UN be- Attacken gegen Israels Gazablockade und Siedlungsantragen. Amerika hat bereits die Blockade angekün- politik die türkische Opposition in Schach. In der aradigt, und auch die Deutschen sind festgelegt, seit die bischen Welt wirbt er um die Herzen der Empörten Kanzlerin im April »einseitige Schritte« in der Nah- und mehrt das Ansehen der Türkei. ostfrage zurückgewiesen hat. Man kann den PalästiFür Israel bedeutet die Verschränkung von Innensern zwar die vollgültige Aufnahme verweigern, nen- und Außenpolitik in Nahost, dass der alte Deal nicht aber die Anerkennung zweiter Klasse, die sie nicht mehr gilt: hier der Kleinkrieg mit den Palästidann anstreben würden. Sie haben eine Zweidrittel- nensern, dort entspannte Beziehungen zu großen mehrheit der Generalversammlung sicher, die nötig muslimischen Staaten wie Ägypten und der Türkei. ist, um analog zum Heiligen Stuhl (»Vatikanlösung«) Damit bekommt die Initiative des Präsidenten Abals »Nichtmitgliedsstaat« aufgenommen zu werden. bas – die man sträflicherweise als einen Akt der SymAuf die letzte Silbe kommt es ihnen dabei an: bolpolitik unterschätzt hat – eine ungeheure Staat. Wucht. Der saudische Ex-Geheimdienst150 Staaten für Palästina und chef Turki al-Faisal hat den Amerikanern TÜRKEI wir dagegen? Es droht der Offensoeben gedroht, wenn sie die Palästibarungseid westlicher Nahostnenser im Stich ließen, würde sich politik: Hat man nicht Freidas Königreich von der Allianz mit SYRIEN heitswillen und SelbstbestimAmerika abwenden. Selbst die LIBANON mungsstreben in Tunesien, absolutistisch regierenden Saudis ISRAEL IRAK Ägypten, Libyen und Syrien können es sich nach den arabiPalästinens. Gebiete gepriesen? Und nun ein schen Revolten nicht mehr leisschnödes »Njet« gegen einen ten, das Volk zu ignorieren. JORDANIEN Staat, dessen Aufbau wir uns Während ihn die arabischen SAUDIÄGYPTEN paradoxerweise eine Milliarde Partner zum Handeln drängen, ist ARABIEN Euro pro Jahr kosten lassen? Obama allerdings schon im WahlZEIT-Grafik Nahostpolitik nach dem Arabikampfmodus und damit ohne Spiel300 km schen Frühling steht vor der nahezu raum. Die Republikaner warten nur auf unmöglichen Aufgabe, die Glaubwürdigkeit die Gelegenheit, ihm Verrat an Israel vorwerfen des Westens in der arabischen Welt wiederherzu- zu können. Die israelische Regierung hat seinen Verstellen – und zugleich Israels Isolation zu verhindern. such, im vergangenen Jahr Verhandlungen zu initiieren, Sonst droht die Freiheitsbewegung der Araber von durch Sturheit in der Siedlungsfrage torpediert – und der giftigen Freund-Feind-Logik des Nahostkon- den Präsidenten damit vor aller Welt gedemütigt. flikts aufgezehrt zu werden, von der sie sich zunächst Trotzdem muss er nun Netanjahu bei der Abwehr der erfolgreich frei gemacht hatte. palästinensischen Initiative unterstützen. Der israelische Verteidigungsminister Barak sieht Dadurch rückt, wie schon bei der Libyen-Entschon einen »Tsunami« auf sein Land zukommen, scheidung, auch jetzt wieder Europa ins Rampenwenn es die Selbstisolation weiter vorantreibt. Der licht. Nur zu gern würden die Außenpolitiker der Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo, antiis- EU den Nachweis erbringen, dass sie in der Lage raelische Demos in Jordanien und der Dauerstreit sind, auch bei heiklen Fragen eine gemeinsame Pomit der Türkei führen vor Augen, dass Israel in die- sition zu beziehen. Anders als zuletzt in Libyen, an-

sen Wochen zu zerbrechen droht, was es sich über Jahrzehnte mühsam aufgebaut hat: diplomatische Beziehungen und verhaltene Freundschaft mit wichtigen Staaten des Nahen Ostens. Das ist auch eine Folge der Demokratisierung der Region. Außenpolitik kann im innenpolitischen Machtkampf ein Trumpf werden. Über Jahrzehnte hatte Israel in Ägypten ziemlich genau zwei Freunde – den Präsidenten und den Geheimdienstchef. Das reichte in autoritären Verhältnissen. Seit dem Sturz des Herr-

ders als bei den ersten Reaktionen auf die Umbrüche in Tunesien und Ägypten Anfang dieses Jahres. Es gibt aber wenig Hoffnung, den Showdown noch zu verhindern. Außenminister Westerwelle und die EU-Außenbeauftragte Ashton haben in Kairo, Amman und Jerusalem vergebens versucht, die Palästinenser zum Verzicht auf die Konfrontation im Sicherheitsrat zu drängen. In gewisser Weise wird die Sache für Europa sogar noch heikler, wenn Abbas doch noch einlenkt und nur eine »Mitgliedschaft light« anstrebt.

Dann kann nämlich nicht der große Bruder Amerika mit seinem Veto die Sache regeln, sondern jeder Staat muss sich einzeln bekennen. Israel lehnt jede Form der Aufwertung Palästinas in New York ab. Es weiß dabei Amerikaner, Deutsche, Niederländer und Tschechen an seiner Seite. Aber Spanien, Frankreich, Polen, Portugal, Belgien, Schweden, Finnland und Luxemburg wären sogar bereit für eine vollständige Anerkennung Palästinas. Die Briten halten sich alles offen. Damit droht, nur sechs Monate nach der LibyenEntscheidung, die nächste außenpolitische Spaltung Europas. Nur die Deutschen könnten theoretisch die Europäer hinter einem Kompromissangebot vereinen – eine Art »Vatikanlösung« mit Abstrichen, die israelische Bedenken aufnimmt. Allerdings ist Deutschland erstens durch Merkels frühe Festlegung bei Israel im Wort. Und zweitens kann es sich nicht schon wieder gegen die Amerikaner positionieren. Der deutsche Sonderweg hat sich im libyschen Fall als Holzweg erwiesen. Jetzt also bloß nicht noch ein Signal, dass die Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik nicht mehr gilt! Dabei gilt die Verstocktheit der israelischen Regierung amerikanischen wie deutschen Diplomaten als gefährlich und selbstzerstörerisch. Man hält dennoch grummelnd zu Israel, nicht wegen, sondern trotz Netanjahu und Außenminister Lieberman – um den Schaden nicht größer zu machen. Doch die Gewissheit, dass es so nicht weitergehen kann, wächst von Tag zu Tag. An der Schwäche der Argumente gegen die palästinensische Initiative ist die heimliche Ambivalenz der Freunde Israels zu erkennen. Erstens die angebliche »Einseitigkeit«: Gibt es etwas Multilateraleres als eine Abstimmung der UN-Generalversammlung? Und sind umgekehrt israelische Siedlungen etwa keine »einseitigen Maßnahmen«? Zweitens der Einwand, der Gang zu den UN könne »kein Ersatz« für direkte Verhandlungen sein. Er wäre überzeugend, wenn es noch einen Friedensprozess gäbe. Gerade weil der klinisch tot ist und alle Wiederbelebungsversuche scheitern, geht Abbas diesen Weg. Drittens die drohende »Delegitimierung Israels«, wie die Regierung in Jerusalem seit Monaten warnt: Ein Palästina in den Grenzen von 1967 impliziert im Gegenteil logischerweise den Staat Israel als Nachbarn. Ein einziges Argument gegen die New Yorker Mutprobe der Palästinenser sticht wirklich: Den Tag danach kann niemand kontrollieren. Was, wenn die Menschen merken, dass die Anerkennung nichts in ihrem Leben verbessert? Was, wenn sie dann Abbas mitsamt der Autonomiebehörde hinwegfegen? Was, wenn sich ihre Lage sogar verschlechtert, weil der amerikanische Kongress Abbas die Mittel kürzt? Und was, wenn Israel sich weiter einigelt und Strafmaßnahmen ergreift? Und dann das Volk zu den Checkpoints marschiert? Die Gefahr einer Intifada Nummer drei ist ernst zu nehmen. Allerdings droht sie auch jetzt schon, unabhängig von der Abstimmung in den UN, wie wir seit dem letzten Wochenende in Kairo wissen. Sie wäre wohl heute nicht auf das Westjordanland und Gaza beschränkt. Nur Verhandlungen können sie verhindern. Die Palästinenser haben den überkommenen Rahmen der Nahostverhandlungen seit Oslo und Madrid hinter sich gelassen, in denen ein paternalistisches »Quartett« aus USA, EU, UN und Russland zwischen einer Besatzungsmacht und einer Autonomiebehörde zu vermitteln suchte – zuletzt ohne Erfolg. Wer den Glauben an eine Zweistaatenlösung noch nicht aufgegeben hat, muss sich darauf einstellen. Künftig wird ein (Fast-schon-)Staat mit einem Staat verhandeln. Niemand kann den Palästinensern – nach so vielen Niederlagen – einen moralischen Sieg vor den UN verwehren. Wie man es anstellt, dass er nicht in Gewalt und Chaos mündet, ist die große Frage. Es gibt Siege, die von Niederlagen kaum zu unterscheiden sind, und dies könnte ein solcher werden. Mitarbeit: MARTIN KLINGST, MATTHIAS KRUPA, MICHAEL THUMANN

Grenzübertritt: Palästinensische Demonstranten dringen von Syrien aus nach Israel ein

Protestierende Ägypter verbrennen in Kairo eine israelische Flagge

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Ausbruch aus dem Labyrinth A

us Sicht der Palästinenser ist der Gang zu den Vereinten Nationen unumgänglich geworden, mit dem sie in diesem Monat die Anerkennung eines palästinensischen Staates durch die Völkergemeinschaft anstreben. Es schien nicht mehr möglich, noch länger im Labyrinth der etwa zwei Jahrzehnte dauernden Verhandlungen über eine Staatsgründung umherzuirren. Während die Politiker beider Seiten hinter verschlossenen Türen Landkarte um Landkarte zeichneten, wuchsen Dutzende neuer Siedlungen wie Pilze auf palästinensischem Territorium. Die Trennmauer, die bereits zehn Prozent des Westjordanlandes nach Israel einverleibt hat, schlängelt sich immer weiter zwischen palästinensischen Dörfern und Städten voran. Und unter der Bürde des Siedlungsbaus und einer Serie von Annektierungsgesetzen hat sich die Isolation Ostjerusalems von seinem arabischen Umfeld noch mehr verschärft. So betrachtet die palästinensische Autonomiebehörde den Entschluss, vor die Vereinten Nationen zu treten, als notwendigen Schritt, um ihre lädierte Glaubwürdigkeit gegenüber der Öffentlichkeit wiederherzustellen. In dem Brief, den die Palästinenser am Vorabend der Anrufung der Vereinten Nationen an die Israelis richteten, versichern sie, dass dieser Schritt in keiner Weise das Existenzrecht des

Staates Israel in Abrede stellt. Darin wird auch klargestellt, dass einem unter Besatzung lebenden Volk, das lediglich sein Recht ausüben möchte, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, nicht fehlende Rücksichtnahme gegenüber den Empfindlichkeiten der Besatzungsmacht zum Vorwurf gemacht werden kann. Der Konflikt besteht hier mit jenen, für die die Rechte der Palästinenser unvereinbar mit dem Existenzrecht des Staates Israel sind, oder genauer gesagt: unvereinbar mit dem Existenzrecht der Besatzung. Die gleichen Gedanken finden sich übrigens auch in einer Erklärung, die Anfang letzter Woche von Hunderten israelischen Intellektuellen unterzeichnet wurde. Deren Initiatoren sehen in der Anerkennung eines palästinensischen Staates eine Stärkung der Legitimität Israels, die bruchstückhaft bliebe, falls die zweite Hälfte der Zweistaatenlösung, auf die man sich international zur Beilegung des Nahostkonflikts verständigt hat, nicht zustande käme. Die Forderung nach einem Ende der Besatzung findet selbst in einflussreichen Kreisen der israelischen Politik viel Gehör und kam ebenfalls lautstark bei den heftigen Protesten zum Ausdruck, die Israel seit einigen Wochen erlebt. Hier regt sich eine gesellschaftliche Kraft, die zur Erkenntnis gelangt ist, dass die Besatzungspolitik den Staat korrumpiert und seine Werte

POLITIK

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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»Alles wird in Frage gestellt« Der israelische Diplomat Oded Eran über die Gefahren, die seinem Land durch die Umbrüche in Arabien drohen

Solidarität: Türken mit einer gigantischen Palästinenserfahne in Istanbul

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Israelische Soldaten feuern mit Gummigeschossen ins Westjordanland

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Warum wir Palästinenser die Geduld mit Israel und mit der Welt verlieren VON GHASSAN ZAQTAN

wie seine Moral zerrüttet hat und dass die Siedlungspolitik den Frieden vergiftet hat. Diese Kraft ist sich bewusst geworden, dass der Siedlungsbau, der vor vierzig Jahren mit sicherheitspolitischen Argumenten initiiert wurde, sich in den folgenden Jahrzehnten in ein Gebilde verwandelt hat, das seine eigene Agenda verfolgt und auf Kosten des israelischen Staates lebt – und ihn zugleich dirigiert. Dass die Palästinenser jetzt ihren neuen Anerkennungsversuch starten, hängt entscheidend mit dem Arabischen Frühling zusammen. Im Nahen Osten ist ein neuer Diskurs entstanden, und dieser Diskurs wird in den kommenden Jahrzehnten die Dynamik in der Region bestimmen. Dabei geht es neben einer langen Liste von Punkten auch darum, das Thema Palästina wieder aus der Versenkung zu holen, aus den verstaubten Truhen der Eliten auf die »Straße« wo sich das neue Zentrum befindet. Die im Jahr 1947 von den UN verabschiedete Resolution 181, die die Gründung zweier Staaten, eines arabischen und eines jüdischen, innerhalb des Gebiets zwischen Jordanfluss und Mittelmeer fordert, wird auch noch nach 63 Jahren missachtet. Sie bleibt somit unerfüllt, solange die zweite Hälfte, nämlich ein palästinensischer Staat, nicht verwirklicht wird. Auch die Vereinten Nationen werden den Palästinensern jetzt keine Vollmitgliedschaft als Staat gewähren. Dies

wird durch das bereits im Vorfeld angekündigte Veto der Amerikaner verhindert werden. Im günstigsten Fall werden ihnen die UN einen neuen Status verleihen, der mehr beinhalten würde als eine bloße Beobachterrolle, aber noch keine vollständige Staatlichkeit. Die Palästinenser hätten Präsenz in New York und eine Stimme, die sich nicht mehr der Münder von anderen bedienen müsste. Sie könnten ihre rechtmäßige Stellung im Netzwerk der verschiedenen UN-Organisationen einnehmen. Die Friedensregierung von Premierminister Fayyad im Westjordanland mit ihren Fortschritten in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft und Verwaltung würde ermutigt. Sie hat beeindruckende Leistungen vorzuweisen, gekennzeichnet durch Transparenz und gute Planung. Auch das ist ein Beleg für die Fähigkeit der Palästinenser, ihren eigenen Staat selbst zu verwalten. Übersetzung aus dem Arabischen von STEPHAN MILICH

Der Dichter Ghassan Zaqtan verbrachte Kindheit und Jugend in Flüchtlingslagern. Heute lebt er in Ramallah

DIE ZEIT: Was halten Sie vom

ZEIT: Vor einigen Monaten hat Israels Verteidi-

Plan der Palästinenser, demnächst einen eigenen Staat auszurufen? Oded Eran: Sie wollen das ja eben nicht selbst machen, sondern zählen darauf, dass die internationale Gemeinschaft ihnen diesen Status verleiht. Im Grunde eine sehr »kreative« Idee, denn sonst würden Abkommen mit Israel verletzt, die keine einseitigen Schritte erlauben. ZEIT: Wo liegen die Gefahren für Israel? Eran: Eine liegt im Verfahren. Unser Konflikt soll ja eigentlich durch Verhandlungen über ein endgültiges Abkommen beigelegt werden. Nun aber wird die internationale Gemeinschaft aufgefordert, zumindest über einen Teil dieser Ergebnisse im Vorfeld zu entscheiden. Die Palästinenser sähen es gern, dass auf diese Weise die künftige internationale Grenze zwischen Israel und Palästina mehr oder weniger entlang der Grenze von 1967 festgelegt würde. Das könnte bei Verhandlungen auch herauskommen, aber nun soll eben die Generalversammlung darüber befinden. ZEIT: Aber nur mit einer Empfehlung. Eran: In jedem Fall aber wird alles so nur noch komplizierter. Die Palästinenser werden künftig gegenüber Israel auf diese Resolution verweisen. Israel wiederum wird sagen: Sorry, wir waren nicht einverstanden, dass ihr euch an die UN wendet, und akzeptieren das nicht. So werden beide Seiten erst einmal sechs Monate darauf verschwenden, über den Status dieser Resolution zu debattieren.

gungsminister Ehud Barak vor einem diplomatischen Tsunami gewarnt, der nach einer UN-Abstimmung über das Land hereinbrechen könnte. Eran: Wenn es in New York tatsächlich zu einer solchen Resolution kommt, könnte dies die Tür für eine Entwicklung aufstoßen, die dann auch von der Palästinenserbehörde nicht mehr gesteuert werden kann. Was sollen wir tun, wenn in Zukunft eine Gruppe von 10 000 Palästinensern in Richtung Ostjerusalem marschiert und sich dabei auf die UN beruft, die das in einer Resolution zur palästinensischen Hauptstadt erklärt haben? Eine solche Situation kann leicht außer Kontrolle geraten. Zudem könnten sich die Palästinenser fortan an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag wenden und fordern, dass dieser oder jener israelische General oder der Verteidigungsminister für die Taten von Sicherheitskräften verfolgt wird. Damit würde ein Weg gebahnt, der der Wiederaufnahme von Verhandlungen über ein Ende des Konflikts bestimmt nicht zuträglich wäre. ZEIT: Dies passiert zu einem Zeitpunkt, da auch die israelischen Beziehungen zur Türkei und zu Ägypten sehr angespannt sind. Israel wirkt zunehmend isoliert. Eran: Da muss man unterscheiden. Was die Türkei angeht, so ist nicht klar, ob ihr Verhalten nur Israel betrifft oder Teil einer größeren Strategie ist, die darauf abzielt, von den jüngsten Entwicklungen in der Region zu profitieren. Viele glauben, dass sich die Führung in Ankara an die Spitze der islamischen Welt stellen möchte, nachdem Kairo jetzt geschwächt und Iran als Paria-Staat isoliert ist. Eine solche Strategie könnte nicht nur Israel, sondern auch der EU und den USA Sorgen bereiten. ZEIT: Und die Angriffe auf die israelische Botschaft in Kairo? Eran: Durch die Entmachtung Mubaraks und die Art, wie das derzeitige ägyptische Regime mit seinem Erbe umgeht, ist eine neue Situation entstanden. Mubarak ist ein Symbol des strategischen Dialogs zwischen Ägypten und Israel, der 1979 mit dem Friedensabkommen begann und seither in

Krisenzeiten oft dazu beigetragen hat, die Flammen in der Region klein zu halten. Nun wird das alles infrage gestellt. In Zukunft wird in der arabischen Welt zweifellos die »Straße« stärker in geopolitische Entscheidungen involviert sein. Man kann nur hoffen, dass die neuen Führungen das zu kontrollieren vermögen. Klar ist, dass ein zumindest partielles Abkommen zwischen Israelis und Palästinensern helfen würde. ZEIT: Was würden Sie dem Palästinenserpräsidenten Abbas und Israels Ministerpräsidenten Netanjahu also raten? Eran: Sie sollten zumindest den Weg frei machen für eine Einigung. Aber Abbas zieht die UNVerhandlungen vor, Netanjahu lässt weiter Siedlungen wachsen. Beiden sage ich: Unternehmt konkrete Schritte in Richtung einer Zweistaatenlösung. Die Schwierigkeit liegt darin, Fortschritte zu machen und sich gleichzeitig darauf zu einigen, dass einige der Hauptstreitpunkte aufgrund der politischen Instabilität und Unsicherheit im Nahen Osten nicht so schnell gelöst werden können. ZEIT: Es gibt aber durchaus auch in Israel Stimmen, die sagen, der palästinensische Gang zur UN setze zumindest schon einmal die Zweistaatenlösung offiziell auf die Tagesordnung. Eran: Die Mehrheit der Israelis und Palästinenser versteht auch so, dass es keine andere Lösung gibt. Es gibt bereits genug Pläne, die das festschreiben und von beiden Seiten akzeptiert worden sind. Eine weitere Resolution macht alles nur noch komplizierter, als es ohnehin schon ist. Die Fragen stellte GISELA DACHS

Oded Eran, Direktor des Institute for National Security Studies in Tel Aviv, war israelischer Botschafter in Jordanien und bei der EU

14 15. September 2011

DIE ZEIT No 38

POLITIK

MEINUNG

ZEITGEIST

Der Euro-Kulturkampf Es wächst nicht zusammen, was nicht zusammengehört. Und nun?

JOSEF JOFFE:

Foto: Mathias Bothor/photoselection

Was ist das Kernproblem mit dem Euro, jenseits der täglichen Schreckensmeldungen? Eine Wette, die Deutschland verloren hat. Die ursprüngliche, wiewohl unausgesprochene Erwartung war eine Art »D-Mark-Zone« im europäischen Gewande, die – unfein ausgedrückt – am deutschen Wesen genesen sollte. Das hieß: fiskalische Zucht, stabiles Geld, niedrige Staatsschulden und hohe wirtschaftspolitische Anpassungsbereitschaft. Die Idee, »Konvergenz« genannt, war richtig. Wie sonst sollte der »Kampf der Kulturen« in der Euro-Zone geglättet werden? Wo den strengeren protestantischen Sitten im Norden die Kultur des »Club Med« gegenüberstand, dessen Regierungen, gleich welcher Couleur, das sparsame Haushalten nicht so ernst nahmen. Das waren Staaten wie Portugal und Spanien, Italien und Griechenland, aber auch Frankreich, die ganz kommod mit ihren Gesellschaftsverträgen gelebt hatten. Sie gaben grundsätzlich mehr aus, als sie einnahmen, hatten folglich Inflationsraten und Staatsschulden, die den braven Deutschen den Angstschweiß ins Gesicht getrieben hätten. Staatliche Monopole blieben geschützt, Arbeitsmärkte rigide. Aber keine Sorge. Solange Lira, Drachme und Peseta regierten, konnten die Club-Med-Länder stets etwas schneller abwerten, als sie inflationierten – und so im internationalen Wettbewerb bestehen. Diesen Fluchtweg hat das Gemeinschaftsgeld verriegelt, aber es lief trotzdem ganz gut weiter – dank des Euro. Denn nun konnte sich der Club Med viel billiger Geld borgen als zu Zeiten seiner abwertungsgefährdeten Nationalwährungen. Die Schulden stiegen, die Wettbewerbsfähigkeit sank. Da der Markt sich auf Dauer nicht ausmanövrieren lässt, sind diese Staaten jetzt alle mehr oder minder pleite – Griechenland vorweg. Es gibt keine gute Politik ohne gutes Wirtschaften. Und es gibt keine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Haushaltspolitik. Folglich die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder die EuroZone springt nach vorn in einen Bundesstaat wie

HEUTE: 11.9.2011

Trauermarsch

Unter Kontrolle

Straßen zu Radwegen

Die Polizei hat die Islamisten im Griff

Fahrradfahrer brauchen mehr Platz

Nein, der islamistische Terror ist nicht besiegt. Nicht in Afghanistan, nicht in Pakistan und auch nicht in Deutschland. Immer wieder planen muslimische Fanatiker Anschläge, auch in der Bundesrepublik, zuletzt offensichtlich in Berlin: Nach monatelangen Ermittlungen im Verborgenen nahmen Polizisten vergangene Woche in der Hauptstadt zwei Männer fest – polizeibekannte Islamisten, wie es heißt. Die Verdächtigen hatten große Mengen Chemikalien bestellt und wollten damit, so die Ermittler, eine Bombe bauen. Es war nicht der erste Einsatz dieser Art, und es wird nicht der letzte sein. Erst Ende April hatten Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesanwaltschaft drei mutmaßliche Al-Qaida-Mitglieder in Düsseldorf festgenommen. Sie gelten als dringend verdächtig, einen Terroranschlag mit einer Splitterbombe geplant zu haben. Im Herbst 2007 griffen das BKA und die GSG 9 in einem Ferienhaus im Sauerland zu, als Islamisten dort einen Sprengsatz basteln wollten. So spektakulär die Bilder solcher Polizeieinsätze immer wieder sind – wir beginnen uns daran zu gewöhnen. Anders gesagt: Der islamistische Terrorismus gehört zum deutschen Alltag. Niemand wird das achselzuckend hinnehmen. Aber die Festnahmen von Berlin ließen auch so etwas wie einen Blick in den Maschinenraum der Anti-Terror-Ermittlungen zu, ließen erkennen, wie Staats- und Verfassungsschützer, Geheimdienstler und Staatsanwälte arbeiten. Und dieser Einblick zeigt, dass sich die erstaunliche Gelassenheit der Bevölkerung angesichts der latenten Terrordrohung durchaus rechtfertigen lässt. Denn es ist unübersehbar, wie effektiv die Sicherheitsbehörden mittlerweile arbeiten. Auch der jüngste

Josef Joffe ist Herausgeber der ZEIT

Amerika, wo das Ganze die großen Vorgaben setzt und die reichen Staaten die armen stützen. Oder die Euro-17 fallen zurück in nationale Währungen. So aber läuft die reale Politik nicht. Denn diese will weder die Souveränität der Haushaltsführung noch das historische europäische Projekt opfern. Die Politikunion bleibt ein Traum, der Euro-Zerfall ist der Albtraum. Was bleibt? Zeitgewinn. Aber selbst dieser erfordert eine harte Entscheidung hier und heute. Wegen seiner wachsenden Defizite und Schulden lässt sich Griechenland nicht retten. Wie kann man einem Land noch mehr Austerity aufzwingen, wenn dessen Wirtschaft jetzt schon um fünf Prozent schrumpft? Folglich heißt es: Schuldenschnitt und Gläubigerschutz. Halbierte Schulden lassen sich doppelt so gut bedienen. Und es ist nützlicher, die eigenen Banken mit Steuergeld zu rekapitalisieren, als weitere Milliarden in der Ägäis zu versenken. Das würde den Griechen eine Atempause verschaffen. Inzwischen verdoppeln wir den Schutzschirm EFSF, der den anderen Problemländern einen Unterstand gewährt. Ob so auch ein Kulturwandel eintritt? Schock plus Solidarität ist besser als Durchwursteln und Gottvertrauen.

VON CHRISTIAN DENSO

Einsatz in Berlin war ein Erfolg, den eine immer reibungslosere Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwälten und nationalen wie internationalen Geheimdiensten möglich gemacht hat. Wie schon im Fall der Düsseldorfer Zelle kam der entscheidende Tipp von außen, von einem amerikanischen Dienst. Es lässt sich nicht klären, mit welchen Methoden die USA zu derartigen Erkenntnissen gelangen. Aber dass sie mitunter sehr wertvoll sind, ist kaum zu bestreiten. Im Berliner Fall fügten sie sich in ein Puzzle: Verfassungsschutz und Polizei kannten die Verdächtigen bereits aus dem islamistischen Milieu der Hauptstadt. Dazu kamen Hinweise von Firmen, die sich über die ungewöhnlichen Bestellungen der Männer gewundert hatten. Auch das ist keine schlechte Nachricht: Das nötige Bewusstsein für mögliche Gefahren scheint vorhanden, bei Behörden wie in der Wirtschaft. Insofern lässt sich nun, da die erste Aufregung über die Entdeckung der Berliner Zelle nachlässt, zweierlei festhalten: Ja, es gibt in Deutschland seit Jahren ein islamistisch-terroristisches Milieu, es gibt ein paar Hundert sogenannte Gefährder, aus deren Kreis heraus Einzelne immer wieder Attentate planen. Aber es ist den Ermittlern offenkundig gelungen, dieses Milieu so weit zu durchdringen, dass sie bislang ihr Ermittlungspuzzle jeweils zusammensetzen konnten, ehe eine Bombe explodiert. Dafür haben die Ermittler in den vergangenen Jahren immer neue gesetzliche Befugnisse erhalten. Ihr »Werkzeugkasten«, wie sie gern sagen, ist mittlerweile sehr gut gefüllt. Aber es sieht ganz so aus, als seien diese Werkzeuge auch nötig. Jedenfalls werden sie erfolgreich eingesetzt.

Anfang der Woche ist Deutschland unter die Rüpel gefallen. Wo gerade noch friedliche Fußgänger und Autofahrer ihrer Wege gingen oder fuhren, treiben nun wild gewordene Pedaleure »Kampfsport« auf Rädern. Weit über den Straßenverkehr hinaus sind die guten Sitten bedroht. In der jüngsten Ausgabe des Spiegels berichten entsetzte Redakteure, »wie der rasant wachsende Fahrradverkehr das Land in eine Rüpel-Republik verwandelt«. Im Lauf der letzten drei Monate muss sich die Lage dramatisch verschärft haben; so lange ist die letzte Spiegel-Geschichte über Deutschlands Fahrradfahrer her. Damals waren sie eher Opfer als Täter; zu Tausenden, so las man, kamen sie unter die Räder fahrlässiger Autofahrer. Doch pünktlich zur Automesse in Frankfurt schlagen die Opfer angeblich zurück: »Radfahrer immer aggressiver.« Beide Darstellungen beschäftigen sich letztlich mit den Folgen einer bescheidenen Modernisierung. Deutschland mag ein Autoland sein, aber es gibt einige Radfahrer, und es werden mehr. Dänen fahren zweimal so viel Rad wie Deutsche, Niederländer dreimal. Aber immerhin, seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der deutschen Radfahrer um ein Drittel gestiegen. Nutznießer dieses Trends sind vor allem die Autofahrer in den Städten, auf deren ohnehin chronisch verstopften Straßen es noch erheblich gedrängter zuginge, wenn all die neu bekehrten Fahrradfahrer wieder ins Auto steigen würden. Fahrräder benötigen nun einmal sehr viel weniger Platz als Autos. Ganz ohne kommen sie aber leider nicht aus – das ist das Problem. Belohnt werden die Radfahrer allerdings

Foto: John Rucosky/The Tribune-Democrat/AP

Hell ist das Septemberlicht und flirrend der Spätsommer, innig die Liebe und tief die Trauer. Da schreitet das amerikanische Präsidentenpaar durch das amerikanische Idyll, ganz in Schwarz, sie den Blick gesenkt, er in Gedanken vertieft. An dieser Stelle in Pennsylvania stürzte vor zehn Jahren die Maschine des Fluges 93 ab, die Terroristen entführt hatten. 44 Menschen starben. Es ist ein Trauermarsch, den das Paar antritt, aber vielleicht nicht ihr schwerster Gang: Was hat ihr Mann, der Präsident, nicht in den vergangenen drei Jahren alles durchzustehen gehabt? Wirtschaftskrisen und Schuldenberge, Naturkatastrophen und Kriege, Anfeindungen und Angriffe – könnte ein Mensch allein das ertragen? So haben sie ihre Hände ineinander verschlungen, als hätten sie just an diesem Morgen wieder dankbar ihre Liebe bemerkt. ABT

VON FRANK DRIESCHNER

nicht dafür, dass sie Platz schaffen für andere. In der Verkehrsplanung der Städte spielen sie in aller Regel keine Rolle. Radwege werden angelegt, wenn zufällig etwas Platz und Geld übrig ist. Viele sind ein Hohn auf alle Vorschriften – was die Verkehrsplaner nicht daran hindert, ihre Benutzung vorzuschreiben. Dieses klägliche Radverkehrsnetz gerät nun an seine Grenzen. Seine Nutzer weichen auf Fahrbahnen und Fußwege aus. Unfälle und Konflikte sind die Folge, schlecht verarbeitete Schuldgefühle motorisierter Verkehrsteilnehmer tun ein Übriges – fertig ist der Aufruf zum Kulturkampf. Radfahrer, heißt es nun, fühlten sich »ermächtigt zum konstanten Regelbruch«. In Wirklichkeit ist der gesamte Straßenverkehr eine Sphäre des konstanten Regelbruchs; wer das nicht glaubt, der begebe sich mit Tempo 50 auf eine Hauptverkehrsstraße und beobachte im Rückspiegel das Anwachsen des Staus. Der Straßenverkehr funktioniert nicht deshalb, weil alle sich an Regeln halten; es genügt, dass die meisten es meist tun, Auto- wie Radfahrer. Insgesamt ist der kleine Fahrradboom natürlich eine Erfolgsgeschichte: gut für die Umwelt, gut für Krankenkassen und Gesundheit, gut für Städte und Verkehr. Ausnahmsweise sind die Bürger dem Staat in einer ökologischen Frage einmal voraus. Doch nun muss auch die Verkehrspolitik sich modernisieren. Sie muss für Radfahrer Verkehrspläne entwickeln, wie es sie für Autofahrer seit jeher gibt. Wo der öffentliche Raum knapp ist, muss sie ihn zur Not neu verteilen. Mehr Platz für die Verkehrsteilnehmer, die ihn am sparsamsten nutzen – das heißt: Straßen zu Radwegen!

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Rot-Rot am Ende?

Essen aus Uganda

Sparen in Athen

Mode aus New York

Es ist die letzte Wahl dieses Superwahljahres: Nach zehn Jahren an der Macht könnte am Sonntag in Berlin Rot-Rot abgewählt werden. Und: Die Piraten könnten erstmals in ein Landesparlament einziehen. ZEIT ONLINE berichtet vom Wahlabend

Hilfsorganisationen unterstützen ugandische Landwirte beim Anbau, der Lagerung und Vermarktung ihrer Produkte. Das Ziel: Die Hilfsempfänger sollen zu unabhängigen Nahrungslieferanten werden. Fotos, Videos und Texte aus Uganda

Die Sparkommissare der »Troika« kommen in der nächsten Woche wieder nach Griechenland, um die Sparbemühungen der Regierung zu prüfen. Vom Ergebnis hängt ab, ob das Land weitere Hilfskredite erhält. Wie geht es weiter mit dem Euro?

Wer zum Auftakt der Schauensaison an den ganz großen Namen vorbeiblickt, entdeckt den Ideenreichtum junger asiatischer Designer und mit »Band of Outsiders« ein Label, das die perfekten Outfits für ein alternatives Amerika macht

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POLITIK

MEINUNG

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

DAMALS: 20.1.2009

WIDERSPRUCH

Freudentanz

Falsche Pflicht

Grell sind die Scheinwerfer, und lang ist die Nacht, funkelnd ihr Kleid und schwarz noch sein Haar. Damals war das, vor gut drei Jahren, als das Unglaubliche geschehen war: Zum ersten Mal in der Geschichte Amerikas wurde ein Schwarzer zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Mit seiner Frau feiert er den Sieg, sie tanzen durch die Nacht, trunken vor Zuversicht und Glück. Diese Nacht darf nicht vorbeigehen. Nicht jetzt. Bald schon wird es dämmern. Er wird dann Nacht für Nacht arbeiten und Kämpfe ausfechten. Seine schwarzen Haare werden grau werden und die Sorgenfalten sich in sein Gesicht graben. Auch sie wird ihren Kampf zu kämpfen haben: um einen Rest Normalität für ihre Familie, die seit diesem Tanz im Winter 2009 unnormaler nicht sein könnte. Schön war er trotzdem, dieser Freudentanz. ABT

Krieg kann nicht die Antwort auf Terror sein VON JULIA LEY

Wenn du nicht trauern willst, dann halt den Mund Nach dem Anschlag bei uns in Norwegen glaubten wir alle an Solidarität – die Kommunalwahlen haben dies jetzt widerlegt Plötzlich erhielt das Wort Demokratie eine Aber hören wir doch statt den Schweigenden einneue Bedeutung. Gemeinschaft. Solidarität. mal denen zu, die laut gesprochen haben: den vielen Zumindest dachten wir das. Wählern der Mitte. Denn der eigentliche Gewinner »Rekordverdächtige Wahlbeteiligung ist dieser Wahlen sind die Konservativen, die zum ersten unsere Antwort«, sagten die Jugendlichen der Mal seit Jahren wieder deutlich an Stimmen dazuArbeiterpartei, die das Massaker in ihrem gewonnen haben. Die Parteien des politischen Sommercamp am 22. Juli, unserem 7/22, Randes, die rechtspopulistische Fortschrittspartei und überlebt haben. Eine von ihnen war die Toch- die Sozialisten, haben spektakulär verloren. Vor ter einer Freundin von mir. Karoline hat fast allem das Wahlergebnis der Fortschrittspartei fiel zwanzig Freunde verloren und nannte die At- katastrophal aus. tacke einen Weckruf. »Ich habe gemerkt, Der 32-jährige Anders Behring Breivik hat wow, wir müssen für unsere Demokratie die sozialdemokratische Arbeiterpartei mitten kämpfen. Jemand will sie zerstören«, erzählte ins Herz getroffen, indem er ihre Regierungssie mir. gebäude zerbombte und ihre Jugend massaWochenlang gab es nur dieses Thema, den krierte. Die Choreografie für die nationale Anschlag von Anders Behring Breivik auf der Trauer nach dem Attentat wurde deshalb einInsel Utøya. Ich bekam sogar einen Brief der deutig von der Symbolik dieser Partei beBildungsministerin. Sie sandte ihn über den stimmt. Die Menschen wurden aufgefordert, Kindergarten und erklärte mir darin, »wie bei den Gedenkveranstaltungen rote Rosen zu man mit den Kleinen über den Terror spre- tragen, das Symbol der norwegischen sozialdechen sollte«. Sie riet, ruhig zu bleiben, ehrlich mokratischen Partei. Premierminister Stoltenzu sein und »die Gedanken meiner Kinder berg nahm die Rolle des unanfechtbaren Fühernst zu nehmen.« Das ist das Norwegen, das rers in Krisenzeiten ein und forderte uns alle wir kennen: Fürsorge und Rat vom Staat. auf, dem Terror mit Menschlichkeit, nicht mit Niemand sollte übergangen Hass zu begegnen. Stoltenberg werden; meine Kinder sind hat damit einen Nerv getroffen, ein und drei Jahre alt. konnte aber die allgemeine Sympathie nicht in einen ErdDer Anschlag hat das Land Å S N E S E I E R S T A D rutschsieg für seine Partei ververändert, darüber waren sich wandeln. Die Sozialdemokraten die Meinungsmacher einig. holten nur 32 Prozent, zwei Zum Besseren natürlich – das Prozent mehr als bei den vermeinten diejenigen, die in den gangenen Wahlen. Zeitungen schreiben und im Es gibt in Norwegen nicht Fernsehen auftreten. »Etwas viel, worüber man sich beklagen Gutes wird aus dem Bösen entkönnte. Norwegen führt mit stehen«, sagte auch Premierseiner hohen Lebensqualität minister Jens Stoltenberg, als nach wie vor die UN-Liste an, ich ihn nach dem Anschlag beund zur Halbzeit dieser Legislasucht habe. »Mitgefühl, Geturperiode verwaltet die rot-grümeinschaft und Freundschaft ne Regierung von Jens Stoltenhaben eine tiefere Bedeutung berg eine Wirtschaft, die sich bekommen«, fügte er hinzu. komplett von den krisengeschütDas Ergebnis der Kommu- arbeitet als Journalistin telten Ökonomien vieler euronalwahlen hat uns dieser Illusi- und Schriftstellerin päischer Staaten unterscheidet. on beraubt. Wo war ein Drittel in Norwegen. Die Titelseiten der Zeitungen der Wähler am vergangenen Sie wurde bekannt rechnen uns vor, wie viel mehr Montag? Um genauer zu sein, durch Bücher wie wir dieses Jahr verdient und auswo waren 37 Prozent der Be- »Der Engel von Grosny« gegeben haben und wie viel völkerung abgeblieben? Es und »Der Buchhändler mehr wir auch nächstes Jahr gab, anders als erhofft, keine aus Kabul« wieder bekommen werden. rekordverdächtige WahlbeteiDie Norweger schätzen die ligung, es gab kein ZusamVorstellung, »anders« zu sein. Sie menkommen im Namen der Demokratie. Diejenigen, die schon immer haben sogar ein eigenes Wort dafür: Annerledesgewählt haben, wählten auch diesmal. Und landet – das andere Land. Man mag das als Verdiejenigen, die nie wählen, wählten auch dies- such eines kleinen Landes abtun, die eigene Bedeutungslosigkeit zu kompensieren, indem man mal nicht. Ein Psychiater erzählte mir, dass junge Men- alles auf eine »spezifisch norwegische« Art macht. schen in seine Praxis kämen, die sich Sorgen Ein Blick auf die norwegische Debatte verleiht machten, weil sie nicht mit dem Rest der Bevöl- dem Begriff Glaubwürdigkeit. Norwegen weigert sich, Mitglied der EU zu kerung trauern konnten. Ein junges Mädchen wurde von ihren Freunden verstoßen, weil sie werden. Die Finanzkrise ist schlichtweg kein gesagt hat, dass ihr die Toten gleichgültig seien. Thema. Die Arbeitslosigkeit auch nicht. Der FiDie Trauer war überall und allgegenwärtig, und nanzhaushalt wurde anders als in anderen westwenn du nicht mitmachsen willst – dann halt lichen Ländern bisher nicht gekürzt. Norwegen ist das einzige europäische Land, das sich gegen gefälligst den Mund. Nun haben die Schweigenden gespro- die anhaltende Privatisierungswelle der verganchen – durch ihr Schweigen. Ein Freund, genen Jahre wehrt und in dem Gewerkschaften der darüber enttäuscht war, wie viele selbst- zuletzt an Einfluss gewonnen und nicht verloren zufrieden zu Hause blieben, kommentierte haben. Das Land hat heute mit die höchsten auf Facebook: »Lasst mich in Ruhe, ich bin Geburtsraten in Europa, eine Norwegerin bekommt im Durchschnitt zwei Kinder. Eltern satt.«

werden ein Jahr lang dafür bezahlt, wenn sie daheim bei ihrem Kind bleiben. Bildung und Gesundheitsversorgung sind umsonst, das wird vorausgesetzt. Ausländische Politiker könnten sich mit Recht fragen, worüber alles in der Welt ihre norwegischen Kollegen überhaupt noch streiten sollen. Traditionell haben die Protestwähler in Norwegen eher rechts gewählt. Die Fortschrittspartei, der der Attentäter bis 2006 angehörte, hat sich gern als »einzige Oppositionspartei Norwegens« profiliert. Sie mag sanftere Töne anschlagen als ihre Schwesterparteien in Österreich, den Niederlanden und der Schweiz – programmatisch ähnelt sie diesen dennoch. Seit 1991 hat sie mit jeder Wahl mehr Stimmen hinzugewonnen. Doch diesmal haben sich die, die wählen gegangen sind, für den Konsens ausgesprochen und gegen den Protest. In den Großstädten hat sich die Unterstützung für die Rechtspopulisten halbiert, landesweit haben sie ein Drittel ihrer Wähler verloren. Die Flugzettel der Fortschrittspartei waren schon vor den Anschlägen gedruckt, sie zeigten eine

VON ÅSNE SEIERSTAD

gebrochene Rose. So wollte man die Partei als Alternative zu den regierenden Sozialdemokraten darstellen. Nach dem 22. Juli wurde die Kampagne aus naheliegenden Gründen eingestellt, und in einer fast schon bizarren Kehrtwende entschied sich die Partei, statt der gebrochenen Rose einen Satz des Premierministers abzudrucken, den dieser bei seiner Rede direkt nach den Anschlägen sagte: »Wir brauchen mehr Demokratie und mehr Offenheit.« Das, was Anders Breivik für die drei Übel unseres Landes hält – Immigration, Integration und Islamisierung – kam in diesen Wahlen einfach nicht vor. Unter normalen Umständen hätten diese Begriffe die Trumpfkarten der Fortschrittspartei sein können, aber nun wurden sie leise zur Seite gelegt, bevor das Spiel überhaupt begonnen hat. Als sie keine anderen Karten finden konnte, brach die Partei auseinander. Die Rose ist nach wie vor ungebrochen. Es ist nur schade, dass das einem Drittel von uns egal war. Übersetzung aus dem Englischen von JULIA LEY

15

In seinem Artikel Ein falscher Krieg (ZEIT Nr. 37/11) blickt Josef Joffe auf das Jahrzehnt nach 9/11 zurück. Ausgehend von der Beobachtung, dass »zwischen Einsatz und Ertrag« der seither von Amerika geführten Kriege eine »mörderische Lücke klafft«, wirft Joffe die Frage auf, warum die Einsätze militärisch nicht hielten, was sie versprachen. Aber kann die Frage nach den Lehren aus zehn Jahren »War On Terror« nur der richtigen Kriegsführung gelten? Müssten wir nicht viel mehr grundsätzlich fragen, ob Krieg die richtige Antwort auf Terror sein kann? Und müssten wir nicht bedauernd feststellen, dass die Terroristen zumindest teilweise ihr Ziel erreichten, als sich der Westen mit Folter in Guantánamo und Abu Ghraib desavouiert hat? Riefen wir nicht allzu bereitwillig den »Kampf der Kulturen« aus, statt umso mehr an Offenheit und Pluralismus festzuhalten? Stattdessen erklärt Josef Joffe, warum die Kriege erfolglos waren: weil sie an einer asymmetrischen Interessenlage litten. Dem religiösen Fanatismus der Islamisten, die ums eigene Überleben kämpften, könne der Westen nur »die humanitäre Pflicht« ent gegensetzen. Nur: Weder der Einsatz in Afghanistan noch der im Irak folgten einer humanitären Pflicht. Ersterer verfolgte das klare Ziel, al-Qaida das Handwerk zu legen und dem Terrorismus durch den Sturz der Taliban den Nährboden zu entziehen. Der Irakkrieg hingegen beruhte bestenfalls auf Fehlinformationen und schlechtestenfalls auf unschönen ökonomischen Interessen. Die »humanitäre Pflicht« aber war in beiden nur schöner Überbau, geeignet, eine demokratische Wählerschaft zu befrieden, die irgendwann die Frage nach der Sinnhaftigkeit stellte. Joffe kommt auf seinem Weg auch zu dem Ergebnis, dass der Westen »Tyrannen zwar stürzen, nicht aber ihren Völkern die Demokratie schenken« kann. Damit hat er recht. Nur hat er die grundsätzliche Frage nach Sinn und Notwendigkeit von Anti-Terror-Kriegen nicht beantwortet. Julia Ley, 23, ist Hospitantin im Politik-Ressort der ZEIT Jede Woche erscheint an dieser Stelle ein »Widerspruch« gegen einen Artikel aus dem politischen Ressort der ZEIT, verfasst von einem Redakteur, einem Politiker – oder einem ZEIT-Leser. Wer widersprechen will, schickt seine Replik (maximal 2000 Zeichen) an [email protected] Die Redaktion behält sich Auswahl und Kürzungen vor

TITEL

IN DER ZEIT auf Mittelständler

EU Warum wir mehr und nicht

Groupon Warum der Gründer den größten Börsengang des Jahres absagt VON HEIKE BUCHTER

weniger Europa brauchen VON SIGMAR GABRIEL

FDP Die populistische

Versuchung 3

VON PETER DAUSEND

Hauptstadt Wowereit und die

neuen Berliner

Hans-Peter Keitel verlangt Taten

Foto: Kristine Meierling

Krise Wer in der Regierung an

... ist fertig. Tatsächlich: Ab sofort können Sie sich die gesamte ZEIT mit sämtlichen redaktionellen Beilagen immer schon am Mittwochabend auf das iPad laden. Was diese digitale Präsentation alles bietet und wie man mit ihr umgeht, erklärt der Musiker und Moderator Götz Alsmann (rechts, mit Christof Siemes, Redaktionsleiter ZEIT-App) in einem Video auf der Hilfeseite dieser App. Die beiden trafen sich zum Dreh in der Alten Feuerwache von Münster, die auch eine Küche beherbergt. Alsmann musste unbedingt ausprobieren, ob sich in der neuen Anwendung auch Fisch einwickeln lässt. Ergebnis: Wir raten ab.

6 7

IV-Wohnungen

8

VON FELIX LILL

Rosanvallon fordert einen neuen Gesellschaftsvertrag

33 Ver.di Frank Bsirske darf Chef

VON MARTINA MEISTER

34 USA Lohnt sich ein Studium

bleiben noch?

Äthiopien Das Regime kämpft VON B. GRILL

Kabul Furcht vorm Abzug der Nato-Soldaten VON GEORG BLUME

36

VON ANN COTTEN

Frankreich Sozialisten im Marseiller Korruptionssumpf

37 Energiewende Peter Ramsauer

Banken nicht

VON GERO VON RANDOW

VON CHRISTIAN TENBROCK

wirklich heißt

Tel Aviv und die arabische Revolution. Ein Gespräch mit Oded Eran

auf zwei Rädern

Fusion

40 Was bewegt Peter Krämer?

WISSEN 45

nach dem Schock Foto: Tom Hoenig/VISUM

Was Etiketten verstecken VON ALINA SCHADWINKEL UND STEFAN SCHMITT

Genom eines Deutschen lehrt 46 Evolution Der Stammbaum des

Menschen wird immer komplizierter VON ULRICH BAHNSEN

DOSSIER bereitet sich auf den Heiligen Vater vor VON ROLAND KIRBACH 20 WOCHE NSCH AU Liebesbrücken Der Hang zum

Vorhängeschloss

Aus mehr als 250 000 Lebensmittelprodukten können deutsche Verbraucher wählen. In den meisten stecke keine Gentechnik, heißt es. Doch die Kennzeichnungspflicht ist lückenhaft WISSEN SEITE 49

Vorgärten

VON CLAUDIA STEINBERG

bekämpfung 49

21 Preußen Friedrichs Schoßgebet

Und macht doch alles, was andere Kinder tun VON ULRIKE LINZER

Foto: Stefan Volk/laif

Welcher Sommer? Bornholm, Korfu, Sachsen-Anhalt, Apulien oder sonst wo: Sechs Autoren erzählen von den Hochs und Tiefs ihrer Ferien – und wohin sie sich gerettet haben REISEN SEITE 85

VON MARC SCHIERITZ

Steuern Der Deal mit den

Schweizern ist ein Gewinn VON RÜDIGER JUNGBLUTH

24

Euro II Berlin fehlen Krisen-

manager

VON MARC BROST

25 Euro III Euroland muss sich

verkleinern

VON GEORGE SOROS

26 Missmanagement Boeings

verspäteter Flieger

VON CLAAS TATJE

Herbstsaison auf 12 Seiten

REISEN

»Ein Kunstwerk muss man fühlen«: Ugo Rondinones Regenbogen-Kunst Verrückter, geliebter Mann: Vor einem Jahr druckten wir Briefe eines manisch-depressiven Vaters an seinen Sohn. Dies ist die Geschichte seiner Frau

85 Sommer – welcher Sommer? 86 München Das Oktoberfest wird

nachhaltig 87

VON GEORG ETSCHEIT

Großbritannien Bergtour in England, Schottland und Wales VON WOLF ALEXANDER HANISCH

88 Boeing 787 Was der neue Lang-

streckenflieger den Passagieren verspricht VON ANDREAS SPAETH 89 Dänemark Die Insel des

einsamen Baums

CHANCEN 91 Winnenden Schüler verarbeiten

den Amoklauf 92 Buchprojekt Zwei Religions-

lehrer über »Schreiben statt Schweigen« VON ALEXANDRA WERDES

93

VON JOSEF JOFFE

Miriam Meckel Twitter-Beiträge

gegen Günther Jauch Maßlosigkeit Plädoyer für einen verantworteten Kapitalismus

Straßenkind zum Hamburger Lehrer VON JAN-MARTIN WIARDA

Ein Streitgespräch mit Sabine Grütters und André Schmitz 61 Sachbuch Jacqueline Kennedy:

»Gespräche über ein Leben mit John F. Kennedy« VON SUSANNE MAYER

62 Roman Tina Uebel: »Last Exit

Volksdorf«

VON SILKE BURMESTER;

Nuran D. Calis: »Der Mond ist unsere Sonne« VON MARIE SCHMIDT

Notlanden im Kalten Krieg: Am 14. September 1961 müssen zwei Düsenjäger der Bundeswehr nach einem Flug über dem Sowjet-Sektor auf dem Flugplatz Tegel – damals in französischer Hand – notlanden. Eine Provokation www.zeit.de/geschichte Die so gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« von ZEIT ONLINE

unter www.zeit.de/audio

95 Medienwelt Pressefreiheit in

Europa

VON KRISTIN HAUG

114 ZEIT DE R LESE R

Anzeigen in dieser Ausgabe Link-Tipps (Seite 32), Museen und Galerien (Seite 52),Spielpläne (Seite 54), Bildungsangebote und Stellenmarkt (ab Seite 94)

RUBRIKEN

VON PAUL KIRCHHOF

60 Berliner Kultur

Nebenjob Wie studentische Grabungshelfer Geschichte erleben VON JULIA NOLTE Biografie Vom afrikanischen

israelischen Ausschreitungen

59 23 Euro I Die Zentralbank rettet die

73 Kultur-Saison Höhepunkte der

57 Ägypten Über die anti-

VON J. RIEDL

WIRTSCHAFT

VON CHRISTIANE FLORIN

FEUILLETON

22 Antisemitismus Wiener Kaplan

Sebastian Brunner

Hochburg der Vatikankritiker

55 KINDERZEIT Klarkommen Nick ist blind.

VON VANESSA DE SENARCLENS

Politik

Gentechnik Was die Etiketten von Lebensmitteln verschweigen

VON ULRICH STOCK

GESCHICHTE

MIT KLEMENS RICHTER

72 Feindesland Der Papst in der

VON DIRK ASENDORPF

48 Grafik Weggeworfenes Essen

Presse Honigberichterstattung in

der Krise

Kirche

Gerettet: In Kenia wird ein Mädchen schwer missbraucht und angezeigt. Doch das Dorf hält zum Täter

47 Waldbrand Lukrative Feuer-

VON KERSTIN BUND

Immergrün Amerika färbt seine

71 Liturgie Selbstinszenierung der

VON ULRICH BAHNSEN

VON JULIA LEY

17 Papstbesuch Deutschland

Katholiken um die Zukunft VON PATRIK SCHWARZ

VON URS WILLMANN

Erbgut Was das erste entzifferte

VON ÅSNE SEIERSTAD

Widerspruch

Archäologie Der Schädelkult

der Kelten

16 Norwegen Die ersten Wahlen

VON VOLKER HAGEDORN

70 GLAU BE N & ZW EIFELN Bischöfe Das Ringen der

Großbritannien Bankenreform

Terror Der Fall der BombenVON CHRISTIAN DENSO

Fukushima

VON DIETMAR H. LAMPARTER

VON FRANK DRIESCHNER

bastler

69 Musik Ein Streichquartett über

V W und Porsche Verschobene

VON JOSEF JOFFE

Verkehr Die Legende von Rüpeln

Thomas Vinterbergs »Kommune« in Wien VON PETER KÜMMEL

VON PETER HENNICKE,

MARTIN JÄNICKE UND MICHAEL MÜLLER

VON WOLFGANG BÜSCHER

68 Theater »Der zerbrochene Krug«;

39 Klima Was grüne Modernisierung

VON JÖRG LAU

14 Zeitgeist

Dessau

Geld und Leben Sterne lügen

Präsidenten der Türkei 12 Nahost Das einsame Land

Museumsführer Gemäldegalerie

38 Frankreich Die Schwäche der

10 Türkei Interview mit dem

VON MAXIMILIAN PROBST

67 Kunstmarkt Bassenges Fotobuch

lehnt Zwangsbeglückung ab

VON GERO VON RANDOW

Israel

»Hell«

Kredite Rating-Agenturen aus VON JULIAN TRAUTHIG

15. SEPTEMBER 2011

Kino Tim Fehlbaums Kinodebüt

VON PIERRE-CHRISTIAN FINK

Europa

38

VON KATJA NICODEMUS

VON KOLJA RUDZIO

VON GEORG BLUME

VON HANNO RAUTERBERG

66 Festival Eine Bilanz von Venedig

35 Indien Krise – welche Krise?

Politik & Lyrik Aufruf an die

Journalisten

Saracenos

warnt vor dem Wandel in China

Bücher Der Franzose Pierre

Die neue ZEIT-App

65 Kunst Die Arbeiten Tomás

32 Vermieter Abzocken mit Hartz-

VON BERND ULRICH

gegen die Dürre

Talkshows Das zunehmende Gerede VON LUTZ HACHMEISTER

31 Mobilität Reinhold Wurster

Gewicht verliert und wer gewinnt

5

VON EVELYN FINGER

30 Auto Sind deutsche Hersteller bei

der Klimawende zu träge?

VON CHRIS KÖVER

64 Stasi Das neue Gesetz

28 Industrie Der BDI-Präsident

VON IJOMA MANGOLD

4

»Lebenslauf«

VON G. HAMANN

AUSGABE:

Foto: Sebastian Bolesch

2

63 Sachbuch Alice Schwarzer:

Foto: Jens Kalaene/dpa

27 Cyberkriminelle Großangriffe

POLITIK

nah

16

Wer ohne Sünde ist: Der Papst in Deutschland

2

Worte der Woche

24 Macher und Märkte 52

Stimmt’s?; Erforscht und Erfunden

Früher informiert!

Die aktuellen Themen der ZEIT schon am Mittwoch im ZEIT-Brief, dem kostenlosen Newsletter www.zeit.de/brief

58 Was mache ich hier? 61 Gedicht / Wir raten zu 62 Impressum 69

Wörterbericht/ Finis

113 LESER BR IE F E

»EINE STUNDE ZEIT«

Das Wochenmagazin von radioeins und der ZEIT, präsentiert von Katrin Bauerfeind und Anja Goerz: Am Freitag 18–19 Uhr auf radioeins vom rbb (in Berlin auf 95,8 MHz) und www.radioeins.de

GESCHICHTE

Liebesbrücken Der Hang zum Vorhangschloss S. 20

Lob des Orgasmus – ein Gedicht Friedrichs des Großen S. 21

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Was Papst Benedikt XVI. in Deutschland erwartet, hat der Hamburger Illustrator Jochen Schievink gezeichnet

Der Papst kann kommen Nonnen besticken ein Gewand mit Blattgold, Polizisten planen eine Choreografie für 60 Limousinen, im Berliner Olympiastadion steigt eine Super-Messe: Wenn nächste Woche der Heilige Vater eintrifft, hat Deutschland Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt

D

a hängt es, an der Stirnwand der Nähwerkstatt, auf einem stummen Diener aus Holz: das neue Gewand des Papstes. Es ist grün, die liturgische Farbe jenes Abschnitts im Kirchenjahr, in den kein Heiligenfest fällt – zwischen Pfingsten und Advent. Dem Papst wäre es dennoch gestattet, Weiß zu tragen, sagt Schwester Roswitha. Dass er es nicht tue, spreche für seine unendliche Bescheidenheit. Das Papstgewand ist aus Baumwolle, durchsetzt mit einer Synthetikfaser. Das Besondere sind die aufwendigen Stickereien auf der Vorderseite und dem Rücken – züngelnde Flammen in Rot und Gold. Die dazugehörige Stola ist ebenso reich verziert. Schwester Roswitha dreht den Saum um und zeigt das Stich für Stich von Hand vernähte Futter aus gelber Seide. Die goldenen Fäden bestehen aus

reinem Blattgold, das kommt aus Japan, die Seide gen ebenfalls auf stummen Dienern, je zwei links stammt aus China. Und was kostet das alles? Sie und rechts neben dem des Papstes. Der Papst wird sein Gewand nur einmal tragen. schweigt. »Für Gott ist das Beste gerade gut genug«, Dann wird es in die Sakristei des Freiburger sagt sie dann lächelnd. Ihr weißes Gesicht errötet. Münsters wandern. Welch Schwester Roswitha, 65 ein Aufwand für eine StunJahre alt, im schwarzen de! Allein an dem flamNonnengewand, leitet die menden Kreuz auf der VorParamentenwerkstatt im derseite des Kleides haben Mutterhaus der FranziskaStickerinnen 90 Stunden nerinnen in Gengenbach. gearbeitet. Damit man die Es erfüllt sie mit Stolz, dass Stiche nicht sieht, wurden sie vom Erzbistum Freiburg T I T E LG E S C H I C H T E dünne, spitze Nadeln verbeauftragt worden ist, das wendet. Die Stickerinnen Gewand zu nähen, das der Papst bei der Heiligen Messe auf dem City-Airport mussten aufpassen, dass ihre Fingerkuppen nicht Freiburg tragen wird. Auch die vier Gewänder für bluteten und womöglich das edle Gewand besudie Bischöfe und Priester, die mit dem Papst die delten. Und was, wenn es doch passiert wäre? Messe feiern werden, wurden hier genäht. Sie hän- Dann hätten sie diese Hälfte eben neu genäht,

17

VON ROLAND KIRBACH

sagt die Schwester. Im Übrigen gebe es Spezialreinigungen. Die Stickerinnen sieht man nicht, sie arbeiten eine Etage höher. Man hört auch keine Geräusche. Während der Arbeit wird nicht gesprochen, nur für die stündlichen Gebete unterbrechen sie ihr Schweigen. Hier, im Souterrain, arbeiten einige Näherinnen an langen Tischen, einen Raum weiter verzieren Nonnen Kerzen. In den hinteren Räumen ist eine Ausstellung der hier gefertigten sakralen Kunst eingerichtet – Madonnen, Ikonen, Altardecken, Kreuze, Fahnen, Rosenkränze, Krippen. Wie in einer Himmelswerkstatt. Um 14 Uhr tritt eine Besuchergruppe zaghaft herein. Es sind Rentner, die Ausstellung interessiert sie nicht. Aber es hat sich herumgesprochen, dass das Papstgewand hier wartet. Die Rentner bleiben vor den fünf Gewändern stehen und stau-

nen sie wortlos an. »Das Papstgewand ist aber klein«, sagt schließlich eine Frau. In der Tat – es ist das kleinste von allen. Die Robe gleich daneben – für Erzbischof Robert Zollitsch – wirkt dagegen wie ein riesiges Gespenst, das den Heiligen Vater erschrecken will. »Ist der Papst so klein?«, fragt die Besucherin zweifelnd. »Wir haben das Gewand genau nach den Maßen geschneidert, wie sie uns vom Vatikan übermittelt wurden«, sagt Schwester Roswitha und errötet schon wieder. Der Papst kommt nach Deutschland, und das Land ist im Ausnahmezustand. Nach seinen Visiten 2005 auf dem Kölner Weltjugendtag und 2006 in seinem oberbayerischen Geburtsort Marktl ist dies der erste Staatsbesuch des Heiligen Vaters. Mit Repräsentanten aller drei StaatsgewalFortsetzung auf S. 18

alle Illustrationen: Jochen Schievink für DIE ZEIT/www.jochenworld.de

DOSS ER

WOCHENSCHAU

18 15. September 2011

DIE ZEIT No 38

Fortsetzung von S. 17

ten wird er zusammenkommen, und im Bundestag wird er eine Rede halten. Er wird Heilige Messen unter freiem Himmel feiern, sich mit Protestanten und Muslimen zu Gesprächen treffen. Er wird in einem Tross aus 60 schweren Limousinen durchs Land fahren, eskortiert von 15 Motorrädern. Einmal wird er in einem Schwarm aus 13 Helikoptern schweben. Autobahnen werden gesperrt werden und Kinder schulfrei haben, Fußballspiele werden aus Sicherheitsgründen verschoben und Güterzüge umgeleitet. Der Besuch des Papsts beschäftigt ganze Protokollabteilungen in Berlin, Erfurt und Freiburg. Tausende Polizisten und Sicherheitsexperten des Bundes, der Länder, des Vatikans und Italiens rangeln miteinander um die Sicherheit des Nachfolgers Petri. Im Internet heißen die Menschen den Heiligen Vater schon seit Wochen auf einer FacebookSeite willkommen. Die Deutsche Bischofskonferenz hat den »offiziellen Onlineshop« zum Papstbesuch eröffnet. Es werden Baseballkappen, T-Shirts, Rosenkränze und Sitzkissen feilgeboten, bedruckt mit dem Motto »Wo Gott ist, da ist Zukunft«. In Berlin wollen Schwule, Lesben und Linke gegen den Papst auf die Straße gehen, kreativ und gewaltfrei, garantiert! Die Organisatoren versichern: Auf das Papamobil werden keine Farbeier klatschen, wie das 1996 beim Besuch von Johannes Paul II. in Berlin der Fall war. Die viertägige Visite des Papstes vom 22. bis zum 25. September wird ein Spektakel ohnegleichen werden, in Minuten getaktet: der teuerste Staatsbesuch, den es in Deutschland je gab. »Es gilt Sicherheitsstufe eins«, sagt Polizeidirektor Berthold Fingerlin, der in Freiburg die eigens zusammengestellte Sondereinheit »Mitra« leitet. Nur fünf Personen weltweit erhalten diesen Schutz. Neben dem Papst sind es die Präsidenten Amerikas, Russlands, Afghanistans und Israels.

Das Freiburger Münster wird voller Polizisten in Zivil sein Der durchtrainierte 53-jährige Fingerlin hat sich schon allerhand Verdienste erworben, was Staatsbesuche dieser Kategorie angeht. An der Wand neben seinem Schreibtisch hängt ein Foto von Barack Obama hinter Glas, versehen mit einer handschriftlichen Widmung: »To Berthold Fingerlin, with best wishes, B. Obama«. Ein Dankeschön dafür, dass Fingerlin den Nato-Gipfel vor zwei Jahren, am 60. Geburtstag des Bündnisses, vor Störungen bewahrt hat. Er durfte Obama sogar die Hand schütteln. Der Papstbesuch ist für Fingerlin keine geringere Herausforderung. Dass Attentäter auch vor christlichen Würdenträgern nicht zurückschrecken, weiß die Welt seit 1981, als Johannes Paul II. auf dem Petersplatz angeschossen wurde. Denkbar, sagt Fingerlin, seien auch »Geiselnahmen aus der Entourage des Papstes«. Wird Fingerlin dem Heiligen Vater persönlich vorgestellt? Vielleicht, sagt Fingerlin knapp. Immerhin sei ein Fünf-Minuten-Termin im Priesterseminar geplant, bei dem sich der Heilige Vater bei den Organisatoren bedanken wird. Freiburg ist die letzte Station der Papstreise. Und die wichtigste. So zumindest sieht es der Polizeidirektor. Hier habe die Visite starken Staatsbesuchscharakter, aber auch pastorale Schwerpunkte: Benedikt XVI. wird die 16 Richter des Bundesverfassungsgerichts empfangen, auch den bekennenden Katholiken Helmut Kohl – eine auf 25 Minuten angesetzte Begegnung, die angeblich auf Wunsch des Papstes nachträglich ins Programm geschoben wurde. Schließlich wird der Heilige Vater auf

T I T E LG E S C H I C H T E : Der Papst kommt nach Deutschland

dem City-Airport mit 100 000 Gläubigen einen wegliches darf sich auf dem Platz mehr zeigen – Mammut-Gottesdienst feiern. keine Kinderwagen, Fahrräder, Werbeschilder. Weil auf dem Freiburger Flughafen nur kleine Rundherum werden BKA-Beamte und Polizisten Sportflugzeuge landen können, wurde eigens für in Zivil Stellung beziehen und die umliegenden die Papstmaschine der ehemalige Militärflughafen Häuser nicht aus den Augen lassen. Für die Dauer Lahr vorübergehend wiederbelebt. Eine hässliche des Papst-Auftritts müssen alle Fenster und Türen Anlage mit verwitterten olivgrünen Baracken, er- geschlossen und die Menschen in ihren Wohnundrückt von Fläche fressenden Gewerbebetrieben gen bleiben. Balkone sind verbotenes Gebiet. Beund Speditionen. Wenn die heilige Maschine am sucher müssen Tage vorher angemeldet werden, Samstag, dem 24. September, um 12.50 Uhr auf und wer sein Haus verlassen oder betreten will, soder Piste ausrollen wird, wird am Ende des roten darf dies nur noch in Been lange der Papst da ist, da Teppichs der Katholik und Ministerpräsident Winingleitung eines Polizisten. fried Kretschmann warten, nebst einem Ehren-Nichts überlassen Fingerspalier der Polizei und 100 Kindern. Alsbald d llin und seine Spezialisten werden Papst und Ministerpräsident dem dem Zufall. Deswegen d unwirtlichen Ort entfliehen. haben sie sich auch mit jeh Von Lahr wird der Tross die nahe gelenem unerfreulichen Zwin 22.09.11 18.30 Uhr Heilige Messe gene Autobahn 5 ansteuern, die auf schenfall beschäftigt, der sc im Olympiastadion den 50 Kilometern bis Freiburg für sich auf der Christmette vor zwei den Verkehr gesperrt sein Jahren im Petersdom zutrug. Da23.09.11 17.45 Uhr Berlin wird – »in beiden Richtunmals setzte eine junge Frau über gen«, sagt Fingerlin. Mehr als bei derMarienvesper die Absperrung und stürzte sich Wallfahrtskapelle 24.09.11 9.00 Uhr einen Kilometer lang wird auf den Papst, sodass der zu Heilige Messe auf dem Domplatz Etzelsbach die Kolonne sein. Besetzt Boden ging. Die Frau, eine Erfurt mit Bischöfen, Kardinälen, PoSchweizerin, war offenbar harmlitikern, Sekretären, Ärzten, los. Bei der Polizei gab sie an, sie deutschen Personenschützern, habe den Papst »umarmen« wollen. 25.09.11 18.45 Uhr Schweizergardisten und italieDoch ein Risiko will Fingerlin nicht Abschiedszeremonie nischen Carabinieri. eingehen: »Wir haben gecheckt, ob auf dem Flughafen Lahr Wenigstens die Eskorte hätte die Frau in Freiburg ist.« Und? Ist sie Fingerlin gern verkürzt, von 15 auf da? »Bislang noch nicht.« Freiburg 7 Motorräder, das wäre in den Noch jemand anderen, dessen engen Altstadtgassen Freiburgs siGefährlichkeit schwer einzuschätzen cherer, aber aus protokollarischen ist, müssen Fingerlins Leute im Auge Gründen konnte er diese Schrumpfung nicht behalten: Atilla Selek, Terrorhelfer der Sauerlanddurchsetzen. Die 60 Limousinen in den engen Gruppe. Die Islamistenzelle hatte fürchterliche Gassen bereiten dem Polizisten Kopfzerbrechen. Anschläge auf Diskotheken, Flughäfen und USDie Fahrer müssten »eine Art Ballett einstudieren, Einrichtungen geplant. Der heute 26-jährige Selek eine Choreografie«, mahnt Fingerlin. Biege nur hatte die Zünder beschafft und war zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er saß zuletzt in eine Limousine falsch ab, »haben wir das Chaos«. Am Amtsgericht soll der Tross anhalten, der Papst Freiburg ein, im Juli ist er vorzeitig entlassen wird das Papamobil erklimmen und darin die letzten worden – mit einer Bewährungsauflage, die der Meter bis zum Freiburger Münster zurücklegen. Die Polizei Kopfweh macht: Selek darf Freiburg nicht Fahrt mit dem Papamobil hat die Polizei schon ein- verlassen. Eine Dauerbewachung kommt aber mal geprobt, mit einem Prototyp, den Mercedes zur nicht infrage, weil die Polizei mit der ObservieVerfügung gestellt hat. Schließlich ist das Fahrzeug rung mehrerer freigelassener Sicherungsverwahrter bis an die groß und sperrig und wiegt über vier Tonnen. Durch das Hauptportal wird der Papst schließlich Schmerzgrenze ausgelastet ist. das Münster betreten, einen kurzen Rundgang ma- Vielleicht sollte man mit Sechen und durch das Seitenportal herauskommen. lek ein Gespräch führen, daDort wird er sich in das Goldene Buch der Stadt ein- mit er während des Papst-Betragen und einen »Gruß an die Stadtbevölkerung« suchs einfach daheim bleibt, entbieten, ehe er sich zur Mittagsruhe ins nahe gele- meint Fingerlin. Aber das gene Priesterseminar zurückziehen wird. Das Müns- müsste dann ja auch wieder jeter wird vollgestopft sein mit SEK-Beamten, »aber mand kontrollieren. Selek selbst möchte sich keinen einzigen wird man sehen«, schwört Fingerlin. zu der Angelegenheit nicht äußern, teilt seine BonDem Minutenauftritt auf dem Münsterplatz ner Anwältin mit. Auch bei der Deutschen Bischofskonferenz ist sind wochenlange Vorbereitungen vorausgegangen. Jahrelang war das Gotteshaus ringsherum die Furcht vor Störern groß – so groß, dass sie sogar eingerüstet, weil der rote Buntsandstein bröckelte. vor fragwürdigen Sicherheitsprüfungen nicht zuNun wurde das Gerüst eilig abgebaut, weil man rückschreckt. Wer eine der Messen besuchen will – keine Fernsehbilder eines hinter Baustreben ver- die Deutsche Bischofskonferenz rechnet mit bis zu schwundenen Münsters in die Welt schicken wolle 200 000 Gläubigen –, muss nicht nur Name und – heißt es bei der Polizei. Nein, ganz falsch! – wi- Adresse angeben. Auch Geburtsdatum und Gederspricht der Domkapitular und lächelt maliziös. burtsort will man wissen. Die Bischöfe wollen die Pünktlich zum Papstbesuch seien die jahrelangen Daten bei Bedarf ans Bundeskriminalamt weiterRenovierungsarbeiten zufällig erfolgreich abge- geben, um Personen überprüfen zu können. Datenschützer und Journalisten liefen Sturm. Eine schlossen geworden! Ein Wunder! Am Samstag, wenn der Papst kommt, erstirbt »unzulässige Rasterfahndung« nannte das Thilo das gewohnte Leben. Die 180 Stände des traditio- Weichert, schleswig-holsteinischer Datenschutznellen Münstermarktes müssen ab- beauftragter. Die Bischofskonferenz rechtfertigte gebaut und verschwunden sein, das Vorgehen zunächst damit, dass man wenigstens ebenso Tische und Stühle der um- diejenigen überprüfen müsse, »an denen der Papst liegenden Gaststätten. Sämtliche dicht vorbeifährt oder denen er die Kommunion Geschäfte schließen. Alle Papier- austeilt«. Nach dem Aufruhr erklärte die Kirche körbe werden abgeschraubt, die aber, auf weiteres Datensammeln verzichten zu wolGullideckel versiegelt. Nichts Be- len und schon erhaltene Daten zu löschen.

Doch da ist nicht nur die Angst vor Anschlägen, da ist noch ein zweites Szenario, das den Verantwortlichen den Schlaf raubt und das sie in einer Metapher des Schreckens zusammenfassen: Duisburg. »Duisburg darf sich auf keinen Fall wiederholen!«, heißt es an allen Orten entlang der Papstroute. Bei einer Panik auf der Love-Parade in der Ruhrgebietsstadt wurden vor einem Jahr 21 Menschen erdrückt und totgetrampelt. Um Ähnliches zu vermeiden, hat die Stadt Freiburg jene Aachener Verkehrsexperten engagiert, die das arabische Pilgerzentrum Mekka so umgebaut haben, dass es keine Massenpanik mehr geben kann. Zu- und Ablaufströme auf dem Münsterplatz werden streng getrennt. Außerdem werden Scouts ausschwärmen, die Alarm schlagen, sobald sich an einer Stelle zu viele Menschen ballen. »Duisburg« – da wollen auch die Erfurter kein Risiko eingehen. Auf den Domplatz, wo der Papst eine Messe feiern wird, werden weniger Menschen zugelassen, als der Platz fassen könnte. Und um bloß keine Unruhe aufkommen zu lassen, werden die Pilger im Eichsfeld mit kostenlosem Wasser und Müsliriegeln versorgt, damit niemand dehydriert oder unterzuckert. »Das eigentliche Duisburg-Problem ist ja, dass keiner mehr Verantwortung übernehmen will!«, klagt der 52-jährige Bayer Peter Kittel. Kittel hat mit Freuden die ganze Verantwortung für Organisation und Sicherheit während der Marienvesper übernommen, die der Papst bei der Wallfahrtskapelle Etzelsbach im Eichsfeld feiern will. »Jede Großveranstaltung braucht ein Gesicht, und hier ist es meines«, sagt Kittel. Am Freitag, dem 23. September, um 17.30 Uhr wird der Papst im Hubschrauberschwarm einfliegen, um 17.45 Uhr beginnt die Vesper. Peter Kittel hat die Wetterdaten aller 23. September der zurückliegenden Jahre analysiert – jetzt ist er sicher: Es werden ideale Bedingungen herrschen. »Es wird 24 Grad haben, überwiegend sonnig sein, und es wird ein leichter Wind wehen«, prophezeit er. Kittel, der in Regensburg eine Veranstaltungsagentur führt, hat schon den Papstbesuch 2006 in Bayern organisiert. 260 000 Pilger strömten damals herbei. Sein früherer Religionslehrer soll ein guter Freund des Heiligen Vaters sein. Das Amt des »Regionalkoordinators Papstbesuch« im Eichsfeld versteht er als »demütige Verneigung vor den Menschen, die dem Irrsinn einer Diktatur getrotzt haben«. So sagt es Kittel. Die Menschen im Eichsfeld im Norden Thüringens hat seit je der katholische Glaube zusammengeschweißt. Wer seine Kinder in der DDR zur Jugendweihe schickte, musste mit dem Zorn der Dorfgemeinschaft leben. Auf der hügeligen Weide hinter der Kapelle, wo bis vor Kurzem Kühe grasten, ist inzwischen eine Infrastruktur für Zehntausende Pilger entstanden, inklusive Souvenirläden und Imbissbuden, aber, betont Kittel, »alles umweltfreundlich und rückbaubar«. Nichts soll man hinterher mehr sehen. Nichts von der betonierten Fläche, auf der der MDR seine Übertragungswagen aufstellen wird, um die ganze Welt zur Vesper ins Eichsfeld zu holen. Nichts von der riesigen Altarbühne mit ihren gigantischen Aufbauten für Ton und Licht. Und nichts von den Fußwegen, die das Gelände durchschneiden. Der Schotter ist in Ökotextil gebettet, erklärt Kittel, sodass man ihn ohne Rückstände wieder entfernen kann. Die Pilger kommen in Bussen, die letzten Kilometer müssen sie zu Fuß gehen. Ein 65 Kilometer langer Abschnitt der Auto-

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bahn 38 wird für 30 Stunden gesperrt und zum Busparkplatz umfunktioniert. »Das ist eine Fußwallfahrt«, sagt Kittel. »Wer im Auto anreist, bedient sich des falschen Fortbewegungsmittels.« Für Behinderte soll es Shuttles geben. Nach der Landung steigt der Papst ins Papamobil und wird fünf bis sieben Minuten »einen Giro drehen, wie die Italiener sagen«, ehe er den Altar besteigt. Kittel selbst wird auf einer Bühne neben dem Altar thronen. Jede beteiligte Organisation, vom Technischen Hilfswerk bis zu den Krankenhäusern, hat dann einen »Verbindungsoffizier« zu ihm entsandt: »Ich bin in jeder Sekunde Herr der Informationen.« Am Abend der Marienvesper, prahlt Kittel, werde es »nirgends auf der ganzen Welt eine Region geben, wo Sie medizinisch besser versorgt sind als hier.«

Im katholischen Eichsfeld werden vor allem Pferde und Autos gesegnet Kittel ist gläubiger Katholik, und er will nicht nur, dass der Gottesdienst ohne Störungen verläuft – er will, dass sich das Ereignis den Menschen ins Gedächtnis brennt. Deswegen hat er alles mehrfach abgesichert. Ton und Bild werden doppelt aufgezeichnet, damit nicht, wie letztes Jahr beim Papstbesuch in England, wegen starken Regens plötzlich das Bild ausfällt. Kittel stellt sich vor, wie die Pilger erst nur die Rotoren der sich nähernden Hubschrauber hören, wie diese dann am Himmel auftauchen, sich gegen die untergehende Sonne abzeichnend. Wie es ganz still werden wird und wie dann, wenn der Papst den Altar betreten haben wird, »die tiefe Gläubigkeit, die die Menschen erfasst, körperlich greifbar sein wird. Wenn Paare sich innig in den Armen liegen. Wenn alte Männer sich wie vor Schmerzen krümmen. Das ist so unglaublich! Dieses Gemeinschaftsgefühl! Dieses Gefühl der Entschleunigung!« Kittel ist beseelt. Seine Marienvesper wird »der emotionalste Teil der ganzen Reise sein«. Kittel ruft: »Etzelsbach ist nicht der Appendix, es ist der Höhepunkt!« Schlagartig verfinstert sich Kittels Gesicht, wenn das Gespräch auf die Kosten kommt. Die Deutsche Bischofskonferenz hat ihren Beitrag mit 25 bis 30 Millionen Euro angegeben. Wie viel der Besuch den Staat darüber hinaus kostet, lasse sich »schwer berechnen«, bekommt man in Berlin, in Erfurt und in Freiburg zu hören. Verschiedene Zahlen kursieren – 50 Millionen Euro, 100 Millionen Euro. Nur neun Prozent der Berliner sind katholisch und nur sieben Prozent der Thüringer, in Baden-Württemberg ist es auch bloß ein Drittel. Diese Kostendiskussion hält Kittel für »unwürdig, hochgradig unwürdig. Das ist, wie wenn der Gastgeber seinen Gästen beim Essen vorrechnet, wie viel jeder Gang kostet«. Ein kleiner Teil des Geldes fließt allerdings auch in die Wallfahrtskapelle Etzelsbach. Die gut hundert Jahre alte Kapelle wird im Innern derzeit renoviert. Die Plastikummantelungen der Votivkerzen hätten Wände und Decke über die Jahre verrußt, sagt der Pfarrer Franz-Xaver Stubenitzky. Er betreut vier Gemeinden in der Umgebung. »Vier Orte, fünf Kirchen«, sagt er lachend. Die fünfte ist diese Wallfahrtskapelle, auf die bald die Augen der Welt gerichtet sein werden. Stubenitzky sitzt auf der Bank im Schatten seiner Kapelle und sieht den Bauarbeiten zu. Zwei Fliesenleger erneuern die Platten des Weges zu einem Gnadenstock. Dem Pfarrer kommt das alles ein bisschen unwirklich vor. Im Januar sei es gewesen, erzählt er, »ich saß auf meinem Drehstuhl im Pfarramt, da hat mir eine Stimme ins linke Ohr gesagt, dass der Papst kommt«. Es war nicht die Stimme des Herrn, sondern die des Generalvikars am Telefon, und

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Pfarrer Stubenitzky konnte danach drei Nächte lang nicht schlafen vor Aufregung. »Ich hatte ja auch noch Schweigegebot!« Stubenitzky ist beglückt, dass durch den Papstbesuch das fast schon verloren gegangene Wallfahrtsleben im Eichsfeld jäh wieder aufleben wird. All die Pilgerpfade, die in der DDR-Zeit verrotteten und zugerichtet waren, sind nun erneuert und ausgebaut worden. »Noch ’e Loch, und hält doch«, hätten die Leute damals gesagt. Nun sind aus den holprigen Wegen befestigte Straßen geworden. 14 Wallfahrtskapellen gibt es im kleinen Eichsfeld. Jede Familie hier nehme mindestens einmal im Jahr an einer Wallfahrt teil, sagt Stubenitzky. Die Kapelle Etzelsbach, die einsam am Waldrand steht, ist wegen der großen Pferdewallfahrten bekannt. Der Legende zufolge wurde hier im Jahr 1801 bei der Feldarbeit eine Pietà gefunden. Die Ackerpferde sollen den Bauern auf das Gnadenbild aufmerksam gemacht haben, und der fromme Mann errichtete daraufhin eine kleine Wallfahrtskirche. Seitdem gibt es hier jedes Jahr Wallfahrten, bei denen auch Pferde gesegnet werden. Vor Kurzem, erzählt Stubenitzky stolz, habe er 375 Rösser bei einem einzigen Wallfahrtsgottesdienst geweiht. Auch Pferdestärken segnet der Pfarrer, immer am 24. Juli, dem Namenstag des Heiligen Christophorus. Beim letzten Mal sind um die 200 Autos gekommen. Lothar Schmelz möchte die Vesper im Eichsfeld gern in den Schatten stellen. Seine Hoffnung ist, dass die Station davor – seine Station – das Eichsfeld aus den Schlagzeilen verdrängt. Der Protestant Schmelz leitet das Augustinerkloster in Erfurt. Wer weiß, sagt er, vielleicht gehe die Visite des Papstes hier sogar in die Geschichte ein. Bei Schmelz im Kloster treffen sich nämlich die Spitzen der evangelischen und ka-

Mehr zum Papst Stellvertreterkriege: Das Ringen der deutschen Katholiken um die Zukunft ihrer Kirche

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Bildermaschine: Ein Liturgiker beschreibt die Selbstinszenierung des Vatikans Seite 71 tholischen Kirche mit dem Papst zu einem Gespräch, und der Kurator hofft, dass der Papst etwas Überraschendes im Gepäck hat, irgendetwas, was die Ökumene voranbringt. Vom Vorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), dem Präses Nikolaus Schneider, wird der Papst am Eingang des Kreuzgangs begrüßt werden. Im Kapitelsaal in der Mitte des Kreuzgangs treffen die Delegationen beider Kirchen zusammen – hinter verschlossenen Türen natürlich. Bevor sie sich austauschen, werden der Papst und Präses Schneider kurze Ansprachen halten. Nach der halbstündigen Begegnung wird in der Kirche des Klosters vor 300 geladenen Gästen ein Wortgottesdienst gefeiert. Katrin GöringEckardt, die Präses der Synode der EKD, wird eine Begrüßung sprechen, die Landesbischöfin Ilse Junkermann das gemeinsame Gebet eröffnen. Anschließend wird Papst Benedikt XVI. predigen und ein Gebet für die Einheit der Christen sprechen. »Ich find’ das absolut irre!«, sagt Kurator Schmelz. Der Papst in jenem Kloster, in dem Martin Luther als katholischer Mönch aufgenommen wurde und wo er lebte, bevor er die Kirche mit seinen Thesen

in Stücke schlug! Und dann: Der Papst mit Frauen am Altar! Das sei jedoch kein Novum, das habe der Papst schon öfter gemacht, wiegelt ein Sprecher der Bischofskonferenz sogleich ab. Lothar Schmelz steht in der Mitte des Kapitelsaals, links und rechts warten schon die Stuhlreihen für das hohe Treffen. Vom Klostergarten fallen Sonnenstrahlen durch die spitzbögigen Fenster auf den rot und weiß gefliesten Fußboden. Es sind noch dieselben Fliesen, auf denen Martin Luther jeden Abend kniete und seine Sünden beichtete. Und nun wird der Papst darüberschreiten!

Händeschütteln mit Wowereit – »höchstens eine Minute dreißig« Der Papst in Luthers Kloster, »das schreit doch nach einer Botschaft«, meint Schmelz. Wenn hier eine »Erfurter Erklärung« verabschiedet würde, »das wäre doch mal was«. Wie soll die aussehen? »Dass der Bann von Martin Luther genommen wird, das wär ein Wunsch von mir«, antwortet der Kurator. Es war die Begegnung mit einem Mann aus Rom, die Lothar Schmelz so hoffnungsvoll gestimmt hat. Lange bevor der Papst sich auf den Weg machen wird, hat sein Reisemarschall alle Stationen der Visite besucht. Alberto Gasbarri heißt der Mann, er ist 65 Jahre alt und einer der engsten Vertrauten des Papstes, sämtliche Reisen bereitet er für ihn vor. Dabei hält er sich stets im Hintergrund, gibt keine Interviews und lässt sich ungern fotografieren. Jene, die ihn getroffen haben, beschreiben ihn als groß gewachsen und stets in elegantes dunkles Tuch gehüllt. Reisemarschall ist ein fast ausgestorbener Beruf. Herrscher und Angehörige des Hochadels hatten früher einen, heute ist der Papst das einzige Oberhaupt der Welt, das noch einen Reisemarschall beschäftigt. Gasbarri war in den vergangenen Monaten dreimal in Deutschland, um die »Locations« für den Besuch Benedikts XVI. zu inspizieren. Nicht alle ließen sich realisieren. In Berlin hatte er als Kulisse für die Heilige Messe unter freiem Himmel das Schloss Charlottenburg im Auge. Doch der Innenhof erwies sich als zu klein, jetzt wird die Messe im Olympiastadion gefeiert, das weit weniger lauschig ist. Für das ökumenische Gespräch hatte Gasbarri statt ans Augustinerkloster zunächst an die Wartburg gedacht. Auch diese »Location« sei wieder verworfen worden, sagt Schmelz – geschichtlich zu belastet, logistisch zu kompliziert. Das nächste Mal wird der Reisemarschall an der Seite des Papstes nach Deutschland kommen. Dann wird er darüber wachen, dass der Heilige Vater genügend Ruhepausen hat – terminfreie Stunden, die Gasbarri als Erholungspausen für den 84-jährigen Petrus-Nachfolger freischlägt. Denn ein Reisemarschall bestimmt nicht nur die Orte der Reise, er verfügt auch über die Zeit, legt fest, wer den Papst wie lange sprechen darf. Fünf Minuten mehr oder weniger können diplomatische Verwicklungen nach sich ziehen. Die jüdische Gemeinde bekommt 45 Minuten – die orthodoxe Kirche nur 30? Warum?, heißt es dann. Ist das als Zurücksetzung zu verstehen? In Berlin ist die Papstvisite vor allem Staatsbesuch. Begrüßung durch den Bundespräsidenten, Treffen mit der Kanzlerin, Rede im Bundestag. Um 18.30 Uhr soll die Messe im Olympiastadion beginnen. Und dazwischen muss der Papst auch noch in der Stadionmitte von Bürgermeister Klaus Wowereit in Empfang genommen werden. Joachim E. Thomas lächelt. »Ja, das Zeitfenster ist sportlich«, sagt der Geschäftsführer des Olympiastadions. Aber es werde gottlob eine grüne Welle geben, alle Straßen sind abgeriegelt. Und der Ein-

trag ins Goldene Buch samt Händeschütteln mit Wowereit – »höchstens eins dreißig«. Mehr kann der Bürgermeister auch kaum erwarten, nachdem er vor Kurzem »großes Verständnis« für die Proteste gegen den Besuch Benedikts XVI. geäußert hat. Thomas’ größte Sorge gilt nicht dem Zeitplan, sondern dem Aufbau des Altars. Er soll auf dem Marathontor errichtet werden, dem Tor auf der Westseite des Stadions. In einem Aufzug soll der Papst auf den sechs Meter hohen Altar schweben, der so hoch ist wie die Bühne eines Popstars. »Auf dem Altar stehen ja nicht nur Dinge, die liturgisch wichtig sind«, sagt Thomas. Da müssten auch Scheinwerfer und Lautsprecher drauf »und das ganze Monitoring, damit die Leute auf der Bühne verstehen, was sie selber sagen«. Der Aufbau des Altars ist aufwendig, ein Teil der Stahlkonstruktion muss schon eine volle Woche vorher stehen. Dann müssen die Arbeiten unterbrochen werden, weil am

Wochenende vor dem Papstbesuch Hertha BSC noch ein Heimspiel absolviert. An die 75 000 Besucher erwartet Thomas im Stadion zur Messe. In den geschlossenen VIPLounges werden die Geräte der Fernsehsender untergebracht. Weil niemand hinter oder neben dem Papst sitzen darf, bleiben auch die Ränge in der Westkurve geschlossen. Die Spitzen aus Politik, Kirche, Wirtschaft und Kultur sitzen in der Mitte des Stadions, auf dem grünen Rasen, wo 10 000 Stühle aufgestellt sein werden – die einzigen Plätze, die nicht überdacht sein werden und auf denen man bei Regen klatschnass wird. Thomas grinst. Ansonsten wird der Auftritt wie bei jedem Popstar sein, sagt der Manager: Der Tross der Limousinen wird über das Maifeld heranbrausen und von der betongrauen Tiefgarage unter dem Marathonturm verschluckt. Dort liegt der Backstage-Bereich. Die Garderoben heißen an diesem Abend Sakristeien, der

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Papst, die Bischöfe und die Priester werden sich darin umkleiden. Ein großer Kirchenchor und eine Band für moderne Kirchenmusik machen sich ebenfalls hier für ihren Auftritt warm. Der Papst sei, lobt Geschäftsführer Thomas, »sehr genügsam«, was seine Wünsche ans Catering betreffe. Details will er nicht nennen, nur so viel: »Wenn man die Bühnenanweisungen von Rock- und Popstars kennt, dann ist eine Flasche Mineralwasser schon sehr bescheiden.« Bevor er sich auf den Altar liften lässt, wird der Papst im Papamobil eine Runde auf der blauen Tartanbahn drehen. Gegen 20 Uhr ist die Messe vorbei, und der Heilige Vater wird sich zur Nachtruhe in die Apostolische Nuntiatur zurückziehen, die Botschaft des Vatikans. »Schon enorm«, sagt Thomas bewundernd, »wie ein einziger Mann ein ganzes Stadion füllen kann.« Das habe bisher nur Mario Barth geschafft. Der aber gleich zweimal nacheinander.

alle Illustrationen: Jochen Schievink für DIE ZEIT/www.jochenworld.de

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WOCHENSCHAU

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Blau wie das Wasser, gelb wie die Anleger

Von den Turbulenzen an den Börsen ist nichts zu spüren. Währung versteht man hier spielerisch. Statt um den legendären Euro-Rettungsschirm, der in den oberen Etagen wohl Tag und Nacht aufgespannt wird, geht es hier unten um den

Das Gewicht der Liebe Paare hängen Schlösser an Brücken – bis die Ämter mit den Bolzenschneidern kommen VON KERSTIN BUND

Euro-Regenschirm. Err ist so blau wie das Wasser der er Ägäis, so gelb wie die Anleger er im Gesicht, und er kostett keine zehn Euro. Ein wahres Schnäppchen näppchen

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vi & Martin haben eins, Olivia & Felipe, Claudia & René und auch die kleine Familie aus Dennis, Christina und Lea. Sie alle haben ein Schloss zum Beweis, dass sie zusammen gehören, »für immer«, »4ever«, »per sempre«. Zu Hunderten hängen die Vorhängeschlösser an der Schwanenwikbrücke in Hamburg, in Rot, Grün, Lila und Orange. Sie sind bemalt, beklebt, mit Herzen und Schleifen verziert, die Namen und Jahreszahlen eingraviert oder mit wasserfestem Stift notiert. Die Schlüssel haben die Liebenden in die Alster geworfen, dort liegen sie nun, unten im Schlamm, für immer unauffindbar. Niemand soll die Schlösser je wieder öffnen, sie sollen ewig halten wie die Liebe ihrer Besitzer. Auf solche Art Treue geschworen wird auch auf der Hohenzollernbrücke in Köln, der Loschwitzer Brücke in Dresden, der Teerhofbrücke in Bremen, der Thalkirchnerbrücke in München, der Weidendammbrücke in Berlin und auf dem Eisernen Steg in Frankfurt. Schlösser hängen in St. Petersburg, Kaliningrad, Riga und Moskau. Touristen haben den Brauch bis nach China gebracht, bis an die Große Mauer. Die Liebe überwindet alle Grenzen. Marmor, Stein und Eisen bricht, aber so ein Ding aus Stahl, das nicht. Ein Bremsklotz wider die Vergänglichkeit. Bloß wie bescheiden sind wir geworden! Früher träumten junge Frauen von einem Prinzen, der sie auf ein Schloss entführt, heute bringt er das Schloss in der Hosentasche mit. So viel zu den Herzensangelegenheiten. Nun zu den Ämtern und den Sachfragen: Wie schwer wiegt die Liebe? Kann sie Brücken zum Einsturz bringen? Was, wenn die Schlösser rosten? Die Stadt Venedig hat beschlossen: Wer beim Aufhängen erwischt wird, soll 3000 Euro Strafe be-

scheint das »Wechsel-Geld-Brikett« sc aus zerschredderten Banknoten im Wert von 50 000 Euro zu sein. Es liegt gut in Hand, neun fünfzig, soll man zugreifen? der Hand Zögernden Zögernde macht der Shop ein verlockendes

zahlen. Die Tageszeitung La Repubblica fordert kühn, überführte Paare ein Jahr lang ins Gefängnis zu stecken. So weit ist man in Berlin noch nicht, aber vom Prinzip her sieht es die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung so: »Eine Brücke hat die Funktion, von A nach B zu führen.« Schlösser? Da könne ja jeder kommen! Die Straßenkehrer sind angewiesen, alles zu entfernen, was nicht zur Brücke gehört. Sie rücken mit Bolzenschneidern an. Auch in Wuppertal regt sich Widerstand. »Die Schlösser greifen irgendwann die Rostschutz-Lackierung der Brücke an«, verlautet aus dem Rathaus. Wuppertal habe schon genug Probleme mit der Infrastruktur, da brauche es nicht noch Schäden durch kultische Handlungen.

40 000 Schlösser über dem Rhein – in Köln stellt sich die Einsturzfrage Salzburg ließ vor einigen Monaten 50 Schlösser aufbrechen, angeblich aus Unwissen. Inzwischen reut es die Stadträte, und Paare dürfen ihre Liebe wieder am Geländer des Makartstegs verewigen, »solange es keinen Wildwuchs gibt«, wie es nun kryptisch heißt. Was darf die Liebe? Und was darf die Stadt? »Als Eigentümerin einer Brücke kann die Kommune von ihren Abwehrrechten Gebrauch machen«, sagt die Justiz. Schlösser seien wie Graffiti. Doch inwiefern stellen Liebesschlösser eine Verschandelung dar? »Das zu beurteilen liegt im Ermessen der Stadt«, sagt die Justiz. Eine Stadt darf die Schlösser aufbrechen, muss es aber nicht. Keiner kann sie zwingen. Ob sie es tut, gibt Aufschluss über ihr Verhältnis zur Romantik. Köln, Hamburg und Stuttgart haben ein Herz für Schlösser, sie werden geduldet. In Köln ist die »Liebesbrücke« inzwischen eine Touristenattraktion, sie fördert den Umsatz.

Angebot: Fünf Briketts zum Preis von vier! Von Schlussverkauf mag hier indes niemand sprechen. Grabbeltische gibt es keine, kein Gewühl, die Nachfrage nach Euro-Devotionalien ist zurzeit mau. Über die Gründe kann man nur spekulieren.

Metallwarenhändler passen ihre Schaufenster an, Juweliere werben mit preiswerten Gravuren, es gibt einen Bildband zum Thema, und die Höhner haben ein Lied dazu. An der Eisenbahnbrücke mit dem schönen Blick auf Rhein und Dom ging es vor drei Jahren los, inzwischen sind es 40 000 Schlösser, 15 Tonnen Gewicht, schätzt die Deutsche Bahn, der die Brücke gehört. Und was sagt die Bahn zur Statik? »Ach was, das ist wie ein Fliegenschiss.« In der Einsturzfrage herrscht also Uneinigkeit, ebenso in jener, wann und wo genau der Brauch entstanden sei. »Die Schlösser tauchten in den neunziger Jahren auf«, sagt das Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte des Landschaftsverbands Rheinland. Wahrscheinlich komme die Sache aus Italien – ja, von woher auch sonst? Der römische Schriftsteller Federico Moccia behauptet, er habe das erste Schloss an der Milvischen Brücke über dem Tiber aufgehängt. Als er später den Roman Ho voglia di te schrieb, ließ er die Liebenden an ebendieser Stelle ewige Treue schwören, Schloss an die Laterne, Schlüssel in den Fluss. Später knickte die Laterne unter dem Gewicht ein. Als Rom die amorchetti von der Brücke verbannen wollte, war der Aufschrei so groß, dass seither Poller zum Aufhängen bereitstehen. Interessant wäre es natürlich zu wissen, was die Schlüssel am Grund anrichten, ob der Gewässerschutz hier noch tätig werden muss. Wer seine Gefühle ökologisch einwandfrei dokumentieren will, der nimmt ein virtuelles Schloss. Das gibt es für keine drei Euro auf der Website liebes-schloesser.com, mit persönlicher Gravur aufzuhängen an einer Brücke eigener Wahl. Zu sehen ist das Schloss dann nur im Netz, so behörden- wie naturverträglich. Und sollte die Liebe irgendwann vergehen, lässt sich so ein Schloss auch wieder löschen. Für immer, per Mausklick.

Marmor, Stein und Eisen bricht, aber so ein Ding aus Stahl, das nicht ... Kölner Hohenzollernbrücke

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ber die vermeintliche Idylle amerikani- Nelson, der Manager von GrassBGreen. Immoscher Vorstädte mit ihren breiten, baum- bilienmakler heuern »Lawn Painters« an, um bestandenen Straßen herrschen gnaden- den ersten Eindruck von ihrem Verkaufsobjekt lose Hausbesitzerorganisationen, die ihre Macht mit einer schnellen kosmetischen Intervention am liebsten auf dem Rasen zeigen. Die Home- zu erhöhen – nur ein von Algen getrübter und owner Association bestimmt die maximale Höhe von Mücken kolonisierter Swimmingpool kann der Grashalme vor dem Haus, sie beobachtet mit der negativen Aura brauner Grashalme gewissenhaft die allgemeine Befindlichkeit der konkurrieren. Die Hersteller der grünen Elixiere, die staubGrünfläche und verhängt drastische Geldstrafen, wenn Zeichen der Vernachlässigung auftreten. trockenes Gras im Nu verjüngen, schwören Als Doug McGraw aus Dreaming Summit sämtlich auf die Harmlosigkeit ihrer Mittel. am Stadtrand von Phoenix in Arizona im Jahr James Power von dem kalifornischen Unter2009 eine Verwarnung erhielt, weil er sich dank nehmen Lawn Lift rühmt jedoch seine Tünche, zubereitet nach einem Geder Wirtschaftskrise weheimrezept mit natürder die Bewässerung seilichen Pigmenten, Bindenes Vorgartens noch einen und NeutralisierungsmitKunstrasen hatte leisten teln, die besser sei als die können, verfiel er auf die weit verbreiteten LatexNotlösung, das verdurstefarben, die so leicht das te Gras mitten in der Gras ersticken! Die HausNacht grün anzusprühen. mischung kommt in einer Da keiner seiner NachAmerika färbt einzigen Schattierung ideabarn die so plötzlich wieseine Vorgärten ein len Chlorophyllgrüns, das derbelebte Wiese komoptimal einen gesunden mentierte, tauchte er sie Rasen imitiere und im ein paar Monate später Unterschied zu den synungehemmt am helllichthetischen Produkten der ten Tage in frisches Grün Konkurrenz nicht nach und erzählte sogar stolz einer Weile einen ominöeinem Reporter der New sen Blaustich annehme York Times von seinem oder gar ins Türkis umTrick. schlage. Die Lawn-LiftTatsächlich hatte sich Tönung sei so umweltDoug McGraw nur der freundlich, dass selbst gleichen Strategie beAufgesprühte Frische, rechts, Schafe oder Kühe den kodient, mit der Golfplätze, gibt es schon für 200 Dollar lorierten Rasen schadlos Sportstadien und Counmampfen könnten, wäre try Clubs seit mehr als eier nicht meist so furchtbar nem Jahrzehnt ihre fleckigen Grünanlagen in Augenweiden verwan- kurz geschoren. Auch auf den Bahamas würden deln. Doch es war die Rezession, die das Färben Gärten schon mit der lichtbeständigen Tinktur verdorrter Rasenflächen zu einem neuen Indus- in jenem intensiven Grün bemalt, das sonst nur triezweig für den Heimbedarf machte. Die Fir- auf Postkarten erstrahlt. Eigentlich sei es sogar gut für den Rasen, sich ma GrassBGreen, deren Name einem Zauberspruch gleicht, entdeckte bereits Anfang des unter einer wärmenden grünen Farbschicht in Millenniums, dass Hausbesitzer in Las Vegas die den Winterschlaf zu begeben, meint der texaniUrinflecken ihrer Hunde auf dem Rasenteppich sche Insektenkundler Jay Jorns, dessen alteingenicht länger ertragen wollten – aber erst mit sessene Firma seit ein paar Jahren das Grasfärben dem Einbruch des Immobilienmarktes begann anbietet. »Jedenfalls ist es besser, als den ruhendas Geschäft zu florieren. Denn kaum geht ein den Rasen mit Winterroggen anzureichern, der verschuldetes Haus an die Bank zurück, werden dem Boden die meisten Nahrungsstoffe entWasser und Elektrizität abgestellt, und die Ra- zieht.« Für eine Reihe seiner Kunden in Houston sprühte er im Winter einen »Weihnachtsrasensprenger versiegen. »Für die Bank ist es billiger, den Rasen fär- sen« ein, von dessen leuchtendem Smaragdton ben zu lassen, als die Gebühren der Home- sich die bunten Lämpchen und Plastikschneeowner Association zu zahlen«, erklärt Scott männer so viel hübscher abhoben.

Grün auf den Rasen!

Zu den Nachteilen zählt er die relativ hohen Kosten der kurzlebigen Verschönerung: 200 Dollar für die ersten und die Hälfte für alle weiteren 100 Quadratmeter. »In Texas haben wir sehr große Gärten«, sagt Jorns. Und ganz wie gefärbte Haare am Scheitel bald die Wahrheit verraten, wächst auch der Rasen irgendwann in seiner ureigenen Farbe nach, die beispielsweise bei Blue oder Bermuda Grass selten nahtlos mit dem künstlichen Anstrich korrespondiert. Viel schlimmer aber findet es Jorns, wenn man als Einziger unter seinen Nachbarn im Dezember einen knallgrünen Rasen hat: »Das sieht einfach furchtbar aus.« Doch müsste er sich um den einsamen Außenseiterrasen eigentlich keine Sorgen machen, denn das artifizielle Grün wird immer mehr zum Schönheitsstandard jeder Saison, vergleichbar den bewegungarmen Botoxgesichtern oder superweiß gebleichten Zähnen. Mit Natur hat amerikanischer Rasen ohnehin nicht viel zu tun. Der Autor Michael Pollan taufte den Rasenmäher »das Messer der Zivilisation«, das die bezähmte Natur zum Instrument des Konformismus mache. Scott Nelson von GrassBGreen aber steht zu zu der makellosen Monokultur, die er für ein Überbleibsel aus der britischen Kolonialzeit hält – heute exportiert seine Firma ihr Konzentrat auch nach England. Immerhin hat Amerika diese aristokratische Landschaftsform demokratisiert und von Zäunen und Mauern befreit – auch auf dem Friedhof liegt man gleich neben seinem Nachbarn unter der grünen Decke. Im Juli fegte ein gewaltiger, hundert Meilen weiter und eine Meile hoher Haboob durch Phoenix, der die Stürme der Dust-Bowl-Ära heraufbeschwor und auch die grünsten Wiesen, ob echt oder falsch, unter schwarzem Staub begrub. In Texas kam es zu einer Dürre, die zur Massenschlachtung hungriger Rinder führte. Zwar glauben die Rasenfärber nicht an Klimaveränderung, sondern an Mutter Natur, doch selbst Scott Nelson gibt zu, dass man in Las Vegas einen Rasen im Sommer eigentlich gar nicht bewässern könne – er verbrenne dabei. Die Sprühfarbe empfiehlt Mr. Nelson deshalb als vernünftige Alternative in jenen unvermeidlichen Trockenperioden, in denen die Regierung das Rasensprengen verbietet. Doch erschwere die Regierung den Rasenfärbern leider auch das Geschäft: Seit Kurzem gibt der Las Vegas Valley Water District einem jeden Hausbesitzer Geld, der seinen Rasen zugunsten von Kakteen und Sukkulenten umpflügt. CLAUDIA STEINBERG

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us der harten Wirklichkeit Honig zu sau- dem Historischen Ja-wer-hätte-das-gedacht: »Für gen ist ein verständlicher Wunsch der Pres- die Ägypter bedeutete Honig ›Wahrheit‹. Heute se. Wer immerzu Bitteres aus aller Welt weiß jedoch niemand mehr genau, warum – verberichten muss, möchte die Leser zur Abwechslung mutlich, weil der Saft von den Göttern kam. Jeverwöhnen. Dabei ließ sich, wie jahrzehntelange denfalls aßen sie an bestimmten Feiertagen Honig Lektüre deutscher Blätter zeigt, aus kaum einem und riefen sich dabei zu: ›Süß ist die Wahrheit.‹« Thema so zuverlässig Honig saugen wie aus dem Sagenhaft. Oder? Mit dem geschichtlichen Döntje-Wesen der HoThema Honig selbst. Honig, obwohl seit Menschengedenken vor- nigberichterstattung eng verbunden ist der geograhanden, war als Quelle geheimnisvoller Infor- fische Ernte-Exotismus, bei dem die Waben stets mationen schier unerschöpflich. Je mehr über Ho- hoch hängen und nur über eine Strickleiter aus nig geschrieben wurde, desto mehr Rätsel schien er Bambus zu erreichen sind: »So muss der Honigzu enthalten – bis zum Dienstag der vergangenen sammler vor jedem Aufstieg die Götter der Felswand mit Gesängen beschwichtiWoche. Da hat der Europäigen und sie um eine reiche sche Gerichtshof entschieHonigernte bitten« – Stern den: Honig, in den putativ View aus dem Süd-Himalaya. dusselige Bienen gentech»Einmal im Jahr brechen nisch veränderte Pollen einHunderte von Tagelöhnern getragen haben, darf ohne auf, um in den MangrovenPrüfung und Zulassung sümpfen der Sundarbans nicht mehr verkauft werden. nach Honig zu suchen. (...) Was für ein Schock! Was macht die Presse ohne Wer an diesem Ufer aus dem Zum einen für die lasziven all die süßen Berichte? Boot steigt, betritt TigergeSchleckermäuler in den biet.« – Geo. Reformhäusern, die nun um In heimischen Gefilden ihre Gesundheit zittern, sind immerhin die Namen weil die Pollen ja nur in die der Imker exotisch: Das von ihnen geleerten HonigW&V Magazin kommt mit gläser geflogen sind, kaum dem Markenimker Viktor aber je durch die Luft. Emil Heinrich Langnese, (Europäischer Gerichtshof die Financial Times Deutschmuss noch beschließen: land porträtiert die Berliner Genpollen nicht einatmen!) Trend-Imker Christine FokZum anderen für die treuen ken, Benedict Polaczek und Zeitungsleser, die nun fürchEine putativ dusselige Biene Bert Kleinlosen, die taz bieten, der stete Strom an verdirbt uns den Lesespaß tet PD Dr. rer. nat. Elke Honigartikeln könne plötzGenersch auf, »Direktorin lich abreißen und ihnen am Länderinstitut für Bieüble Entzugserscheinungen verursachen. Lassen wir einige Charakteristika der nenkunde Hohen Neuendorf e.V., Leiterin der Abt. Diagnostik u. Molekularbiologie«, die Frankfurter honiggelben Presse noch einmal Revue passieren. Da wäre zunächst die adjektivische Anberei- Allgemeine Sonntagszeitung hat Franz von Hruschtung der Substanz: »Sonnengelb, cremeweiß oder ka, den Erfinder der Honigschleuder, sowie Klaus bernsteinfarben«, wie das öko-test magazin schrieb Kreyelkamp, »Ehrenvorsitzender des Imkervereins und sich in den honigtypischen Hyper-Superlativ Gescher-Stadtlohn-Velen und Umgebung«, Geo vom »ursprünglichsten Nahrungsmittel« steigerte. bringt Reto Habisreutinger, und die NZZ am Sonntag zitiert Severin Läuchli, nicht Imker, dafür PräsiNoch urknalliger als der Urknall: Urknallst! Dann die substantivische Nachbereitung, voll- dent der Schweizerischen Gesellschaft für Wundbemundig im Abgang, man sollte sich allerdings handlung: »Honig erlebt gerade eine Renaissance.« Und all das soll nun vorbei sein? Was würde gleich die Zähne putzen, um den Biss nicht zu verlieren, auch Honig ist Zucker! »Der süße Sirup«, Joseph Beuys dazu sagen, der einst der docuder sich »größter Beliebtheit« erfreut bei den »treu- menta die Honigpumpe am Arbeitsplatz schenkesten Honigschleckern«, das sind wir, die Deut- te? Die Süddeutsche weiß es: »Neneneenenee, jaschen. Das Magazin P. M. hat diese Wortwaben jajajajaa.« ULRICH STOCK zusammengespeichelt und leitet mit einem weiteren Beispiel gleich über zur dritten Abteilung, Siehe auch Wissen Seite 49

Honig in der Krise

Fotos [M]: TopicMedia (groß); Mauritius (o.); Vincent J. Musi/Aurora/laif (u.r.); Jay Jorns

Sonderangebote im zentralen Geldladen Im Erdgeschoss der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, nicht weit von der Euro-Plastik, wartet der EZB-Shop mit angeschlossenem »€afé« auf geldhungrige Kundschaft. Hier stehen reichlich Zahlungsmittel parat, die Stimmung ist gelöst.

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GESCHICHTE La Jouissance

Friedrichs Schoßgebet

Zeitmaschine Ein Ausflug in die Vergangenheit – diese Woche mit GEORG SEESSLEN Aristoteles wird unschlüssig den Kopf gewiegt haben. 2300 Jahre werde ich durch die Zeit gereist sein, im Auftrag des ratlosen Ethikrates. Und nun das. »Wir haben da«, werde ich gesagt haben, »eine gewisse Situation. Wir nennen es Krise. Ihr Land ist unglücklicherweise besonders betroffen. Wir wären unter gewissen Umstände zu einem Abkommen bereit. Sie helfen uns, und wir helfen Ihrem Land. Wir verwenden dazu das sogenannte Copyright: Für alles, was Sie gedacht haben und wovon immer noch die Rede ist, erhalten Sie einen bestimmten Betrag. Es steht zu hoffen, dass er ausreichen wird, Griechenland aus seiner Schuldenfalle zu befreien. Sie müssten nur diesen kleinen Hopser durch die Zeit ...« »Potz Sophia und Phronesis«, wird es dem Philosophen entfahren sein, »und damit kommst du ausgerechnet zu mir? Aber gehen wir ein paar Schritte, das ist bei uns so üblich.« Der alte Knabe wird mir sympathisch gewesen sein. Störrisch wie ein Esel, wird er sich jedoch so wenig für eine Zeitreise begeistern lassen haben wie sich von der Überzeugung abbringen, die Erde sei Mittelpunkt des Kosmos und Sklavenhaltung eine prima Sache. Und ich? Womöglich werde ich verstanden haben, warum gerade unter dieser Sonne begann, was mir, nun ja, heilig ist: die Kunst, sich in vernunfttrunkener Genauigkeit von sich selbst zu entfernen. »Ebendies«, werde ich gesagt haben, »ist es, was uns fehlt, derzeit.« Doch Aristoteles wird nicht an den Sinn von Zeitreisen geglaubt haben. »Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondern auch die Zeit mittels der Bewegung«, wird er gesagt haben. »Der Mensch ist nichts ohne seine Zeit, und die Zeit ist nichts ohne den Menschen. Ich würde also, folgte ich dir, zeitlos werden.« – »Oh, aber das sind Sie! Deswegen bin ich ja hier. Wissen Sie, wir sind dermaßen in unserer Zeit gefangen, wir können nur noch systemrelevant denken.« Aristoteles wird große Geduld mit mir gehabt haben. »Angenehm ist am Gegenwärtigen die Tätigkeit, am Künftigen die Hoffnung und am Vergangenen die Erinnerung. Wo aber wäre ich in deiner Zeit? Ließet ihr mich tätig sein?« – »Das«, werde ich geantwortet haben, »ist nicht Aufgabe eines Ethikrates.« – »Dann wäre es also die Hoffnung?« – »Oh, davon würde ich nicht allzu viel investieren.« – »Und wie steht es mit der Erinnerung?« – »Ich fürchte, die wird gerade abgeschafft.« – »Dann«, wird er entschlossen erklärt haben, »ist euch wirklich nicht zu helfen.«

De Königsberg à Monsieur Algarotti, cygne de Padoue

Im prüden 19. Jahrhundert »verloren«, unter Wilhelm II. »vergessen«, hier erstmals gedruckt: Die Hymne Friedrichs des Großen auf die Macht der Lust VON VANESSA DE SENARCLENS

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Der Autor ist Filmkritiker und lebt in der Nähe von München. Zuletzt veröffentlichte er mit Markus Metz das Buch »Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität« (edition suhrkamp, 780 S.; 25,– €)

ZEITLÄUFTE

in Holländer wollte Bürgermeister im niedersächsischen Nordhorn werden. 53 000 Einwohner. Nicht zu glauben. Während uns Thilo Sarrazin nimmermüde vor den kleinen Kopftuchmädchen warnt, dringen von Westen her völlig unbemerkt die Niederländer über die Grenze; am nördlichen Niederrhein kontrollieren sie ganze Ortschaften. Von Osten her kommt der Pole, Hinterpommern genügt ihm nicht mehr, jetzt will er auch noch Vorpommern. Im Norden die Dänen. Auf sogenannten Shoppingtouren fluten sie bereits Hamburg. Deutschland schafft sich ab, keine Frage. Große Teile des Südens sind ohnehin seit Jahrhunderten von Bayern besetzt, andernorts machen sich Hessen und Sachsen breit. In weiten Teilen Württembergs hilft Hochdeutsch nicht weiter. Die Hauptstadt ist fest in der Hand von Berlinern, man weiß, was das bedeutet! Gut, dass wenigstens Nordhorn standgehalten hat. 50,12 zu 49,88 Prozent, das war knapp. B.E.

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Abb.: [M] akg-images (o.); The Bridgeman Art Library

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ieses Gedicht war ein Gerücht. Noch vor Kurzem bedauerte der britische Historiker Christopher Clark in seinem großen, viel gelesenen Preußen-Buch, dass die Verse wohl verloren seien. Verse aus der Feder Friedrichs des Großen über die Freuden des Orgasmus – das hätte in der Tat den ebenso vielfältigen wie riesigen schriftlichen Nachlass des berühmten Monarchen um eine ungewöhnliche Note bereichert. Doch Clark irrte. Friedrichs Gedicht La Jouissance (Die Lust) hat überlebt, verborgen im ehrwürdigen Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem. Hier ruht das Manuskript – eine Kopie des Originals von unbekannter Hand – zwischen Briefen des Kronprinzen und späteren Königs von Preußen. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts wird es dort aufbewahrt, ohne dass es jemand entdeckte. Oder entdecken wollte. Als offiziell verschollen galten die Verse schon, bevor sie ins Archiv gelangten. So gab in den Jahren 1846 bis 1857 der Historiker Johann David Erdmann Preuss eine Ausgabe der Werke Friedrichs in 31 Bänden heraus. La Jouissance ist darin nicht enthalten. Niemand wusste damals, wo das Gedicht geblieben war. Erst 1894 gelangte die Kopie aus Italien nach Berlin. Sie stammte aus dem Nachlass Francesco Algarottis, des Mannes, für den Friedrich das Gedicht geschrieben hatte. Ein gewisser »Cavaliere Guggenheim zu Venedig« schenkte es Wilhelm II. Eigentlich wäre das der Moment gewesen, nach dem Alten Fritz auch den frivolen Fédéric einem großen Publikum zu präsentieren. Doch der Kaiser beeilte sich, das Gedicht an das Königliche Hausarchiv zu geben, wo es vergraben wurde. Auch als 1912 zu Friedrichs 200. Geburtstag seine durchgehend auf Französisch verfasste Lyrik übersetzt und in der zehnbändigen Gesamtausgabe von Gustav Berthold Volz veröffentlicht wurde, entschied man, La Jouissance zu »vergessen«. Ein Gedicht, das die sexuelle Lust als »Herrin der Welt« preist, war in Zeiten tiefsten nationalen Ernstes und höchster patriotischer Pflichterfüllung schwer mit dem Bild des »großen Feldherrn« und preußischen Idealmonarchen in Einklang zu bringen. Friedrich selbst hätte derlei vaterländische Frömmelei gewiss amüsiert. Zu seiner Zeit war das Gedicht kein Geheimnis. Datiert ist es auf den 20. Juli 1740. Friedrich schrieb es wenige Wochen nachdem er König geworden war. Sofort schickte er es an

seinen Mentor Voltaire nach Frankreich zur Begutachtung. Im beiliegenden Brief heißt es, La Jouissance sei das einzige Gedicht, das er seit seiner Thronbesteigung habe verfassen können. Seine neue Verantwortung als König lasse ihm einfach keine Zeit mehr für diesen ihm liebsten Zeitvertreib. Auch erläutert er, wie die Verse entstanden sind: »Algarotti hat sie veranlasst; ihr Thema ist die Lust. Der Italiener meinte zu wissen, dass wir, die Bewohner des Nordens, nicht im Stande seien, so heftig zu empfinden wie unsere Nachbarn am Gardasee. Ich habe empfunden und habe es so geschildert wie ich nur konnte, um ihm zu zeigen, dass wir trotz unserer Konstitution zu Gefühlen fähig sind. Sagen Sie mir«, bittet er Voltaire, »ob meine Darstellung gelungen ist oder nicht. Erinnern Sie sich dabei, dass es Augenblicke gibt, die genau so schwer darzustellen sind wie die Sonne in ihrem Glanz.«

Glühende Körper, vergängliches Glück Francesco Algarotti zählte zu den engsten Vertrauten Friedrichs. 1712 in Venedig zur Welt gekommen (im selben Jahr wie der König), wurde er 1737 durch einen populärwissenschaftlichen Essay über Newton bekannt, Il Newtonianismo per le dame. Mit einem Empfehlungsbrief Voltaires in der Tasche reiste er zwei Jahre später nach Rheinsberg. Schon die erste Begegnung begeisterte den Kronprinzen Friedrich: »Er hat viel Feuer, viel Lebhaftigkeit und viel Weichheit; mir zusagend wie nur irgend möglich.« Der weit gereiste Schöngeist genoss fortan – bis zu seinem Tod 1764 – Friedrichs Freundschaft und Unterstützung. In Anspielung auf die Heimatstadt von Algarottis Vater redet Friedrich ihn in zahlreichen Briefen, Episteln und Oden mit dem poetischen Namen »Schwan von Padua« an. Mitte Juli 1740, einen Monat nachdem er den Thron bestiegen hatte, begab sich Friedrich mit kleinstem Gefolge nach Königsberg, um dort gemäß der Tradition seines Vaters und Großvaters die Huldigung der preußischen Stände entgegenzunehmen. Nur zwei ausgewählte Freunde durften ihn begleiten: Dietrich Freiherr von Keyserlingk und Algarotti. Diese lange Reise in Richtung »Nordpol«, wie Voltaire sie leicht übertreibend nannte, gab dem Italiener ausgiebig Gelegenheit, die Sitten des Nordens mit denen des Südens zu vergleichen – und jene kritischen Betrachtungen anzustellen, die Friedrich zu seiner lyrischen Gegenrede provozierten.

Im französischen Original sind die lustvollen Verse in Alexandrinern verfasst. Und das Gedicht ist nicht nur Algarotti gewidmet, es macht ihn auch zur Hauptperson. Es beginnt mit der Beschreibung einer Liebesnacht. Friedrich schildert die Begierde, die Vereinigung zweier glühender Körper, die von den Liebenden gefeierte Lust. Er wählt, der literarischen Konvention der Zeit gemäß, dafür eine antike Szenerie. Der liebende Algarotti – im wirklichen Leben ein Freund der Frauen – wird zum Helden des Eros erhoben. In Anspielung auf eine der schönsten Jungfrauen der griechischen Mythologie nennt Friedrich die Geliebte »Chloris«. Sie sei schöner noch als von Praxiteles »geformt«; der athenische Bildhauer schuf die erste lebensgroße Darstellung des nackten weiblichen Körpers: die Aphrodite von Knidos. Mitten im Gedicht ruft der Dichter die »göttliche Wollust« an und feiert sie als »Herrin der Welt«. Es ist eine Huldigung, die an den römischen Dichter Lukrez erinnert, an sein Lehrpoem De Rerum Natura – Von der Natur der Dinge, das Friedrich in verschiedenen französischen Ausgaben besaß. Lukrez pries die Freuden des Daseins, und La Jouissance zeigt wie kein anderes Gedicht Friedrichs seine Vorliebe für diesen Geist des Epikurismus, für die Idee, dass die Lebensfreude allein, Heiterkeit und Genuss, ein erfülltes, glückliches Dasein ausmacht. La Jouissance endet mit vier aphoristischen Versen. In ihrem belehrenden Charakter unterscheiden sie sich klar vom ersten Teil des Gedichts. »Glücklich, wessen Geist nie dem Prunk der Macht verfiel ...« – »Ein Augenblick der Lust ist für den, der genießt, so viel wert wie ein Jahrhundert der Ehre, dessen schöner Schein trügt.« Solche Wendungen spiegeln Friedrichs Zwiespalt wider, in dem er sich befand, als er seinem freudlosen, brutalen Vater auf den Thron folgte. Sie lassen die Spannung ahnen, der er zwischen Hedonismus und Pflichterfüllung ausgesetzt war. Der junge König wollte beweisen, dass ein Mensch des Nordens, selbst ein Preuße, wie ein Südländer genießen und diesen Genuss auch beschreiben kann. Die poetische Beweisführung überzeugt. Bezeichnend aber bleibt, dass er den Venezianer Algarotti zum Helden der Lust macht – und nicht sich selbst. Die Autorin unterrichtet französische Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gemeinsam mit dem Historiker Jürgen Overhoff hat sie die Anthologie »An meinen Geist. Friedrich der Große in seiner Dichtung« zusammengestellt, die Anfang Oktober im Schöningh Verlag erscheint (336 S., 24,90 €)

Cette nuit, contentant ses vigoureux désirs Algarotti nageait dans la mer des plaisirs. Un corps plus accompli qu’en tailla Praxitèle, Redoublait de ses sens la passion nouvelle. Tout ce qui parle aux yeux et qui touche le cœur, Se trouvait dans l’objet qui l’enflammait d’ardeur. Transporté par l’amour, tremblant d’impatience, Dans les bras de Cloris à l’instant il s’élance. L’amour qui les unit, échauffait leurs baisers Et resserrait plus fort leurs bras entrelacés. Divine volupté! Souveraine du monde! Mère de leurs plaisirs, source à jamais féconde, Exprimez dans mes vers, par vos propres accents Leur feu, leur action, l’extase de leurs sens! Nos amants fortunés, dans leurs transports extrêmes, Dans les fureurs d’amour ne connaissaient qu’eux-mêmes: Baiser, jouir, sentir, soupirer et mourir, Ressusciter, baiser, revoler au plaisir. Et dans les champs de Gnide essoufflés sans haleine, Etait de ces amants le fortuné destin. Mais le bonheur finit; tout cesse le matin. Heureux, de qui l’esprit ne fut jamais la proie Du faste des grandeurs et qui connut la joie! Un instant de plaisir pour celui qui jouit, Vaut un siècle d’honneur dont l’éclat éblouit.

Divine volupté! Eine RokokoSchöne von François Boucher. Oben: Der junge Fritz, porträtiert 1736 von Antoine Pesne

Die Lust Aus Königsberg an Herrn Algarotti, Schwan von Padua

Diese Nacht, getragen von seinem kräftigen Verlangen, Schwamm Algarotti im Meer der Genüsse. Ein Körper, vollendeter als von Praxiteles geformt, Steigerte die neue Leidenschaft seiner Sinne. Alles, was die Augen anspricht und das Herz bewegt, Fand sich im Objekt der Begierde, das ihn erglühen ließ. Außer sich vor Liebe, zitternd vor Ungeduld, Stürzt er sich sogleich in die Arme von Chloris. Die Liebe, die sie vereinte, erhitzte ihre Küsse Und ließ sie sich noch enger umschlingen. Göttliche Wollust! Herrin der Welt! Mutter ihrer Genüsse, stets fruchtbare Quelle, Bezeuge in meinen Versen mit Deiner Stimme Ihr Feuer, ihr Tun, die Ekstase ihrer Sinne! Unsere glücklichen Liebenden, in ihrer äußersten Leidenschaft, Im Überschwang der Liebe kannten sie nur noch sich selbst: Küssen, in Lust zergehen, seufzen und sterben, Neu auferstehen im Kuss, um wieder Lust zu werden. Und in den Feldern von Knidos, erschöpft, außer Atem, So war das glückliche Schicksal dieser Liebenden. Doch die Freude endet; am Morgen ist alles vorbei. Glücklich, wessen Geist nie dem Prunk der Macht verfiel Und wer die Freude gekannt! Ein Augenblick der Lust ist für den, der genießt, so viel wert wie Ein Jahrhundert der Ehre, dessen schöner Schein trügt. Interlinearübersetzung: Vanessa de Senarclens

GESCHICHTE

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Abb.: ÖNB/Wien, PORT 00108619/01 (m.); Austrian Archives/Imagno

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issernten, Hungersnöte, Bauernaufstände in allen Provinzen des Reiches. Aber noch hält der Kutscher Europas, Österreichs Staatskanzler Klemens Wenzel Fürst Metternich, die Zügel fest in der Hand. Die Unruhen werden blutig unterdrückt, überall stöbern die Spitzel des Fürsten vermeintliche Aufrührer in ihren Schlupflöchern auf. Das strenge Regime der Zensur unterbindet jede Unmutsäußerung. Doch Anfang März 1848 – in Frankreich ist der König gestürzt, in ganz Europa brodelt es – wird auch die kaiserliche Residenzstadt Wien aus der biedermeierlichen Geborgenheit gerissen. Nach einem Hungerwinter bangt die große Masse der arbeitslosen Textilarbeiter, die auf der Suche nach Lohn und Brot aus Böhmen und Mähren in die Hauptstadt des Habsburger-Reiches gezogen waren, um ihre Existenz. Die ausgemergelten Gestalten randalieren in den Vororten, der Lärm des Aufruhrs dringt bis zu den Adelspalais und Bürgerhäusern hinter den Befestigungsmauern. Am Morgen des 13. März 1848 herrscht große Aufregung in den Gassen. Unweit der Hofburg läuft eine bunte Menge zusammen, Studenten, Handwerker, Ladenbesitzer. Der junge jüdische Sekundararzt Adolf Fischhof klettert auf ein Podest und fordert in einer flammenden Rede Pressefreiheit und nationale Gleichberechtigung in dem Vielvölkerstaat. Der Funke springt über, die erregten Bürger beschließen, unverzüglich mit einer Petition direkt zum Kaiser zu marschieren. In dieser ungewohnten Situation verliert der Kommandant des Wiener Garnisonsregiments die Nerven und gibt seinen Soldaten den Feuerbefehl. Die ersten Toten der Revolution stürzen auf das Pflaster. Unter den gefallenen Helden, die vier Tage später in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Schmelzer Friedhof beigesetzt werden, befinden sich zwei Juden: der Webergeselle Bernhard Herrschmann und der Technikstudent Karl Heinrich Spitzer. Unerwartet erscheinen auch der Rabbiner der kleinen jüdischen Gemeinde, Isaak Noah Mannheimer, und sein Kantor Salomon Sulzer bei dem Leichenbegängnis. Ganz vom neuen Geist der Märztage beseelt, lässt sich der katholische Priester zu einer unerhörten Tat hinreißen: Er lädt seine israelitischen Kollegen ein zu gemeinsamem Gebet und gemeinsamer Totenklage. »Ihr, meine christlichen Brüder, habt gewollt, dass die toten Juden da mit euch ruhen in einer Erde«, ruft Mannheimer der Trauergemeinde zu. »Nehmt nun auch uns auf bei euch als freie Männer, und Gottes Segen über euch!« Zum Greifen nah erscheint plötzlich die so lang ersehnte Emanzipation. Angesichts ihrer Freiheitsmärtyrer in der Totengrube verbrüdern sich Christenheit und Judentum. Allerdings währt der schöne Moment nur kurz. Die eben erst errungene Freiheit setzt auch den alten Hass wieder frei, die alte Judenfeindschaft, die das Ancien Régime mühsam unterdrückt hatte. Erbittert bekämpfen jetzt die antijüdischen Wortführer jegliche Tendenz einer Gleichstellung. »Keck, empörend, unbescheiden / Ist ihr frecher Übermut«, warnt ein antisemitisches Gedicht die achtlosen Wiener: »Denkt, daß schlaue Judenlist / Immer noch zu fürchten ist.« Besonders die Wiener Kirchenzeitung profiliert sich als Zentralorgan im Kampf gegen die »Mosaiker neuen Schlages, welche ihre Bedeutung in der heutigen Gesellschaft einzig der Verquickung des jüdischen Unglaubens mit giftigem Hass gegen christliche Lehre und katholische Übung verdanken«. Dreimal wöchentlich hetzt der Gründer dieses Kampfblatts »für Glauben, Wissen, Freiheit und Gesetz«, Vorstadtkaplan Sebastian Brunner, gegen den teuflischen Erzfeind. Brunners Antisemitismus basiert nicht mehr auf dem antiquierten religiösen Muster, das die Juden zum »Volk der Gottesmörder« stigmatisierte. Sein Hass ist bereits ein modernes politisches Instrument wider den liberalen Geist, der mit der Revolution Einzug hält. Zum ersten Mal stellt Brunner jene simple Gleichung auf, die selbst heute noch in der antisemitischen Algebra Gültigkeit besitzt: »Tintenjuden« und »Zeitungs-Hebräer« hätten die Presse an sich gerissen und würden mit ihrem subversiven »jüdischen Ungeist« das gesunde Volksempfinden vergiften. Bereits im ersten Jahr seiner Redaktionstätigkeit droht der Kaplan aus der Pfarrei Altlerchenfeld von der Kanzel ebenso wie in seinem Journal: »Hüthe Dich, das Volk um die letzte Spur seines Glaubens zu bringen, denn dann bist Du sammt den Mitjuden Deines Lebens und Deines Eigenthums nicht mehr sicher.« Der geistliche Herr, urteilt der Historiker Friedrich Heer, sei der »erste katholische Judenhammer in der christlichen Presse Wiens« gewesen. Und sein Wirken dringt weit über die Grenzen der Heimat hinaus. In Paris beispielsweise wird er später dem Publikum gern als »Vater des österreichischen Antisemitismus« vorgestellt. Und er ist stolz darauf. Zu jener Zeit aber, als Sebastian Brunner sein Wirken beginnt, im Revolutionsjahr 1848, ahnt der künftige Hassprediger noch wenig von seiner Sendung. Der damals 34-jährige Kaplan steht auf der untersten Stufe der Kirchenhierarchie, doch er strebt nicht nach einem Amt, nicht nach klerikalen Würden. Lieber greift der promovierte Theologe zur Feder, verfasst Andachtsschriften ebenso wie humoristische und historische Traktate. Er ist ein rebellischer Geist, der sich nicht damit abfinden will, dass sich die Kirche in Österreich willfährig der weltlichen Herrschaft unterordnet. Er denkt und fühlt ultramontan: Alles Heil gehe von Rom aus, von Gottes Stellvertreter in der Ewigen Stadt. Er hält die Reformen, mit denen Kaiser Joseph II. eine Generation zuvor die Macht der Papstkirche beschnitten hat, für das Erzübel der Zeit. Die katholischen Würdenträger

Mit Gott gegen die Juden Hassprediger in der Soutane: Wie der Wiener Kaplan und Doktor der Theologie, Sebastian Brunner, zum Vorkämpfer des mörderischen Antisemitismus wurde VON JOACHIM RIEDL

Feindbild Nummer eins: Die »Börsenjuden«. Hier eine Scherenschnittkarikatur des Wiener Grafikers Gustav Imlauer aus dem Jahr 1890

Wie so häufig zuvor haben sich mit den staattrifft in diesen turbulenten lichen AutoTagen der Vorstadtkaplan ritäten arranSebastian Brunner wieder mit giert, dem seinem besten Freund und kleinen Kaalten Studiengefährten aus dem Priesterseminar, dem plan kommt Domprediger zu St. Stephan, ein Gleiches auch in der Johann Emanuel Veith, zu einem Duckmäuserzeit ausführlichen Meinungsaustausch des Vormärz nicht in zusammen. Die beiden hocken viel den Sinn. beieinander in der engen Stube des Und doch stellt er sich, Predigers im Schatten der Kathedraerfüllt vom Hass gegen den le: Veith, der Konvertit aus jüdischDemokratismus und ähnliche orthodoxem Hause, und Brunner, der Übel, welche die Französische ReSohn eines frommen Wiener Seidenvolution hervorgebracht hat, Metterzeugfabrikanten. Beide teilen die Leidennich in geheimer Mission zur Verfüschaft für die Schriftstellerei, der sie sich gung. In dessen Auftrag reist er 1846 ausgiebig widmen, beide plagt die Sorge um die beklagenswerte Lethargie ihrer kreuz und quer durch die Staaten des Deutheiligen römischen Kirche. Immer wieder schen Bundes, um auszukundschaften, welche Bewandtnis es mit den Deutschkathokreisen ihre Gespräche darum: Mutige Gotliken habe, die in einigen Regionen ketzerisches tesmänner, die treu zum Papst stehen, müssGedankengut verbreiten. Bei dieser demokraten sich erheben und für die Rückkehr der tisch inspirierten Basisbewegung, vatikanischen Ordnung in der die auch von der Ökumene träumt, österreichischen Kirchenprovinz handle es sich, so berichtet Spitzel streiten. Gerade jetzt, in der Brunner, tatsächlich um ein »GeiWirrnis der Rebellion, da liberagenstimmen der Malcontenten«. le Freigeister in den vielen neuen Gazetten über den Klerus Hohn Wahrheitsgemäß meldet er, dass er die und Spott verbreiteten und dem Vorläufer einer demokratischen RevoVolk den Respekt vor dem Kreuz lution habe beobachten können, und austrieben. »Das erbärmlichste er prophezeit dem Staatskanzler, bald werde der Aufruhr losbrechen. Gesindel flüchtete sich zur Presse, Von den Juden scheint der Kaplan und nun brach der Hexensabbat gegen Religion und Kirche los«, noch keine Kenntnis zu nehmen. wird sich Brunner in späteren Auch nach dem Toleranzpatent Papsttreu: Sebastian Josephs II. dulden die Habsburger Brunner (1813 bis 1893) Jahren erinnern. Und »Gesindel, nur eine überschaubare Zahl jüdivor allem selbstverständlich aus scher Familien in ihrer Residenzstadt, die noch dem Judenvolke« seiner Erinnerung hinzufügen. dazu teuer für das Ansiedlungsrecht bezahlen müsMehrmals war der störrische Kaplan und Spitzel selbst an Metternichs Gittern gescheitert sen, das mit dem Tod des Haushaltsvorstandes – hatte er in den vergangen Jahren doch immer wieder erlischt. Sie sind gleichviel loyale Untertanen, die sich assimilieren und dem Staat bewieder versucht, ein klerikales Journal ins Leben weisen wollen, dass sie großen Nutzen bringen. zu rufen. Die Zensur verhinderte jeden Anlauf. Die häufig nobilitierten Familien mit klinSelbst seine kauzigen Streitschriften durften genden Namen, die Rothschilds, die Todesnur in Bayern in Druck gehen, und noch das cos, die Eskeles, die Arnsteins oder die bescherte ihm eine saftige Geldstrafe. Wertheimsteins, finanzieren zunächst Doch nun, da der Weg frei ist, erscheint die Kriege gegen Napoleon und anam 14. April 1848 die erste Ausgabe seiner schließend den Ausbau des EisenWiener Kirchenzeitung. Brunner legt ein scharfes Tempo vor. Der Gotteskrieger bahnnetzes und der Industrie. In ihren prachtsieht sich ganz in der Nachfolge des barovollen Häusern cken Pestpredigers Abraham a Santa verkehrt die guClara, der seinerzeit in seinen popute Gesellschaft. lären Sonntagsepisteln gegen die Am Vorabend Ungläubigen und natürlich auch der Revolution gegen die Juden wetterte: »Diezählt das kaiserliche se seynd der Abflaum aller Judenamt 197 tolerierte Familien in der Stadt. gottlosen Leuthe.« Rasch macht Brunner im MeAndere Juden umgehen die Gesetze, indem sie diengetöse des Revoihren Aufenthaltsschein einfach wie gefordert alle lutionsjahres seine 48 Stunden erneuern. Die Praxis nennen die Eingeweihten kaschern, koscher machen. Man verlässt Hauptfeinde aus: dazu Wien durch ein Tor der Stadtbefestigung, die »Schreibkehrt nach wenigen Schritten wieder um und juden«, besticht die Wache. So haben rund 5000 – auch ärmere – Juden in der Hauptstadt dauerhaft Wohnung gefunden, als im März 1848 die Revolution beginnt.

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die von Mathias Löbenstein, dem Herausgeber des Unpartheiischen, angeführt werden. Das sei der »Generalissimus der radikal-demokratisch-mosaischen Schreckensmänner«. Brunner nimmt sie alle ins Visier, die »jüdischen Feder-Helden«, die im »politisch-literarischen Schabbesgärtle« zu Wien wüten. Er, der den Weinberg des Herren pflegt, will sie ausmerzen wie das »Unkraut, das der Gärtner aus der Erde reißt«. Dabei scheut er weder Prozesse noch Abmahnungen der Polizei und der Kirchenbehörden. Zähneknirschend zahlt er ein ums andere Mal hohe Bußgelder. Nach zwölf Jahren unermüdlicher antisemitischer Tiraden wirft ihm Ignaz Kuranda, der jüdische Herausgeber der Ostdeutschen Post, in einer aufsehenerregenden Artikelserie seines Blattes vor, Brunner habe von Beginn an in der Kirchenzeitung systematisch »die Judenhetze zu einem literarischen Industriezweig« ausgebaut. Empört fordert der Hassprediger vor Gericht Genugtuung. Doch er blitzt mit seiner Ehrenbeleidigungsklage ab. Resigniert zieht er sich daraufhin von der publizistischen Frontlinie zurück und überlässt seinem Adepten Albert Wiesinger die Nachfolge. In seinen letzten Lebensjahren – Sebastian Brunner stirbt hochgeehrt 1893 in einem katholischen Wiener Greisenasyl – huldigt ihm bereits eine neue Generation klerikaler Judenhetzer. Sie bildet bald die tragende Säule der kleinbürgerlichen Christlichsozialen Partei, die in Brunners Todesjahr gegründet wird; an der Spitze steht der Volkstribun Karl Lueger, von 1897 bis 1910 Wiens Bürgermeister. Brunner sei »der älteste unter den Christen, welcher dem jüdischen Antichristenthum entgegengetreten ist«, preist ihn eine Hagiografie, die 1888, anlässlich Brunners 50. Priesterjubiläum, erscheint. Der fromme Mann habe »seit fünfzig Jahren unser arisches Volksthum gegen Corrumpierung und Niedertretung durch fremdes, eingewandertes Nomadenvolk geschützt und verteidigt«. Er sei eine »providentielle Persönlichkeit«, ein von der Vorsehung gesandter Retter: »Er hat viele Siege erfochten, noch viel mehr Samen ausgestreut, der in Zukunft erst Früchte bringen wird.« Da ist der katholische Antisemitismus aus der Wiener Kirchenzeitung bereits zu einer Massenbewegung angeschwollen. Im Wien der Jahrhundertwende, in jener Stadt, welcher der gescheiterte Kunststudent Adolf Hitler sein geistiges Rüstzeug verdankte, streiten die Vereinigten Christen – ein von Priestern und »Volkspfarrern« dominierter Verein, der Brunners »Vermächtnis« bewahrt – mit der deutschnationalen Radaupartei des Georg von Schönerer um die Vorherrschaft und die Deutungshoheit in der Agitationshölle. Die ursprüngliche Demarkationslinie zwischen Glaube und Rasse war schon von der Kirchenzeitung außer Kraft gesetzt worden. »Semitische Kreolen«, heißt es dort 1861, seien »jene Individuen, die sich irgendwo deutsch-katholisch taufen ließen, ohne dass sie gewillt gewesen wären, auch nur einen Gran ihres Knoblauch-Aethers aufzugeben«. Einer der Brunner-Epigonen, die besonders die Nähe zu ihrem Vordenker suchen, ist der niederösterreichische Landpfarrer Joseph Scheicher, der sich rühmt, beizeiten das »verderbliche Wirken« der »Judenherrschaft« erkannt zu haben. Immer wieder pilgert er zum Alterssitz seines Lehrmeisters, den der Vatikan zum päpstlichen Hausprälaten ernannt hat. Häufig, berichtet Scheicher, holten sich hohe Kirchenfürsten bei dem betagten Wüterich Rat, wie sie der liberalen Übermacht im Staat Widerstand leisten könnten. Die Antwort auf die missliche Lage des Klerus ist der Antisemitismus, der mit den Juden den liberalen Geist auszutreiben hofft. Scheicher ist der eifrigste Autor des neuen Correspondenzblattes für den katholischen Clerus, welches das Erbe von Brunners Kirchenzeitung weiterpflegt, die 1873, im Jahr des Börsenkrachs, ihr Erscheinen einstellen musste. Das Correspondenzblatt findet in der Priesterschaft weite Verbreitung. Allerdings wird nun eine »schärfere Tonart« gegen die »asiatischen Fremdlinge« angeschlagen. Die Postille widmet sich nicht innerkirchlichen Fragen, sondern sie propagiert politische Ziele. »Das öffentliche Wohl erheischt es«, fordert sie beispielsweise, »dass der verhängnisvolle Schritt zurückgethan werde, dass die Juden-Emancipation, weil sie verfassungsmäßig gegeben, so auch verfassungsmäßig genommen werde.« Um das Jahr 1890 beherbergt Wien eine der größten jüdischen Gemeinden Europas mit rund 120 000 Mitgliedern; das sind fast neun Prozent der Stadtbevölkerung. Trotz aller antisemitischer Anfeindungen haben die Wiener Juden in nicht einmal fünfzig Jahren einen beachtlichen Aufstieg erlebt. Sie prägen das geistige Leben in der Stadt und befruchten die kulturelle Blüte des Fin de Siécle. Ihr Unternehmergeist befeuert die späte Industrialisierung der Donaumonarchie. Aber auch das kann ihre Feinde nicht besänftigen. Der kurze 48er-Traum von der christlichjüdischen Aussöhnung ist ein Traum geblieben. Handwerker und Gewerbetreibende fürchten die Konkurrenz. Die »Börsenjuden« werden für die zyklischen Donnerwetter im überhitzten Investitionsklima verantwortlich gemacht. Den jüdischen Honoratioren in der tonangebenden Liberalen Partei wird der Verfall von Sitte und Ordnung angelastet. An den Universitäten herrscht kaum verhohlene Pogromstimmung. In diesem Hexenkessel bewähren sich die Antisemiten in Soutane, die Geisteskinder des Sebastian Brunner, als Allzweck-Agitatoren der christlichsozialen Sammelbewegung, die nach der Macht greift. »Ich habe Brunner einen Mann der Vorsehung genannt, den der liebe Gott zu rechter Zeit nach Österreich geschickt hat«, resümiert sein antisemitischer Famulus Joseph Scheicher, »in der Weise, wie dieselbe Vorsehung die Profeten gesendet hat.« Wohl wahr. Genau vierzig Jahre nach Brunners Tod sollte seine Saat schrecklich aufgehen.

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Illustration: Thomas Kuhlenbeck für DIE ZEIT/Agentur Fricke

WIRTSCHAFT

Autos: Wollen die Deutschen nun ökologisch korrekt sein oder dicke Schlitten fahren? S. 30/31

Der heimliche Chef von Europa Jean-Claude Trichet und seine Notenbank verhindern das Schlimmste, weil die Politik in der Krise versagt VON MARK SCHIERITZ

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icht jedem Wirtschaftsminister ist es vergönnt, die Märkte zu bewegen. Philipp Rösler hat es geschafft. Als er am Montag seinen Vorschlag für eine »geordnete Insolvenz Griechenlands« unter die Leute brachte, legten die Börsen einen regelrechten Rösler-Knick hin. Der Dax brach ein, der Euro stürzte ab, und Investoren warfen Anleihen der europäischen Krisenstaaten auf den Markt. So weit das, was zu beobachten war. Nicht zu beobachten war die korrigierende Hand, die nun eingriff. Die Anleihehändler der Europäischen Zentralbank (EZB) gaben viele Millionen Euro aus, um die abgestoßenen Papiere aufzukaufen und die Märkte zu beruhigen. Denn noch am Vormittag musste die italienische Regierung an ebendiesen Märkten 11,5 Milliarden Euro aufnehmen. Rösler macht Radau – und hinter den Kulissen dämmt die EZB den Schaden ein. Damit ist das Dilemma umrissen, in dem Europas Notenbanker gerade stecken. Die Politik zieht sich aus dem Rettungsgeschäft zurück, und je mehr sie das tut, desto mehr Aufgaben müssen sie übernehmen. Sie kaufen Wertpapiere und retten Banken. Sie kontrollieren Finanzunternehmen und überwachen Staaten. Sie tun Dinge, die man bislang als Notenbanker einfach nicht tat. Der deutsche Chefvolkswirt der Bank, Jürgen Stark, mochte da nicht mehr mitmachen und trat zurück. Auch sonst ist der Kurswechsel nicht gerade populär. Umfragen der Europäischen Kommission

zufolge vertrauen nur noch 47 Prozent der Deutschen der EZB. Bundespräsident Christian Wulff warnte die Notenbank, der Ankauf von Staatsanleihen könne »allenfalls übergangsweise toleriert werden«. Ben Bernanke, der Chef der amerikanischen Zentralbank, die mit ganz ähnlichen Problemen kämpft, musste sich vom republikanischen Präsidentschaftsbewerber Rick Perry kürzlich gar »Landesverrat« vorwerfen lassen. Was die neue Linie mit dem Ruf der Geldhüter anrichtet, ist die eine Frage. Die andere, viel wichtigere Frage lautet: Was richtet sie mit dem Geld an? Man kann davon ausgehen, dass sich Jean-Claude Trichet diese Frage sehr oft stellt. Trichet ist so etwas wie der Zeremonienmeister der Zentralbankzunft. Seit acht Jahren steht der Franzose an der Spitze der Europäischen Zentralbank, alle zwei Monate leitet er das Global Economy Meeting in Basel, wo sich die führenden Notenbankchefs der Welt treffen. Die Gespräche sind so geheim, dass nicht einmal Teilnehmerlisten veröffentlicht werden. Am Wochenende tagte die Basler Runde wieder einmal, und Trichet sah etwas zerfurcht aus, als er am Montag das Ergebnis der Diskussionen verkündete: Die Notenbanker werden alles tun, um die Stabilität der globalen Wirtschaft zu sichern. Das bedeutet: Sie halten die Zinsen unten und kaufen weiter Staatsanleihen. Sie schütten also noch mehr Geld in die Welt. Seit vier Jahren fluten sie nun schon die Märkte – um nicht den Fehler zu wiederholen, den ihre Vorgänger vor achtzig Jahren während der Großen Depression begangen haben. Damals machten sie die Krise durch Geldentzug nur schlimmer.

Es ist Trichet anzumerken, dass ihm all das nicht leicht von der Hand geht. Sein Renommee gründet darauf, ein besonders harter Hund zu sein. In den neunziger Jahren trieb er den Franzosen die Inflation aus, man schimpfte ihn in seinem Heimatland einen »Preußen«. Seinerzeit war die Rollenverteilung auch noch klar geregelt: Unabhängige Zentralbanken sorgten für stabile Preise, indem sie die Zinsen anhoben oder senkten. Sie mussten dafür keine Mehrheiten gewinnen und sich nicht um ihre Wiederwahl sorgen. Sie konnten tun, was die Sache gebot. Das Geldwesen

Die Krise geht weiter Merkels Personalnöte Der Soros-Plan Sorgen bei Franzosen und Briten

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jener Jahre: ein Paradies für Technokraten. Maximale Freiheiten für die Notenbanker, aber innerhalb eines eng abgesteckten Mandats – das waren die Bedingungen, unter denen die westlichen Demokratien auf Kontrollrechte verzichteten. Das Modell hat in mancherlei Hinsicht funktioniert. Die Inflation war in den Industriestaaten lange kein Problem. Doch während sich die Preise für Waren und Dienstleistungen stabilisierten, bauten sich an den Finanzmärkten riesige Ungleichgewichte auf, die sich in der großen Krise entluden.

Wie sehr sich die Welt seither verändert hat, zeigt eine Episode aus dem August. Zwei streng geheime Briefe verlassen an einem Donnerstag das Hauptquartier der EZB in Frankfurt. Die Empfänger sind Silvio Berlusconi, Ministerpräsident der Italienischen Republik, und José Luis Zapatero, Regierungspräsident Spaniens. Beide Briefe enthalten detaillierte Reformvorschläge samt Zeitplan: Privatisierungen, Reformen am Arbeitsmarkt, zusätzliche Sparmaßnahmen. Berlusconi und Zapatero lenken ein. Kurz darauf rufen die Händler der EZB bei den großen Investmentbanken an, fragen nach den Preisen für italienische und spanische Staatsanleihen und beginnen damit, diese aufzukaufen. Reformen gegen Nothilfe – das ist der Ansatz der Notenbank. Für insgesamt 143 Milliarden Euro hat die EZB inzwischen Schuldpapiere der Krisenländer erworben. Andere tun noch mehr: Die amerikanische Notenbank hat US-Anleihen im Wert von 600 Milliarden Dollar auf ihre Bilanz genommen, die Bank von England hat sich für 200 Milliarden Pfund mit Briten-Bonds eingedeckt. Tauschgeschäfte mit demokratisch gewählten Regierungen, Milliardenrisiken in den Büchern – die EZB sei heute eine mächtige Institution »mit weitreichenden Kompetenzen und umfassenden Befugnissen«, sagt Guntram Wolff von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. Die Technokraten treffen Entscheidungen, die eigentlich Sache der Politik sind. Jürgen Stark ist nicht der Einzige, der damit nichts mehr zu tun haben wollte. Im Frühjahr zog sich Fortsetzung auf S. 24

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STEUERFLUCHT

Lieber so als anders Der deutsche Deal mit der Schweiz ist unschön, aber gut Ja, es ist eine Amnestie, die Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) reichen Steuersündern angedeihen lassen will, die ihr Geld seit Jahren in der Schweiz liegen haben. Dass ein SPD-Landesfinanzminister das geplante deutsch-schweizerische Abkommen als »skandalös« verurteilt, ist merkwürdig, weil doch die SPD, als sie im Bund regierte, auch schon einmal eine Steueramnestie erlassen hat. Jetzt aber wollen die Sozialdemokraten über den Bundesrat verhindern, wie NRWFinanzminister Norbert Walter-Borjans ankündigte, dass das im August paraphierte Abkommen nächstes Jahr in Kraft tritt. Eine solche Blockade wäre ein politischer und fiskalischer Fehler. Denn der mit den Schweizern vereinbarte Deal ist zwar ein Kompromiss mit politisch unschönen Facetten (die Deutschen dürften beispielsweise keine Bankdaten-CDs mehr ankaufen), unterm Strich aber bringt er mehr Steuergerechtigkeit und mehr Staatseinnahmen. Die Schweiz will künftig die bei ihren Banken anfallenden Zinsen deutscher Bürger mit 26 Prozent besteuern und das Geld nach Deutschland überweisen. Das ist ein großer Fortschritt. Überdies sollen unehrliche deutsche Steuerbürger die Möglichkeit erhalten, ihr in der Schweiz befindliches Vermögen zu legalisieren, indem sie die Zinsen mit einer Einmalzahlung anonym nachversteuern. Unterm Strich sollen es typischerweise 20 bis 25 Prozent des Vermögens (also nicht nur der Zinsen) sein, die der deutsche Fiskus einkassiert. Dass die Anleger dafür straffrei bleiben, falls sie doch noch enttarnt werden, ist vertretbar. Bei einer Selbstanzeige ist es ja auch so. RÜDIGER JUNGBLUTH

30 SEKUNDEN FÜR

Liebesbriefe Den Amerikanern wird oft ein übertriebener Hang zur Romantik unterstellt. Schnulz und Schmalz sollen nun auch die US-Post vor der Pleite retten: Die Senatorin Claire McCaskill hat dazu aufgerufen, mehr Liebesbriefe zu verschicken. In Deutschland verdient die Post noch am Briefgeschäft, aber auch hier gibt es Konkurrenz durch die E-Mail. Schwer vorstellbar, dass der Aufruf, mehr Liebesbotschaften zu versenden, bei den nüchternen Deutschen fruchten würde. Wem würden wir so etwas auch abnehmen? Einem Rainer Brüderle, der uns Liebesschwüre nahelegte? Könnte uns Angela Merkel bezirzen, das geblümte Briefpapier aus der Schreibtischschublade zu ziehen? US-Post-Chef Patrick Donahoe indes hat Senatorin McCaskill zwar versprochen, eine Kampagne für den Erhalt des Briefes zu starten. Dass dies allein ausreiche, glaubt er aber offenbar selbst nicht. Er schlug Massenentlassungen und Filialschließungen vor – total unromantisch. JOHANNA RITTER

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WIRTSCHAFT

DIE ZEIT No 38

Klima komplex Bislang war die Sache eindeutig: Alte Kohlemeiler durch neue Gaskraftwerke zu ersetzen galt als die beste Methode, der Erderwärmung entgegenzuwirken – jedenfalls so lange, wie Strom aus erneuerbaren Quellen nicht ausreichend zur Verfügung steht. So einfach ist es jedoch nicht, lautet das Ergebnis einer Studie, die im Oktober veröffentlicht werden soll. Danach reduziert der Wechsel von Kohle zu Gas bei der Stromerzeugung die klimaschädlichen CO2-Emissionen, so wie man es bisher schon annahm. Zugleich aber vermindert sich auch der bei der Kohleverstromung erhebliche Ausstoß von Partikeln. Diese Partikel wiederum blockieren das auf die Erde fallende Sonnenlicht. Zusammen führt das dazu, dass der Umstieg auf Gas »bei der Lösung des Klimaproblems wenig hilft«, sagt der Autor der Studie, der weltweit anerkannte australische Klimaforscher Tom Wigley. Bislang galt Gas als wichtigste »Brückenenergie« auf dem Weg in ein nicht fossiles Zeitalter. Fällt der flüchtige Brennstoff im Klimakampf jetzt aus, hilft das vielleicht der Kernenergie: Zu den 432 laufenden Reaktoren kämen bis 2030 noch einmal 90 bis 350 AKW hinzu, prognostizierte vergangene Woche die Internationale Atombehörde in Wien. TEN

Industrie unruhig Die Turbulenzen an den Börsen und Anleihemärkten treiben jetzt auch Manager aus der Realwirtschaft zu deutlichen öffentlichen Kommentaren. »Unmoralisch« findet es Bosch-Chef Franz Fehrenbach, wenn Banken und Fonds ungeniert gegen Euroland wetten. »Die Finanzmärkte müssen endlich reguliert werden, zumindest europaweit und, soweit möglich, darüber hinaus. Sonst wird auf alles und gegen jeden gewettet«, sagt der Chef des weltgrößten Automobilzulieferers mit rund 300 000 Beschäftigten. Fehrenbachs Ansichten decken sich in großen Teilen mit einem kürzlich bekannt gewordenen Strategiepapier des Franz Fehrenbach BDI, in dem ein »politischer Masterplan« für kritisiert die Europa und den Euro Finanzmärkte gefordert wird. Der Bosch-Chef erhofft sich, dass die Wirtschaft auf dem anstehenden BDI-Tag Ende September gemeinsam Druck auf die Politik ausübt. DHL

EU in Geldsorgen Mit einem Positionspapier haben acht reiche EU-Mitgliedsstaaten Front gegen den künftigen EU-Haushalt gemacht. Die EU-Kommission sieht für 2014 bis 2020 Verpflichtungen von rund 1200 Milliarden Euro vor. »Zu hoch«, schreiben die wirtschaftsstärksten Mitglieder, darunter Frankreich, Großbritannien und Deutschland. 100 bis 120 Milliarden Euro über »dem, was wir für verantwortbar halten«, so Werner Hoyer (FDP), Staatsminister im Auswärtigen Amt. EU-Parlamentarier halten dagegen. »Die Regierungen müssen ehrlicher werden«, kritisiert Reimer Böge (CDU). Auf der einen Seite würden sich die Staaten zu mehr Entwicklungshilfe und stärkerer europäischer Außen- und Sicherheitspolitik bekennen, »dann aber wollen sie das nicht finanzieren«. Die Haushaltsexpertin der Grünen, Helga Trüpel, sagt: »Wir können nicht einfach das Budget zusammenstreichen, sondern müssen intelligent investieren.« TAT

Diktatur wagen? Der Philosoph Peter Sloterdijk hat vorgeschlagen, für die private Fortbewegung eine Art Emissionsrechtehandel einzuführen. »Ich kann mir vorstellen, dass es irgendwann ein Mobilitätsguthaben gibt«, sagte er am Dienstag auf dem Kongress Traffic Talks in Bonn, wo Vertreter der Bahn- und Verkehrsbranche diskutierten. Sloterdijk würde jedem Einwohner ein Jahresbudget von beispielsweise 15 000 Kilometer für Reisen zubilligen. »Wer sein Guthaben überzieht, muss sich dann Lizenzen hinzukaufen«, sagPeter Sloterdijk will te der Philosoph. In weniger reisende Zeiten von KlimawanDeutsche del und Energieknappheit stoße die mobile Freiheit an ihre Grenzen. Sloterdijk: »Wir müssen mehr Diktatur wagen!« Widerspruch kam unter anderem von Ex-Bahnchef Johannes Ludewig: »Wir brauchen keine Kontingentierung. Wir brauchen die richtigen Preise.« Verkehrsleistungen seien heute einfach zu billig. KEB

Fotos [M]: Sean Gallup/Getty Images; Stefan Boness/VISUM; Andreas Varnhorn (v.l.n.r.); klein: action press (2)

MACHER UND MÄRKTE

Deutschlands Krisenmanager: Bundeskanzlerin Angela Merkel (links), Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (oben) und Jürgen Stark, der scheidende Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank

Frau Merkels Garküche Der Politikstil der Kanzlerin funktioniert nicht mehr. Ihr fehlen Ideengeber und Fachleute

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ede chinesische Garküche funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Was geht schnell, was passt in den Wok, was lässt sich kurzfristig heiß machen? Eine Garküche liefert immer das, was ihre hungrigen Kunden gerade wollen. Das ist das Prinzip, nach dem Angela Merkel Politik macht. Merkel war mal Reformerin und dann wieder nicht; sie war Klimaschützerin und dann wieder nicht; sie war gegen den schnellen Atomausstieg und dann wieder dafür. Sie war zunächst dagegen, den Griechen zu helfen, und nun, da sie die entschlossene Griechenland-Retterin gibt, glauben ihr die eigenen Leute nicht mehr. Merkels Garküche laufen die Kunden davon. Wenn man weiß, was man zu erwarten hat, muss so eine Garküche gar nicht einmal schlecht sein. Ihr Prinzip funktioniert so lange, wie die Kunden das Übliche bestellen und die gewohnten Zutaten vorhanden sind. Aber es stößt an seine Grenzen, wenn es auf einmal Sonderwünsche gibt und gleichzeitig die Zutaten ausgegangen sind. Angela Merkels Politikstil mag bis zum Ausbruch der Krise 2008 funktioniert haben. Aber nun funktioniert er nicht mehr, auch wenn die Zeit in der Großen Koalition das zunächst überdeckt hat. Denn in dieser Krise gibt es nichts mehr, woran man sich orientieren kann; was gestern noch richtig war, ist heute bereits falsch, und was heute als falsch gilt, kann morgen schon notwendig (vulgo: alternativlos) sein. Eine Regierung, die in diesem Chaos fortwährend die Richtung ändert, vergrößert das Chaos nur. Sie wirkt dann beliebig und überfordert. Erst recht, wenn sie nicht mehr erklären kann, warum sie so handelt, wie sie handelt.

Wenn man so will, dann verlangt diese Krise von Merkels kleiner Garküche, dass sie auf einmal ganz neue Gerichte erfindet, dabei ohne die bekannten Zutaten auskommt und das Ganze dann noch in Sternequalität produziert. Dazu bräuchte sie gute Ideen und gutes Personal. An beidem mangelt es. Das fängt im Kabinett an, wo Philipp Rösler unaufgefordert die Pleite Griechenlands herbeireden darf. Ganz so, als habe das keine Folgen an den Märkten. Als würde nicht jedes unbedachte Wort des Wirtschaftsministers die Probleme der EuroZone – und damit auch die Deutschlands – weiter vergrößern. Über eine Umschuldung Griechenlands spekuliert man nicht. Man macht sie einfach. Solange man sie aber nicht machen kann, sollte man auch nicht darüber spekulieren. Dass der Wirtschaftsminister diese einfache Wirtschaftsweisheit nicht kennt – oder sie einfach nicht beherzigt, weil er mit Blick auf die Wahl in Berlin ein bisschen auf Populismus macht – ist das erste Personalproblem. Das zweite ist der Abgang von Jürgen Stark. Der bisherige Chef-Volkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB) wird jetzt heroisiert; er gilt als letzter Verfechter der deutschen Stabilitätskultur. Mag sein, dass Stark wegen Merkel ging. Aber er ging auch, weil er sich auf die neuen Zeiten nicht einstellen konnte und auch nicht wollte. In Starks Welt kümmern sich Notenbanker nur um die Bekämpfung von Inflation und sonst um nichts. In

dieser Welt muss alles so sein wie immer, weil es eben immer schon so war. Es ist die Vorkrisenwelt. Mit Leuten wie Jürgen Stark macht man aus einer Garküche kein Sternerestaurant. Merkels Dilemma ist, dass der Rücktritt von Stark, der ihr eigentlich nützen könnte, überhaupt nichts nützen wird. Denn in der eigenen Bundestagsfraktion, in der viele Abgeordnete der Kanzlerin ob ihrer ganzen Wenden nicht mehr vertrauen, gilt dieser Rücktritt nur als ein weiterer Beleg dafür, dass gute Männer der neuen Zeit zum Opfer fallen. Außerdem kann man sich natürlich auch fragen, was genau eigentlich Starks Nachfolger – den bisherigen Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen – für den Job in der EZB qualifiziert. Asmussen ist ein Technokrat, er kann schnell ein Rettungspaket zusammenstellen, wenn er eines zusammenstellen soll. Das macht er gut. Aber bislang musste er sich nie als Ideengeber beweisen, musste nie etwas öffentlich erklären, einordnen oder bewerten. Genau dies aber sollte ein Notenbanker können, in dieser Krise, in der auch die EZB nach einer neuen Rolle sucht. Insofern liegt es nahe, dass Merkel den braven Asmussen auch deswegen von Berlin nach Frankfurt schicken wird, weil sie niemand Neues mehr für ihre Truppe gewinnt. Auch der neue Wirtschaftsberater der Kanzlerin, der Ökonom Lars-Hendrik Röller, war angeblich nicht der erste Kandidat für diesen Job.

Aktienindizes im freien Fall Kurs des Dax und des Euro Stoxx 50 in den vergangenen drei Monaten 13.6. 7085

Fortsetzung von S. 23

Außerdem sucht die Regierung seit Monaten einen Nachfolger für Jochen Sanio, den Chef der Finanzaufsicht Bafin. Sanio scheidet in vier Monaten aus, das ist lange bekannt. Dennoch findet sich niemand, der dieses Amt übernehmen will. Und im Finanzministerium sind gleich mehrere herausgehobene Stellen unbesetzt – und das in einer Phase, in der alle Mitarbeiter eigentlich gefordert sein müssten wie nie. In dieser Krise wird von Politikern und Beamten gern mit dem Finger auf »die Märkte« gezeigt; sie seien brutal und nur auf das schnelle Geld aus, heißt es dann. »Die Märkte« verstünden nicht, wie Politik funktioniere. Aber womöglich ist es doch genau andersherum: Nicht die Märkte sind zu schnell, sondern die Politik ist zu langsam. Nicht die Märkte verstehen zu wenig von Politik, sondern die Politik versteht zu wenig von den Märkten – und das gilt für die Kabinettsmitglieder genauso wie für die Fachbeamten in den Ministerien. Neues Personal aus der Wirtschaft findet Merkel aber auch deswegen nicht, weil niemand zwei Jahre vor Ende der Legislaturperiode nach Berlin wechseln will – jedenfalls dann nicht, wenn eine Regierung so erkennbar keine Chance auf Verlängerung hat wie diese schwarz-gelbe Koalition. Viele Manager scheinen Merkels Truppe längst abgeschrieben zu haben. Dazu gehören wollen sie erkennbar nicht. In chinesischen Garküchen gibt es einen Trick, mit dem selbst aus dem miesesten Essen noch ein kleines Geschmacksfeuerwerk wird: Man gibt Glutamat dazu. Angela Merkel bleibt dieser letzte Trick, diese letzte Überraschung, nicht mehr. Dazu hat sie die Bürger, aber auch die eigenen Leute, einmal zu viel überrascht. Sie muss mit dem auskommen, was sie hat – auch mit dem Personal.

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DAX Bundesbankpräsident Axel Weber zurück, in den USA gab der Notenbanker Kevin Warsh auf. Die Anleihemanöver sind ja auch riskant: Je mehr Papiere die EZB kauft, desto geringer wird für die Regierungen der Anreiz, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen. Die Interventionen der Notenbank halten die Zinsen niedrig, was die Aufnahme neuer Schulden erleichtert. Am Ende, so fürchten Skeptiker, werden die Staatsschulden durch das Anwerfen der Notenpresse finanziert, und die Inflation kommt zurück. Im Rat der EZB sind die finanzschwachen Staaten längst in der Mehrheit. »Da geht es ganz knallhart um nationale Interessen«, sagt ein Notenbanker aus dem Norden. Aber es geht auch um die politische Lage im fünften Jahr der Krise, in dem nach Einschätzung vieler Experten nicht die Teuerung das drängendste Problem ist, sondern ein erneuter Konjunkturabsturz. Das billige Geld hilft, diesen Absturz abzumildern, während die überschuldeten Staaten ihre Haushalte sanieren. »Die Lehre aus vergangenen Krisen ist, dass eine aggressive Lockerung der Geldpolitik die Anpassung erleichtert und den Schaden für die Wirtschaft begrenzt«, sagt Adam Posen, Mitglied im Rat der Bank von England. Das gilt in Europa ganz besonders, denn die Mitgliedsstaaten der Währungsunion sind den Finanzmärkten schutzlos ausgeliefert. Weil sie keine eigene Zentralbank mehr haben, können sie nicht in allergrößter Not Geld drucken, wenn ein Zahlungsengpass droht. Das wissen die Investoren, die deshalb ihr Geld beim geringsten Anschein von Gefahr abziehen. Wenn sich niemand gegen den Trend stellt, droht eine Abwärtsspirale aus steigenden Zinsen und wachsenden Schulden. Die Angst vor der Pleite führt die Pleite herbei. Und die Angst ist gewaltig seit jenem Gipfeltreffen der europäischen Staatenlenker im vergangenen Oktober in Brüssel, das auf Betreiben Deutschlands und Frankreichs den Weg für einen Schuldenschnitt in der Währungsunion frei machte – was zuvor als undenkbar galt. Es ist

VON MARC BROST

EURO STOXX 50

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ZEIT-Grafik/Quelle: comdirect.de

kurz vor neun, als Trichet das Wort ergreift. Die Debatte über Staatspleiten werde Unruhe an die Märkte bringen, warnt er. »Sie bedenken den Ernst der Lage nicht.« Nicolas Sarkozy fällt ihm ins Wort. Die Politik treffe die Entscheidungen. Nicht die Zentralbank. Zum nächsten Gipfel zwei Monate später reist Trichet mit einem Satz bunter Grafiken an. Sie zeigen, wie die Zinsen für die finanzschwachen Länder des Währungsraums in die Höhe geschossen sind. Inzwischen ziehen die Anleger ihr Geld auch aus Italien und Spanien ab, selbst französische Banken gelten als toxisch. Schon sind neue Rettungsprogramme in Vorbereitung. Es gebe Indizien dafür, dass sich amerikanische Investoren nur noch mit kurzfristigen Krediten in Europa engagierten, berichtete der Europaberater von Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich in einer vertraulichen Runde. So könnten sie sich bei Gefahr schnell zurückziehen.

Auch Jürgen Stark ist sich bewusst, wie ernst die Lage ist. Am vergangenen Mittwoch berichtet er seinen Kollegen im Zentralbankrat von den desaströsen Zuständen in Griechenland. Wenige Stunden vor der Veröffentlichung seiner Rücktrittserklärung am Freitag sagt er einem irischen Reporter, derzeit sei in Europa »kein Land wirklich geschützt«. Stark muss sich um solche Dinge bald nicht mehr kümmern, aber die Regierungen und Parlamente in Europa müssen es. Und sie sind damit heillos überfordert. Inzwischen gibt es zwar einen Rettungsfonds, der präventiv eingreifen darf, wenn die Kapitalflucht droht. Er kann Garantien vergeben, Anleihen kaufen und Banken stützen. Doch der Fonds ist zu klein, um Italien oder Spanien abzuschirmen, und er kann überhaupt erst aktiviert werden, wenn alle Mitgliedsländer zustimmen. Mehr Geld und mehr Kompetenzen, das gilt aber vor allem in Deutschland als

nicht durchsetzbar. Schon die jetzt geplante Aufstockung treibt die Abgeordneten der FDP auf die Barrikaden. Nur die EZB ist einsatzbereit. Sieben Tage die Woche. Rund um die Uhr. Über eine abhörsichere Telefonleitung kann Trichet seine NotenbankerKollegen jederzeit zur Telefonkonferenz einberufen. Er kann jederzeit Geld drucken und wieder einsammeln. Der Ankauf von Staatsanleihen mag unkonventionell sein – aber nichts zu tun, wenn die Währungsunion auf dem Spiel steht und niemand anders eingreift, kommt für die EZB nicht infrage. »Wir können uns nicht hinter Prinzipien und Regeln verstecken, die für theoretische Situationen gemacht wurden, die nichts mehr mit der Realität zu tun haben«, sagt Lorenzo Bini Smaghi, Mitglied im Direktorium der Notenbank. So schleppt die EZB kränkelnde Banken durch und stemmt sich mit Staatsanleihekäufen gegen die Panik an den Märkten – und sie hofft, dass private Anleihekäufer Vertrauen fassen, wenn erst der Kursverfall aufgehalten wird. Gut möglich, dass die Welt längst wie in den dreißiger Jahren im Chaos versunken wäre, wenn die Notenbanken nicht mit der Tradition ihrer Vorgänger gebrochen hätten. So gesehen, hat es sich ausgezahlt, auf ein Stück Demokratie zu verzichten und den Zentralbanken das Ruder zu überlassen. Doch je mehr die Notenbanken zum Reparaturbetrieb für die Politik werden, desto größer ist die Gefahr, dass die Regierungen den Kampf gegen die Krise ganz den Zentralbanken überlassen. Es ist ja auch bequemer, als die Wähler mit unangenehmen Entscheidungen zu konfrontieren. Für die Demokratie wäre eine solche Ersatzregierung auf Dauer schädlich, für die Notenbanker ebenso. Trotzdem baut die Berliner Koalition insgeheim schon wieder auf Hilfen der EZB. Wenn die Griechen tatsächlich in die Pleite geschickt werden und die Mittel des Rettungsfonds nicht ausreichen, sollen die Währungshüter ran. Philipp Rösler wird dann vermutlich der Erste sein, der das öffentlich kritisiert.

WIRTSCHAFT

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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Der italienische Premier Silvio Berlusconi (links), Demonstration in Thessaloniki (Mitte). Kleines Bild oben: Im Juni begrüßen der griechischen Regierungschef Giorgos Papandreou (sitzend links) und Abgeordnete den Beschluss des Sparprogramms

Europa hat nur einen Ausweg GEORGE SOROS

ist der bekannteste Spekulant der Welt. Hier fordert er: Plant mit dem Euro-Austritt Griechenlands, Portugals und Irlands!

D

ie Eurokrise ist eine direkte Spanien und Italien. Sie boten den Inhabern grieFolge des großen Crashs chischer Staatspapiere einen »freiwilligen« Umvon 2008. Als Lehman schuldungsplan an, aber ansonsten gab es keinerlei Brothers unterging, musste weitere Arrangements für einen möglichen Kreditdas ganze Finanzsystem an ausfall oder gar einen Austritt aus der Euro-Zone. die Herz-Lungen-MaschiWegen dieser zwei Unterlassungen fehlt jetzt ein ne gehängt werden. Staatli- gangbarer Lösungsweg. Wenn Italien Risikopräche Kreditvergabe musste die nun ausfallende mien von drei Prozent oder mehr zahlen muss, wird Kreditvergabe von Banken und anderen Institu- seine Schuldenbelastung irgendwann so schwer zu tionen ersetzen. bewältigen sein wie die griechische heute. Im November 2008 versprachen die EuropäiAls Not- und Übergangslösung hat die Europäischen Finanzminister, dass sie das System vor wei- sche Zentralbank (EZB) damit begonnen, spanische teren Pleiten schützen würden. Angela Merkel er- und italienische Anleihen am Markt aufzukaufen. klärte damals aber, dass solche Garantien nicht von Diese Entscheidung war genauso kontrovers wie der EU oder der Euro-Zone insgesamt ausgespro- zuvor der Entschluss, griechische Staatsanleihen zu chen werden sollten, sondern von einzelnen Staaten. erwerben. Damals trat Axel Weber, das deutsche Damals wurde schon klar, was der Euro-Zone fehlt: Direktoriumsmitglied, aus Protest zurück. Jetzt ist ein gemeinsames Finanzministerium. Jürgen Stark dran, der deutsche Chefökonom der Die Euro-Krise ist der amerikanischen Subpri- EZB. So oder so sind die Rettungsmaßnahmen, die me-Krise, die den Crash von 2008 auslöste, recht im Augenblick laufen, begrenzt. Die vorgesehene ähnlich. In beiden Fällen verlor ein angeblich risi- finanzielle Leistungsfähigkeit der EFSF ist schon kofreies Wertpapier – verbriefte Immobilienkredi- quasi ausgeschöpft durch die drei Rettungsaktionen, te damals und europäische Regierungsanleihen die im Augenblick laufen. heute – an Wert. Die Euro-Krise ist allerdings Zugleich hat die griechische Regierung wachschwerer zu bewältigen, eben weil ein gemeinsames sende Probleme damit, die Bedingungen des HilfsFinanzministerium fehlt, welches zur Reaktion auf programms zu erfüllen. Die drei Institutionen, die die Krise gebraucht würde. Ohne den politischen das Ganze überwachen, sind unzufrieden, grieWillen, ein solches einzurichten, ist auch eine Lö- chische Banken reagierten zögerlich auf die jüngssung nicht abzusehen. Und weil das so ist, haben te Ausgabe von Regierungspapieren, und der griedie Verantwortlichen in der Zwischenzeit versucht, chischen Regierung gehen die Mittel aus. Unter diesen Umständen könnten ein geordZeit zu schinden. Nun ist Zeitschinden normalerweise gar keine neter Staatsbankrott und ein zeitweiser Austritt aus schlechte Taktik: Im Lauf der Zeit verschwindet die der Euro-Zone besser sein als ein lang verlängertes Leiden. Darauf hat sich aber Panik wieder, und die Zuversicht niemand vorbereitet. Ein ungekehrt zurück. In diesem Fall aber ordneter Staatsbankrott aber nicht. Unter dem Druck der Krise unternehmen die Verkönnte eine Finanzmarktschmelantwortlichen zwar sämtliche ze wie nach dem Bankrott der Schritte, die nötig sind, um das Lehman Brothers auslösen – mit System zusammenzuhalten – dem Unterschied, wie schon geaber immer nur das Minimum, sagt, dass es in diesem Fall kein und das wiederum empfinden gemeinsames europäisches FiGEORGE SOROS die Finanzmärkte als unzureinanzministerium gäbe, das auf chend. So scheint Europa zu eidie Krise angemessen reagieren Die deutsche Öffentkönnte. ner Krise ohne Ende verdammt. lichkeit glaubt immer Kein Wunder also, dass man Selbst Schritte, die etwas früher noch, dass man eine im Krisenverlauf noch gewirkt an den Finanzmärkten Angst hat. Wahl habe zwischen hätten, erweisen sich als inadäDie Risikoprämien auf Regiequat, wenn sie endlich politisch der Unterstützung für rungsanleihen sind gestiegen, möglich werden. Aktienkurse sind gefallen, vor den Euro und seiner allem Bankaktienkurse, und der Das ist der Schlüssel, um die Aufgabe. Falsch ganze Euro-Kurs ist kürzlich Euro-Krise zu verstehen. nach unten ausgebrochen. Die Wo stehen wir nun in diesem Volatilität an den Märkten erinProzess? Ansätze zu einem gemeinsamen europäischen Finanzministerium sind nert an den Crash von 2008. Leider ist das Vermögen der Finanzbehörden, immerhin zu erkennen: in der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und ihrem die zur Krisenbekämpfung notwendigen Schritte Nachfolger ab 2013, dem Europäischen Stabilitäts- zu unternehmen, durch das jüngste Urteil des deutmechanismus (ESM). Die EFSF hat aber nicht schen Verfassungsgerichts schwer beschränkt worgenügend Kapital zur Verfügung, und ihre Funk- den. Offenbar kommen die Verantwortlichen auch tionen sind nicht vernünftig definiert. Sie ist groß nicht mehr weiter mit ihrer Politik des Zeitschingenug, um Griechenland, Portugal und Irland zu dens. Selbst wenn eine Katastrophe abgewendet retten, aber nicht groß genug für Spanien, Italien werden kann, ist eine Sache sicher: Die Notwendigoder gar das Banksystem. Ihr größter Mangel ist, keit, all diese Staatsdefizite abzubauen, wird die dass sie bloß ein Geldeintreibe-Mechanismus ist; Euro-Zone in eine lange Rezession stürzen. Eine die Beschlussmacht zur Geldvergabe liegt bei den solche lange Rezession hat unkalkulierbare politiRegierungen der Mitgliedstaaten. Deshalb ist die sche Folgen. Die Euro-Krise könnte den politischen EFSF zur Reaktion auf Krisen ungeeignet; sie muss Zusammenhalt der Euro-Zone gefährden. Wenn die Verantwortlichen so weitermachen, ja abwarten, bis sie Anweisungen aus den einzelnen gibt es aus diesem trüben Szenario auch kein EntStaaten erhält. kommen. Sie könnten aber den Kurs ändern. Sie könnten einsehen, dass es nicht mehr so weitergeht Die Reaktion auf die jüngste Krise wie bisher; sie könnten nach einer echten Lösung brachte die Saat für die nächste aus suchen und dann einem Weg hin zu dieser Lösung Diese Situation hat sich durch die jüngste Ent- einschlagen. scheidung des deutschen Verfassungsgerichts In einer Finanzkrise wird das politisch Unmögnoch verschlimmert. Das Gericht befand die liche manchmal doch politisch möglich. Ein erster EFSF zwar als verfassungsgemäß, verbot aber Schritt wäre es, sich auf die Möglichkeit eines Staatsjedwede künftige Bürgschaft gegenüber anderen bankrotts und eines Austritts aus dem Euro vorzubeStaaten, ohne dass zunächst der Haushaltsaus- reiten, und zwar im Fall von Griechenland, Portugal schuss des Bundestages zustimmt. und möglicherweise auch Irland. Um eine FinanzAls die Verantwortlichen auf die jüngste Krise marktschmelze zu vermeiden, müssten dann vier reagierten, brachten sie die Saat für die nächste verschiedene Dinge getan werden. Krise aus. Sie besorgten vergünstigte Kredite für Erstens: Bankeinlagen müssen geschützt werden. Griechenland, Portugal und Irland, aber nicht für Wenn ein Euro in einer griechischen Bank verloren

»

Fotos [M]: Mauro Scrobogna/AP/ddp; Grigoris Siamidis/Reuters; Giorgos Kontarinis/AP/ddp (v.l.n.r.); action press (u.)

«

ginge, dann gälte ab sofort ein Euro in einer (zum Beispiel) italienischen Bank als weniger sicher als ein Euro in einer deutschen oder niederländischen Bank. Die Menschen in den Defizitländern würden die Banken stürmen und ihr Geld abheben. Zweitens: Ein paar Banken in den Bankrottstaaten müssten am Laufen gehalten werden, um einen Zusammenbruch der ganzen Volkswirtschaft zu vermeiden. Drittens: Das europäische Bankensystem müsste rekapitalisiert werden, und es müsste unter europäische statt unter nationale Aufsicht. Viertens: Man müsste verhindern, dass der Ausfall in einem Krisenland das Vertrauen in die Regierungsanleihen der anderen Defizitländer zerstört. Die Punkte drei und vier sind übrigens auch dann notwendig, wenn am Ende überhaupt kein Land in den Staatsbankrott geht. Das kostet alles Geld. Unter den bisherigen Arrangements gibt es aber kein zusätzliches Geld, und neue Arrangements hat das Verfassungsgericht ja verboten. Also bleibt keine Alternative, als endlich das fehlende europäische Finanzministerium zu gründen, das Steuern erheben und Schulden aufnehmen kann. Dafür bräuchte man einen neuen Vertrag, eine große Transformation der EFSF. Man bräuchte dafür auch einen radikalen Einstellungswandel, besonders in Deutschland. Das größ-

te und an den Finanzmärkten am höchsten angesehene Gläubigerland der EU entscheidet nun über die Zukunft Europas. Die deutsche Öffentlichkeit glaubt immer noch, dass man eine Wahl habe zwischen der Unterstützung des Euro und seiner Aufgabe. Falsch. Der Euro ist eine Realität, und die Vermögensbestände und Forderungen des Finanzsystems sind auf der Basis der Gemeinschaftswährung so eng miteinander verwoben, dass ein Zusammenbruch des Euro eine Finanzmarktschmelze auslösen würde, derer niemand mehr Herr wird. Je länger es dauert, bis die deutsche Öffentlichkeit das einsieht, desto höher wird der Preis, den Deutschland und die Welt bezahlen müssen.

Die Diskussion über einen neuen Vertrag sollte sofort beginnen Die Frage ist, ob die deutsche Öffentlichkeit von diesem Umstand auch überzeugt werden kann. Angela Merkel ist vielleicht in der Lage, ihre eigene Koalition auf diesen Weg zu bringen, aber sie könnte die Opposition einspannen. Wenn sie die EuroKrise löst, muss sie sich vor den kommenden Wahlen weniger fürchten. Wenn man nun Vorbereitungen für einen möglichen Staatsbankrott oder Euro-Austritt der drei kleinen Länder trifft, heißt das nicht, dass man sie aufgibt. Im Gegenteil. Die Aussicht auf einen geordneten

Staatsbankrott – finanziell unterstützt von den anderen Mitgliedern der Euro-Zone und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) – würde Griechenland und Portugal politischen Gestaltungsraum eröffnen und außerdem die perversen Anreize beseitigen, die im Augenblick die Lage bestimmen. Ein Austritt aus dem Euro würde es ihnen erleichtern, Wettbewerbsfähigkeit zurückzuerlangen. Wenn sie aber dazu bereit sind, die notwendigen Opfer zu bringen, können sie den Euro auch behalten. Über die Einzelheiten eines solchen neuen Vertrages müssen die Mitgliedstaaten entscheiden. Die Diskussion darüber sollte aber sofort beginnen, denn selbst unter großem Druck wird dieser Prozess sehr lange dauern. Wenn erst einmal im Grundsatz die Schaffung eines europäischen Finanzministeriums beschlossen ist, könnte der Europarat die Europäische Zentralbank damit beauftragen, in die Lücke zu springen, und sie vorab von Zahlungsfähigkeits-Risiken befreien. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Das ist der einzige Weg, um eine Finanzmarktschmelze und eine Große Depression in Europa zu verhindern. Aus dem Englischen von THOMAS FISCHERMANN Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/Euro

26 15. September 2011

WIRTSCHAFT

DIE ZEIT No 38

KAL-ASD Südkorea

Mitsubishi Japan

Goodrich Outsourcing extrem: Bis zu zwei Drittel der Produktion seines neuen Flugzeugs Boeing 787 hat der US-Konzern zeitweilig an Lieferanten in aller Welt vergeben

USA

Boeing Australien

Latécoère Frankreich

Nordamerika, Australien Asien Europa ZEIT-Grafik/Quelle: Boeing, eigene Recherche

Boeing

Spirit

USA

USA

Kawasaki

Boeing

Japan

Kanada

Fuji Japan

Alenia

Saab

Italien

Schweden

General Electric USA

Messier-BugattiDowty Großbritannien

Himmel, hilf!

Rolls-Royce Großbritannien

Boeing liefert das Dreamliner-Flugzeug drei Jahre später aus als geplant. Eine Kulturrevolution erwies sich als verhängnisvoll VON CLAAS TATJE

E

in paar Mal in der Woche betet die Mutter von Patrick Shanahan für ihren Sohn. Sie versammelt sich mit anderen Mitgliedern im Kirchenschiff der St.-Bridget-Gemeinde in Laurelhurst, Seattle, und hofft auf Segen. »Für den Dreamliner und unseren Erfolg«, erzählt Sohn Patrick. Er ist einer der wichtigsten Manager von Boeing, dem größten Luft-, Rüstungs- und Raumfahrtkonzern der Welt. Ein rationaler Typ, der sich dennoch über göttlichen Beistand freut. Shanahan ist verantwortlich für den Dreamliner. Die Boeing 787. Mit geschätzten mehr als 20 Milliarden Dollar Entwicklungskosten das teuerste zivile Flugzeugprogramm aller Zeiten. Dreieinhalb Jahre verspätet liefert Boeing die erste Maschine am 26. September an die japanische Fluggesellschaft All Nippon Airways aus. Dass es nicht noch länger dauert, dafür hat Shanahan gesorgt. Mit seinem blonden Seitenscheitel sieht er eine Spur zu brav aus für diesen Job. Man könnte ihn auch für einen Prediger in der Gemeinde seiner Mutter halten, aber Shanahan hat für Boeing lieber Raketenabwehrsysteme optimiert, ehe er ins zivile Geschäft wechselte. Der 49-Jährige ist so etwas wie die Allzweckwaffe des Konzerns. Immer dann, wenn

es besonders aufreibend wird, wenn etwas nicht rund läuft in den Flugzeugprogrammen, ruft die Konzernführung nach Shanahan. Beim Dreamliner, so viel hat er schnell gelernt, war mit irdischen Mitteln wenig zu retten. Die personellen und finanziellen Belastungen dieser Flugzeugentwicklung bedrohen heute zwar nicht den Konzern in seiner Existenz, dafür verdient Boeing noch zu viel mit Satelliten, Waffen und anderen Rüstungsgeschäften. Aber das 787-Programm bindet Milliarden Kapital und Tausende Arbeitsplätze an der falschen Stelle. Der Dreamliner – das steht schon vor dem ersten Linienflug fest – gefährdet Boeings Vormachtstellung in der zivilen Luftfahrt. Die Entwicklung von Flugzeugen war immer eine große Wette auf die Zukunft. Zu klein sind die Serien und zu neu ist das Material. Es dauerte zwei Jahrzehnte, ehe Boeing mit dem Jumbojet

Geld verdiente. Am Ende war es so viel, dass der Rivale Airbus sich zum Bau der noch größeren A380 gezwungen sah. Auch dieser Flieger kostet das Airbus-Management bis heute Nerven, weil die Serienproduktion nur schwer gelingen will. Das Geld für die A380-Entwicklung ist längst noch nicht zurückverdient. Boeing wiederum konterte nicht mit dem nächsten Riesenjumbo, sondern lenkte sein Kapital in die Entwicklung des mehr als 200 Sitzplätze kleineren Dreamliners. Dann aber wettete das Management auch noch darauf, dass sich mit diesem Flieger sehr schnell Geld verdienen ließe, indem die Zulieferer mehr in die Verantwortung genommen würden. Und da war er passiert: der wohl teuerste Fehler der zivilen Luftfahrtgeschichte. Wer es gut meint mit Boeings Führungsriege, sieht im Dreamliner ein Beispiel für die Grenzen des Outsourcings. Es gibt aber auch Kritiker, die beschreiben, wie die Gier Einzelner das Fortkommen eines der stolzesten und letzten echten US-Hightechunternehmen bis heute lähmt und die Ingenieurskultur im Konzern auf Jahre vergiftet hat. So oder so liegt die Ursache für die Pannenserie 14 Jahre zurück. Im Sommer 1997 fusionierte Boeing mit dem Rüstungs- und Luftfahrtkonzern McDonnell Douglas. Gerechnet hat sich das Geschäft vor allem für die Chefs. Phil Condit (Boeing) hatte noch 2002 rund 816 000 Aktien. Harry Stonecipher (McDonnell Douglas) hielt rund 2,2 Millionen Anteile am neuen Boeing-Konzern. Und die Vorstände dachten zuerst ans eigene Portemonnaie, wie Scott Hamilton kritisiert, einer der profundesten Luftfahrtbeobachter der Westküste: »Es ging nur um den Shareholder-Value.« Zwischen 1998 und 2001 investierte das Unternehmen über zehn Milliarden Dollar in den Rückkauf eigener Aktien. Anstatt von dem Geld neue Flugzeuge zu bauen, sei der Aktienkurs in die Höhe getrieben worden, sagt Hamilton. »Als kurz nach der Übernahme die Grundzüge der heutigen 787 entwickelt wurden, pochten Condit und Stonecipher darauf, das finanzielle Risiko für Boeing mit Risikopartnerschaften zu begrenzen. Es war die Genesis für all dieses Outsourcing.« Der Physiker Hans Weber, der in Kalifornien lebt und ein intimer Kenner der Zulassungsverfahren für neue Flugzeuge ist, hat Boeing und Airbus jahrelang beraten. Heute erinnert er daran, dass auch Airbus mit dem Bau der A380 einen ähnlichen Weg beschritten hatte. Aber Boeing habe einfach um jeden Preis Kosten sparen wollen. »Die einstigen McDonnell-Douglas-Manager hätten niemals einer neuen Flugzeugentwicklung zugestimmt, wenn ein bestimmtes Limit überschritten worden wäre. Die Zulieferer sollten einen Teil der Entwicklung übernehmen. Am Ende war die Risikoteilung bei diesem Flugzeugprogramm groß wie nie«, sagt Hans Weber. Wie sich später herausstellen sollte, hatte sich das Risiko einer Verzögerung dadurch noch potenziert. Zwei Drittel der Produktion waren zeitweise in fremder Hand (siehe Grafik oben). Die Auslagerung von Arbeitspaketen war dabei gar nicht neu, aber die Art der Kooperation. Beim Vorgänger des Dreamliners, der 777, der Mitte der neunziger Jahre erst-

mals abhob, waren weite Teile der Produktion bereits ausgelagert. Dieses Mal aber gab Boeing auch ganze Teile der Entwicklung aus der Hand. Shanahan beschreibt es im Rückblick so: »Der Kern des Geschäftsmodells für den Dreamliner war Arbeitsteilung. Wir delegierten Arbeit an unsere Partner und ließen sie gewähren, ohne den Fortschritt dabei permanent zu überwachen.« Die Tragflächen kommen von Mitsubishi aus Japan, der Rumpf von der italienischen Alenia, das Fahrwerk liefert Messier-Bugatti-Dowty aus Großbritannien, und von Latécoère in Frankreich sind die Türen. Selbst der große Rivale Airbus hilft beim Bau mit. Die Tochter Premium Aerotec liefert die sogenannte Druckkalotte, die das Heck vom Passagierbereich abschließt.

D

iese Verlagerung der Produktionsrisiken wollte Boeing bei Erfolg mit Milliarden Dollar vergüten. Und der schien so nah, verkaufte sich die 787 doch anfangs glänzend. Schon zur ersten Präsentation 2007 waren 634 Stück bestellt (heute sind es 821) – zum damaligen Listenpreis von 160 Millionen Dollar. Kaum eine Fluggesellschaft wollte auf den Dreamliner verzichten. Kerosinersparnisse von bis zu 20 Prozent und neue Möglichkeiten für den Nonstopbetrieb trugen dazu bei, manche Risiken zu übersehen. Als wäre es nicht schwer genug, die Arbeit von Hunderten Zulieferern zu koordinieren, konzipierte das Management mit dem Dreamliner das erste Flugzeug, das zu gut der Hälfte aus Kunststoff besteht. Mit völlig anderen Eigenschaften als die der üblichen Aluminiumrümpfe. Erst war der Flieger zu schwer, um die versprochenen Ersparnisse tatsächlich zu realisieren, dann fehlten Boeing Niete für das Zusammenfügen der Einzelteile, und noch im Dezember 2010 klagten Ingenieure in Seattle über »Regen im Flugzeug«, hervorgerufen durch kondensierenden Wasserdampf. Ein Branchenkenner berichtet, dass der Umfang der Software, ein Maßstab für die Komplexität der Flugzeugsysteme, sich vervielfachte. Durch 17 Millionen Zeilen Programmcode, doppelt so viele wie beim A380, kämpften sich die Softwareingenieure des Dreamliners. Die Folge: Die Erstauslieferung musste achtmal verschoben werden. In manchen Fällen flog immerhin der zuständige Manager. Ein weiteres Problem für die Ingenieure in Seattle war die Tatsache, dass die Boeing-Zentrale von Seattle nach Chicago verlegt wurde. Um allen Mitarbeitern klarzumachen, dass Boeing nicht mehr allein für Flugzeugbau steht, zog der Konzern am 4. September 2001 ins Landesinnere. Über die Hälfte der 64 Milliarden Dollar Umsatz erwirtschaftete das Unternehmen 2010 mit Raumfahrt- und Rüstungsgeschäften (kleine Grafik). Die Ingenieurskultur und das Selbstbewusstsein der zivilen Flugzeugbauer hat darunter stark gelitten. »Geh nach Chicago!« Diesen Satz hätten die Fachkräfte den Vorgesetzten immer wieder

entgegengeschleudert, berichtet Stan Sorscher, ein Sprecher der Ingenieursgewerkschaft SPEEA. Wenn Rumpfsektionen der Zulieferer nicht passten, Software falsch codiert war oder Flügel schlicht zu viel wogen. Sorscher zufolge entgegneten die Führungskräfte: »Ich setze doch meine Karriere nicht aufs Spiel.« Mit jeder neuen Verspätung sei der Graben zwischen dem Management und den 70 000 Mitarbeitern der Flugzeugsparte tiefer geworden. Auch der Luftfahrtexperte Scott Hamilton beobachtete diesen schleichenden Wandel in der Unternehmenskultur: »Es ging nicht mehr um kollegiale Problemlösung, sondern eher darum, die Boten schlechter Nachrichten zu bestrafen. Die Ingenieure waren zunehmend verunsichert, Probleme beim Namen zu nennen.« Erst Troubleshooter Shanahan forderte ehrliche Antworten. Sonst wäre auch er schnell an der Komplexität gescheitert: »Als wir uns wieder stärker in die Entwicklung des Dreamliners einmischten, war schwer zu verstehen, welche Ingenieursarbeit noch für uns blieb.« Erst als Shanahan 2009 endgültig mit dem aggressiven Outsourcing brach, kam Ordnung ins Chaos. So kaufte der Konzern unter anderem das Rumpfteilewerk vom Zulieferer Vought in South Carolina und baute dort auch eine zweite Fertigungslinie. Andere Zulieferer, die eigentlich erst nach der Auslieferung bezahlt werden sollten, stützte Boeing allein in den vergangenen zwei Jahren mit vier Milliarden Dollar Vorauszahlungen. Nun aber verbreitet der Manager Shanahan Zuversicht. Er ist eine der wenigen Führungskräfte, die mit dem Projekt in Berührung kamen und dennoch befördert wurden. Shanahan ist nicht mehr nur für den Dreamliner, sondern auch für die anderen zivilen Flugzeugprogramme verantwortlich. Die schlechte Stimmung seiner

Umkämpftes Duopol Kennzahlen der zivilen Luftfahrtsparten von Boeing und EADS (Airbus) Boeing Commercial Airplanes

Airbus

Gründungsjahr

1916

1970

Mitarbeiter

70 000

52 500

Umsatz

23,99 Mrd. €

29,98 Mrd. €

Gewinn

2,27 Mrd. €

0,31 Mrd. €

Anteil am Konzernumsatz

50 %

66 %

offene Bestellungen 2010

3443

3552

Auftragseingänge* 2010 2011**

530 374

574 1015

Auslieferungen 2010

462

510

* netto, nach Abzug der Stornierungen ** Stand Boeing: 6. 9., Stand Airbus: 31. 8. ZEIT-Grafik/Quelle: Geschäftsberichte Boeing, EADS (2010)

Mitarbeiter lächelt er munter weg: »Entweder zerbricht das Unternehmen in solch einer Situation, oder es wird stärker. Unsere Mitarbeiter glauben alle an das Produkt, keiner verlässt das Programm, auch wenn die Tage lang sind.«

H

eute heben die Flieger zwar endlich ab, doch bis zur industriellen Serienproduktion ist der Weg noch weit. In Everett, eine dreiviertel Autostunde nördlich von Seattle, fühlen sich Besucher eher wie auf einem Flughafen. 36 Maschinen verstopfen derzeit die Hallen. Hunderte Arbeiter sind damit beschäftigt, die Serienproduktion des Dreamliners endlich in Gang zu bringen. Was das kostet, lässt sich im Anhang der Unternehmensbilanz nachlesen. Allein die Lagerbestände der noch nicht ausgelieferten 787er-Maschinen beliefen sich 2010 auf knapp zehn Milliarden Dollar. Hinzu kommen noch Vorauszahlungen an Zulieferer in Höhe von knapp zwei Milliarden und zusätzliche Produktionskosten von 1,5 Milliarden Dollar. Noch mehr als die Kosten gefährdet die Personalnot die künftige Entwicklung des Konzerns. Die Arbeitskräfte, die der Dreamliner bis heute bindet, fehlen für die so wichtige Entwicklung neuer Flugzeuge. Von einem war for talents, einem Krieg um Ingenieurstalente, berichtet etwa Bradley Morton, Chef der Flugzeugsparte des US-Technologiekonzerns Eaton, der für den Dreamliner Hydraulikteile liefert. Auch er beklagt einen Mangel an Fachkräften, denn »wenn sich ein Programm verspätet, dann sind unsere Ingenieure länger als erwartet eingebunden, und wir können sie nicht für das nächste Projekt einsetzen«. Währenddessen tüfteln in China Ingenieure am Comac C919, in Russland hebt der Sukhoi Superjet 100 ab, und von Brasilien aus attackiert Embraer den lukrativen Markt kleinerer Flieger. Auch Airbus lässt nicht locker. Die Neuauflage des Erfolgsfliegers A320 hat sich seit Dezember 2010 schon über 1000 Mal verkauft. Zudem habe »Airbus von Boeings schlechten Erfahrungen gelernt«, sagt der Luftfahrtexperte Weber. Derzeit entwickeln die Europäer mit der A350 einen direkten Konkurrenten zum Dreamliner, der Ende 2012 abheben soll. »Die Strukturentwicklung und die Entwicklung der Produktionsprozesse bleiben im Unternehmen«, sagt Weber. Hält Airbus die Zeitpläne ein, dann ist die Dominanz der Amerikaner wohl endgültig gebrochen. Patrick Shanahan weiß, was auf dem Spiel steht für sein Unternehmen. Es ist Zeit für die nächste Wette. »Der Einsatz ist riesig«, sagt er. Nicht ohne hinzuzufügen, dass sich selbst die 787 am Ende auszahle für Boeing. Die Mitarbeiter in den Fabrikhallen werden das mit Freuden hören. Allein ihnen fehlt der Glaube.

I

Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/luftfahrt

F

ast 400 deutsche Unternehmen und öffentliche Institutionen sind in der vergangene Woche von Internetkrimininellen angegriffen worden. Die unbekannten Täter überschütteten Webseiten und Onlineshops mit elektronischen Anfragen. Werden die Computer eines Opfers dadurch überlastet, brechen sie zusammen. Zumindest sind die Unternehmen nicht mehr übers Internet erreichbar. Es traf das Videoportal Clipfish, das zur TVSendergruppe RTL gehört, genauso wie das Lieferdienstportal Pizza.de. Reiseportale und Internetseiten von Hotels wurden lahmgelegt. Das Hotel Santo aus Köln war drei Tage lang vom Internet abgeschnitten. Die Angriffe richten sich ausschließlich gegen deutsche Firmen, und einige sprechen von Umsatzeinbußen in Millionenhöhe. »Unsere Internetseite war mehrere Stunden vom Netz«, bestätigt Marco Schlünß, der die IT-Abteilung bei Pizza.de leitet. »Finanziell wird uns das bestimmt Zehntausende Euro kosten.« Von wirklich »hohen Umsatzeinbußen« spricht auch Stephan Zimprich, Anwalt und Experte für Online-Recht bei der Kanzlei Field Fisher Waterhouse in Hamburg. Er vertritt mehrere der Opfer. Seit der vergangenen Woche, so Zimprich, sabotieren die Täter ihre Opfer nicht mehr bloß, sondern sie erpressen sie auch. In einer E-Mail werden sie aufgefordert »100 Bitcoins« zu zahlen. Danach würden die Attacken aufhören. Bitcoins sind eine virtuelle Währung, die seit vier Jahren existiert und anonymes Bezahlen im Internet erlaubt. Ein wenig kann man das mit Scheinen und Münzen vergleichen, die das Bezahlen erlauben, ohne Spuren zu hinterlassen. Und so wie Bargeld bei Kriminellen beliebt ist, sind Bitcoins für OnlineKriminelle attraktiv. Das Verfahren wurde von einer Hackergruppe entwickelt, die heute vom US-Bundes-

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Erpresser im Netz

staat Massachusetts aus operiert. Genutzt wird diese Cyberwährung hauptsächlich von Computerexperten – und Leuten, die wirklich und unbedingt anonym im Internet bezahlen wollen. Wie man an Bitcoins kommt? Erst muss man ein Programm herunterladen und laufen lassen, dann muss man – wenn man schnell an Bitcoins kommen will – auf speziellen Internetseiten welche kaufen. Entweder nimmt man dafür eine Cash-Card, wie man sie bei Penny an der Kasse kaufen kann, oder man vertraut den Anbietern und bezahlt mit seiner Kreditkarte. Die Erpresser fordern nun von ihren Opfern 600 Euro, anonym und unwiderruflich, zu bezahlen in Bitcoins. »Das Erpresserschreiben hat noch etwas Amateurhaftes, aber die technischen Fähigkeiten des Angreifers sind bemerkenswert groß«, sagt Stefan Ritter, Referatsleiter des Nationalen IT-Lagezentrums und des CERT-Bundes. Wobei die Methode selbst nicht neu ist: »Diese Kombination aus Datenattacke und Erpressung gibt es schon lange, sicher länger als zehn Jahre«, sagt Tillmann Werner, Sicherheitsexperte bei der SoftwareFirma Kaspersky, die ein Programm zum Schutz vor Computerviren verkauft. Doch die Waffen, mit denen diese Online-Kriminellen derzeit die Computer ihrer Opfer lahmlegen, ist eine besondere. Es handelt sich um ein sogenanntes Botnetz. Wer derlei betreibt, muss zunächst die Computer ahnungsloser Internetnutzer kapern. Das geschieht oft mithilfe einer trickreich programmierten Schadsoftware, die Sicherheitslücken in privaten Rechnern ausnutzt. Der Kriminelle kann den Computer dann von außen steuern und dazu auffordern, Datenpakete und Anfragen an bestimmte Internetseiten zu schicken, also in diesem Fall an die potenziellen Opfer seiner Erpressungsversuche. Frühere Botnetze hatten ein Zentrum, einen oder mehrere Computer, von denen aus sie

Deutsche Firmen werden von unbekannten Cyberkriminellen mit einer Angriffswelle überzogen

Die Attacken laufen über die Rechner Nichtsahnender

Grob gerechnet, laut geredet Warum Groupon-Chef Andrew Mason den größten geplanten Börsengang des Jahres verschieben musste

B

escheiden war Andrew Mason nicht. »Wir schreiben Geschichte«, deklarierte der Mitgründer und Vorstandschef von Groupon vor zwei Wochen in einem internen Rundschreiben an seine Mitarbeiter. Verärgert über öffentliche Kritik von Analysten und Presse an seinem Unternehmen und Gerüchte über angebliche Kapitalnöte, ließ er in einer seitenlangen Nachricht wissen: »Wir waren nie stärker.« Groupon ist eine Mischung aus virtuellem Einkaufsclub und Rabattmakler für die Internetgeneration. Zusammen mit Facebook, LinkedIn, Twitter und dem Spielehersteller Zynga gehört Groupon zu den immer noch jungen, aber dafür extrem hoch bewerteten Internetunternehmen. Mason hatte allen Grund für sein forsches Auftreten: Rund 20 Milliarden Dollar sollte das drei Jahre alte Unternehmen beim geplanten Börsengang wert sein. Doch das Debüt ist nun auf unbestimmte Zeit verschoben. Düstere Erinnerungen an den ersten Internetboom wurden wach. Würde das Web 2.0 so enden wie sein Vorläufer?

Seit dem großen Internetcrash vor zehn Jahren hat das Misstrauen der Anleger die Technologieunternehmen begleitet. Bis Facebook kam. Die Euphorie um das globale Kommunikationsnetz erfasste Analysten wie Pensionskassenverwalter. Die Investmentbank Goldman Sachs versuchte gar, einen eigenen Fonds aufzumachen, um Investoren quasi durch die Hintertür eine Beteiligung an dem nach wie vor privaten Unternehmen zu ermöglichen. Das Start-up-Unternehmen des Harvardstudenten Mark Zuckerberg wird heute an der Wall Street mit 80 Milliarden Dollar bewertet. Und Insider sind überzeugt, dass sich der Wert der Anteile nach dem Börsengang verdoppeln werde. Andere sogenannte Social-Media-Unternehmen profitierten davon. Beim Börsengang im Mai schnellte LinkedIn, das Geschäftskontaktpflege per Internet ermöglicht, auf Anhieb 170 Prozent nach oben. »Angesichts der Bewertungen würde ich durchaus von einer Blase reden«, sagt David Menlow vom unabhängigen Investmenthaus IPO Financial.

VON HEIKE BUCHTER

Doch seit dem LinkedIn-Debüt hat sich das Umfeld verdüstert. Die heftigen Ausschläge an den Aktienmärkten taten ihr Übriges. »Die Investoren scheuen Risiken, und das hat das Interesse an den Kandidaten abkühlen lassen«, sagt Wall-Street-Veteran Menlow. Die LinkedInAktie sackte von luftigen 122 Dollar auf derzeit rund 80 Dollar. Der Internetradiodienst Pandora, seit Juni auf dem Kurszettel, erreichte kurzfristig 26 Dollar und dümpelt nun bei 10 Dollar. Das machte sogar Zynga nervös – ein noch heißerer Börsenkandidat als Groupon. Der Onlinespieleanbieter hat sein Debüt ebenfalls zurückgezogen. »Verschrumpelt die Social-MediaBlase?«, unkte prompt die Washington Post. Groupon hat dazu hausgemachte Probleme. Eines davon ist ausgerechnet Masons überschwängliches Schreiben an die Mitarbeiter, das seinen Weg in die Medien fand. Die US-Börsenaufsicht SEC war nicht amüsiert. Sie verbietet Werbeauftritte von Börsenkandidaten in der Zeit vor einem Debüt. Irritiert reagierten die Aufseher auch auf die Buchhaltungspraxis bei Groupon. Das Unternehmen

gesteuert wurden. Manchmal gelang es Fahndern und Unternehmen dann, die paar Computer ausfindig zu machen und das Botnetz abzuschalten. Das nun aktive Botnetz hat aber eine viel komplexere Struktur. Die infizierten Rechner geben untereinander Informationen und Befehle weiter. So war es bisher auch unmöglich, die Urheber auszumachen. »Immerhin konnten wir einige Computer finden, von denen aus neue Befehle eingespeist wurden«, sagt Kaspersky-Mann Werner. »Aber die verschwinden alle paar Tage und werden durch andere ersetzt.« Vermutlich kapert der Betreiber alle paar Tage neue Rechner, von denen aus er Befehle verschickt. »Dabei wandern die Kriminellen von Land zu Land«, sagt Werner. Einige Indizien sprechen allerdings dafür, dass sie in Russland sitzen. Dort sind die meisten Computer infiziert, und in diversen Programmteilen des Botnetzes findet sich die Spracheinstellung »Russisch«. Die Schadsoftware interagiert überdies mit Sozialen Netzwerken wie VKontakte in Russland und auch mit Facebook, sobald der Benutzer eines infizierten Rechners eines dieser Sozialen Netzwerke nutzt. Kaspersky-Experte Werner sagt: »Wir vermuten, dass das Schadprogramm über Soziale Netzwerke verbreitet wird.« Das würde auch das schnelle Wachstum des Botnetzes erklären. Als es vor vier Wochen erstmals in Erscheinung trat, schätzten die Ermittler, dass es 300 000 Rechner umfasst. Inzwischen gehen sie von fast einer Million aus. »Wir würden es begrüßen, wenn die Behörden rechtlich in der Lage wären, gegen andauernde Angriffe auch mit technischen Mitteln vorzugehen – und die Angriffe zu unterbinden«, sagt Anwalt Zimprich. Derzeit warten deutsche Firmen auf die nächste Angriffswelle. THOMAS FISCHERMANN , GÖTZ HAMANN und JULIAN TRAUTHIG

Der Chef Andrew Mason (unten) macht seinem RabattPortal Groupon Schwierigkeiten

misst seinen Erfolg, indem es bei der Ertragsrechnung Kosten für Marketing und Übernahmen außen vor lässt. Nach dieser Methode nahm Groupon 60 Millionen Dollar im vergangenen Jahr ein – ein sagenhafter Anstieg gegenüber 2009, als die Firma 3,5 Millionen auswies. Doch zieht man davon die Marketingkosten von 263 Millionen Dollar sowie Übernahmen in Höhe von 203 Millionen Dollar ab, sieht die Bilanz ganz anders aus. Nach allgemein anerkannten Buchhaltungsstandards weist Groupon für das vergangene Jahr einen Verlust von 456 Millionen aus. Auf Nachfrage der SEC erklärte Groupon, die ungewöhnliche Einnahmenberechnung ergebe Sinn, denn die Marketingkosten würden langfristig fallen, sobald das Unternehmen etabliert sei. Solcherlei Konstrukte erinnern an die berüchtigten eyeballs – die Zahl der Nutzer, die in den späten neunziger Jahren die Internetseite eines Unternehmens aufsuchten und als Beleg für künftige Umsätze herhalten mussten. Eyeballs verdrängten damals so biedere Fakten wie Umsatz und Gewinn.

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Um langfristig tragfähig zu sein, muss Groupon mehr Kunden an sich binden als die Konkurrenz. »The winner takes it all«, sagt Jay Ritter, Finanzprofessor an der University of Florida. »Das ist der entscheidende Unterschied zu den Dotcoms der ersten Generation: Die Unternehmen müssen ihren Bereich absolut dominieren.« en.« Denn: Social Media funktionierten en nur, wenn Freunde, Geschäfts- und Transaktionspartner ebenfalls falls auf das Angebot zugreifen fen und sich auf der Plattform orm austauschen. Bei Groupon pon melden sich nun Kritiker,, die bezweifeln, ob sich virtuelle tuelle Rabatte in so großen Stil organisieren lassen, dass die hohen ohen Bewertungen gerechtfertigt gt sind. Vielleicht schreibt Groupon oupon tatsächlich Geschichte: als Anfang vom Ende des Webb 2.0.

Fotos [M]: Jana Pape/dpa (o.); DENIS/REA/laif; Mauritius

WIRTSCHAFT

WIRTSCHAFT

DIE ZEIT No 38

»Wo fängt denn Reichtum bitte an?« Industriepräsident Hans-Peter Keitel zu Übertreibungen an der Börse, mutlosen Europolitikern und Steuern für Wohlhabende

DIE ZEIT: Herr Keitel, spekulieren Sie an der Börse? Hans-Peter Keitel: Nein. Zwar investiere ich an der

Börse Geld. Spekulieren würde ich das aber nicht nennen. ZEIT: Machen Sie sich Sorgen über die Börsen? Keitel: Ja, heute entscheiden Computer in Millisekunden ohne menschliches Zutun über Kauf und Verkauf. Das lässt die Kurse extrem schwanken. Die Gefahr ist ohnehin, dass sich die Finanzmärkte mehr und mehr verselbstständigen. ZEIT: Sie meinen, die Börse spielt verrückt? Keitel: Nein, aber die Börse sollte Chancen und Risiken der realen Wirtschaft spiegeln. Im Grunde ist sie ja nichts weiter als ein Markt für Wertpapiere. Deswegen braucht die Industrie sie auch: um Investitionen zu finanzieren oder Risiken abzusichern. Dafür können übrigens auch die viel gescholtenen Derivate sinnvoll sein, wenn sie einem realen Geschäft dienen und nicht der puren Spekulation. ZEIT: Das alles soll doch heißen: Verrückt, dass der Deutsche Aktienindex in den Keller rauscht, obwohl es der deutschen Industrie blendend geht! Keitel: Grundsätzlich muss man die Börse als Spiegel der Realität und der Zukunftserwartungen ernst nehmen, übrigens genauso wie das begründete Ur-

teil einer Rating-Agentur. Aber die Gefahr der Übertreibung wächst durch die unreflektierten, sich selbst verstärkenden Automatismen eines technisch beschleunigten Handels. ZEIT: Sollte man den Börsenhandel langsamer machen – durch eine Steuer auf Finanztransaktionen? Keitel: Die Transaktionssteuer ist nur eine der technischen Möglichkeiten, die Handelsprozesse zu entschleunigen. ZEIT: Sollten wir sie einführen, auch im nationalen Alleingang, wie der Finanzminister es will? Keitel: Nein, ein nationaler Alleingang wäre nicht hilfreich. Insgesamt müssen wir dafür sorgen, dass sich für die Banken das klassische Geschäft der Kreditvergabe mehr lohnt als die reinen Finanzgeschäfte, die keinerlei realen Wert schaffen. ZEIT: Hat die Politik da etwas versäumt? Keitel: Ja, bei der Bankenregulierung wurde Zeit vertan. Banken können nur weltweit besser reguliert werden. Aber man darf da nicht nachlassen. Es heißt zu oft entschuldigend: Die Amerikaner sind gegen stärkere Regulierungen, die Briten wegen ihres großen Finanzplatzes London ebenso. Die Zeiten, in denen wir auf nationale Befindlichkeiten Rücksicht nehmen konnten, sind vorbei.

Hans-Peter Keitel ist seit 2009 Präsident des BDI

ZEIT: Das bedeutet? Keitel: Nehmen Sie Italiens laxen Umgang mit den

Staatsschulden. Das hätte man früher als Mittelmeer-Folklore durchgehen lassen. Heute ist das untragbar. Wir brauchen den einhelligen Appell an Italien, und zwar quer durch Europa, der sagt: Das geht so nicht! Ihr müsst euren Haushalt in Ordnung bringen, sonst bringt ihr uns alle in Gefahr. ZEIT: Unternehmen die Griechen genug? Die werden ja längst von allen gerüffelt. Keitel: Es gibt einen großen Unterschied zwischen den beiden Ländern: Italien kann und muss sich ohne Polittheater selbst helfen. Das müssen wir von den Italienern fordern. Bei den Griechen hingegen ist die Lage allem Anschein nach so schwierig, dass dieses Land es allein wohl nicht schaffen wird. Griechenland braucht Hilfe. ZEIT: Aber hat die Solidarität nicht Grenzen? Keitel: In dieser allgemeinen Form hilft eine solche Aussage niemand. Man muss auch – am besten vor Ort – analysieren und sagen, was innerhalb dieser unbestrittenen Grenzen zu tun ist. Denn auch bei den drastischsten denkbaren Lösungen bleibt ja Griechenland ein Mitglied unserer europäischen Staaten- und Wertegemeinschaft. Hier gibt es glas-

klare Forderungen an die Griechen, beispiels- das Gefühl der Verunsicherung nachvollziehen. weise einen deutlichen Abbau des öffentlichen Auch der informierte Bürger kann ja die FinanzDienstes. Aber manche Erwartungen sind auch krise in ihrer ganzen Komplexität kaum versteunrealistisch, etwa bei den Privatisierungen. So hen. Da kommt leicht eine Debatte über Ungeetwas braucht – wie ich aus eigener leidvoller rechtigkeit auf. Und das wird allzu leicht auf unternehmerischer Erfahrung weiß – einfach Europa und den Euro projiziert. Man muss dann Zeit. Der BDI jedenfalls hilft seit Monaten im daran erinnern, dass wir in Deutschland so viele unmittelbaren Kontakt mit den Griechen kon- Arbeitsplätze haben wie noch nie seit der Wiekret dabei, der Sanierung eine Chance zu geben. dervereinigung. Dem Einzelnen geht es so gut, ZEIT: Der BDI hat jüngst seinen Plan für Euro- wie wir es in der Krise nie erhofft hatten. So pa veröffentlicht und fordert den Befreiungs- schlecht kann dieses Europa doch gar nicht sein! schlag. Warum jetzt? ZEIT: Trotzdem diese Debatte über UngerechKeitel: Die Politik laboriert schon zu lange an tigkeit – und darüber, ob die Reichen genug den Symptomen, aber die Phase der Akutrettung Steuern zahlen. Sind Sie reich, Herr Keitel? ist längst vorbei. Zudem: Je kleiner die Fort- Keitel: Ich bin reich, weil ich glücklich bin. schritte werden, desto schwerer ist zu erkennen, ZEIT: Auweia. wohin es geht. In der Lage, in der die EU steckt, Keitel: Moment, bei diesem Thema wird doch reichen auch keine blumigen Visionen mehr. nur emotional diskutiert und gar nicht mehr auf Wir brauchen verbindliche mittel- und langfris- der sachlichen Ebene. Schon der Begriff Reitige Ziele. Die Politik muss wieder vor den chensteuer ist falsch belegt ... Märkten marschieren und darf nicht länger hin- ZEIT: Inwiefern? terherhecheln. Die Bundesregierung muss klar Keitel: Wo fängt denn Reichtum bitte an? Ein sagen: Wie weit geht die Integration? In welchen Handwerker, der im Jahr 60 000 bis 70 000 Schritten – inhaltlich, zeitlich? So etwas brau- Euro übrig hat, zahlt schon den Spitzensteuerchen übrigens auch die Abgeordneten im Bun- satz. Er gehört dann offenbar zu den Reichen. destag, um den Bürgern erDas ist absurd. Viele maklären zu können, was das chen sich auch gar nicht alles soll. klar: Wenn ein Selbstständiger 100 000 Euro verdient, ZEIT: Ihr Vorschlag? zahlt er auch nach heutigem Keitel: Wir wissen alle, dass Steuerrecht schon den Spitder jetzige Zwischenzustand ... ist für Hans-Peter Keitel zensteuersatz. Plus Krankeneiner Währungsunion letztEuropas Zusammenhalt. Der versicherung und Altersvorlich nicht haltbar ist. Also Präsident des Bundesverbandes sorge. Von dem, was übrig geht es nur vor oder zurück. der Deutschen Industrie (BDI) bleibt, vielleicht 45 000 EuAlles, was rückwärts geht, hat als Bauingenieur immer ro, soll er dann Investitionen jede Abwicklung Europas wieder im Ausland gearbeitet. finanzieren. Und diese Inoder des Euro, wäre unkonEr weiß aus Erfahrung, wie vestitionen brauchen wir trollierbar – und aus meiner sehr der Euro der deutschen unbedingt! persönlichen Sicht historisch Wirtschaft schon genutzt hat. unverantwortlich. Wir sind Keitel hat seine Karriere bei ZEIT: Trotzdem fordern Reidaher für den Weg nach Lahmeyer International, einem che von New York bis Hamvorn. Der ist möglicherweise technischen Beratungsunterburg: Besteuert uns stärker! teuer, aber ihn zu gehen ist nehmen, begonnen. 1988 Keitel: Die meisten dieser eine Investition. Und die wechselte er zur Hochtief AG, Leute leben in einer Welt, lohnt sich. von 1992 an bis 2007 als Vordie für Normalbürger nicht standsvorsitzender, danach als mehr vorstellbar ist. Die ZEIT: Was wäre der wichAufsichtsrat. Keitel hat als könnten gerne auf das Spentigste Schritt? Präsident den Hauptverband denkonto der Bundeskasse Keitel: Die negative Reakder Deutschen Bauindustrie einzahlen. Sie vergessen nur: tion der Märkte auf den vertreten. Beim BDI wurde er Von der Diskussion werden Rücktritt des Chefvolkswirts bereits zum zweiten Mal zum auch der Handwerker oder der EZB hat gezeigt, welch Präsidenten gewählt. Er vertritt der Freiberufler betroffen hohen Wert politisch unabdamit die politischen Interessen sein. Die SPD und die Grühängige Institutionen haben. von 100 000 Unternehmen mit nen wollen ja sogar bei eiWir schlagen einen Europägut acht Millionen Beschäftigten nem Einkommen deutlich ischen Fiskalfonds vor, der unter 100 000 Euro Steuern unabhängig von der Politik anheben. Das ist gefährlich, und von Stimmungen die Stabilität der Euro-Zone gewährleistet. Er soll mit weil es zulasten von Investitionen und damit von klaren Sanktionsmechanismen dafür sorgen, dass Arbeitsplätzen geht. die Schulden nirgends aus dem Ruder laufen, und ZEIT: Wie kommt die Debatte um mehr Steuern er würde unter Auflagen helfen. Wir wollen ein für die Reichen bei Ihren BDI-Mitgliedern an? Gremium mit Fachleuten wie beim IWF. Die Po- Keitel: Ein Unternehmer, der Einkommen- und litik bestimmt die Grundlagen, lässt dann aber los. Gewerbesteuer zahlt, der für sein Unternehmen und seine Mitarbeiter ein existenzielles Risiko ZEIT: Das wird nicht einfach. Keitel: Dafür wird man die europäischen Ver- trägt, der fasst sich an den Kopf! träge mindestens für den Euro-Raum ergänzen ZEIT: Also nichts verkehrt bei den Steuern? müssen, möglicherweise auch nationale Verfas- Keitel: Man kann sagen, dass die Lasten asymsungen. Aber man kann es heute schon als politi- metrisch verteilt sind. Zehn Prozent der Steuersches Ziel definieren und den Weg verbindlich zahler zahlen mehr als die Hälfte der Steuern. beschreiben – nur so gewinnt die Politik verlore- ZEIT: Bei den Einkommensteuern. Mehrwertnes Vertrauen zurück. steuer zahlen auch Geringverdiener. ZEIT: Sie wollen aber am Ende also einen besse- Keitel: Ja – und das auch noch in undurchschauren Stabilitätspakt mit Stützungsfonds, oder? barer Systematik! Alle isolierten Diskussionen Keitel: Wir wollen jedenfalls keine Haftungsge- lösen das Problem der verkorksten Steuerstrukmeinschaft und Wirtschaftsregierung. Wir wol- tur nicht, sie schaffen neuen Korrekturbedarf. len gemeinsame verbindliche Regeln für alle ZEIT: Sie halten die Kritik an unserem WirtEuro-Länder. Durch die werden sich die Haus- schaftssystem für eine Intellektuellendebatte? haltspolitiken angleichen. Wir bekommen dann Keitel: Auswüchse des Kapitalismus zu geißeln fiskalische Konvergenz unter Respektierung der ist Teil einer notwendigen Debatte. Das Unbenationalen Parlamente. hagen geht aber auch deshalb tiefer, weil viele ZEIT: Sie fordern große Schritte und neue Insti- Intellektuelle bei aller berechtigten Kritik vergessen, die Proportionen im Auge zu behalten. tutionen. Traut sich die Regierung zu wenig zu? Keitel: Jeder große politische Schritt braucht Wir haben keinen Raubtierkapitalismus in Deutschland. Wir haben die beste WirtschaftsMut. An dem fehlt es uns in ganz Europa. ZEIT: Was sagen Sie denen, die Europa, den ordnung unserer Geschichte, die soziale MarktEuro und die Integration für eine Veranstaltung wirtschaft. Die müssen wir verteidigen, die sollzur Ausbeutung des kleinen Mannes halten und ten wir auch in Europa verteidigen. die eher skeptisch werden, wenn die Industrie und die Banken dieses Europa wollen? Das Gespräch führten PETRA PINZLER Keitel: Jenseits der Polemik Einzelner kann ich und KOLJA RUDZIO

Wichtig ...

Foto [M]: Jens Neumann+Edgar Rodtmann/laif

28 15. September 2011

30 15. September 2011

WIRTSCHAFT

DIE ZEIT No 38

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Auf der Ölspur ins Grüne

31

Fahrspaß Vans + 41,3

Luxusklasse

+ 38,1

Geländewagen + 38,0

Veränderung des Autoabsatzes im ersten Halbjahr 2011 gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum

Die Deutschen wollen umweltfreundlich sein – aber bitte mit 500 PS. Den Herstellern ist das nur recht, wie die IAA 2011 jetzt zeigt. Wie lange geht das gut?

Oberklasse + 18,2

Mittelklasse + 11,7

Kleinwagen + 7,2

Mini

Sportwagen + 8,0

Kompaktwagen

Illustration: OsterwaldersArtOffice Design & Illustration für DIE ZEIT/www.osterwaldersart.com; Foto: privat; ZEIT-Grafik/Quelle: KBA

– 10,8

D

ie gespaltene deutsche Seele spiegelt sich im Blech des X6 M. Der X6 M, das ist ein Ungetüm der Bayerischen Motorenwerke, eine Mischung aus Geländewagen und Sportauto. Er hat ein riesiges Hinterteil und fährt auf breiten Gummiwalzen. Der X6 M verpestet die Atmosphäre dreimal so stark wie ein normales Auto. Eigentlich wurde er für die Ölscheichs auf der Arabischen Halbinsel und für die Internetscheichs in Kalifornien gebaut. Aber auch deutsche Männer begeistern sich für ihn. Die Leute wollten ihn halt haben, verteidigt man bei BMW das Spritmonster. Die Welt retten, na klar, aber bitte breit bereift und überlegen motorisiert. Fast ein Viertel der Deutschen denkt daran, grün zu wählen, sie sind das Volk der Müllsortierer, der Wassersparer, der Waldretter, doch irgendwie können viele Bürger trennen zwischen der Wahl eines neuen Autos und ihrem sonstigen Leben. 134 PS haben hiesige Neuwagen heute im Schnitt, mehr als je zuvor, wie Autoforscher in Duisburg jüngst berechnet haben. Grün wählen, aber im roten Bereich fahren, das ist die deutsche Schizophrenie, die Ölspur auf der hiesigen Ökoseele. Die Autobauer von Audi bis Daimler bedienen die merkwürdige Vorliebe nach Kräften. Wie oft schon haben sie den ökologischen Fortschritt verzögert, beim Leichtbau der Karosserie zum Beispiel, beim Hybridantrieb, bei der Vorgabe strenger Abgaswerte, indem sie ihre ausgefeiltesten Spritspartechniken nur in Sondermodellen anboten. Dabei schaden sie nicht nur der Umwelt, sondern auch sich selbst. Sie laufen Gefahr, dass ihnen der globale Markt irgendwann davonläuft. Dass die Autowelt schneller grün wird, als Porsche, BMW und Co. beschleunigen können. Man kann es auch so sagen: Deutschland wird als Umweltland erst richtig glaubwürdig, wenn es sein Verhältnis zum Auto klärt. Und das Autoland bleibt auf dem Weltmarkt auf Dauer nur vorne, wenn es die ökologische Wende schafft. Gelingt es den Deutschen, das Auto zum zweiten Mal zu erfinden?

Gerät das Auto als Statussymbol wirklich aus der Mode? Blickt Andreas Knie aus dem Fenster seines Konferenzraums, sieht er die Zukunft: eine umgebaute Fabriketage, in der Elektroautos parken, daneben E-Räder, Scooter, und zwischendrin stehen große Stromtanksäulen. Bald soll auch noch ein großer Solarpilz auf der Wiese vor der Fabriketage installiert werden, um umweltfreundlichen Strom zu produzieren. Mit dem sollen die Elektromobile geladen werden, bevor ein Mieter sie abholt. »Wir werden dann alles bieten können, was man für eine umweltfreundliche Fortbewegung braucht«, schwärmt der Professor. Lange galt der schwarz gekleidete Mann mit den grauen, in alle Richtungen stehenden Haaren und dem hellwachen Blick als Fantast. Redete er über ein neues Mobilitätsverhalten von jungen Leuten und prophezeite er das Ende des eigenen Wagens, klang das nach verrücktem Soziologieprofessor. Inzwischen hört selbst die Autoindustrie zu, ein wenig jedenfalls. Das Auto, sagt Knie, gerate als Statussymbol zunehmend aus der Mode. Es überlebe noch am besten als Teil eines neuen Verkehrskonzeptes. Denn die Menschen würden zu »intermodalen Verkehrsnutzern«: Sie wollen von A nach B, mit der Bahn, dem Flugzeug, dem Auto, dem E-Roller – was gerade praktischer ist. Auf einem ehemaligen Industriegelände in BerlinSchöneberg erprobt Knie diese Zukunft, als Geschäftsführer des Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ). Auf einem großen Plakat an der Fabrikwand ist Knies Vision aufgemalt. Wer zügig vom Süden Berlins in den Norden will, soll künftig sein Handy fragen. Das zeigt

ihm dann die gerade beste Art voranzukommen: Mal schlägt das Smartphone ihm die S-Bahn vor, mal Bus und Fahrrad oder eine Kombination mit dem EAuto. Die modernen Stadtautos werden, so hofft Knie, schon bald überall in Berlin stehen, an zentralen Plätzen, in Parkhäusern und neben Bahnhöfen. Sie können dann per Anruf gebucht, freigeschaltet und bezahlt werden. Und ab. In diesem Sommer gab es in Berlin testweise für 78 Euro ein Monatsticket, das genau das erlaubte: S-Bahn, Bus und U-Bahn zu fahren, Leihfahrräder zu nutzen, Elektro- oder Hybridfahrzeuge zu mieten. Das Auto, schwärmt Knie, werde dann nur genutzt, wenn es sich wirklich lohne. Es tut sich etwas auf dem Markt, doch die Protagonisten des Neuen sind nicht immer die Gewinner der alten Welt. Mehr und mehr Firmen außerhalb der Autoindustrie entdecken »Mobilität« als einen Markt für sich. Conenergy zum Beispiel: Die Energieberatungsfirma hat gemeinsam mit dem Pharmahersteller Kohl Teile eines französischen Autobauers aufgekauft und will im kommenden Jahr unter dem Namen mia 10 000 kleine, leichte E-Autos produzieren. Die sollen nicht wie bislang üblich von Autoverkäufern in städtischen Salons vertrieben werden, sondern als Teil städtischer Mobilitätskonzepte. Im Gespräch ist mia mit Betreibern von Windkraftanlagen, mit Stadtwerken und großen Versorgern – mit Energieproduzenten also, die nicht mehr nur Strom, sondern auch Mobilität verkaufen wollen. Wie in Berlin. Dort entsteht gerade eine Siedlung, die mit modernen Blockheizkraftwerken geheizt wird. Den Strom, der dabei abfällt, sollen E-Auto-Fahrer aus der Siedlung nutzen. Macht das auch irgendjemand? Der Chef von Conenergy, Roman Dudenhausen, lacht: »Ich bin wirklich kein Öko. Ich fahre in der Woche solche Autos eher aus Bequemlichkeit. Die sind klein, sie lassen sich überall parken, bald werden sie auch richtig billig.« Und dann sagt er noch: »Wenn ich mal weite Strecken fahren will, dann miete ich mir einfach einen großen Mercedes.« Kombinieren sei das Praktischste. Klingt alles plausibel, doch noch dominiert die Parallelwelt, in der ein eigenes Auto alles ist. Wolfsburg im Frühling. »Meine Frau sagt, ein Auto muss fahren. Ich sage, ein Auto muss wirken!« So beginnt Armin Trommer das Gespräch. Er spricht über einen typisch deutschen Mittelschichtswagen: den VW Touran. Dann zählt Trommer auf, was an seinem neuen Auto alles wirken kann. Der DeepBlack-Autolack mit Perleffekt. Die 17-Zoll-Leichtmetallräder. Die Sportsitze aus Nappaleder. Die Highline-Ausstattung, die es erst ab 26 800 Euro aufwärts gibt. Weil auch Nützliches wirken kann, sind da noch der sogenannte Parklenkassistent für die Frau und das Family-Paket mit abwaschbarem Kunstleder an den Sitzrückseiten fürs Kind. Trommer kennt die Ausstattungsdetails besser als viele VW-Verkäufer. Vor weniger als zwei Stunden hat er seinen Touran abgeholt. Hochglanzpoliert, der Kilometerzähler stand auf null. »Ein jungfräulicher Moment« sei es gewesen, sagt Trommer, und der Höhepunkt der »ErlebnisAbholung Deluxe«, die er hier in der Autostadt in Wolfsburg gebucht hatte. Trommer und die Autostadt von VW, sie bestärken sich gegenseitig. Die Kunstwelt ist eine Stadt in der Stadt. Beide Städte wurden auf dem Reißbrett entworfen. Wolfsburg 1938 von den Nazis als Fabrik mit angeschlossener Mustersiedlung. Bis heute ist der Ort mehr Werk als Stadt geblieben, ein Ort, in dem alles auf vier Räder ausgerichtet scheint, die überbreiten Straßen, die übergroßen Parkplätze. 121 000 Menschen leben in Wolfsburg, 46 000 arbeiten bei Volkswagen. Der Autokonzern liefert der Stadt Licht und Wärme aus dem eigenen Kraftwerk, er sponsert Kunstausstellungen, hält 100 Prozent am Vfl Wolfsburg, spendierte zum 40. Stadtgeburtstag ein Planetarium. Und als der Golf Nummer fünf auf den Markt kam, wurde Wolfsburg ein paar Wochen lang in Golfsburg umbenannt. Mit Ortsschild und Briefkopf.

Selbst in dieser Modellstadt wirkt die Autostadt, von Ex-Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 eröffnet, künstlich. Es ist ein übergroßes Gebilde aus Glaskuben, zwischen denen sich sanfte Hügel und Lagunen erstrecken. Ein Gelände, so groß wie 35 Fußballfelder. Es gibt Einkaufsboutiquen, 13 Restaurants, Lesungen und Konzerte. Die junge Frau, die die Besuchergruppe um Armin Trommer durch die Autostadt führt, sagt: »Herzlich willkommen im Erlebnis- und Kompetenzzentrum mit Schwerpunkt Mobilität«. Andere nennen die Autostadt Teletubby-Land. Von fast jedem Punkt auf dem Gelände sieht man das Volkswagen-Werk, das Firmenwappen, die vier Schornsteine des Kraftwerks, die roten Backsteinmauern. Die Autostadt soll eine Art Scharnier zwischen der Stadt und dem Werk bilden, links und rechts des Mittellandkanals. Der Übergang ist fließend, wenn der Besucher auf elektrischen Laufbändern über die Kanalbrücke von der einen auf die andere Seite gleitet. Knapp zwei Millionen Menschen beförderten die Bänder im vergangenen Jahr in die Autostadt, 5000 sind es täglich. An diesem Ort ist die deutsche Autoseele mit sich im Reinen, hier lebt der Mythos weiter. Jeder vierte Besucher in der Autostadt holt seinen Neuwagen ab. So wie Armin Trommer. Er hat sich eigens zwei Tage Urlaub genommen, ist sieben Stunden Zug gefahren und hat dabei einmal die Republik durchquert, von Marktoberdorf im Ostallgäu bis nach Wolfsburg in Niedersachsen. Seine Lebensgefährtin und den kleinen Sohn hat er mitgenommen – und natürlich die Plakette mit dem Wunschkennzeichen: »MN AT 635« für Mindelheim, Armin Trommer, Jahrgang 63, geboren im Mai. Es sind Männer wie Trommer, die hiesige Autobauer ermutigen, nicht allzu schnell ökologisch zu

werden. Und es sind Autobauer wie VW, die alles tun, um Trommers Traum zu nähren. In der Autostadt ist es fast so, als hätte es 2009 nie gegeben. Vor zwei Jahren ging es um die Existenz der PS-Branche. Die deutsche »Schlüsselindustrie« (Angela Merkel) durchlebte die schlimmste Krise nach dem Zweiten Weltkrieg. Zehntausende Zeitarbeiter wurden nach Hause geschickt, befristete Verträge nicht verlängert. Daimler schrieb Milliardenverluste, die Bundesregierung erfand die Abwrackprämie und die langfristige Kurzarbeit. Das Geschäftsmodell von Daimler, BMW und Co. habe sich überlebt, sagten Kritiker und Analysten damals. Verpennt hätten die Autobosse den Trend zum Elektroauto und zum Kleinwagen, vereinzelte, unattraktive Drei-Liter-Autos hätten da nicht genügt, so schimpften sie.

Es sind Männer wie Armin Trommer, die VW und Co. vom Umdenken abhalten Zwei Jahre später melden dieselben Bosse einen Rekord nach dem anderen. »Volkswagen ist auf die Überholspur« gegangen, tönte Martin Winterkorn auf der VW-Hauptversammlung in Hamburg. Noch nie hat der größte deutsche Autokonzern so viele Autos verkauft, noch nie einen so hohen Gewinn erzielt – ganz ohne Elektroauto. Und Winterkorn will mehr, er will der Größte werden, größer als der Branchenführer Toyota. Vielleicht schon in diesem Jahr. Ein »glänzendes Comeback« sei ihnen gelungen, lobte ein stolzer Daimler-Chef Dieter Zetsche sich und sein Unternehmen. Innerhalb eines Jahres wurde aus einem Milliardenverlust ein Gewinn von neun Milliarden Euro. Auch bei Audi und BMW schnellten die Umsatzrenditen auf rund zehn Prozent. Das schaffte früher nur Porsche. Und so soll es weitergehen, trotz Abschwung.

Da kann sich der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann aus dem Schwabenland weniger Autos wünschen – der BMW-Chef sagt seinen Aktionären in München, wohin die Reise wirklich geht: »Wir wollen mehr Autos ausliefern als jemals zuvor.« Was nur macht die Chefs mit dem Benzin in den Adern so selbstbewusst? Es sind die Neureichen in den Schwellenländern, die ungeniert deutsche Spitzenprodukte kaufen. Da stört es kaum, dass der Markt in Westeuropa stagniert und in Japan sogar schrumpft. 43 Prozent mehr Audi, 85 Prozent mehr BMW und sogar 112 Prozent mehr Mercedes haben die Deutschen im vergangenen Jahr in China verkauft. Und wenn sich dort die Zuwachsraten etwas reduzieren, dann springen Inder, Türken, Russen oder Brasilianer als Nachfrager ein. Unverhofft haben die Zetsches und Winterkorns einen Lauf. »Die Automobilindustrie steht für zwei Drittel des deutschen Exportüberschusses«, sagt Matthias Wissmann, Präsident des Verbands der Automobilindustrie VDA und Cheflobbyist der Branche. 76 Prozent der 5,5 Millionen zwischen Rhein und Oder gebauten Autos wurden 2010 ausgeführt. Hinzu kommen sechs Millionen, die in den Auslandswerken der deutschen Konzerne vom Band liefen. Gut 700 000 Menschen arbeiten in Deutschland für die Hersteller, noch einmal etwa halb so viele für ihre Zulieferer aus Chemie, Elektrotechnik oder Maschinenbau. Das Auto ist mehr Schlüsselindustrie denn je. Und mit den Autoriesen blüht eine ganze Kultur. Ausdruck findet sie zum Beispiel in auto motor und sport. Das Stuttgarter Magazin räumte kürzlich mit der Behauptung des Bremer Psychologieprofessors Peter Kruse auf, wonach die junge Generation den Spaß am Auto verloren habe und inzwischen eher auf iPhones und iPads stünde. Das hauseigene Autofahrer-Baro-

meter zeige: »50 Prozent der Befragten bis 29 Jahre verspüren großen Spaß an der Mobilität auf vier Rädern«. So viel wie vor 15 Jahren, behauptet das Blatt und jubelt: »Uncool sieht anders aus.« Trendforscher widersprechen dieser Deutung und verweisen auf etwas wirklich Uncooles: den Ölpreis. Experten erwarten, dass sich der Preis in den nächsten beiden Jahren verdoppeln könnte, weil die Chinesen mehr tanken und die Ölmultis zu wenige Raffinerien planen. Gleichzeitig rufen Biokraftstoffe heftige Widerstände hervor, wie der Protest an deutschen Tankstellen gegen die Einführung von E10 gezeigt hat. Ehec im Essen war vielen egal, das harmlose E10 im Tank ist eine Zumutung. Als reiche das noch nicht, um das klassische Autogeschäft infrage zu stellen, drohen politische Vorgaben ohnegleichen. Schon gibt es rund um den Planeten neue Grenzwerte für den Ausstoß des Klimagases. Und sie werden schärfer.

Amerikaner und Chinesen mögen einfach keine Diesel Lange Zeit dachten die deutschen Ingenieure, sie könnten alle Vorgaben mit neuen, hoch effizienten Dieselmotoren erfüllen, wie sie etwa die Drei-LiterAutos von VW und Audi verwenden. Bloß mögen Politik und Käufer in Amerika, China und Japan den Diesel nicht. Lieber ist ihnen da schon der Mischantrieb aus Verbrennungs- und Elektromotor, den die deutschen Entwickler jahrelang hochmütig verwarfen. Zu teuer. Nicht innovativ. Kaum Fahrfreude. So hieß es. Heute müssen die deutschen Hersteller den Vorsprung von Toyota und Honda mit großem Aufwand wettmachen. Ähnlich weit hinten sind sie beim reinen Elektroauto. In den USA überzeugen Tesla, Nissan und Ge-

– 2,9 neral Motors mit ihren Modellen erste Kunden, in Europa gelingt das Mitsubishi, Peugeot, Citroën und einigen Nischenanbietern. Nur die Deutschen haben sich Zeit gelassen. Daimler kommt nächstes Frühjahr als Erster mit seinem E-Smart auf den Markt, Volkswagen und BMW gehen erst 2013 mit ihren Batterieautos in Serie. »In den nächsten zehn Jahren verdienen wir kein Geld mit alternativen Antrieben«, erklärt Dieter Zetsche. Also kämen die Deutschen auch nicht zu spät, glauben Zetsche, Winterkorn und Reithofer. Der Mobilitätsexperte Reinhold Wurster dagegen schließt nicht aus, dass die Chinesen den Verbrennungsmotor in urbanen Zentren bald ganz verbieten (siehe Interview). Dafür spricht, dass China seine Städte vom Smog befreien will und sich auf die Dauer viel von einer eigenen Elektroauto-Industrie verspricht. Der Wandel kommt, auch im Westen. Können die im Denken des 20. Jahrhunderts, im Zeitalter von Ottomotor und Individualverkehr verhafteten Automanager ihre Führungsrolle behaupten? »Die Deutschen haben gute Voraussetzungen, beim Auto der Zukunft ganz vorne mit dabei zu sein«, glaubt Ralf Kalmbach von der Unternehmensberatung Roland Berger. Hersteller, Zulieferer, Ingenieurbüros, Hochschulen und Forschungsinstitute ergänzten sich hervorragend. Bei der Batterieherstellung werde Deutschland nicht vorne mitmischen, bei allem anderen schon: Daimler etwa baut mit Bosch Elektromotoren. Die Schwaben sind auch beim kalifornischen E-Auto-Pionier Tesla eingestiegen, und gemeinsam mit dem chinesischen Batterie- und Autohersteller BYD entwickeln sie ein Elektroauto für den chinesischen Markt. BMW und VW gehen ähnlich vor. »In den kommenden drei bis vier Jahren investiert allein die deutsche Automobilindustrie 10 bis 12 Milliarden Euro in die Entwicklung alternativer Antriebe«, sagt Matthias Wissmann.

Vor knapp drei Jahren startete Daimler zudem seinen ersten Carsharing-Versuch in Ulm: Wer sich bei der Daimler-Tochter Car2go gegen eine einmalige Gebühr von 19 Euro anmeldet und sich im Firmenshop einen kleinen Chip auf den Führerschein kleben lässt, kann zu jeder Tag- und Nachtzeit einen von 300 Kleinstwagen im Stadtgebiet fahren, die zufällig auch »Smart« heißen. Das Smartphone verrät, wo der nächste verfügbare Wagen wartet, den der Fahrer nach der Fahrt irgendwo im »Geschäftsgebiet« abstellen darf. Car2go läuft auch in Hamburg und Amsterdam und sogar in Austin in Texas. Bald auch im kanadischen Vancouver. BMW kopierte die Idee in München und Berlin, VW will es in Hannover versuchen. Niemand kann sagen, die Hersteller bewegten sich nicht. Die Frage ist, ob andere nicht schneller sind. Die Bahn zum Beispiel hat viel mehr Erfahrung damit, Mobilitätsnetze zu betreiben. Und junge Autonationen wie China können leichter auf ein ganz neues Konzept umschwenken, schließlich haben sie in der guten alten Autoindustrie so gut wie nichts zu verlieren. Und auch ihre Konsumenten sind zwar, pardon, autogeil, aber noch nicht so festgefahren. Das Signal kommt aus vielen Richtungen: So paradox es manchem Autonarr und Manager, manchem Lobbyisten und Politiker auch vorkommen mag – will Autodeutschland den Weltmarkt weiter dominieren, müssen alle ein wenig Benzin aus den Adern lassen. KERSTIN BUND, UWE JEAN HEUSER, DIETMAR H. LAMPARTER UND PETRA PINZLER

I Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/iaa

»Aus reiner Vernunft geschieht wenig« Die Autobauer wandeln sich zu langsam, sagt der Mobilitätsexperte Reinhold Wurster. Das könnte sie noch einmal teuer zu stehen kommen DIE ZEIT: Herr Wurster, gibt es das eine Auto Hochgeschwindigkeitszug, Flugzeug, Nahverkehr. Der ehemalige Daimler-Chef Edzard der Zukunft? Reinhold Wurster: Nein, das ist abhängig vom Reuter strebte noch den integrierten TechnoloAnwendungsfall. In China entstehen Städte giekonzern an, mit Zügen und Flugzeugen im mit 30 Millionen Einwohnern und mehr. Für Angebot. Dann kam die Konzentration aufs den Fortschritt dort gibt es keine Vorbilder, Auto. Doch nur Auto, Auto, Auto ist nicht die die Lösung werden die Chinesen selbst noch Zukunft. Daimler baut immerhin noch Busse entwickeln. In Indien geht es chaotischer zu, und LKW, VW und Toyota auch ... mit offenem Ausgang. ZEIT: ... Aber Sie meinen, das reicht eben nicht? ZEIT: Und bei uns im Westen? Wurster: 20 bis 30 Prozent der Menschen le- Wurster: Andere Sektoren der Industrie könnben bei uns auf dem Land. Da ist es schwierig ten die moderne Systemaufgabe besser lösen. mit Bussen und Straßenbahnen. Also bleibt es SAP zum Beispiel könnte eine Plattform bei Autos. Selbst die Grünen, die früher gegen schaffen über das iPad oder so, auf der wir Individualverkehr waren, sind jetzt fürs Elek- unser Fortkommen leicht organisieren, von troauto. E-Autos dürften aber in absehbarer der Bahnkarte bis zum Car-Sharing-Auto. Zeit vor allem Luxus-Zweit- und-Drittwagen Auch die Deutsche Bahn selbst hat auf dem sein – so teuer, wie Batterien sind. Für lange Gebiet mehr Erfahrung als die Autohersteller. Strecken kommen effiziente Benzin- und ZEIT: Das müssten diese doch einsehen und Brennstoffzellenantriebe infrage. Aber auch sich wandeln. diese Autos, mit denen nach wie vor der Groß- Wurster: Zum Teil kommt es dazu. Doch aus teil der gefahrenen Kilometer zurückgelegt reiner Vernunft geschieht wenig. Ein Beispiel: wird, werden vielleicht kleiner sein als heute. Amory Lovins hat schon vor 30 Jahren das ZEIT: Werden wir mehr oder weniger Autos Hypercar gefordert, ein ultraleichtes Auto aus Carbon. Erst heute wird es aber entwickelt, haben als heute? und das auch nur, damit ein Wurster: In China zum BeiBatterieauto trotz der schwespiel werden es natürlich ren Aggregate insgesamt nicht mehr, aber die Dichte auf die schwerer ist als heute ein Einwohner gerechnet bleibt Benzinauto. Oder nehmen Sie geringer als im Westen. Experdie europäischen Abgasgrenzten rechnen mit höchstens eiwerte. Zehn Jahre wurde an nem Auto für zwei Menschen. dem Thema mit sogenannten Dafür brauchen die Chinesen Selbstverpflichtungen gearbeidann allein 80 000 Kilometer tet, und als dann ein ehrgeizivierspurige Straßen. Reinhold Wurster, ger Zielwert von 2012 an festZEIT: Werden die Deutschen Ludwig-Bölkow geschrieben werden sollte, lief mit weniger Autos auskom- Systemtechnik GmbH die Industrie wie schon 1997 men müssen? Sturm, und Deutschland verWurster: Ich denke, ja. Weil die Ressourcen so knapp sind, dass der Preis hinderte die harte Obergrenze. fürs Autofahren massiv steigen dürfte. Einer- ZEIT: Der neue grüne Ministerpräsident seits die Materialien. Nicht so sehr die be- von Baden-Württemberg schockierte Autorühmten seltenen Erden, deren Gebrauch Deutschland, als er sagte, wir müssten zukann man beim Autobau umgehen, als viel- rückschalten ... mehr Kupfer, Zinn oder Zink. Bei Kupfer Wurster: ... Die Autoindustrie wird Herrn könnte schon 2013 der Förderhöhepunkt Kretschmann irgendwann dankbar sein. Selbst überschritten werden. Und Kupfer ist im Au- in China werden künftig weniger große Autos tobau der Zukunft mit E-Antrieb kaum zu verkauft werden. Aus Kostengründen. Aus ersetzen. Andererseits werden uns am Ende Imagegründen dazu. Deutschland hat Vorteides Jahrzehnts große Ölförderkapazitäten feh- le, etwa bei Entwicklung der Brennstoffzelle. len. Um die Nachfrage zu befriedigen, müss- Warum entwickelt denn etwa General Motors ten bis 2020 ein ganzes Saudi-Arabien und diesen Antrieb nennenswert in Deutschland? ein Russland an Ölförderung hinzukommen. Aber wir müssen uns sputen und dürfen keine In der kurzen Zeit ist das undenkbar und ver- Feindbilder aufbauen. mutlich auch insgesamt nicht leistbar. ZEIT: Die hiesigen Autobauer müssen auf alZEIT: Trotzdem werden die Deutschen die les gefasst sein? Autos der Zukunft entwickeln und bauen? Wurster: Ja. Asien bestimmt die Agenda. Da Wurster: Das ist die Milliarden-Dollar-Frage. könnte es dann ganz schnell geschehen, dass Noch brauchen die Chinesen uns, wenn auch China Verbrennungsmotoren aus seinen Städin ihrem eigenen Land mit Joint Ventures, an ten verbannt, wenn das Land in der Entwickdenen deutsche Firmen Anteile von 49 Pro- lung von Elekroautos weit genug ist. In dem zent oder weniger haben. China hat noch Fall kann Daimler eine noch so schöne S-Klasnicht die gut ausgebildeten systemintegrieren- se bauen, die nur noch 4,9 Liter verbraucht, den Ingenieure, um Topautos zu entwickeln. sie wäre dort verboten. Oder schauen Sie auf die Erfahrung von BMW in Kalifornien. Sie Das kann sich aber ändern. ZEIT: Hat die deutsche Autoindustrie alle Fä- haben ein Wasserstoffauto demonstriert, das higkeiten beisammen, um weltweit weiter kaum messbare Emissionen hat und sogar noch Schadstoffe aufnimmt. Und doch fällt vorne zu sein? Wurster: Sie könnte ein Riesenproblem be- das Auto als Verbrenner nicht in die Kategorie kommen – wenn sie sich nicht bald als Organi- der neuen grünen Autos. sator von Mobilität versteht. Mobilität heißt künftig Vielfalt. Auto im Besitz, Leihauto, Das Gespräch führte UWE JEAN HEUSER

WIRTSCHAFT

DIE ZEIT No 38

E Zahlt doch das Amt! Vermieter von Wohnungen für Hartz-IV-Empfänger bereichern sich auf Kosten des Staates VON FELIX LILL

Billiger Wohnraum in BerlinNeukölln

rika Westermann redet nicht gern über ihre Wohnung. Für das Geld, das monatlich für die Miete überwiesen wird, müsste eigentlich etwas Schöneres zu finden sein: Die Küche hat keine Fenster, das Bad ist winzig, die Klingel funktioniert nicht, und die Tapete blättert von der Wand. Vor dem Wohnzimmerfenster dröhnt der Verkehr. Westermann, die ihren wahren Namen nicht in der Zeitung lesen will, lebt am Rande Berlins und würde gern umziehen. Aber etwas Besseres bekommt die Hartz IV-Empfängerin nicht. In ihrer Situation stecken viele Bezieher von Transferleistungen, gerade in Ballungszentren. Die Nachfrage nach Wohnraum ist so groß, dass Vermieter sich ihre Mieter aussuchen können. Vor allem Hartz-IV-Empfänger haben dann Schwierigkeiten. Und wenn sie doch eine Wohnung finden, kommt es schnell zu Problemen: Die Mieten oder Nebenkosten fallen zu hoch aus, oder Räume sind kaum bewohnbar. Regelmäßig gehen bei Mietervereinen und Behörden Beschwerden ein. Als Erika Westermann gemeinsam mit ihrem Mann die Wohnung bezog, betrug die Monatsmiete 444 Euro. Das ist genau der Satz, den die Behörde in Berlin an Unterkunftskosten für einen Zweipersonenhaushalt zahlt. Nachdem sie die Wohnung gefunden hatte, besorgte Westermann einen Vordruck ihres Jobcenters, den ihr Vermieter unterschrieb, um zu vereinbaren, dass die Behörde die Miete übernimmt. Dass die Miete genau dem Höchstsatz entsprach, war kein Zufall. Berlins Vermieter kennen diesen Wert. »Wohnungen unter dem Höchstsatz finden Sie nicht«, sagt Ulrich Ropertz, der für den Deutschen Mieterbund arbeitet: »Wenn Sie die Möglichkeit haben, mit Blankoschecks zu kalkulieren, werden Sie dann weniger verlangen als möglich?« Da die Miete eines Hartz-IV-Empfängers von der Behörde bezahlt wird, besteht für den Vermieter auch kaum ein Risiko. Hartz-IV-Empfänger erhalten damit eine Art AAA-Rating für die Wohnungssuche. Das sei auch sinnvoll, meint der Sozialarbeiter eines gemeinnützigen Vereins in Berlin – denn »ohne eine Garantie für Wohnungsbesitzer bekämen viele Hartzer gar nichts«. So sind Behörden zunächst jedem Vermieter dankbar, der an Transferleistungsempfänger vermietet. Die Klischees eilen dieser Klientel schließlich voraus – sie gelten als laut und unsauber, mitunter kommen Gewalt und Drogen ins Spiel. Viele andere Mieter dürften sich wohler fühlen, wenn kein Sozialfall nebenan wohnt. So machen sich Wohnungsbesitzer, die an Hartz-IV-Empfänger vermieten, bei den Jobcentern schnell als Wohltäter beliebt. Um es sich mit

diesen Vermietern nicht zu verscherzen, will auch der Sozialarbeiter seinen Namen nicht nennen. Dass der Staat die Miete zahlt, schafft allerdings Verhältnisse, die schnell auf Kosten von Mieter und Behörde gehen. Als Erika Westermann ihre Wohnung besichtigte, war nur sie vor Ort. Niemand von der Behörde, kein Gutachter, der hätte beurteilen können, ob der Preis gerechtfertigt war. »Was hätte ich machen sollen, wenn es Wucher

Probleme: »Auf einmal war die Wohnung wieder teurer. Keiner hat mir erklärt, warum. Auch in den Briefen wurde das nicht deutlich.« Um wie viel Geld der Staat auf diese Weise gebracht wird, ist nicht bekannt, offizielle Erhebungen gibt es nicht. »Bei rund vier Millionen Haushalten bundesweit, denen die Wohnungskosten erstattet werden, dürften die Behörden aber allein durch Mieterhöhungen mindestens 14 Millionen

ist?« Hätte sie die Wohnung ablehnen sollen? Bedingungen stellen? Dann hätte sie womöglich ohne Wohnraum dagestanden, befürchtet sie. »Die Verhandlungspositionen sind doch klar«, sagt der Sozialarbeiter: »Ein Leistungsempfänger kann keine Forderungen stellen. Wenn er verlangt, dass der Schimmel von den Wänden gekratzt wird, kann ihn der Vermieter ablehnen. Das passiert natürlich nicht immer, aber die Angst davor ist nachvollziehbar.« Dazu kommt, dass Mieterhöhungen oder Nebenkosten regelmäßig zu hoch angesetzt werden. »Nach unserer Erfahrung«, so Ulrich Ropertz, »ist die Hälfte der Abrechnungen und Mieterhöhungen fehlerhaft.« Auch Erika Westermann hatte

Euro pro Monat zu viel bezahlen«, schätzt Ropertz. Auf das Jahr gerechnet, wären das 168 Millionen Euro. Hinzu kämen zu hohe Nebenkostenabrechnungen, die sich in ähnlichen Dimensionen bewegen könnten. Die Rechnungshöfe und der Bund der Steuerzahler weisen schon länger darauf hin. Schmerzhafter als für die Behörden ist die Situation aber für die Hartz-IV-Empfänger. Zum Beispiel im Fall von Ralf Weinert, einem arbeitslosen Speditionskaufmann aus Hamburg. Als vor einem guten Jahr die Jahresabrechnung der Nebenkosten ins Haus stand, weigerte sich das Jobcenter zu zahlen, weil der Betrag monatlich 17 Euro zu hoch war. Er sei nicht sparsam genug, kritisierte das Amt. Erst nach fünf Monaten Schriftverkehr konnte Weinert sich mit der

Foto: Hermann Bredehorst

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Behörde einigen. Ob der Vermieter betrogen habe, weiß er nicht. Er fragt auch nicht nach. Ihn interessiert vor allem, dass er nicht mehr Geld zahlen muss, als er zahlen kann. Auch das ist ein Problem: Solange sich die Behörde nicht querstellt, hat auch ein Hartz-IVEmpfänger kaum Anreize zur Sparsamkeit. Von einer geringeren Monatsmiete würde er nicht profitieren; sofern ihm eine Wohnung gefällt, kann es ihm auch egal sein, wenn diese eigentlich kleiner ist als im Mietvertrag angegeben. Die öffentliche Hand schaut in der Regel nicht hin. In Hamburg etwa rechneten diverse Vermieter in rund 400 Fällen jahrelang höhere Quadratmeterzahlen ab, als die Wohnungen hergaben. Weil das angeblich eine Sache zwischen den Mietparteien sei, schritten die Ämter nicht ein. Mittlerweile läuft zumindest ein Strafverfahren. Der Bund der Steuerzahler schätzt allerdings, dass der Betrug in vielen Fällen verjährt sei und der Stadt deshalb Rückforderungen von höchstens einer halben Million Euro zustünden. Der Schaden dürfte ein Vielfaches betragen. Immerhin wachen die Behörden in den größeren deutschen Städte langsam auf. Berlin ist bei Nebenkostenabrechnungen etwas strenger geworden, Köln kooperiert in einigen Fällen mit den Mietervereinen. Ein neues Bundesgesetz ermöglicht zudem, Höchstmieten pro Quadratmeter auszuweisen. Wegen zu hoher Mieterhöhungen oder Nebenkosten mussten allein in Berlin im vergangenen Jahr 1195 Haushalte, die Hartz IV bezogen, ihre Wohnung verlassen. Erika Westermann könnte bald auch so ein Fall sein. Als sie im Januar 2010 heiratete und in ihre 1,5-Zimmer-Wohnung zog, um dort gemeinsam mit ihrem Mann zu leben, betrug die Monatsmiete noch 444 Euro. In eineinhalb Jahren wurde schon zweimal erhöht, auf mittlerweile 470 Euro, während sich am Zustand der Wohnung nichts geändert hat. Die 26 Euro, die die Wohnung seitdem über dem Höchstsatz liegt, muss Westermann selbst zahlen. Seit sie ihren Zuverdienst als Altenpflegerin verloren hat, ist sie zum ersten Mal in ihrem Leben verschuldet. Ihren Mietanteil kann sie deshalb nicht mehr lange schultern. Wenn ihn das Jobcenter nicht übernimmt, wird Westermann sich also eine günstigere und wahrscheinlich kleinere Wohnung suchen müssen. Wenn die Behörde dafür dann die Kosten übernimmt, wird das Spiel wohl wieder von vorn beginnen. Die nächsten Mieterhöhungen würden kommen; wieder läge der Verdacht nahe, dass ein Vermieter zu viel abgerechnet hat. Zunächst ginge das auf Kosten der Behörde. Und dann wieder zulasten von Erika Westermann.

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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rank Bsirske, Chef von ver.di, war einmal Vorsitzender der größten Gewerkschaft in Deutschland. Keiner konnte im Namen von mehr Arbeitnehmern sprechen. Dann aber liefen ihm zuhauf die Mitglieder davon, sodass 2005 die IG Metall zur Nummer eins wurde. Ein Desaster, für Bsirske aber ohne Folgen, noch heute führt er die Dienstleistungsgewerkschaft. Und alles deutet darauf hin, dass er beim Bundeskongress in der kommenden Woche erneut zum Vorsitzenden gewählt wird. Die Situation von ver.di sei heute viel besser, heißt es allenthalben. Bsirske gilt als unangefochten. Dabei sind viele Erfolgsmeldungen, die der Gewerkschaftsboss derzeit verbreitet, schlicht irreführend. Seine Organisation befindet sich nach wie vor in einer dramatischen Lage. Sie verliert weiter Mitglieder, zuletzt war der Schwund fast doppelt so groß wie im Durchschnitt des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Seit ihrer Gründung vor zehn Jahren hat ver.di schon ein Viertel der Mitglieder verloren. Der sogenannten Multi-Branchengewerkschaft gehören heute nur noch knapp 2,1 Millionen Menschen an. Frank Bsirske hält mit guten Nachrichten dagegen: »Bei den Erwerbstätigen verzeichnen wir das dritte Jahr in Folge mehr Eintritte als Austritte«, verkündet er bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Das wäre in der Tat ein großer Erfolg, denn schließlich sind es die berufstätigen Gewerkschafter, auf die es wirklich ankommt: Sie bestimmen über die Stärke in Arbeitskämpfen und bezahlen – anders als Rentner oder Arbeitslose – volle Mitgliedsbeiträge. Doch wer glaubt, ver.di gewinne in den Betrieben immer mehr Mitglieder hinzu, sieht sich getäuscht. Zwischen 2006 und 2010 gingen ver.di sieben Prozent der Berufstätigen verloren, 120 000 Mitglieder insgesamt. Allein 2010 betrug das Minus 33 000 Köpfe. Wie passt das zu Bsirskes Erfolgsmeldungen? Man habe nur Eintritte und Austritte der Erwerbstätigen verglichen, heißt es bei ver.di. Wenn aber ein Berufstätiger zum Beispiel in den Ruhestand wechsele, sei das eben kein Austritt – auch wenn es dann tatsächlich ein erwerbstätiges Mitglied weniger gebe. Mit anderen Worten: Übergänge in die Rente blendet Bsirske einfach aus. Gerne berichtet der ver.di-Chef auch davon, wie erfreulich die Mitgliederentwicklung »im Osten« und hier »insbesondere bei der Jugend« sei. Kein Wort verliert er über den alarmierenden Rückgang gerade bei den Jüngsten: Die Zahl der organisierten Azubis sank in den vergangenen fünf Jahren um 33 Prozent. Das alles schlägt sich auch in den Finanzen nieder. Zuletzt gab ver.di 1,5 Millionen Euro mehr aus, als die Gewerkschaft einnahm. Dabei fehlen in diesem offiziell ausgewiesenen Defizit noch al-

Pfeifen für mehr Geld – ver.di-Mitglied bei einem Warnstreik im Jahr 2010

Die Mitglieder laufen davon Die Lage der Gewerkschaft ver.di ist desolat. Trotzdem wird Frank Bsirske wohl als Vorsitzender bestätigt VON KOLJA RUDZIO

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lerlei Sonderausgaben. Allein durch sogenannte Gleichzeitig müssen sich manche ver.di-FunkProjektmittel verdreifacht sich das Defizit. tionäre sehr mit internen Problemen beschäftigen. Das alles erscheint umso enttäuschender, als der Ver.dis komplizierte Matrix-Organisation lädt Teich, in dem ver.di fischt, eigentlich immer voller dazu ein, sie besteht aus 13 Fachbereichen mit 14 wird. Seit Jahren steigt die Zahl der Erwerbstätigen Bundesvorstandsmitgliedern, 11 Landesbezirken, in Deutschland, sie hat mit 41 Millionen einen neu- 83 Bezirksverbänden, 9 gesonderten Personenen Rekord erreicht. Und sie wächst gerade dort, wo gruppen und entsprechend vielen Konferenzen, sich ver.di zuständig sieht: in den Dienstleistungs- Abstimmungen und Arbeitsgruppen. Allein für branchen. Dass ver.di davon nicht profitiert, begrün- den Bundeskongress, der länger als eine volle Woden ihre Funktionäre vor allem mit einem Hinweis: che tagt, wurden mehr als 1300 Anträge eingereicht Die vielen prekären Jobs sind schuld. Statt guter Ar- und in den verschiedensten Gremien diskutiert – beit gebe es heute immer mehr Leiharbeiter und egal, ob es um das Thema »Euro-Pakt« geht, um Minijobber, und die ließen sich eben nur schwer »gemeinwohlorientiertes eGovernment« oder das organisieren. Das Argument gehört zum Glaubens- »Beschwerderecht von Frauenräten und Frauenkern der für staatlich festgesetzte Mindestlöhne vorständen vor dem Kontroll- und Beschwerdeausschuss«. Alles hat seinen Platz bei ver.di. kämpfenden Organisation. Insbesondere für politische Arbeit gibt es viel Aber auch hier blenden die ver.di-Funktionäre systematisch aus, was ihrer Überzeugung wider- Raum. Jedenfalls leistet sich ver.di eine Stabsabteilung spricht. Neben »atypischen« Jobs wuchs in den zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, wie man vergangenen fünf Jahren auch die Zahl der ganz sie eher beim DGB vermuten würde. Dabei vertritt »normalen« Beschäftigungsverhältnisse (Vollzeit, ver.di Positionen, die nur wenige Bürger begeistern sozialversicherungspflichtig, unbefristet, keine Leih- dürften. Die Schuldenbremse etwa – zu der sich arbeit) um rund eine Million. Nachzulesen unter CDU, CSU, FDP, SPD und Grüne bekennen – lehnt anderem beim Statistischen Bundesamt. Im gleichen ver.di strikt ab. Bsirske spricht von einer »ZukunftsZeitraum verlor ver.di fast 300 000 Mitglieder. bremse«. Auch von der Rente mit 67 halten die GeDie ver.di-Führung beteuert: Mehr Menschen werkschafter nichts. Und selbst im Streit um die zu gewinnen habe höchste Priorität. Doch der Euro-Rettung positioniert sich ver.di eher mit Min3200 Funktionäre zählende Apparat erweist sich derheitsmeinungen: »Die Kolleginnen und Kollegen manchmal als enorm schwerfällig. Ein Beispiel: in Griechenland wehren sich zu Recht«, schreiben sie der Prozess »Chance 2011«. Schon 2007 beauf- in einem Flugblatt. »Wir sind an Eurer Seite!« tragte der letzte ver.di-BundeskonVer.dis politische Positionen gress den Vorstand, Konzepte gestimmen noch am ehesten mit der gen den Mitgliederschwund zu Linkspartei überein – einer Volksentwickeln. Daraufhin wurde »in partei nur in einigen Teilen der Reeinem sechsmonatigen Entwickpublik. Auch das könnte ein Grund lungs- und Diskussionsprozess der sein, warum ver.di-Chef Bsirske, der Prozess ›Chance 2011‹ konzipiert«, schon mal mit ausgestreckten Mittelwie es im ver.di-Geschäftsbericht fingern gegen Kapital und Neolibeheißt. Im Juni und September ralismus protestierte, breitere Mi2008 habe der Gewerkschaftsrat Frank Bsirske ist seit lieus schwer für sich begeistern kann. »ein Diskussionspapier und eine über zehn Jahren Chef Die Ausgangslage wäre eigentFestlegung von Arbeits- und Pro- der Gewerkschaft ver.di lich günstig. Während die Gezessstrukturen« beschlossen. Es seiwerkschaften bis Mitte des veren »Generalziele« präzisiert und gangenen Jahrzehnts in Umfragen Befragungen durchgeführt worden. Im Juli 2010 sehr geringe Sympathiewerte erhielten, sind heute sei eine »Zielgruppenanalyse« abgeschlossen wor- drei Viertel der Bevölkerung der Meinung, dass sie den – drei Jahre nach dem ursprünglichen Auftrag. eine wichtige Rolle spielen. Galt lange Zeit die Überschrieben ist dieses Kapitel des Geschäftsbe- Massenarbeitslosigkeit als das drängendste Prorichts mit den Worten: »Es geht voran«. blem, gewinnen inzwischen wieder klassische GeZu den Problemen, mit denen die Großgewerk- werkschaftsthemen an Bedeutung: bessere Arbeitsschaft zu kämpfen hat, gehören außerdem Kleinst- bedingungen und höhere Löhne. Es gibt also tatgruppen, die ihr seit einigen Jahren Konkurrenz sächlich so etwas wie eine »Chance 2011«. Man machen. Ob Lufthansa-Piloten, Ärzte oder Versiche- müsste sie nur nutzen. rungsangestellte – in etlichen Branchen sieht sich ver.di einem stärkeren Wettbewerb mit spezialisierten Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/gewerkschaft Berufsorganisationen ausgesetzt.

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Fotos: Daniel Roland/dapd; Hans Christian Plambeck/laif (r.)

WIRTSCHAFT

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WIRTSCHAFT

DIE ZEIT No 38

Vom Internet zum Ökonetz

Campus der Columbia University in New York City

Google legt seinen Energieverbrauch offen. Wichtiger ist, wie der Strom produziert wird VON MARCUS ROHWETTER

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Foto: Alex Kraus/vario images

Google verriet ein Staatsgeheimnis an die Lokalzeitung am Konzernsitz im kalifornischen Mountain View: Der Konzern verbrauchte im vergangenen Jahr rund 2,3 Milliarden Kilowattstunden Strom, berichtete die Mercury News. Das entspricht dem Verbrauch einer mittleren deutschen Großstadt und bedeutet zugleich den Ausstoß von mehr als 1,4 Millionen Tonnen CO₂. Googles Zahlen befeuern eine alte Debatte: Ist die Informationstechnik ein Stromfresser und Klimafeind – oder hilft sie im Gegenteil beim Energiesparen? Kann es Green IT, also eine ökologisch korrekte Hightechwelt, überhaupt geben? Moderne Technologien steuern Kraftwerke oder verteilen Strom dorthin, wo er gebraucht wird. In Autos und Flugzeugen helfen sie, Verschwendung zu verhindern. Doch wie groß dieser Spareffekt angesichts des eigenen Stromverbrauchs wirklich ist, ist nach wie vor umstritten. So verweist Google der New York Times zufolge darauf, dass beispielsweise Suchanfragen im Internet die Autofahrt zur Bibliothek ersparten und somit den Spritverbrauch reduzierten. Von wegen. Man darf getrost bezweifeln, dass größere Menschenmengen permanent die Stadtbüchereien belagert hätten, um Informationen über »Facebook«, »YouTube«, »Lena Meyer-Landrut« und »Daniela Katzenberger« zu sichten. Laut Google waren das nämlich die beliebtesten Suchanfragen deutscher Nutzer im vergangenen Jahr. Für eine seriöse Debatte über Green IT taugen solche Rechenbeispiele kaum. Dabei muss das Internet dringend ein Ökonetz werden. Verantwortlich für den Energiehunger ist vor allem das Cloud Computing. Dabei werden Daten aller Art auf riesige Rechenzentren ausgelagert: fabrikähnliche Computerparks, die die eigentliche Rechenarbeit übernehmen und das Ergebnis nur noch an die Tablets, Smartphones und PCs der Nutzer übermitteln. Nach diesem Muster funktionieren neben Google, Facebook und Amazon praktisch alle populären Netzdienste. Greenpeace zufolge verbrauchen alle Rechenzentren der Welt zusammen mehr Strom als Länder wie Indien, Deutschland oder Kanada. Wie viel Energie sie benötigen, ist eine Frage. Woher sie kommt, eine andere. Greenpeace hat festgestellt, dass die Technik der Gegenwart von der Energieform der Vergangenheit angetrieben wird. Die meisten der großen Cloud-ComputingUnternehmen würden zwischen 50 und 80 Prozent ihrer Energie aus Kohle gewinnen. Viele Rechenzentren seien in North Carolina und im Mittleren Westen der USA entstanden, dank des dort niedrigen Preises für den Kohlestrom. Für ein umweltverträgliches Internet sind die Standorte der Rechenzentren ebenso entscheidend wie das Verhalten der Nutzer. In Irland und Island, wo einige solcher Datenfabriken stehen, liefern oft Wind und Erdwärme die nötige Energie. In den USA stehen manche Zentren in der Nähe großer Flüsse, um Wasserkraft zu nutzen. Eine digitale Energiewende muss sich auch nach solchen Kriterien richten. Am wenigsten interessieren sich Greenpeace zufolge die Firmen Apple, Facebook und Twitter dafür, aus welchen Quellen der Strom für ihre Rechenzentren kommt. Google und IBM hätten zumindest umfangreiche Konzepte, um ihren CO₂-Ausstoß langfristig zu reduzieren, so die Umweltschützer. Googles aktuelles Bekenntnis zum Stromverbrauch ist also ein guter erster Schritt. Jetzt hat der Konzern die Chance, sich offensiv an die Spitze der Green-IT-Bewegung zu setzen. Die Nutzer indes müssen sich von einer lieb gewonnenen Internetillusion verabschieden. Es sieht nur so aus, als sei Surfen kostenlos. Googeln hat einen Preis: Man findet ihn in der Klimabilanz.

m Mai klang die Zukunft für Rebecca Lapham noch wie ein Versprechen. Ein Blechbläser-Quintett spielt Pomp and Circumstance, als die 23-Jährige in den Festsaal der St. Thomas University nahe Minneapolis einzieht. Vier Jahre lang hatte sie auf diesen Tag hingearbeitet. Hatte Physiologie-Lehrbücher gelesen und Hautzellen unter dem Mikroskop analysiert. Hatte 60 000 Dollar Schulden aufgenommen, um die Studiengebühren bezahlen zu können. Nun sind die Anstrengungen endlich vorüber. Der Uni-Rektor überreicht ihr das Bachelorzeugnis in Biologie. Das Zeugnis, von dem Rebecca Lapham glaubte, es sei eine Art Gutschein für einen sicheren Arbeitsplatz. »Ich habe es geschafft«, dachte sie. Heute, ein Vierteljahr später, weiß sie es besser. Rebecca Lapham ist arbeitslos. Sie ist zurück zu ihren Eltern gezogen, um die Miete zu sparen. Manchmal hat sie den ganzen Tag Migräne, dann kann sie nicht einmal das Haus verlassen. »Biologie war ein schwieriges Studium«, sagt Rebecca Lapham. »Ich dachte immer: Damit bekomme ich auf jeden Fall einen Arbeitsplatz. Aber es gibt so viele arbeitslose Biologen und so wenige Jobs.« Für Rebecca Lapham ist das Bachelorzeugnis jetzt ein 60 000 Dollar teurer Gutschein, den niemand einlösen will. Neuerdings gibt es viele dieser wertlosen Gutscheine. Sie gehören jungen Amerikanern, für die eine Universität kein Ort ist, um dem humboldtschen Bildungsideal nachzustreben, sondern ein Karriere-Katalysator. Nur ein Drittel der amerikanischen Studenten entscheidet sich für akademische Disziplinen wie Geschichte und Mathematik; zwei Drittel studieren berufsnahe Fächer wie Modemarketing und Pferdemanagement. Vor zehn Jahren war ein Studium für junge Amerikaner noch ein sicheres Investment. Der Preis waren die Studiengebühren; die Rendite: der sichere Job. Inzwischen haben sich die Studiengebühren verdoppelt. Ein Bachelorstudium an einer privaten Uni kostet heute durchschnittlich 150 000 Dollar. Dennoch hören die jungen Amerikaner weiterhin nur einen Ratschlag: »Geht zur Uni!«. Das predigen Eltern, Finanzberater, Politiker. »Nur dann bekommt ihr später einen guten Job.« Also investieren Millionen junger Leute in eine akademische Ausbildung. Selbst wenn sie dafür Kredite aufnehmen müssen. Insgesamt haben amerikanische Studenten Schulden von 930 Milliarden Dollar angehäuft – etwa so viel, wie Spanien an Staatsschulden angesammelt hat. Explodierende Preise, vom Glauben an eine sichere Rendite getrieben und finanziert durch Kredite: Das alles erinnert auf merkwürdige Weise an die Situation auf dem amerikanischen Immobilienmarkt vor einigen Jahren. Tatsächlich sprechen Experten inzwischen von einer Blase auf dem Bildungsmarkt, einer higher education bubble. Die Rating-Agentur Moody’s prophezeit, dass viele Studenten später nicht genug verdienen werden, um ihre Studienkredite zurückzahlen zu können. Die Bildungsexperten Claudia Dreifus und Andrew Hacker schreiben in ihrem Buch Higher Education?: »Die jungen Amerikaner haben etwas Besseres verdient als die Uni-Kost, die sie im Moment geboten bekommen – mit geringem geistigen Nährwert, aber zu einem hohen Preis.« Und Mark Kantrowitz, Amerikas bekanntester Berater für Studienfinanzierung, glaubt: »Viele Uni-Absolventen werden ihre eigenen Studienkredite noch nicht zurückbezahlt haben, wenn ihre Kinder bereits Studienkredite aufnehmen.« Der Grund für so viel Pessimismus: Seit Beginn der Wirtschaftskrise bietet ein Uni-Abschluss keine Job-Garantie mehr. Lange Zeit be-

Nach der Uni der Ruin Ein Studium zahlt sich in den USA nicht mehr aus – glauben amerikanische Experten VON PIERRE-CHRISTIAN FINK kamen nur rund zwei Prozent der Amerikaner mit Uni-Abschluss keinen Arbeitsplatz. Im Moment aber liegt die Quote bei fünf Prozent. Und selbst Uni-Absolventen, die einen Arbeitsplatz ergattern konnten, arbeiten oft in einem Job, der gar kein Studium erfordert. Sie bedienen in Restaurants oder teilen die Post aus. Zurzeit haben zwölf Prozent der amerikanischen Briefträger einen Bachelortitel. Bloß eine Momentaufnahme, sagen die Optimisten. Wenn die Wirtschaftskrise erst einmal überwunden sei, werde sich ein Studium wieder lohnen. Zumal Amerika kaum Alternativen zur Uni kennt. Eine solide Berufsausbildung wie in Deutschland gibt es nicht. Ein Studium ist deshalb Standard in den Vereinigten Staaten: Während in Deutschland derzeit rund 34 Prozent eines Jahrgangs ein Studium beginnen, sind es in den USA 65 Prozent. »Für mich war schon als Kind klar, dass ich einmal zur Uni gehen würde«, sagt Rebecca Lapham. »Ich habe früh beigebracht bekommen:

Wer nicht studiert, muss für den Rest seines Lebens bei McDonald’s die Gurkenscheiben auf die Hamburger legen.« Rebecca Laphams Angst hat, ökonomisch gesprochen, zwei Gründe: den technischen Fortschritt und die Globalisierung. Beide zusammen haben jede Menge Jobs vernichtet, die früher einmal gute Einkommen garantierten – selbst für Amerikaner ohne Uni-Abschluss. Vor 30 Jahren beschäftigte die US-Industrie noch 19 Millionen Arbeiter. Heute sind es nur noch 12 Millionen. Viele Aufgaben werden inzwischen von Robotern erledigt. Oder die Arbeit ist nach China ausgewandert. Als Schutz gegen diese Konkurrenten tauge das Studium, glaubten viele Amerikaner. Ökonomen und Politiker versprachen: Arbeitsplätze, für die man einen Uni-Abschluss brauche, ließen sich nicht wegrationalisieren. »Die Idee, dass eine bessere Bildung bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt garantiert, beherrscht die öffentliche Diskussion bis heute«, schreibt Wirtschaftsnobel-

preisträger Paul Krugman in der New York Times. Aber diese Idee sei überholt. Die US-Industrie sei inzwischen so sehr auf Effizienz getrimmt, dass kein Arbeiter mehr durch eine Maschine ersetzt werden könne, dass sich keine Produktion mehr ins Ausland verlagern lasse. Stattdessen kämen jetzt Amerikas Dienstleister unter Druck. Schnelle Computer und gut gebildete Arbeitnehmer in den Entwicklungsländern könnten dort Jobs übernehmen. »Wenn du deine Studienkredite nicht zurückzahlen kannst, wirst du für den Rest deines Lebens gejagt«, sagt Barmak Nassirian vom Verband der amerikanischen Studentensekretariate. »Dein Gehalt wird gepfändet. Du kannst keinen Job mehr im öffentlichen Dienst bekommen. Du bist ruiniert.« Und es gibt keinen Ausweg: Studienkredite sind die einzigen Schulden, die man nach US-Recht nicht einmal durch Privatinsolvenz loswerden kann. Aus Angst vor solch einer Schuldenkarriere sind sieben Juraabsolventen jetzt vor Gericht gezogen. Sie fordern ihre Studiengebühren zurück. Ihre Hochschulen hätten sie über die Vorteile eines Studiums getäuscht: Bei der Arbeitslosenquote der Abgänger sei untertrieben, bei deren Durchschnittseinkommen übertrieben worden. So hielten es auch andere Unis, heißt es in der Klage: »In der Jura-Ausbildung ist ein systematischer, anhaltender Betrug allgegenwärtig. Einer ganzen Generation von Jurastudenten droht der finanzielle Ruin.« Ganz gleich, wie der Prozess ausgeht – die Klage verschafft Aufmerksamkeit. Das allein könnte schon viel bewirken, meint der Ökonom Richard Vedder von der Ohio University: »Wenn die Öffentlichkeit den Bildungsmarkt erst einmal genauer unter die Lupe nimmt, wird die Blase definitiv platzen.« Wie Vedder prophezeien auch etliche andere Experten, dass die Zahlungsbereitschaft der Studenten bald an eine Grenze stoßen werden. Doch auf welche Weise eine Blase bei Bildungsangeboten platzt, sagt niemand. Jedenfalls kann die Entwicklung nicht so ablaufen wie am Immobilienmarkt, auf dem die Preise für Häuser einbrachen. Denn auf dem Bildungsmarkt lassen sich keine Uni-Zeugnisse handeln. Eine politische Lösung ist nicht in Sicht. Von einer echten Reform des Uni-Systems ist jedenfalls keinerlei Rede. Präsident Barack Obama kam bislang nicht über minimale Finanzhilfen für Studenten hinaus. Unter seinen republikanischen Herausforderern hat sich Rick Perry noch am weitesten vorgewagt. Der Gouverneur von Texas forderte die Unis in seinem Bundesstaat auf, ein Bachelorstudium für 10 000 Dollar zu entwickeln. Umgesetzt ist bislang allerdings noch nichts. Eine große Reform des Bildungssystems – etwa mit einer Berufsausbildung nach deutschem Vorbild – scheint ausgeschlossen. »Amerikas Politiker schauen auf die Besten und kümmern sich kaum um den Rest«, sagt der Bildungsforscher Shamus Khan von der Columbia University in New York. Und wer nur auf Amerikas Top-Universitäten blickt, sieht tatsächlich keinen Reformbedarf. Einem viel beachtetem Ranking zufolge stellen die Vereinigten Staaten 17 der 20 besten Unis der Welt. Zudem erlassen Amerikas Spitzen-Unis ihren Studenten aus armen Familien die Studiengebühren – anders als durchschnittliche Hochschulen. »Solange Harvard den Klügsten jedes Jahrgangs eine kostenlose Top-Ausbildung ermöglicht«, sagt Khan, »wird sich am amerikanischen Uni-System nichts ändern – ganz egal, wie sehr dabei die breite Masse unter die Räder kommt.«

WIRTSCHAFT

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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Krise? Bei uns doch nicht! Warum Unternehmer und Banker in Indien gelassen bleiben und aus den Fehlern des Westens lernen

Foto: Berlingske/Als/laif

VON GEORG BLUME

Wachmann am Eingang des Mode-Shops ColorPlus in Mumbai

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Diese Art der Inder, den Widrigkeiten Vorhne Gepäck, nur in Polohemd und Jeans, drängt teile abzugewinnen, gibt heute dem Land ein ersich der Bauingenieur staunliches Selbstbewusstsein. Indien hat weder Sudhir Bansal durch die global operierende Banken noch große Exportdichten Menschenmengen firmen. Aber sogar die kritischsten Analysten auf dem Bahngleis in den stört das nicht mehr. »In unserer erschütterten 1.-Klasse-Liegewagen des neuen Welt, in der der Westen langsam unterDhauladhar Express von Pathankot nach Delhi. geht, leuchtet Indien wie eine Oase in der WüsDer Wagen ist muffig, die Polster sind abgenutzt, te«, sagt Abhay Laijawala, der dynamische Foraber die Klimaanlage funktioniert, und die Bett- schungschef der Deutschen Bank in Mumbai, laken sind frisch und sauber. Der 51-Jährige zieht dem früheren Bombay, an einem Samstagmorseine Sandalen aus und macht sich für die Nacht gen um neun Uhr früh. Für Laijawala ist das eine auf der Liege lang. Kurz darauf bringen Ange- normale Arbeitszeit. Freie Wochenenden kennt stellte seiner Baufirma das Gepäck ins Abteil. er nicht. Er hat auch nichts gegen Mumbais überfüllte Bahnstationen. »In Bombay sind Züge Bansal rührt sich nicht. Er entspannt. Hinter ihm liegt eine Woche Baustellenleitung. immer noch am schnellsten«, sagt Laijawala. Wie Bansal baut in Pathankot, einer aufstrebenden Pro- es in den Zügen aussieht – die Massen, der vinzstadt am Fuße des Himalayas, eine neue Villen- Schweiß, der Dreck –, darüber spricht er nicht. und Apartmentsiedlung für 800 Familien. Einmal Stattdessen schwärmt er von »Indiens Binnenin der Woche fährt er zurück zu seiner Familie nach wirtschaftsmodell«. Wichtigstes Merkmal des Delhi. Er könnte auch drei Stunden mit dem Fir- Modells in Zeiten der globalen Krise: Eigenstänmenwagen zum nächsten Flughafen nach Amritsar digkeit. »Wir sind absolut zuversichtlich, was das fahren, um einen 40-Minuten-Flug nach Delhi zu Wachstum im indischen Hinterland betrifft. nehmen. Doch er ruht lieber 10 Stunden im Zug. Dort ist es völlig egal, welche Bank in Europa Er hat seinen Rhythmus. Auch auf der Baustelle. gerade Bankrott geht«, sagt Laijawala. Exporte, »Befehle nützen nichts«, sagt Bansal. »Die Bau- so rechnet er Indiens Vorteil vor, machen nur 18 stelle läuft nur, wenn jeder sein Geld bekommt.« Er Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. »Glücklicherweise« sei das so, sagt auch Guzahlt deshalb die Tagelöhne für den Großteil der Bauarbeiter immer im Voraus. Auch die Angestell- nit Chadha, der oberste Chef der Deutschen Bank in Indien. Glückten, die sein Gepäck brinlicherweise? So ändern gen, haben ihren Lohn Pathankot CHINA sich die Zeiten. Mit dem schon in der Tasche. Sie Amritsar Einbruch im Westen wird machen ihre Arbeit jetzt PAKISTAN die Exportabhängigkeit der wie von allein. Delhi Schwellenländer plötzlich »Als Bauleiter muss ich zur Last. Indien hat diedas System beherrschen«, ses Problem nicht. sagt Bansal. Auch die PoliMumbai Golf Chadha trägt eine tiker in Pathankot? Bansal von Bengalen knallgelbe Krawatte und nickt. Ihm ist nicht unIndischer nimmt auf einem breiwohl dabei. Seine Siedlung Ozean SRI ten, goldbeschlagenen kommt gut voran. »In LANKA Ledersessel Platz. Er ist Europa möchte ich nicht 600 km ein guter Freund von Bauingenieur sein. Was Anshu Jain, dem desiggibt es da schon noch zu Indien in Zahlen nierten Co-Vorstandsbauen?«, sinniert er. Der Einwohner 1,23 Mrd. (2010) vorsitzenden der DeutZug bewegt sich nicht. Er schen Bank. Chadha hat schon bei Abfahrt über Analphabetenrate 34 % (2007) spielt in Indiens erster eine Stunde Verspätung. Kfz-Bestand 17 Mio. (2007) Wirtschaftsliga, er kennt Bansal stört das nicht. die Ambanis, Tatas und Der Bauingenieur ge- Mobilfunkteilnehmer 670 Mio. (2010) all die anderen Multihört in Indien zu den Er- Bruttoinlandsprodukt 1265 US $ (2010)* milliardäre des Landes. folgreichen. Er beschäftigt (je Einwohner) Leute wie er kennen in Hunderte von Arbeitern. Indien keine UnannehmVor seiner Villa in Delhi Wirtschaftswachstum 10,4 % (2010) (Veränderung zum Vorjahr) lichkeiten. Sie leben in stehen zwei LuxuslimousiZEIT-Grafik/Quelle: bfai *geschätzt der Welt der Luxushotels nen. Sein Sohn studiert im und Privatjets. Also fühamerikanischen Berkeley Politik. Bansal verfolgt in diesen Tagen besorgt das len sie sich jetzt bestätigt. Dass der Sensex, MumWeltgeschehen – vor allem die fallenden Börsen- bais Aktienindex, gerade vier Wochen in Folge kurse. Wer aber mit ihm eine lange Nacht im Zug bis auf 16 000 Punkte gefallen ist, so heftig wie verbringt, beginnt zu verstehen, warum in Indien seit dem schwarzen Oktober 2008 nicht mehr, die Uhren dieser Tage so anders gehen als in gro- stört Chadha nicht. »Unsere Analysten sind sehr ßen Teilen der krisengeschüttelten Welt. Was in optimistisch. Sie sehen den Sensex am Jahresende unseren Augen rückständig wirkt – der langsame bei 22 000. Das erscheint etwas hoch gegriffen, Zug, die servilen Gepäckträger, dem gewinnt aber über das Jahr 2012 hin gesehen, stimme ich Bansal mit seiner Gelassenheit einen eigenen Wert ihnen zu«, sagt Chadha. Aus Sicht der Deutschen ab. Dieser Wert nährt sich aus dem Wissen, dass Bank kann die Krise im Westen Indiens Wachsdie Dinge in Indien am Ende doch funktionieren. tumsglück allenfalls kurzfristig beeinträchtigen. Dem Land werden trotz der globalen Finanzkrise Jüngste Berichte der US-Investment-Banken noch sieben bis acht Prozent Wachstum bis Ende Goldman Sachs und Morgan Stanley bestätigen diese Auffassung. 2012 vorausgesagt. Dabei ist sich Bansal bewusst, dass Indien für Nicht zuletzt die indische Zentralbank hat die ihn nur funktioniert, wenn er die Infrastruktur- vielen Analysten beeindruckt. Sie hat gerade den probleme, Armut und Not mit ins Kalkül nimmt. Leitzins um einen halben Prozentpunkt auf Er nimmt die Langsamkeit des Zuges in Kauf. Er knapp über acht Prozent erhöht und damit aus bezahlt Tagelöhner nach ihren Bedürfnissen – manchen Ecken Kritik geerntet. Für Indien benämlich im Voraus. Dafür erhält er dann An- deuten acht Prozent Wachstum eine rückläufige nehmlichkeiten, die es anderswo gar nicht mehr Entwicklung. Viele indische Unternehmer forgibt: ergebenes Personal, das ihm sogar die dern daher lautstark niedrigere Zinsen. Doch Handtasche mit dem Portemonnaie nachträgt, auch die Zentralbank schaut aufs Hinterland. oder eine gemächliche Zugfahrt wie im Orient- Dort treiben schon seit Jahren steigende RohExpress alter Zeiten. Das alles tut dem Wachs- stoffpreise die Inflation in die Höhe. Das setzt tum keinen Abbruch. Das zu erkennen ist schon besonders den armen Leuten zu. Bei ihnen geht wieder ein Stück Systembeherrschung. es ums Überleben.

Wenn in Indien die Linsenpreise wie 2010 um 30 Prozent steigen und die Linsen für viele auf dem Land unerschwinglich werden, leidet ein großer Teil der Bevölkerung unter Proteinmangel. Dann sterben viele Kinder an Unterernährung. Das will die Zentralbank mit ihrer Hochzinspolitik verhindern. Sie will für stabile Preise sorgen, denn die helfen den Armen in Indien mehr als zusätzliche Sozialausgaben, die meist nicht ihren gewollten Abnehmer finden. Natürlich geht es der Zentralbank auch um finanzielle Disziplin. Indiens öffentliche Schulden entsprechen heute 56 Prozent des Sozialprodukts. Im Vergleich zum Westen ist das wenig. Doch um die indische Rupie vor spekulativen Angriffen zu bewahren, dürfen die Staatsschulden nicht viel weiter steigen. Dabei helfen hohe Zinsen. Durch sie fällt dem indischen Fiskus die Geldaufnahme schwerer. Solche Finanzdisziplin aber fällt im Vergleich zu den Niedrigzinsen im Westen derzeit besonders auf. »Indien kann aus den Taten der Zentralbank in diesen schwierigen Zeiten Sicherheit und einen gewissen Stolz gewinnen«, sagt Suman Bery, einer der angesehensten Ökonomen Indiens, der derzeit ein Forschungsprogramm der London School of Economics in Delhi leitet. Bery sieht aber auch Probleme. »Unsere Schuldenposition ist nicht so robust, wie sie sein sollte«, sagt er.

Aber in Indien ist es den Banken und der öffentlichen Hand weitgehend verboten, sich im Ausland zu verschulden. Ein »Überbleibsel des indischen Sozialismus« nennt Bery das. Indien würde von einer größeren Liberalisierung seines Finanzsystems profitieren, davon ist der liberale Ökonom überzeugt. Nur ungern gibt er zu, dass der Sozialismus Indien hier trotzdem geholfen hat. Die USA und Europa hätten ein allzu liberales Bankensystem, sagt Bery, das brauche Indien nicht. Es fällt bei Bery auf, wie leicht es den Indern auf einmal fällt, vom Westen zu lernen. Die Fehler liegen ja offen. Das Laisser-faire der Ära des ehemaligen US-Notenbankchefs Greenspan ist genauso gescheitert wie der überschuldete europäische Wohlfahrtsstaat. »Wir wissen jetzt: Weder der Börsenkapitalismus noch der Sozialstaat sind Selbstläufer. Wir müssen beides im Griff haben«, sagt Bery. Mit diesem Wissen könnte Indien weit kommen. Nun aber ist der Ökonom Bery einer dieser Superschlauen, von denen es in Indien viele gibt. Wer ihnen zuhört, könnte glauben, dass in Indien alles prima laufe. Doch die Wirklichkeit sieht ziemlich anders aus. Man weiß hier nie, wann ein Bauprojekt fertig wird. Man weiß nie, wann ein Zug ankommt. Und man weiß auch nie, wer in

Delhi gerade demonstriert und die Welt auf den Kopf stellen will. Als der Dhauladhar Express aus Pathankot mit inzwischen zwei Stunden Verspätung im Morgengrauen die tristen Vorstädte Delhis erreicht, lässt sich Bauingenieur Bansul bei einem Stopp durchs Zugfenster zwei Zeitungen reichen. Die Blätter schreiben über einen Mann namens Anna Hazare, einen Gandhianer aus dem Hinterland, der mit einer Antikorruptionskampagne gerade Hunderttausende in Delhi auf die Straßen bringt (und der es später mit einem Hungerstreik schaffen wird, das indische Parlament dazu zu bewegen, seinen Kampf gegen Bestechungen zu verschärfen). »Die Regierung hat zu wenig getan und zu viele Skandale gehabt. Sie hat Kritik verdient«, sagt Bansul trocken. Dann legt er die Blätter zur Seite. Bansul teilt die Einschätzung der Deutschen Bank, deren Analysten glauben, dass Korruption und politischer Stillstand in Delhi die indische Wirtschaft allenfalls ein Prozent Wachstum kosten. Zugleich versteht er, dass sich viele über die Korruption aufregen. Er kennt sie ja gut von der Baustelle. Bansul ist da hinund hergerissen, aber er bleibt ruhig, bis wieder seine Kofferträger kommen und er in Delhi aus dem Zug steigt.

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DIE ZEIT No 38

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beweisen. Selbst die kleinste der drei Großen, enn es nach Ottmar Schneck Fitch, hat mehrere Jahrzehnte gebraucht, bis sie in geht, hat er die weltweite Macht einem Atemzug mit Standard & Poor’s und Mooder drei großen Rating-Agentudy’s genannt wurde. Und sie hat immer noch einen ren gebrochen. Der Dekan der deutlich geringen Umsatz und Marktanteil. ESB Business School in ReutlinOb eine der kleinen Agenturen oder eine neu gen hat vor neun Jahren seine eigene Agentur gegegründete europäische Agentur jemals weltweit gründet: PSR Rating. Damals hieß sie noch Promitspielen wird, bezweifeln deshalb viele. Nicht fessor Dr. Schneck Rating, bis der Name zu dem jeder ist so überzeugt wie PSR-Gründer Ottmar Kürzel PSR verschmolz. Die Agentur ist den weSchneck. nigsten Menschen in Deutschland ein Begriff, und Zwar sind einige der zehn registrierten Agentudoch sagt Schneck: »Die Registrierung von PSR ren in manchen Branchen schon so weit, dass sie Rating ist ein wesentlicher Schritt hin zu dem Ziel mit den Großen konkurrieren könnten. Euler der europäischen Politik, das Oligopol der drei inHermes Rating beispielsweise, eine Tochter des ternationalen Rating-Agenturen aufzubrechen.« Kreditversicherers Euler Hermes, hat schon erfolgDieses Ziel gibt es tatsächlich. Formuliert ist es reich einige Unternehmen wie Edeka aus dem gein der EU-Verordnung 1060/2009. In diesem verhobenen Mittelstand bewertet, bei denen grundklausulierten 30-seitigen Dokument aus dem Jahr sätzlich auch ein Rating von Moody’s & Co in 2009 steht: Der Ratingmarkt wird in Zukunft reFrage käme. Um das bei einem internationalen guliert. Wer ein Kreditrating abgeben will, muss Großkonzern zu erreichen, ist es aber noch ein registriert sein. weiter Weg. Bis 2009 gab es keine RegistrieZudem stehen die kleinen Agenturungspflicht auf europäischer Ebene. ren teilweise noch nicht einmal unterJedes Land hatte seine eigenen Regeln. einander im Wettbewerb. Zu sehr Die EU-weite Pflicht zur Registriesind sie auf eine Nische spezialisiert. rung kam als Reaktion auf die WeltPSR Rating bewertet viele mittelstänwirtschaftskrise, insbesondere auf die dische Automobilzulieferer und hat angeblich zu guten Ratings von Stanihre Rating-Software R-Cockpit sogar dard & Poor’s, Moody’s und Fitch auf als Standardsoftware des Verbands der dem US-Immobilienmarkt. In der Automobilindustrie durchsetzen könEuropäischen Union sollte die Arbeit Europäische Alternativen zu den drei großen Rating-Agenturen gibt es längst. nen. In anderen Branchen, wie der der Agenturen transparenter und der International sind sie allerdings bedeutungslos VON JULIAN TRAUTHIG Versicherungswirtschaft, spielt sie Wettbewerb erhöht werden. aber keine Rolle. Dort hat sich die Transparenter sind die Agenturen Kölner Agentur Assekurata etabliert, seitdem geworden. Auf ihren Homehat aber wiederum wenig Konkurrenz pages etwa sind viele Details ihrer Arvon anderen kleinen Agenturen. beit und Methoden veröffentlicht – so Von einer globalen Agentur, die neben Unterverlangt es die Verordnung. Mehr Wettbewerb nehmensratings etwa auch Länderratings anbietet, gibt es aber nicht. Zwar sind mittlerweile zehn sind alle weit entfernt. Agenturen registriert, sechs davon aus DeutschDie Rating-Tochter des französische Kreditverland. Jüngst wurde die erste portugiesische Agensicherers Coface hat deshalb ihre Konsequenzen tur zugelassen, Companhia Portugesa de Rating. gezogen und ihren Registrierungsantrag zurückIn den kommenden Monaten dürfte es noch weigenommen. Vor einem Jahr, als sie den Antrag tere Zulassungen geben, noch sind nicht alle Aneingereicht hatte, sah das noch anders aus. Damals träge abgearbeitet. Doch eine ernsthafte Konkursagte Franz J. Michael, Vorstandsvorsitzender von renz zu den drei Großen dürfte nicht darunter Coface Deutschland: »Mit dem Schritt kommen sein. Zu klein und unbedeutend sind die Agentuwir der politischen Forderung nach Alternativen ren bisher. Internationale Investoren verlassen sich zu den großen drei Agenturen nach.« Heute erweiterhin auf die Ratings von Standard & Poor’s, stellt die Agentur hauptsächlich interne Ratings Moody’s und Fitch. für den Mutterkonzern. Der Grund für den RückMittlerweile wird deshalb über eine neue große zug war das Bezahlmodell der Agentur. Anders als europäische Rating-Agentur diskutiert. Doch auch in der Branche üblich, sammelt sie das Geld bei eine solche große Agentur, die ein ernsthaftes Geden Investoren ein, die sich, etwa beim Kauf eines gengewicht zu den drei Großen sein soll, werde Wertpapiers, an einem Rating orientieren. Norden Amerikanern so schnell nicht die Position malerweise zahlen die Unternehmen dafür, dass streitig machen können, sagen Kritiker wie der sie bewertet werden. Dieser innovative Ansatz von Bankenverband. Was allen Agenturen fehlt, ist Coface habe nicht zur besagten EU-Verordnung Zeit, sich zu etablieren. Es braucht Anerkennung, 1060/2009 gepasst, heißt es aus dem Unternehum als Bewerter internationaler Konzerne oder men. Es umzustellen, um eine Registrierung zu Länder beachtet und beauftragt zu werden. Stanerhalten, habe sich nicht gelohnt. dard & Poor’s hatte fast 150 Jahre Zeit, sich zu

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Die Unbekannten

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Und dennoch: Trotz der schlechten Aussichten, ein ernsthafter Konkurrent von Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch zu werden, hat die Registrierungspflicht den Markt der kleinen Agenturen verändert. Thomas Morgenstern, Geschäftsführer von PSR Rating, denkt deshalb über einen Umzug nach. Die alte Villa in einer Seitenstraße, nahe dem Tübinger Hauptbahnhof, wird zu klein. Denn dank der Registrierung wächst die Agentur. Der Status einer europäischen Agentur bringt Prestige bei potenziellen Kunden, schließlich schafft nicht jeder die Zulassung, wie das Beispiel Coface zeigt. Zudem habe die aktuelle Debatte über eine europäische Rating-Agentur die Aufmerksamkeit für die Branche erhöht, sagt er. Die Aufträge steigen. 700 000 Euro Umsatz erwartet Morgenstern für dieses Jahr, 2012 soll die EineMillion-Euro-Grenze geknackt werden. Auch der Gewinn entwickelt sich gut. Aus den sechs Mitarbeitern im vergangenen Jahr sind mittlerweile 15 geworden. Vier sind eigene Analysten, bei Bedarf kommen externe hinzu. Doch im Vergleich etwa zu Standard & Poor’s mit seinen 1300 Analysten – bei insgesamt 6000 Mitarbeitern – sind die vier Analysten von PSR Rating unbedeutend. Und viele der Agenturen in Deutschland sind ähnlich groß. Euler Hermes Rating beispielsweise hat zwölf Analysten unter den insgesamt 16 Mitarbeitern. Ein Grund für die geringe Größe der Agenturen ist auch, dass einige, anders als die konzernunabhängige PSR Rating, kleine Ableger von größeren Konzernen sind. Ihre Gründung hatte oft andere Intentionen. Feri Eurorating etwa, die zur Feri Finance AG gehört, eine 100-prozentige Tochter des Finanzberaters MLP, ist bis heute nur zum Teil eine Rating-Agentur. Seit Gründung erstellen Feri Eurorating Konjunkturprognosen und Analysen. Daraus entwickelten sich Branchenratings. »Das regulierte Kreditrating macht bei uns bisher nur etwa fünf Prozent des Umsatzes aus«, sagt Vorstandssprecher Tobias Schmidt. Zum Teil überlebten die kleinen Agenturen in den ersten Jahren nur unter dem Schutzmantel ihrer Muttergesellschaft. Creditreform Rating, eine Tochter des Unternehmens für Wirtschaftsauskunftei- und Inkassodienstleistungen Creditreform, schrieb etwa zehn Jahre lang Verluste, die der Konzern im Hintergrund auffing. Seit zwei bis drei Jahren sei man in den schwarzen Zahlen, heißt es. Die Registrierung habe einen weiteren Schub gebracht. Von den jahrzehntelangen hohen zweistelligen Renditen der großen drei können viele der Kleinen aber nur träumen. Trotz Registrierungspflicht und Wachstum ist die Macht von Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch noch lange nicht gebrochen. A www.zeit.de/audio

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15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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»Das Wutvirus steckt in jedem« Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer über die Energiewende, zornige Bürger und einen Euro ohne die Griechen

eher länger dauern. Der Leitungsbau ist übrigens bei der Netzagentur angesiedelt, die geHaus schon gedämmt? hört zum Kollegen Rösler, nicht zu mir. Peter Ramsauer: Ganz frisch! ZEIT: Haben Sie das aus Kostengründen ge- ZEIT: Der Wirtschaftsminister denkt derzeit macht oder wegen der Umwelt? über anderes nach. Er philosophiert im Fall Ramsauer: Beides. Instandhaltung und Griechenland über eine geordnete Insolvenz. Energiesparen waren Grund genug, sich Haben Sie ihm schon das CSU-Parteibuch angeboten? aufzuraffen. ZEIT: Früher wurden Häuser gedämmt, um Ramsauer: Rösler hat vielen Menschen aus Heizöl zu sparen, heute hängt der Erfolg der dem Herzen gesprochen. Das CSU-ParteiEnergiewende davon ab. Wie weit würden Sie buch brauche ich ihm deshalb aber nicht für dieses Ziel gehen? anbieten. Ramsauer: Ich halte nichts davon, aus einem ZEIT: In der Sache ist er aber nicht weit von ideologischen Zeitgeist heraus etwas zu ver- Ihnen entfernt. Die CSU will beim Parteitag ordnen und zu dämmen, koste es, was es beschließen, dass schwächelnde Länder wolle. Das ist nicht meine Philosophie als aus der Euro-Zone ausgeschlossen werden Bauminister. Neue Häuser können Sie können. energiegerecht bauen, das Problem sind die Ramsauer: Uns eint der Wunsch, dass der alten Gebäude, der Bestand. Zum Teil wer- Euro stabil bleibt. Außerdem wollen wir die den alte Fassaden gedämmt und dann wieder Risiken überschaubar halten. Wir wissen zuaufgemalt. Manchmal sind die Häuser nach dem, dass alle Wege, die Athen aus der Krise der Sanierung so dicht, dass man Schimmel führen, riskant und schmerzhaft sind: Auch oder aufsteigenden Salpeter hat. Was ist damit der mögliche Ausstieg aus dem Euro. Das gewonnen? Da muss man mit gesundem wäre aber auch kein Weltuntergang. Menschenverstand rangehen, nicht mit ZEIT: Griechenland kann doch gar nicht Einheitsvorschriften. aus dem Euro raus, ohne aus der EU ausZEIT: Es gibt Leute, die sagen, genau daran zusteigen. wird die Energiewende am Ende scheitern. Ramsauer: Wenn es klar würde, dass das der Ramsauer: Es hat etwas mit Freiheit zu tun, Weg mit den geringsten Risiken ist, dann lieüber Eigentum verfügen zu können. Der ße sich das auch durchsetzen. Staat sollte sich davor hüten, die Energiewen- ZEIT: Die Kanzlerin sagt, die Zahlungsfähigde zum Anlass zu nehmen, den Bürger bis ins keit Griechenlands müsse um jeden Preis erLetzte zu bevormunden. halten bleiben. ZEIT: Die Energiewende erfordert ein erheb- Ramsauer: Das kann sie nicht gesagt haben. liches Maß an staatlichen Eingriffen, gerade Dann würde man jedes Druckmittel aufgevon Ihrem Ressort hängt einiges ab. ben. Das hieße doch, dass man das Land imRamsauer: 40 Prozent vom sogenannten mer weiter mit frischem Geld versorgen würPrimärenergiebedarf fallen im Gebäude- de, egal, was dort passiert oder eben nicht passiert. Auch Wolfgang Schäuble hat immer bereich an, 30 Prozent im Verkehrsbereich. wieder gesagt, zuletzt im Bundestag: Wenn ZEIT: Sie werden also der Oberregulierer. Griechenland die BedinRamsauer: Der ich aber nicht gungen nicht erfüllt, gibt sein will! Ich setze auf AnreiStrom kaufen wir von es keine weiteren Kredite. ze. Die Anreize setzen wir ausländischen Und dann wäre Griechenüber Programme der KfWland zahlungsunfähig. Bankengruppe, die wir auf Atomkraftwerken. jährlich 1,5 Milliarden Euro ZEIT: Wäre das die saubeDas darf nicht so aufgestockt haben. Mit dierere Lösung? bleiben. Sonst hätten sem Geld kann man einiges Ramsauer: Griechenland wir uns in die bewirken, für die Energiemuss zunächst einmal alle wende und die Konjunktur. seine Zusagen erfüllen. Tasche gelogen Das Problem ist aber, dass ZEIT: Nach Abschaltung der es keine Musterlösungen Atomkraftwerke importieren wir Atomstrom aus dem Ausland. Zweifeln gibt. Irgendwelche negativen Konsequenzen wird es bei jeder Lösung geben. Sie manchmal am Sinn der Energiewende? Ramsauer: Ich habe immer davor gewarnt, ZEIT: Haben Sie beim Thema Europa eigentdass wir uns argumentativ auf eine schiefe lich manchmal Angst, das könnte richtig Bahn begeben. Bei uns schalten wir ab, und schiefgehen? rein physikalisch ist jetzt der Nachweis er- Ramsauer: Ich habe beispielsweise den Verbracht, dass wir Strom von ausländischen trag zum ESM, dem dauerhaften RettungsKernkraftwerken beziehen. Das darf dauer- schirm, der ab 2013 kommen soll und der haft und strukturell nicht so bleiben. Sonst den vorläufigen Hilfsfonds EFSF ersetzen hätten wir uns bei dieser Energiewende in die soll, im Urlaub ausgiebig studiert. Schon der Tasche gelogen. Hilfsfonds, den wir im September im BunZEIT: Wie viel ist bisher von der Energiewen- destag beschließen sollen, und eventuell ein zweites Rettungspaket für Griechenland sind de umgesetzt? Ramsauer: Gesetzgeberisch ist alles umgesetzt schwer zu verdauen. Der ESM würde uns bis auf die Frage, wie die steuerliche Förde- zum Teil Zahlungsverpflichtungen diktieren, rung der energetischen Gebäudesanierung fi- über die das Parlament keine Kontrollmögnanziert wird. Also die Möglichkeit, dass über lichkeiten mehr hat. Das ginge an die Grundzehn Jahre gestreckt zehn Prozent der Sanie- feste der parlamentarischen Haushaltshoheit. rungsaufwendungen von der Bemessungs- Ich warne davor, das übers Knie zu brechen. grundlage der Steuer abgezogen werden kön- Die Verdauungsprozesse der Parlamentarier nen. Die Länder wollen das nicht, weil es sie brauchen ihre Zeit. etwas kostet. Der Bund überlegt nun, den ZEIT: Könnte der Streit darüber zur geordVermittlungsausschuss anzurufen. Viele Leu- neten Insolvenz der Koalition führen? te haben mit der Sanierung abgewartet, weil Ramsauer: Nein. Koalitionen werden durch sie lieber die steuerliche Abschreibung ge- unterschiedliche Formen von Kitt zusamwählt hätten als das KfW-Modell. Deshalb mengehalten. In der Großen Koalition war es muss das jetzt schnell entschieden werden. der Mangel an Alternativen. Bei Union und ZEIT: Wie sieht es beim praktischen Teil aus, FDP sind es die politischen Gemeinsamkeiten. Wir müssen also die Schwierigkeiten zum Beispiel dem Verlegen der Leitungen? Ramsauer: Da werden vielen noch die Augen durchstehen, auch wenn es einem Partner aufgehen, was das bedeutet. Solche Trassen zu schlecht geht. verlegen heißt nicht, einfach einen Graben ZEIT: Durchstehen heißt im Klartext: Die von zwei Meter Breite ausbuddeln, ein Kabel FDP wird weiter alles schlucken, um den reinwerfen und wieder zumachen. So eine Euro zu retten? Höchstspannungsfreileitung hat Breiten von Ramsauer: Das kann auf Dauer zum mindestens 50 bis 60 Meter. Sie brauchen Verschlucken führen. Wir wollen die FDP Einwilligungen von Grundstückseigentü- stützen. mern. Es drohen lange Verfahrenswege. Was ZEIT: Ist die Politik eigentlich noch Herrin in solchen Fällen bisher an Entschädigungen dieses Geschehens – oder ist sie den Märkten in Deutschland bezahlt wurde, ist nicht mehr ausgeliefert? zeitgemäß. Hinzu kommen zum Beispiel Pro- Ramsauer: Wer sind denn »die« Märkte? Das teste von Umweltschützern. Was glauben Sie, sind Hunderttausende Einzelner, die da indiwas da plötzlich für schützenswerte Arten auf- viduell über Geld entscheiden. Ich glaube tauchen werden! immer noch, dass die Politik stärker ist, wenn ZEIT: Das heißt, die schlimmste Bedrohung sie entschlossen und einig handelt. Das Problem ist, dass es keine einheitliche Meinung für die Energiewende ist der Wutbürger? Ramsauer: In jedem der 82 Millionen Men- gibt, was die beste Lösung wäre. Wenn dem schen in Deutschland steckt ein abstraktes Euro etwas gefährlich werden kann, dann das. Wutvirus, je nachdem, wo sie ihn erwischen. Die wutbürgervirusfreie Energieerzeugung Das Gespräch führten TINA HILDEBRANDT und gibt es nicht. Nach meiner Erfahrung wird es PETRA PINZLER

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Die Maut lässt Peter Ramsauer keine Ruhe. Denn der Bundesverkehrsminister fühlt sich unter Druck gesetzt: Quer durch alle Parteien kämen die Abgeordneten nach den Sommerferien »mit Wunschzetteln für Verkehrsprojekte«. Ihm aber fehle es dafür regelmäßig an den nötigen Mitteln. »Wenn ich die Wünsche aller erfüllen will, dann brauche ich mehr Geld«, so Ramsauer. Weil er aber so bald wohl mit keiner massiven Erhöhung des Verkehrsbudgets wird rechnen können, bringt Ramsauer dieser Tage die Maut erneut ins Gespräch. Diese Autobahngebühr könnte, so wünscht er sich, komplett zur Pflege der Straßen genutzt werden. Die Kanzlerin hat diese Geldquelle erst kürzlich ausgeschlossen. Zu Beginn der Woche hat der CSU-Parteivorstand trotzdem wieder beschlossen, das Thema in die Koalition zu tragen. Ramsauer: »Alle Deutschen, die im Urlaub im Ausland Autobahngebühren bezahlt haben, würden sich darüber freuen, wenn demnächst die Ausländer auch bei uns bezahlen müssten.« PIN

Foto: Goetz Schleser/imagetrust

DIE ZEIT: Herr Ramsauer, haben Sie Ihr

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WIRTSCHAFT

FINANZSEITE

DIE ZEIT No 38

$ PALLADIUM

Veränderungen seit Jahresbeginn

DAX

DOW JONES

JAPAN-AKTIEN

INDIEN-AKTIEN

EURO

ROHÖL (WTI)

5166 –25,9 %

11 037 –4,7 %

NIKKEI: 8617 –16,8 %

SENSEX: 16 467 –19,7 %

1,37 US$ +2,1 %

89 US$/BARREL –0,4 %

714 US$/ FEINUNZE –11,0 %

BLEI BAUMWOLLE

1,12 US$/PFUND –22,4 %

2386 US$/ TONNE –6,8 %

GELD UND LEBEN

Uranus Quadrat Pluto Die Krise erfordert ungewöhnliche Methoden: Den Blick in die Sterne

Paris in der Klemme Weil sie viele Staatsanleihen aus Südeuropa besitzen, geraten französische Banken unter Druck VON GERO VON RANDOW Foto: Belpress/Andia

Weiß der Himmel!, sagt mitunter, wer nicht mehr weiterweiß. Das drückt Ratlosigkeit aus, aber auch Verzweiflung, und einerseits entspricht das ziemlich genau der gegenwärtigen Lage am Aktienmarkt. Andererseits weiß es der Himmel ja möglicherweise wirklich. Nehmen wir zum Beispiel den vergangenen Montag: Da brachen nicht nur Europas Börsen ein, es herrschte auch Vollmond. Dass es zwischen dem einen und dem anderen einen Zusammenhang gibt, weiß jeder, der sich schon mal mit dem Einfluss der Mondphasen auf die Aktienpreise beschäftigt hat: An Vollmonden bilden sich vorübergehende Tiefs, an Neumonden kommt es immer wieder zu Hochs. Ohne jeden Zweifel. Sie sagen, jetzt hat ihn die Krise und der Blick Diese Woche von auf sein schrumpfendes Christian Tenbrock Depot vollends seiner Sinne beraubt. Ich sage: In Situationen, wo alles zusammenbricht, muss der erfahrene Aktienstratege auch ungewöhnliche Wege gehen. Die Börsenastrologie – hier vertreten durch den Amerikaner Ray Merriman (www. mmacycles.com) – ist so einer. Merriman hat nicht nur vor dem vergangenen Montag vorausgesagt, was am Montag passieren würde (»sharp price swings«), er liefert dem Investor auch eine in sich geschlossene langfristige Prognose. Die ist nicht gut, weil wir uns, astrologisch gesehen, in einer Phase befinden, die jener der Jahre 1928 bis 1934 (Weltwirtschaftskrise, NaziMachtübernahme) ähnelt. Besonders gefährlich werde es 2012, meint Merriman, »wenn wir uns in die Konstellation Uranus Quadrat Pluto« bewegen würden, wobei Pluto für »Schulden« (!) steht. Erst 2015 soll es wieder besser werden, was mit Sternenkonstellationen zu tun hat, auf die ich, weil ich sie nicht verstehe, nicht näher eingehen werde. Wichtiger ist auch, dass es schon vorher Gelegenheiten zum Geldverdienen gibt. Zum einen wird Jupiter bald den Null-bis-Sieben-Grad-Bereich des Stiers betreten, das ist sehr gut. Und dann unser Trabant: Der nächste Neumond kommt am 27. September. Dafür werde ich mich kurzfristig eindeutig bullish positionieren.

Die Zentrale der Großbank Société Générale im Pariser Stadtteil La Défense

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öse Woche für Frankreichs Banken. Am Montag stürzten die Aktienkurse der drei Großen in den Keller: Société Générale und Crédit Agricole um mehr als 10 Prozent, BNP Paribas sogar um mehr als 12 Prozent. Tags darauf ging es fast im gleichen Tempo weiter. Damit hat sich ein Trend beschleunigt, der seit Jahresbeginn anhält und den Wert der drei Unternehmen regelrecht halbiert hat. Dazu hat der Umstand beigetragen, dass die amerikanische Rating-Agentur Moody’s im Juni angekündigt hatte, ihre Bewertung der drei großen Banken ein Vierteljahr lang zu überprüfen; dieser Tage nun werden die verschlechterten Zensuren erwartet. Geld zu leihen wird für die Institute also teurer, aber Frankreichs Banker geben sich gelassen: »Damit passt Moody’s seine Bewertung nur derjenigen der anderen Agenturen an«, heißt es, und: »Wir würden dann ein

Niveau erreichen, das dem der meisten Konkurrenten entspricht.« Ein Pfeifen im Wald; doch dieses ist dermaßen laut, dass kein Zweifel bleibt: Frankreichs Banker haben Angst. Wovor? Vor der Angst. Vor getwitterten Gerüchten zum Beispiel, wie sie kürzlich umliefen und einen Kurssturz der Société Générale auslösten. Und vor einer übertriebenen Bewertung zweier Risiken: Eines besteht darin, dass Europas Schuldenkrise im Wertpapierbestand französischer Banken verheerende Spuren hinterlassen könnte – und zweitens könnten ihnen die Dollars ausgehen. Frankreichs Banken halten viele griechische Staatsanleihen, wie der europäische »Stresstest« Ende 2010 offenbarte. Seither haben sie den Haufen zwar ordentlich abgetragen, aber es bleibt noch viel übrig: der Société Générale immerhin 1,1 Milliarden Euro, der BNP Paribas gar 4 Milliarden Euro.

Dann sind da noch italienische Staatspapiere; leihen zu hoch anzusetzen. Viele Banken ziehen allein BNP Paribas besitzt welche im Wert von 21 Prozent vom Nennwert ab, was einer Emp24 Milliarden Euro und Crédit Agricole im fehlung der Internationalen Bankenvereinigung entspricht. »Dabei sollte man auch bleiben«, sagt Wert von mehr als 10 Milliarden Euro. Jézabel Couppey-Soubeyran, Bankenexpertin ein bedeutender Pariser Bankier, anstatt sich an an der Pariser Sorbonne, sieht in den daraus ent- den schlechteren Tageswerten zu orientieren. »Die Haltung des IASB ist zwar konsequent stehenden Problemen eine Ironie des Schicksals: »Als sich vor knapp vier Jahren die Finanzkrise und intellektuell redlich, aber fraglich ist schon, andeutete, flohen unsere Banken massiv in ob die bisherigen Prinzipien des Rechnungswesichere Titel: Staatsanleihen. Damals machte sens fortgelten sollen: den Tageswert sehr stark niemand einen großen Unterschied zwischen und dafür die Wertentwicklung eines Papiers bis griechischen, französischen oder auch deutschen zum Ende der Laufzeit weniger stark zu gewichPapieren.« Diese »europäische Strategie« der ten. Gerade für Staatschulden ist die Methode Franzosen wurde sogar allenthalben gelobt. umstritten«, sagt der Bankier. »War es nicht so, »Und jetzt übertreibt der Markt seine Bewer- dass während der koreanischen Krise kurz vor tung«, sagt ein Pariser Bankenvorstand. »Beson- dem Jahrtausendwechsel einige die Staatspapiere ders die umlaufende Angst vor den italienischen zu 30 Prozent ansetzen wollten? Wir haben es Papieren ist unsinnig. Die sind ein gutes Invest- nicht getan, und dann zahlten die Koreaner die ment. Italien hat doch gezeigt, dass es seine Ver- Schulden zu 90 Prozent zurück.« schuldung zurückfahren kann.« Auch der UmJézabel Couppey-Soubeyran zufolge haben aber stand, dass der Crédit Agricole auch die Banken selbst zur eine griechische und der BNP jetzigen Krise beigetragen. Paribas eine italienische Bank »Wann haben Sie Panikphänogehört, erklärt für ihn die gemene? Wenn es zu wenig Ingenwärtige Panik nicht. formation gibt. Wenn es jederDie drohende LiquiditätsStaatsanleihen sind zeit umfassende Transparenz klemme ist hingegen eine verSchuldverschreibungen, gäbe, dann wäre die Situation tracktere Sache. Amerikanische die Staaten ausgeben, eine andere. Außerdem rächt Fonds ziehen sich bereits seit wenn sie sich Geld sich jetzt, dass die Banken so einigen Monaten aus französileihen. Wenn der negativ auf Basel III reagiert schen Bankenwerten zurück, Schuldner nicht zahlt, hatten« – also auf die im eben wegen der zahlreichen hat der Gläubiger ein Dezember vom »Basler AusStaatsanleihen aus Südeuropa, Problem. Darunter schuss« der Bank für Interdie diese in ihren Portfolios leiden jetzt französische nationalen Zahlungsausgleich halten. Die Fondsmanager finBanken. Im Zuge erhobenen Forderungen nach den Norwegen, Kanada und der Finanzkrise 2008 strengerer Risikovorsorge. UnJapan neuerdings deutlich symkauften sie im großen ter anderem sollen die Banken pathischer. Insgesamt regiert Stil die vermeintlich mehr Eigenkapital anhäufen. eine Furchtsamkeit, die Moosicheren Staats»Die Banken haben so getan, dy’s in einer soeben erschienepapiere und wurden als könnten sie das nicht umnen Analyse mit einem Titel dafür gelobt. Allerdings setzen, weil es für sie zu teuer der Rolling Stones kommenerwarben sie auch viele wäre. Damit haben sie unnötitiert: »Gimme shelter.« – biet’ Anleihen aus Griechenge Zweifel an ihrer Stabilität mir Schutz. Misslich ist das für land und Italien genährt.« Mittlerweile geloben Frankreichs Banken, weil sie Frankreichs Banker, die scharfür ihre ausgedehnten Exportfen Basler Regeln umzusetzen. kredit- und Ölgeschäfte stets In Pariser Bankenkreisen Dollars brauchen, viele Dollars, und das kurz- gibt man der Politik eine Mitschuld – namentfristig. »Wir haben keine viel größeren Liquidi- lich der deutschen Regierung: »Wenn Berlin tätsprobleme als andere«, heißt es von einem der die Griechen aufgibt, dann sollte niemand betroffenen Bankhäuser, »aber das ist die alte glauben, die internationalen Investoren würGeschichte: Der Markt wird nervös, die Liquidi- den sich sagen: Nun gut, das ist Griechenland, tät wird knapper, welshalb der Markt noch ner- aber vor Italien, Spanien und Portugal muss vöser wird und die Liquidität noch knapper.« man sich nicht fürchten.« Es komme nun sehr Dabei stünde im Notfall immer noch die Euro- auf Deutschland an, heißt es in den Zirkeln päische Zentralbank bereit. der französischen Finanzindustrie, »darauf, Es bringt nur nicht viel, dem Markt zuzuru- dass Angela Merkel im eigenen Land und in fen, er irre sich. Weshalb die Société Générale Europa Führungsstärke zeigt. Und unsere am vergangenen Montag vorpreschte und ein französischen Politiker ... nun ja, wir können Umbau- und Sparprogramm verkündete – den derzeit den anderen Ländern nicht wirklich Fall ihrer Aktie hielt sie damit gleichwohl nicht Tugend predigen.« auf. Zur Unsicherheit der Anleger trägt der UmDass Berlin über eine griechische Pleite nachstand bei, dass der Internationale Währungs- denkt, wirke sich auf das ganze europäische Fifonds die französischen Banken aufgefordert nanzwesen aus, heißt es in Paris. Frankreich jehatte, ihre südeuropäischen Staatspapiere stärker denfalls ist richtiggehend ins Gewitter geraten. abzuwerten als bisher – und sich, um die Lücke An der Börse der Hauptstadt ziehen die Kurse zu schließen, frisches Kapital zu besorgen. Das der Banken diejenigen anderer Unternehmen kam ausgerechnet von der IWF-Chefin Christi- mit hinab. Wobei die Bankaktien dermaßen an ne Lagarde, bis vor Kurzem Frankreichs Wirt- Wert verloren haben, dass sich hier und da schon schaftsministerin und eine intime Kennerin des wieder eine ganz andere Überlegung breitmacht: Bankenwesens. Der Protest der Pariser Adressa- Wenn die Société Générale nicht einmal mehr ten folgte prompt. halb so teuer ist wie noch vor einem Jahr – wäre Kritiker in Paris nehmen auch das Interna- sie dann womöglich ein Schnäppchen? Das aber tional Accounting Standards Board (IASB) aufs ist ein Thema für Optimisten, während PessiKorn, das für die Bewertungsregeln im Finanz- misten schon von einer drohenden Bankenretwesen zuständig ist. Die Londoner Institution tung sprechen. Oder gar von Nationalisierung. hatte vergangene Woche den europäischen Ban- In Frankreich hat nämlich der Präsidentschaftsken vorgeworfen, den Wert der griechischen An- wahlkampf begonnen.

Staatsanleihen

WIRTSCHAFT

ANALYSE UND MEINUNG

FORUM

Von Asien lernen

Foto: Ken Davies/Masterfile

Der Westen braucht eine neue Vorstellung von der ökologischen Modernisierung – und auch vom Fortschritt an sich Zitat: »Die Industriezivilisation kann sehr wohl und vereinnahmen Alternativlösungen. Dazum Ruin des Menschen führen.« Diese War- durch wird aus dem Entweder-oder ein Sonung des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi wohl-als-auch. In der Logik treten die erneuerscheint sich heute durch Klimawandel, Wirt- baren Ressourcen einfach zur kohlenstoffintenschafts- und Finanzkrisen zu bestätigen. Doch siven Stromversorgung hinzu. Aber eine echte offenbar trennt ein tiefes Meer unsere Erkennt- Lösung bieten sie erst, wenn sie auf lokaler Ebene mit effizienten Technologien verbunden nisse von unserem Handeln. Wie sonst ist zu erklären, dass der Club of werden. Tatsächlich werden jedoch GroßtechRome seit 2006 sogar befürchtet, für eine Wen- nologien wie Offshore-Windparks privilegiert, de zur nachhaltigen Wirtschaft sei es bereits zu die nur die großen Anleger finanzieren können. Das Neue nur einzuvernehmen reicht nicht. spät? Bislang steigt die Konzentration der Treibhausgase weiter an, obwohl die Gefahren Wir müssen die Nachfrage mobilisieren und seit den ersten UN-Klimakonferenzen vor 25 die Wirtschaft stärker der demokratischen Kontrolle unterwerfen. Nur dann wird die ForJahren bekannt sind. Welchen Grund gäbe es sonst dafür, dass derung nach Mäßigung und Genügsamkeit zu sich die Verteilungskämpfe ums Öl zuspitzen mehr als nur einem hilflosen Appell. Wir sind uns bewusst, dass der gegenwärtige und nur noch an Härte zunehmen werden? Trotzdem machen wir einfach weiter, folgen Ökoboom wichtige Zusammenhänge verdeckt. unverändert dem Lockruf des Wachstums, den Tatsächlich hat es bisher noch keine umfassende, wir Fortschritt nennen: schneller, höher, weiter. politisch forcierte Strategie für den ökologischen Die Wand ist nah, aber wir fahren weiter Umbau gegeben, auch nicht unter Rot-Grün, die auf sie zu. Viele Städte können keinen zusätz- sich gegen das konservative Kartell der vier großen lichen innerstädtischen Verkehrs mehr verkraften, Stromkonzerne und der alten Wachstumswirttrotzdem steigen seit Jahren die Zulassungs- schaft hätte durchsetzen können. Der Ansatz der zahlen für überdimensionierte Vorstadtpanzer. ökologischen Modernisierung muss erweitert und Trotz der Klimagefahren halten auch auch die Idee des Fortschritts die Energiekonzerne an großen neu definiert werden, denn ihre alKohlekraftwerken fest, statt auf G RÜ N H E I S S T ten Säulen Wachstum, Naturverhocheffiziente Energiedienstleis- A N D E R S W E R D E N gessenheit und Technikgläubigkeit tungen umzusteigen. Allenfalls sind schon lange brüchig. Gewollte akzeptieren sie gigantische OffBlockaden wie die leichtfertige Abshore-Windparks und fordern zur lehnung der Effizienzrevolution Anbindung Tausende Kilometer können wir uns nicht leisten. Sie neuer Hochspannungstrassen, die wirklich umzusetzen wird zur überholte Großstrukturen zemenBewährungsprobe für die Innovatieren, statt in Kraft-Wärmetionskraft westlicher Demokratien. Kopplung und Wärmespeicher zu Der Westen muss Auf dem Prüfstand steht ein nur investieren. auf Ausdehnung gerichtetes Wirtverstehen: Die Der ökologische Umbau wird Klimawende ist nur schafts- und Gesellschaftssystem, in nicht einmal heute, in der tiefsten zu schaffen, wenn dem Wachstum nicht mehr Mittel, Wirtschaftskrise der Nachkriegs- wir die Wirtschaft, sondern längst Ziel ist. zeit, als Rettungsweg genutzt. Die die Gesellschaft und Ein deutliches Zeichen, dass USA wollen unter dem Druck der die Demokratie Europa endlich handeln muss, will Verschuldung sogar ihre geringen nachhaltig verändern es nicht auf die Verliererstraße geraAusgaben für Umwelt- und Kliten, ist die Nachhaltigkeitsstrategie, maschutz noch halbieren. die 26 asiatische Akademien der Statt zu handeln, lebt die Welt mit Lügen. Wissenschaften Anfang 2011 vorgelegt haben. Gleich zwei falsche Versionen erzeugen heute Viel einsichtiger als die meisten westlichen Ökoviel Lärm – und zementieren am Ende nur die nomen erkennen die Autoren, dass es Grenzen Verhältnisse. Auf der einen Seite ist das die Be- des Wachstums gibt, die respektiert werden müshauptung, die konsum- und mobilitätsorien- sen. Das asiatische Wirtschaftswunder, das auf tierten Lebensstile könnten allein mit neuer billigen Löhnen und Rohstoffen aufbaut, dürfe Technik gerettet werden. Diese in zahlreichen nicht fortgeführt werden. Und man habe für einen Szenarien demonstrierte These von der Mach- Umbau alle Chancen, denn bei »Systeminnovatiobarkeit erzeugt die Illusion, mit grünem Wachs- nen« könne Asien auf günstige Rahmenbedintum könnte alles bleiben wie bisher. Auf der gungen wie einen starken Staatsapparat, den anderen Seite steht ein perspektivloser Pessi- »größten potenziell grünen Verbrauchermarkt der mismus, der die Möglichkeit einer Revolution Welt« und wachsende Innovationskraft setzen. zu einer energieeffizienten Gesellschaft allge- Hervorgehoben wird auch, dass die asiatische mein abstreitet, ohne die Gründe für Wider- Kultur auf Sparsamkeit und Fleiß Wert legt, auf stände und Blockaden zu benennen. die »Harmonie von Mensch und Natur«. Eine Effizienzrevolution bedeutet weit mehr, In China und Indien haben Wissenschaftler als nur den Energie- und Rohstoffverbrauch vom und auch Politiker erkannt, dass es um etwas Wirtschaftswachstum zu entkoppeln. Neben tech- Neues geht. Die Europäische Union muss sich nischen Innovationen brauchen wir einen Struk- dieser Auseinandersetzung stellen. Sie muss turwandel in Wirtschaft und Gesellschaft. Auch beweisen, dass die demokratische Tradition die Demokratisierung der Wirtschaft und ein kul- und eine starke Zivilgesellschaft doch die bestureller Wandel gehören unbedingt dazu. Wirt- seren Voraussetzungen sind, um die Zukunft schaft und Technik müssen in das Regelwerk der nachhaltig zu gestalten. Natur passen, Konsum- und Lebensformen sind zu entwickeln, die mit der Endlichkeit der Ressourcen vereinbar sind. Zum Ausbau der erneuer- PETER HENNICKE forschte am Wuppertal baren Energieressourcen gehört deshalb untrenn- Institut für Klima, Umwelt, Energie. bar das Ziel, dass jeder von uns im Schnitt nur MARTIN JÄNICKE forschte an der Freien noch 2000 Watt am Tag verbraucht – und nicht Universität Berlin und war lange Jahre Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen. 6700 wie gegenwärtig. Warum nur bewegen wir uns nicht längst MICHAEL MÜLLER ist parlamentarischer dorthin? Klassische Industrien haben viel Staatssekretär a. D. und Vorsitzender der Macht akkumuliert; sie verteidigen ihr Modell Naturfreunde Deutschland

A DIE ANALYSE

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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Klärungsbedarf Die Justiz muss die Vorwürfe von Anlegern gegen Porsche und VW aufarbeiten VON DIETMAR H. LAMPARTER

Kurz vor Beginn der Internaeinen Vorteil für die Familientionalen Automobilausstellung clans. Nach einer Verschmel(IAA) gab Volkswagen be- Stimmrechte nach Anteilseignern zung würde ihr Stimmrechtskannt, dass es mit der Veranteil niedriger liegen als bei Porsche SE (Stuttgart) Land Niedersachsen schmelzung der Volkswagen dieser Konstruktion. Qatar Streubesitz Porsche GmbH AG und der Porsche AutomoDennoch wäre es zu be(Salzburg) bil Holding SE in diesem Jahr 9,89 % grüßen, wenn die (börsen-) 2,37 % doch nichts mehr wird. Einer historisch einmaligen Vorder Gründe: Eine Gruppe von gänge um den Übernahmemehr als 40 Investoren – 17,00 % 50,74 % versuch der Stuttgarter in den Hedgefonds, Banken, VersicheJahren 2008/09 baldmöglichst juristisch aufgearbeitet rungen, Fondsgesellschaften würden. Die neue Klage ist und andere Großanleger – hat 20,00 % Stand: 31. Dezember 2010 nämlich nicht die erste und eine Schadensersatzklage in wohl auch nicht die letzte in Höhe von 1,1 Milliarden Eu- ZEIT-Grafik/Quelle: Unternehmensangaben diesem Zusammenhang. In ro gegen Porsche und Volksden USA wurde eine Samwagen beim Landgericht Braunschweig eingereicht. Die Anleger sehen sich durch die melklage von Hedgefonds im ersten Anlauf von Porsche Automobil Holding SE im Zusammenhang einem Richter nicht zugelassen, weil die Vorgänge mit deren Versuch, die Volkswagen AG zu über- in Deutschland spielen. Aber die angeblich geschänehmen, geschädigt. Die Wolfsburger sollen als Mit- digten Fonds haben noch nicht aufgegeben. Und wisser angeblich unzulässiger Marktmanipulationen Stuttgarter Staatsanwälte ermitteln gegen Porsche und seine damaligen Chefs Wendelin Wiedeking in Mithaftung genommen werden. Kein Beinbruch. Die ohnehin weit vorange- und Holger Härter (Finanzen) und prüfen, ob sie schrittene Integration des Porsche-Autogeschäfts in bei ihrem riskanten Spiel Gesetze verletzt haben. den Volkswagen-Konzernverbund wird das nicht Im Kern geht es um die Methode des indirekten aufhalten. Vorsorglich wurden alternative Wege der Anteilskaufs mittels Optionen, der es der damaligen Zusammenführung der operativen Geschäfte der Porsche-Führung lange ermöglichte, die übrigen Wolfsburger und der Stuttgarter vereinbart. Bei Anleger über die wahren Machtverhältnisse unter beiden Autobauern laufen die Geschäfte hervorra- den Aktienbesitzern im Unklaren zu lassen. Viele gend – und der Austausch von Ideen und Ressourcen wollten damals mitverdienen, wie die eklatanten Ausschläge der VW-Aktie zeigten. kommt beiden Seiten zugute. Wer die Guten und die Bösen waren in jenem Mancher Beobachter sieht sogar in der aktuellen Situation, in der die Porsche SE und damit de facto Spiel, ist deshalb auch nicht so einfach zu sagen: die Familien Porsche und Piëch die Mehrheit der Wer spekuliert, muss auch damit rechnen, dass er Stimmrechte an der Volkswagen AG kontrollieren, verlieren kann.

Klare Verhältnisse

Klar ist, dass viele Spekulanten sehr viel Geld verloren haben. Gewonnen haben am Ende die Großaktionäre der Familien Porsche und Piech, die heute das größte Aktienpaket an Volkswagen kontrollieren, und Volkswagen, das den Spieß damals umdrehte. Heute sitzen Volkswagen-Chef Martin Winterkorn und sein Finanzchef Hans Dieter Pötsch auch auf den Chefsesseln der Porsche Automobil Holding SE. Sehr viel Geld verdient haben auch die ehemaligen Porsche-Spitzenmanager wie Wendelin Wiedeking und Holger Härter, auch wenn sie ihr allzu verwegenes Spiel ihre Jobs kostete. Sollten sie am Ende der möglichen Prozesse verlieren, träfe es keine armen Leute, und auch die Porsches und Piëchs müssten nicht darben, wenn der Wert ihrer Anteile an der Porsche SE durch Schadensersatzzahlungen gemindert würde. Volkswagen selbst sitzt auf einem dicken Finanzpolster. Die Gelackmeierten wären in diesem Falle die Porsche-Vorzugsaktionäre, die bei den ganzen Vorgängen nicht mitentscheiden durften. Aber noch ist der Ausgang der Klagen und möglicher Prozesse nicht ausgemacht. Gutachten juristischer Koryphäen stehen gegen Gutachten juristischer Koryphäen. Die Gerichte werden es nicht leicht haben. Ein Erfolg wäre es aber, wenn am Ende geklärt wäre, welche Art von Optionsgeschäften bei der »feindlichen Übernahme« durch »Anschleichen« legitim oder auch nicht legitim waren. Und wie sich die agierenden Manager und ihre Unterstützer aus der Finanzwelt verhalten müssen, um Gesetzen und Regularien zu genügen. Vielleicht muss hier auch noch mal der Gesetzgeber ran.

Aufspalten, abschotten Eine britische Kommission fordert die ehrgeizigste Bankenreform aller Industriestaaten Drei Jahre ist sie nun alt, die große Krise. Was sich daraus am Ende für ein Monster entpuppt, ist noch nicht abzusehen, aber wo man auch hinschaut, versuchen Regierungen Schutz zu bieten. Der Euro-Schutzschirm soll(te) Griechenland, Irland und Portugal vor dem Bankrott retten. Nun will Großbritannien die Steuerzahler besser vor den Banken schützen. Eine unabhängige Kommission unDER STANDPUNKT: ter dem Vorsitz des ehemaligen Zentralbankers John ViGroßbritannien ckers hat am verbraucht eine gangenen Montag Vorschläge zur Restabilisierende form des britischen Bankenreform, Bankenwesens vorgestellt, deren Kern weil das Land ein »Schutzschild« stark von der ist, der Spareinlagen und Girokonten vor Finanzindustrie dem risikoreichen Investmentbanking abhängig ist abschirmen soll. Konkret bedeutet dies, das Filialgeschäft und die Investmentseite einer Bank voneinander zu trennen. Künftig sollen sie als zwei eigenständige Unternehmen mit eigenen Vorständen geführt werden. Außerdem rät John Vickers dazu, das Privatkundengeschäft in Zukunft

mit mindestens 17 bis 20 Prozent Eigenkapital zu schützen. Die Reform des Bankensystems ist überfällig, überall, aber in Großbritannien besonders. Denn dass die britische Wirtschaft in einer Jahrhundertkrise festsitzt, hat vor allem damit zu tun, dass sie von dem Bankenkollaps besonders hart getroffen wurde. Bis 2008 erwirtschaftete der Finanzsektor knapp zwölf Prozent des britischen Bruttoinlandprodukts. Entsprechend schmerzhaft und teuer war auch die Rettungsaktion, mit der die Regierung Großbanken wie Lloyds und die Royal Bank of Scotland vor der Pleite bewahren musste. Die Summe der direkten Kapitalhilfen und der Garantien belief sich auf rund 850 Milliarden Pfund (990 Milliarden Euro). Der britische Finanzminister George Osborne von den Tories hat sich dazu verpflichtet, die Vorschläge der Kommission anzunehmen und schon bald in neue Gesetze zu verwandeln. In der City of London hat er sich damit nicht beliebt gemacht. Drei Jahre nach ihrem peinlichen Absturz haben die Geldbarone und mit ihnen die City ihr Selbstvertrauen längst wieder gewonnen. Die Banker wissen einfach um ihre Bedeutung: Die britische Krise ist schließlich auch deswegen so gravierend, weil es außer den Finanzdienstleistern kaum Branchen gibt, von denen das Land ein wirklich robustes Wachstum erwarten könnte. George Osborne spricht zwar gerne von einem »industriel-

JOHN F. JUNGCLAUSSEN

len Aufschwung«, den er erkennen könne, aber der systematische Abbau der Industrieproduktion in den vergangenen Jahrzehnten lässt sich nicht einfach umkehren. »Die City of London ist nach wie vor einer der wichtigsten Finanzplätze der Welt«, sagt David Strachan von der Beratungsfirma Deloitte. »Ohne sie wird Großbritannien so schnell keine grünen Auen sehen.« Viele sorgen sich deshalb, dass der zarte Aufschwung durch die höheren Kosten der Refinanzierung für die Banken zerstört werden könnte. Die Institute werden selbstredend versuchen, die neuen Kosten an die Kunden weiterzugeben, Kredite zu verteuern, Gebühren anzuheben. John Vickers versucht dem entgegenzuwirken, indem er die neuen Regeln erst 2019 in Kraft treten lassen will. Das größere Problem ist, dass Großbritannien mit einer weitreichenden Bankenreform international isoliert dasteht. »Nach dem Ärger über die Banker vor drei Jahren ist den internationalen Regulierungsbehörden die Lust vergangen«, sagt Steve Schiffers von der City University in London. »Die Vorschläge von Vickers sind wesentlich substanzieller als alles, was in Basel, Brüssel oder in Washington diskutiert wird.« Die internationale Regulierungsbehörde in Basel etwa schlägt eine Kapitalerhöhung auf nicht mehr als sieben Prozent vor. Der britische Finanzminister will nun versuchen »das britische Modell international zum Vorbild zu machen«.

40 15. September 2011

DIE ZEIT No 38

WAS BEWEGT PETER KRÄMER?

WIRTSCHAFT

»Ein bisschen die Welt verbessern« DIE ZEIT: Wir sind alle eitel, Herr Krämer, auf nicht alle. Beim dritten Weihnachten hatte sich die welche Art sind Sie es? Familie daran gewöhnt. Meine WeihnachtsausflüPeter Krämer: Wenn unter Eitelkeit verstanden ge gingen immer schnell. Ich sammelte am Ende wird, dass man meint, man hätte etwas zu sagen, der Gottesdienste Geld, kam meist mit zirka 1000 dann halte ich jeden ernsthaften Journalisten und D-Mark nach Hause und habe die dann brav ans Politiker für eitel – mich auch. Wer nichts zu sagen Rote Kreuz oder eine andere Hilfsorganisation hat, sollte schweigen! Wenn Eitelkeit aber Narziss- überwiesen. Ich schuf für mich einen Gegenpol. mus ist, dann wird sie grauenvoll: ein Spreizen, ein ZEIT: Wo rührt Ihr Eifer zu helfen noch her? Sichpräsentieren, letztlich ein Doofsein. Krämer: Mein älterer Bruder, rechter SPDler, und ZEIT: Eitelkeit kann ja auch heißen, dass man sich mein Vater, rechter CDUler fetzten sich zu Hause mal so richtig gut findet. Wann war das bei Ihnen über Politik wie die Kesselflicker. Solche familiären Diskussionen gehen meist höflich los und führen zuletzt der Fall? Krämer: (längere Pause) In der Hamburger Albert- dann zu nicht wiederholbaren Schimpfworten. Schweitzer-Schule habe ich vor einiger Zeit eine Später habe ich immer den Spiegel gelesen, weil ich Doppelstunde für die Oberstufe gegeben, 400 wissen wollte: Wer hat recht? Leute im Alter von 16 bis 20 Jahren, also eher aus ZEIT: Und? der Generation, welche die Arme abwehrend ver- Krämer: Ich war auf der Seite meines Bruders. schränkt. Ich redete also eine Dreiviertelstunde ZEIT: Haben Sie Papa als Kapitalisten beschimpft? lang über Afrika, blendete zwei NDR-Beiträge ein, Krämer: Mein Vater war ein sozialer Kapitalist, er dann gab es Frage und Antwort. Danach gaben die half den Angestellten, wo er konnte. Es war nicht Schüler mir fünf Minuten lang Standing Ova- er, es waren seine Ansichten, die mich wütend tions, 60 fragten später, ob sie beim Fundraising machten. Etwa zur Bewältigung der Nazi-Verganmithelfen oder Schulen in Afrika mitbauen könn- genheit oder über den Vietnamkrieg: Darüber haten. Da lief es mir eiskalt den Rücken runter. ben wir uns gefetzt. ZEIT: Sie sagen, man behaupte, dass diese Genera- ZEIT: Sie sind ein 68er. tion sonst null Bock habe. Tatsächlich aber geht sie Krämer: Ja. Ich habe die erste Schüler-Demo in auf die Straße – ob in Chile, Israel oder London. Hamburg mitorganisiert und zum Schulstreik aufKrämer: Das macht mir eher Angst. Früher waren gerufen. Mein Vater hat mir meine Flugblätter es die Vorstadtbrände in Paris, jetzt sind es Brände weggenommen, mein Auto auch. Aber da ich den in London, dazu der Irrsinnige von Oslo. Dies ist Text auswendig kannte, habe ich ihn dann vor der ja wie ein Lauffeuer. Ich sehe das Risiko ganz stark, Schule vorgetragen und meine Mitschüler aufdass wir mangels politischer, gesellschaftlicher und gefordert zu streiken. ideeller Führung unsere Grundwerte verlieren. ZEIT: Hatten Sie nicht manchmal ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil Ihre Familie reich ist? ZEIT: Weil Arm und Reich auseinanderdriften? Krämer: Marx hat recht, dass die materiellen Ver- Krämer: Wir waren nicht reich, ich würde uns als hältnisse das Bewusstsein prägen. Das muss man wohlhabend bezeichnen. Als ich im Unternehmen erspüren. Nehmen Sie das Buch Empört Euch! von anfing, musste es saniert werden. Nein, als Junge Stéphane Hessel. Der ist 93 und hat eine große hatte ich andere Probleme, etwa ein schweres StotAusstrahlung, bei ihm spüren Sie Gegenwart. tern, dazu extreme Höhenangst und HautempZEIT: Verehrt werden derzeit vor allem alte Män- findlichkeit. Vielleicht sind solche körperlichen ner. Steht an der Spitze der Staaten eine Genera- Schwächen eine Ursache dafür, dass man ein Herz für Schwache entwickelt. tion, die es nicht kapiert? Krämer: Von Berlusconi abgesehen handelt es sich ZEIT: Was hat Sie in dieser Zeit begeistert? um meist intelligente Leute, die Krämer: Der Existenzialismus. auch das Richtige und Gute Albert Camus, seine Kühnheit, wollen. Aber warum führen sie mit der er im Mythos von Sisyphos nicht endlich die Finanzmarktformuliert: »Wir dürfen uns Sitransaktionsteuer ein? Die Insyphos als einen glücklichen dustriestaaten oder andere RunMenschen vorstellen.« Er erden beschließen was. Mal wird kennt die Erfolglosigkeit seines es durchgeführt, mal nicht. VerTuns und macht dennoch weiter. rückt. Das ist schon etwas Großartiges. ZEIT: Merkel und Sarkozy haZEIT: Ist es als reicher Mensch ben nun gerade ihr Bekenntnis leichter, gut zu sein? Peter Krämer und Nelson zur Transaktionsteuer wiederKrämer: Nein. Menschlich zu Mandela 2004 in Johannes- handeln ist keine Frage des Geldholt. Doch zu Hause müssen sie burg. Ihr gemeinsames beutels. Ich habe mich mehr mit feststellen: Nicht bloß London Projekt: Schulen in Afrika der umgekehrten Frage beschäfund Washington sträuben sich, tigt: Warum habe ich es gut? sondern auch der eigene KoaliWenn Sie den Reichtum der tionspartner zieht nicht mit. Diese Generation bleibt auch in Sachzwängen ste- Welt anschauen und trotzdem 1,2 Milliarden Menschen unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben cken. Kann man ihr das übel nehmen? Krämer: Ja. Nach der Finanzkrise gründete man – wie wollen Sie, wenn Sie das als Vater gegenüber die G 20, von Ausnahmen abgesehen viele kluge Ihren Kindern begründen? Leute mit guten Beratern. Die mussten doch ver- ZEIT: Wie bringen Sie Ihren Söhnen bei zu teilen? stehen, dass es höchste Zeit war zu handeln. Krämer: Das ist manchmal schwieriger als gegenZEIT: Sie empören sich selbst auch – und haben über fremden Kindern. Spreche ich in einer Schule, komme ich authentisch rüber und treffe die doch Angst vor den Jugendprotesten. Krämer: Ich habe keine Angst vor friedlichen Pro- Kinder auf Augenhöhe. Beim eigenen Sohn dagetesten, sondern vor Gewalt, vor Chaos, vor De- gen spielen andere Dinge mit: die Auflehnung gestruktion, nicht vor Menschen mit einer Geistes- gen den Vater – ich musste meinen ja auch besiehaltung, die bereit sind, Führung zu übernehmen. gen, was mir bestimmt keine Freude machte. Die sich klar äußern. ZEIT: Auch in der Firma? ZEIT: Steuern zu zahlen schafft sozialen Frieden. Krämer: Stellen Sie sich vor, Sie kommen in dieses Ist das so ein Grundsatz? Unternehmen, der ältere Bruder ist verstorben, und Krämer: Damit kann ich wirklich viel anfangen. nach zwei Monaten sagen Sie Ihrem Vater: Du Mehr als mit den US-Milliardären Bill Gates und machst fast alles falsch. Wenn du nicht sparst und Warren Buffett, die andere Reichen dazu auffor- Schiffe verkaufst, bist du in zwei Jahren pleite. Seidern, ihr Geld privat für gute Zwecke zu spenden. ne Geschäftsfreunde stimmten mir zu! Beifall oder Das ist der moderne Feudalismus der Milliardäre, Zustimmung meiner Mitarbeiter hatte ich damals die selbstherrlich entscheiden können, ob sie leider nicht. Das waren noch Zeiten, in denen man Fischgründe in Alaska fördern oder doch lieber kein Schiff verkaufte, man bestellte Schiffe und behielt sie möglichst bis zur Verschrottung. Golfplätze in Südkalifornien. ZEIT: In Deutschland tut der Staat mehr. ZEIT: Lehnen sich Ihre Söhne gegen Sie auf? Krämer: Ich halte auch hier nicht alles für toll. Der Krämer: Der ältere ist eher introvertiert, der junge Bundesrechnungshof sollte eine gewisse Exekutiv- umarmt die Welt und wird es dadurch vielleicht gewalt bekommen, weil bei uns natürlich Steuer- später leichter haben. verschwendungen in großem Umfang stattfinden. ZEIT: Kommt einer in die Firma? ZEIT: Sie wollen die Welt auch privat retten. Krämer: Der ältere möchte gern. Derzeit ist er bei Krämer: Nein – nur dabei ein wenig mithelfen. einer größeren Bank in der Schifffahrtsabteilung, Das berührt für mich die Frage nach dem Sinn des entwickelt sich. Ich bin mir sicher, er wird sich Lebens. Entweder hat man den Nischenblick, ist freischwimmen. zufrieden, wenn man eine glückliche Beziehung ZEIT: Wenn er wirklich kommt, wie erklären Sie hat, wenn die Kinder gesund sind und der Job gut ihm, was ein guter Unternehmer ist? ist. Oder man träumt davon, die Welt mit zu ret- Krämer: Es ist eine Schande, wie man heute von ten, sie ein kleines Stückchen besser zu machen. den Finanzmärkten in die Passivität gedrängt wird. Früher durfte man entscheiden: Verkauft man ein ZEIT: Wann wollten Sie erstmals die Welt retten? Krämer: Als Teenager, zu Weihnachten. Wir waren Schiff, kauft man eines, verchartert man es? Heute vier Kinder, jedes hatte einen Gabentisch, zunächst verbringen Sie 80 Prozent Ihrer Tätigkeit mit Banlagen die großen Geschenke der Eltern darauf. kengesprächen, mit Rechtsanwälten und anderen Dann schenkten sich die Kinder auch untereinan- Beratern. Sie agieren nicht, Sie reagieren nur! der etwas, und dann kamen noch die Geschenke ZEIT: Seit der Finanzkrise? der Großeltern. Der Platz reichte nicht, gleichzei- Krämer: Ja! Es gab einen Bruch. Ein Trockenfrachtig verhungerten woanders Menschen. Irgend- ter für den Panamakanal hat im August 2008 am wann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Tag ungefähr 80 000 Dollar reingeholt – völlig überhöht, völliger Quatsch! 20 000 bis 30 000 ZEIT: Haben Sie Krawall geschlagen? Krämer: Nein, ich lief nur zwischendurch weg, um Dollar braucht man, aber dann sackte der Markt vor Hamburger Kirchen sammeln zu gehen. Beim innerhalb von drei Monaten in 2008 auf 2000 ersten Mal sagte mein Vater: Du hast sie wohl Dollar pro Tag ab. Angesichts solcher Märkte sage

Fotos: Melanie Dreysse/laif (groß); dpa (u.); privat

Der Millionär Peter Krämer will den Reichen an den Kragen. Hat er ein schlechtes Gewissen – oder ist er einfach nur ein guter Mensch?

Sozialer Reeder Cremefarbener Teppichboden, Ledersofa, großer Schreibtisch, es ist ein recht kühles Büro, optisch und dank der Klimaanlage auch thermisch. Vor allem sticht ins Auge, was nicht da ist: Es gibt keinen Computer. Lebt Peter Krämer ohne Internet? »Ich habe qualifizierte Mitarbeiter, die für mich den PC bedienen und die Seiten ausdrucken«, sagt der Reeder. Peter Krämer, Jahrgang 1950, studierte erst Pädagogik und Soziologie, wechselte dann das Fach und schloss Jura mit Prädikat ab. Sein Bruder verstarb früh, und so stieg Krämer in die Marine Service GmbH, das Unternehmen seines Vaters, ein, als es kurz vorm Untergang stand. Ihm gelang die ökonomische Wende. Politisch fühlt er sich den 68ern verbunden. Er setzt sich für eine höhere Besteuerung der Reichen bei Einkommen und Vermögen ein – was bei anderen Millionären nicht immer auf Verständnis trifft. Auch als Kriegsgegner machte sich Krämer einen Namen. So protestierte er öffentlich gegen den Irakkrieg und gründete die Hamburger Gesellschaft zur Förderung der Demokratie und des Völkerrechts. Als Mitinitiator der Kampagne Schulen für Afrika, die er gemeinsam mit Unicef und der Stiftung von Nelson Mandela ins Leben rief, investierte er mehrere Millionen Euro seines Privatvermögens in das Projekt. Krämer ist zudem im Vorstand von Unicef und wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Er hat zwei Söhne, der ältere, Christian, ist erwachsen, der jüngere, Thomas, vier Jahre alt.

ich meinem Sohn: Bilde dich so aus, dass du über- es einen Freibetrag von zirka 300 000 Pfund gibt, all unterkommen kannst, wenn es diesen Laden und alles drüber wird mit 40 Prozent besteuert. einmal nicht mehr geben sollte. ZEIT: Alles Umverteilen bringt nichts, wenn unser ZEIT: Wie ist man in einer solchen Phase ein an- Geldsystem zusammenkracht. ständiger Unternehmer? Krämer: Ja. Inzwischen schwanke ich zwischen Depression und Wut. Die Welt ist bis über beide OhKrämer: Durch gelebte Ehrlichkeit. ZEIT: Verdi hat Ihnen einmal vorgeworfen, dass ren verschuldet. Zwar soll es in ganz Europa eine Sie Ihre Schiffe unter liberianischer Flagge fahren Schuldenbremse geben, aber glauben Sie daran? lassen und so Steuern sparen. ZEIT: Die Frage ist: Glauben Sie daran? Krämer: Wenn Sie unter deutscher Flagge fahren, Krämer: Nein! Ich glaube fest daran, dass wir in 24 haben Sie bei einem kleinen Tanker Mehrkosten Monaten keinen Euro mehr in der jetzigen Form haben, sondern einen Nordzwischen 300 000 und 500 000 Euro, dem südliche Länder beiEuro jährlich, und im Moment treten können, sofern sie die verdiene ich nicht einmal die ZinVoraussetzungen erfüllen. sen für meine Hypothekendarlehen. Rund 80 Prozent aller ReeZEIT: Sie wollen also Griechendereien weltweit zahlen keine land und Co. aus der WähSteuern, gegen die trete ich an. rungsunion werfen? Manche meiner Offiziere wollen Krämer: Ich halte viel davon, das auch nicht, die sind mehr als die südeuropäischen Länder aus 183 Tage im Jahr auf See und dem Euro zu entlassen und ihnicht gewohnt, hier Steuern zu nen direkt zu helfen. bezahlen. Toll finde ich es, dass Krämer besucht 2006 ein ZEIT: Wie groß ist Ihr VertrauMatrosen, die vor zehn Jahren Mädchen und dessen Oma en in Frau Merkel? 300 bis 400 Dollar im Monat ver- in Ruanda. Die Eltern Krämer: Bei Frau Merkel habe dienten, inzwischen 1500 bis starben im Völkermord ich meine Zweifel. Meine große 1800 bekommen. Hoffnung ist sehr bitter: Die nächste Finanzkrise wird so graZEIT: Einerseits agieren Sie mit unternehmerischer Logik, andererseits wollen Sie vierend, dass sich die G 20 ihrer Verantwortung bewusst wird und allgemeinverbindliche Regeln den Reichen ans Vermögen. Krämer: Wenn Sie in Deutschland Steuern auf Ver- schafft. Also keine Steuerschlupflöcher mehr, Konmögen in Höhe von 0,8 Prozent der Wirtschafts- trolle der Hedgefonds, Mindestkapitalquote bei leistung erheben und in Frankreich 2,8 Prozent, in Banken, und jede Bank darf nur Fonds auflegen, in Großbritannien sogar 3,5 Prozent, dann ist das die sie selbst investiert. Weltweit. eine gigantische Lücke. Ich will nicht die Steuern ZEIT: Einerseits vertreten Sie Lafontaine-Positioauf Betriebsvermögen erhöhen, auch nicht auf nen, andererseits verteidigen Sie, dass Ihre Kapitäne Oma ihr klein Häuschen, sondern auf größere Pri- keine Steuern zahlen. Wie links sind Sie? vatvermögen. Als Vermögensteuer, nicht 2,5 Pro- Krämer: Ich würde mich zwischen christlicher Sozizent wie in Frankreich, das ist höher als heute die allehre, dem Existenzialisten Camus und Marx einZinsen, sondern maximal zwei Prozent. Zudem ordnen. Mit zunehmendem Alter zweifelt der Exiseine höhere Erbschaftsteuer, die brächte 20 bis 30 tenzialist Krämer, ob es nicht doch Höheres gibt. Milliarden Euro im Jahr. In diesem Jahrzehnt wer- ZEIT: Das Label »roter Reeder« gefällt Ihnen den Hunderte von Milliarden Euro jährlich ver- nicht. Wie möchten Sie wahrgenommen werden? erbt, wovon 80 Prozent Privatvermögen sind. Krämer: Als jemand, der bei all seinen Schwächen Wenn die Familie Quandt mehr als 40 Prozent an nicht nur Gutes will, sondern auch so handelt. BMW hält, dann ist das Privatvermögen, sie ist ja nicht hauptberuflich bei BMW tätig. Warum soll Das Gespräch führten UWE JEAN HEUSER sie denn nicht wie in Großbritannien bezahlen, wo und ANNA MAROHN

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»Ohne Gentechnik«: Bei vielen Lebensmitteln gilt das nicht zwangsläufig S. 49

KINDERZEIT Klarkommen: Nick ist blind. Und macht doch alles, was andere Kinder tun S. 55

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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E R B G U TA N A LY S E

Sorry, Frank

Illustration: Smetek für DIE ZEIT/www.smetek.de; unten: © Reiss-Engelhorn-Museen, Fotos: Wilfried Rosendahl

Das erste Genom eines Deutschen wurde vollständig entziffert

Historisches Ereignis: 53 vor Christus überquerten Caesars Truppen den Rhein – und trafen auf keltische Krieger

Zenturios Schädel Die Kelten ehrten die Köpfe ihrer Ahnen, die ihrer Feinde dienten ihnen als Trophäen: Neue Funde in der Eifel

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ie Zeit drängte. Die Arbeiter wollten weitergraben und wertvollen Bimsstein aus dem Untergrund fördern. Also schulterte Axel von Berg sein Werkzeug und fuhr zur Abbauregion Kobern-Gondorf. Im porösen glasigen Vulkangestein der Osteifel hatten die Baggerführer die Überreste einer alten Siedlung freigelegt. Von Berg machte sich mit seinem leichten Gerät an die Arbeit. Schon bald stieß der Archäologe auf ein auffälliges Objekt. Ein knochiges Gebilde kam zum Vorschein, mit schwerem Kies gefüllt, ein uralter Schädel. Und mitten durch die Kalotte hatte man einen massiven Eisennagel getrieben. Dem Wissenschaftler dämmerte sogleich, was für ein Fundstück er in den Händen hielt: eine Schädeltrophäe aus keltischer Zeit. Es war nicht der erste eisenzeitliche Knochen, den von Berg, Chef der Koblenzer Landesarchäologie, eigenhändig aus dem Untergrund geborgen hatte. 42 Schädel »im Keltenkontext« zählt seine Sammlung mittlerweile – viele davon mit auffälligen Löchern drin. Die Spuren an deren Rändern verraten, dass die Öffnungen in den Schädeldecken nicht zufällig bei einem Unfall oder im Gemetzel einer Schlacht zustande kamen. Mit roher Gewalt zwar, doch erst post mortem wurden sie in die uralten Crania gehämmert. Das Koblenzer

Denkmalamt besitzt nicht nur die umfangreichsDa die Gegend um das heutige Koblenz zur te Sammlung gelochter Keltenschädel, sondern mit Eisenzeit zu den dicht besiedelten Gebieten gedem genagelten Haupt auch den einzigen deut- hörte, war und ist das Schädelvorkommen hier schen Fund, in dem noch immer das rostige Eisen besonders groß. Eine Art »Silicon Valley für Headsteckt. Von Bergs bizarre Kollektion belegt, dass hunter« sei die Region damals gewesen, sagt von im Siedlungsgebiet der eisenzeitlichen Hunsrück- Berg, ein Mann von hünenhafter Statur: »NirEifel-Kultur die Knochen von Ahnen und Opfern gendwo war es leichter, seinen Kopf zu verlieren.« besondere Wertschätzung Doch der Archäologe genossen haben. will nicht ernsthaft das Die archäologischen alte Klischee von den Preziosen, ab Oktober Kelten als skrupellose erstmals in der AusstelKopfjäger bemühen. Im Gegenteil: Wie andere lung Schädelkult in MannForscher zeichnet auch er heim zu sehen, sind ein neues, friedlicheres Zeugen einer besonders Bild der angeblichen morbiden Gepflogenheit Wilden. Die makaberen vor Christi Geburt. Der Überbleibsel, von denen antike griechische Chrosich Jahr für Jahr mehr in nist Diodor beschrieb in Überreste eines römischen Offiziers? Im den Koblenzer Amtsstuseinem fünften Buch den Fund aus der Eifel steckt ein langer Nagel ben stapeln, verweisen Schädelkult, dem die kelzwar auf einen gewöhtischen Stämme huldigten: »Den gefallenen Feinden schlagen sie die Köpfe nungsbedürftigen Umgang mit Knochenmaterial ab und hängen diese ihren Pferden an den Hals. – nicht aber zwingend darauf, dass die Akteure Diese Kriegsbeute nageln sie dann an die Eingänge blutrünstige Schlächter gewesen wären. Ihre Vorform des Jolly-Roger-Kults pflegten die ihrer Häuser an, gerade so, als ob sie auf der Jagd Wild erlegt hätten. Die Köpfe der vornehmsten Krieger Kelten im Rheinland fast ein Jahrtausend. Wähbalsamieren sie ein und bewahren sie sorgfältig in rend dieser Zeit veränderte sich der Brauch deutlich, hat von Berg festgestellt. Vom Beginn, in der einer Truhe auf.«

Aus gegebenem Anlass müssen wir erst einmal festhalten: Auch deutsches Erbgut ist a prima vista ein Langweiler. Es liest sich genauso wie der viel zitierte und wenig verstandene Text, der im Jahr 2000 im Feuilleton der FAZ erschien: ATTCCCGGATCAGTA ... Na ja. Der Inhaber des ersten, komplett entzifferten deutschen Erbguts, Proband MP1, ist nach Auskunft der Forscher vom Berliner MaxPlanck-Institut für molekulare Genetik ein Mann im besten Alter und kerngesund, abgesehen von einer gut eingestellten Hypertonie. Dennoch handelt es sich nicht um Frank Schirrmacher. Die Forscher geben die Identität von MP1 nicht preis, dementieren aber ebenso entschieden die Vermutung, man habe anstelle des FAZ-Herausgebers Peter Sloterdijk, Thilo Sarrazin oder den omnipräsenten Eckard von Hirschhausen durchbuchstabiert. Die Herren dürften froh sein. Denn für einen angeblich gesunden Probanden ist der Befund desaströs: Fast 160 Gene sind auffällig verändert. Unter anderem finden sich im Risikoprofil sechs Krebsarten, diverse Autoimmunleiden, Schizophrenie, bipolare Depression, Autismus, Fettsucht, Altersblindheit und eine erbliche Leseschwäche. Eine Ausnahme? Weit gefehlt. Die genetische Pannenstatistik ist normal, jede/r von uns trägt ähnlich viele genetische Webfehler. Unser Landsmann ist repräsentativ für den Zustand der deutschen Gene, und der wiederum unterscheidet sich nicht von dem anderer Genome. Aufgepasst, Thilo Sarrazin! Schlechter ist es auch um das Erbgut von Kopftuchmädchen nicht bestellt. Und was den Züchtertraum vom Menschenpark angeht, Peter Sloterdijk: Mit solchem Material jedenfalls kann man nicht arbeiten. ULRICH BAHNSEN

VON URS WILLMANN

Eisenzeit im 8. und 7. Jahrhundert vor Christus, zeugen rundlich zugeschliffene und gelochte Schädelfragmente. Sie wurden womöglich als Amulett getragen – Hinweise darauf, wem die Knochenstücke zu Lebzeiten gehört haben, gibt es nicht. Spätere Funde erlauben immerhin eine gewisse Zuordnung. In Wolken, unweit von Koblenz, wurde von Berg eines fast vollständigen Schädels aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert habhaft. Er stammt, wie fast alle knöchernen Kultobjekte aus dieser Phase, von älteren Individuen. An die Überreste wurde erst Hand angelegt, nachdem das verweste Fleisch den Knochen freigegeben hatte. Der Koblenzer Schädelsammler interpretiert die Stücke aus jener zweiten Phase daher als Zeugnisse eines Ahnen- und Reliquienkults. Es waren folglich die eigenen Verwandten, die zur Ehrerbietung dekorativ an Hausfassaden, Türbalken und an den Wänden der Wohnstuben befestigt wurden – meistens, indem die Hausherren einen handelsüblichen Nagel (den sie auch zum Hausbau verwendeten) durch die Schädeldecken ihrer Liebsten trieben. Auch diese Funde sind also keine Indizien für einen verbrecherischen Kontext. Schließlich aber entwickelte das Urvolk aus seiner Ahnenverehrung eine weitere Spielart von Schädelbesessenheit, den Trophäenkult. In den letzten JahrFortsetzung auf S. 46

Zylinderzauber Wer Luxuslimousinen verkaufen will, muss Zwölfzylindermotoren im Programm haben, sonst bleiben Rolls-Royce und Maybach Ladenhüter. Je mehr Zylinder, desto mehr Prestige, diese Formel sitzt tief in den Köpfen. Doch je mehr Zylinder, desto höher der Spritverbrauch. Folglich sind großkalibrige Gebrauchtwagen Ladenhüter. Das Säuferdilemma wäre rational lösbar, mit kräftigen Zweizylindern. Doch nur zwei Töpfe in der Staatslimousine – geht das? Konservative empfinden es bereits als Zumutung, die Oberklasse mit mickrigen Vierzylindern auszustatten. Um kostensensible Fans topfreicher Kisten zu köHALB dern, laufen schon zunehmend Motoren mit Zylinderabschaltung: Bei niedriger Leistung halbiert sich etwa der V8 durch Abriegeln der Spritzufuhr zum Vierzylinder – und gottlob, niemand merkt es. Dieser Zylinderzauber geht 2012 in eine neue Runde: VW will auch Vierzylinder temporär abschalten: Aus 4 mach 2; ganz diskret, keiner soll’s hören, keiner spüren. Fürs Prestige ist Halbwissen besser als die ganze Wahrheit. HST

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DIE ZEIT No 38

Fossiler Adam

Ein bisschen Affe, ein bisschen Mensch: Australopithecus sediba lebte vor knapp zwei Millionen Jahren im südlichen Afrika

Fortsetzung von S. 45

hunderten ihrer Hochblüte, vor und nach der christlichen Zeitenwende, schmückten die Kelten ihr Heim mit den abgetrennten Häuptern besiegter Feinde. Es waren nicht mehr Alte, deren Hirnschalen durchbohrt am Hausbalken hingen, sondern die Beuteköpfe von jungen, kriegstauglichen Männern. Nach der Präsentation landeten die Objekte meist in Gruben auf dem Hofareal. Der fast komplette Schädel aus dem Bimsstein von Kobern-Gondorf scheint aufgrund des Schädelalters eine solche Trophäe gewesen zu sein. Doch der Knochen des jungen Mannes erzählt eine noch ausführlichere Geschichte. Aufgrund der auffallend runden Form der Schädeldecke vermutete von Berg, kaum hatte er das Teil dem Untergrund entrissen, einen Migrationshintergrund: »Ein mediterraner Typ.« Die darauf folgende Altersbestimmung anhand von Keramikresten und Münzen passte zu dieser These. Die vorchristlichen Groschen aus Eisen und der Kupferlegierung Potin stammten exakt aus einer Zeit, in der sich Südländer im Keltenland herumtrieben. Diese Ereignisse haben sogar literarischen Niederschlag gefunden: in Gaius Iulius Caesars De bello Gallico. 53 vor Christus nämlich überquerte der römische Imperator unweit der Fundstelle den Rhein. Damals, so vermutet von Berg, muss dieser Schädel aus dem Mittelmeerraum den Kelten in die Hände gefallen sein.

Der geschichtliche Hintergrund: Von 58 bis 49 vor Christus hielten sich römische Soldaten zwecks Keltenknechtung in Gallien auf. Um eine Strafexpedition gegen rechtsrheinische Stämme durchzuführen (die mit ihren Hilfstruppen den Treverern in Nordostgallien Support gegen Caesar gewährt hatten), mussten Legionärstruppen den Rhein überqueren. Zu diesem Zweck bauten sie in den Jahren 55 und 53 vor Christus in der Nähe von Koblenz zwei Rheinbrücken. Bevor sie auf den hölzernen Bauwerken über den Strom vorstießen, gelangten sie ganz in die Nähe des Gehöfts, in dessen Trümmern zwei Millennien später Axel von Berg auf den genagelten Schädel stoßen sollte. »Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es zu dieser Zeit Kampfhandlungen zwischen Römern und Kelten gab«, mutmaßt der Archäologe, »vielleicht ist die

gefundene Kopftrophäe der Schädel eines römischen Legionärs – oder gar Zenturios.« Dafür spricht, dass dem Objekt größere Aufmerksamkeit zuteil wurde. »Ob dies aber wirklich der Kopf eines Römers ist, bleibt letztlich offen«, sagt von Berg. Doch immerhin – es handelt sich um den ersten Fund aus dem keltischen Schädelkult, dem nicht nur eine Volkszugehörigkeit, sondern auch ein historisches Ereignis zugeordnet werden könnte. Um die Trophäe aus dem mutmaßlichen Scharmützel mit Caesars Truppen noch akribischer zu ergründen, arbeitete der Landesarchäologe mit den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen und der Universität Freiburg zusammen. Die Wissenschaftler erstellten eine dreidimensionale Kopie des Knochens (siehe Kasten). Das ermöglichte den Forschern den ungehinderten Blick von innen auf die Lochung im Schädel: Der Nagel, sagt von Berg, wurde »zügig durchgetrieben«, so weit, dass auf der Unterseite ein langes Stück von der Spitze herausragte. Diese Spitze, ist der Archäologe überzeugt, steckte einst in einem keltischen Türbalken. Zu den Hintergründen ihres Gebarens gibt es keine schriftlichen Überlieferungen, die die Kelten selbst niedergeschrieben hätten. Schrift verwendeten sie zwar im Alltag für Wirtschaft und Verwaltung, die Inhalte ihrer Religionsgeschichte, ihrer Mythologie, ihrer Heldensagen dagegen muss die Nachwelt aus Schmuckstücken, Verzierungen auf Kesseln und aus den Kolportagen antiker Autoren herauszulesen versuchen. Die Schilderungen des Schädelkults stammen aus den Federn der damaligen Gegner. Glaubt man den römischen Historikern, waren ihre barbarischen Feinde blutrünstige Kopfjäger, die beim kultischen Opfern nicht vor der Hinrichtung menschlicher Wesen halt machten. Viele grausige Funde schienen das Bild von den mordlustigen Barbaren zu bestätigen. Im französischen Ribemont-sur-Ancre fanden sich die Gebeine unzähliger Geköpfter. Sie galten lange als Beleg für die von Caesar und Tacitus farbenfroh geschilderten Menschenopfer- und Hinrichtungsorgien, denen die keltischen Nachbarn gehuldigt haben sollen. Doch Forscher wie die Leipziger Urund Frühgeschichtlerin Sabine Rieckhoff widersetzen sich dieser »Barbarenthese« und interpretieren die Schauplätze als Bestattungsorte. Die Aufbewahrung, die Zerstückelung von Leichen, die Verbrennung und Entsorgung von Knochen, all das »lässt sich auch bei ganz regulären keltischen Bestattungen nachweisen«, sagt Rieckhoff. Sie hat einen langen Katalog von Vorurteilen und Klischees aufgestellt, der darlegt, wie sich seit Jahrtausenden jede Epoche ihr eigenes, meist schiefes Bild von den Kelten gemacht hat. So hatten griechische und römische Feldherren ihre Siege größer erscheinen lassen, indem sie ein Feind-

bild von tollkühnen und grausamen Barbaren zeichneten. Später schuf die französische Aufklärung den Mythos vom freiheitsliebenden gallischen Vorfahren – als Widerpart zum absolutistischen Ancien Régime. Die englische Romantik wiederum machte aus den keltischen Druiden Britanniens Urchristen. Und die irischen Nationalisten benutzten die angeblich heldenhaften Ureinwohner als Ikonen des Protests gegen die Herrschaft der Engländer. Die glaubwürdigste Imageauffrischung lieferten die Archäologen. Das prachtvolle Begräbnis einer 35 Jahre alten Fürstin am französischen

ergangene Woche haben die Urmenschenforscher wieder ihr Lieblingsschauspiel aufgeführt. Mal wird es als Komödie gegeben, mal als Tragödie. Das Stück hat zwei Akte: Im ersten gelingt einem Paläoanthropologen ein bedeutsamer Fossilfund, und die Kollegen gratulieren inbrünstig. Im zweiten Aufzug streitet die Zunft, erst mit dem Entdecker, dann untereinander. Der Zwist geht um die Frage, was die geborgenen Knochenreste für die Entstehungsgeschichte des Menschen zu bedeuten haben. Und insgeheim hofft fast jeder der Gebein-Experten, selber der Finder jenes Wesens zu sein, aus dem die Gattung Homo entstanden ist. Auch dieses Mal geht es um eine aufsehenerregende Entdeckung. Vor drei Jahren barg der südafrikanische Forscher Lee Berger von der Universität Witwatersrand mit seinem Team die ersten Knochen eines unbekannten Wesens aus der Vorzeit: Australopithecus sediba. Ein Jahrhundertfund, denn offenbar liegen in den Bodenschichten der Malapa-Höhle, 40 Kilometer von Johannesburg entfernt, bemerkenswert vollständige Skelette von mindestens fünf Exemplaren. Zwei der Individuen, eine Frau und ein halbwüchsiges Kind, sind nun detailliert untersucht worden. Die Befunde, veröffentlicht in gleich fünf Fachartikeln in Science, sind spektakulär. An Hirnschale, Hüften, Händen und Füßen von A. sediba fand sich eine Mischung aus anatomisch primitiven und menschenähnlichen Merkmalen. Die unterschiedlichen Schlussfolgerungen, die sich nun daraus ziehen lassen: Sind die Malapa-Geschöpfe womöglich jenes lange gesuchte Bindeglied zwischen den noch affenähnlichen Australopithecinen und den ersten Vertretern der menschlichen Gattung Homo? Oder handelt es sich bei den Fossilien um die Reste einer ausgestorbenen Seitenlinie der Menschenevolution, die zu einer Zeit lebte, als die ersten Hominiden längst existierten? Den Disput prägen Eitelkeiten. Jeder Forscher, der irgendwo das Stück eines möglichen Ahnen aus dem Untergrund gekratzt hat, kämpft um einen Ehrenplatz für sein Fossil. Doch aus den unzähligen Funden schließlich einen Stammbaum zu fabrizieren, den alle akzeptieren, ist unmöglich. Auch die Knochen aus der Malapa-Höhle haben ihren endgültigen Platz im Verwandtschaftsgefüge des Menschengeschlechts längst nicht gefunden. Als sicher gilt die Todeszeit der Geschöpfe: Sie starben vor 1,78 bis 1,95 Millionen Jahren. Zu dieser Zeit aber seien Vertreter der Gattung Homo

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in Afrika seit mindestens 300 000 Jahren unterwegs gewesen, sagen jene Kritiker, die an der Einordnung von A. sediba als unserem direkten Vorfahr zweifeln. Ihr Argument: der Oberkiefer von Hadar in Äthiopien. Dieses Schädelstück ist auf ein Alter von 2,3 Millionen Jahren datiert – und es stamme bereits von einer Frühmenschenart. A. sediba könne also kaum deren Wurzelpopulation darstellen. Bergers Team hält mit der These dagegen, das Hadar-Fossil sei wahrscheinlich gar keinem Wesen der Gattung Homo zu eigen gewesen; jedes allseits akzeptierte Hominidenrelikt sei jünger als zwei Millionen Jahre. Folglich sei A. sediba ein guter Kandidat für den Platz des Stammvaters aller Menschen. Die Forscher schlagen sich mit einem Grundproblem herum: Wer entscheidet anhand welcher Kriterien, wohin ein Wesen gehört? A. sediba zum Gründer des Menschengeschlechts zu ernennen ist eine zu einfache Interpretation. Denn die auffällige Mischung primitiver und moderner Anatomie in seinem Knochenbau deutet eher daraufhin, dass dort, wo manche einen simplen Stammbaum vermuten, tatsächlich ein komplexer Ahnenstrauch wucherte: Womöglich waren viele verschiedene vormenschliche Populationen bereits auf einem Weg in die eine oder andere Form der evolutionären Moderne, meint der New Yorker Paläoanthropologe Ian Tattersall. Bergers Fund sei daher auch eine »evolutionäre Metapher« für eine Grundfrage der Zunft: Was ist ein Homo? Tattersall gibt selbst eine Antwort: »Wir müssen das überdenken.« Eine Grenze zwischen dem Zeitalter affenähnlicher Vormenschen und der Ära der Frühmenschen zu ziehen dürfte den Gelehrten auch künftig schwerfallen. Mit jedem Fund wird die Lage unübersichtlicher. Die Evolution, das zeigt A. sediba erneut, ging nicht Schritt für Schritt vonstatten. Als naiv erweist sich einmal mehr die Vorstellung, dass stets höher entwickelte Arten ihre primitiveren Vorgänger ablösten – bis schließlich Homo sapiens auf der Bühne erschien. Stattdessen wird immer deutlicher: Der Mensch entstammt einem Wildwuchs aus zahlreichen Populationen, die alle ihren eigenen evolutionären Weg eingeschlagen hatten. Sie existierten nebeneinander. Und vermutlich vermischten sie sich. Homo sapiens war nie ein Ziel der Evolution – weil die Evolution keine Ziele kennt. Aber er ist der einzige seiner Gattung, der übrig blieb. Zu befürchten ist, dass er selber dafür gesorgt hat.

Mont Lassois, die aufwendige Goldschmiedekunst, die dem Fürsten von Hochdorf ins Grab mitgegeben wurde, oder die Größe der Keltenmetropole Manching, die eine der ersten Städte Mitteleuropas war: Sie zeugen von einer imposanten Hochkultur, die derjenigen ihrer römischen Zeitgenossen in nichts nachstand. »›Fremd‹ und ›barbarisch‹«, sagt Susanne Eichhof, »verhielten sich Griechen und Römer nicht weniger – man denke nur an die römische Eroberungspolitik und die Gladiatorenspiele.« Außerdem erinnert sie daran, dass der Schädelkult kein Alleinstellungsmerkmal der Kelten war: »Die haben ihn nicht erfunden.«

Dies kann Wilfried Rosendahl von den ReissEngelhorn-Museen bezeugen. Der Chef des German Mummy Project zeigt den genagelten Keltenschädel in seiner Mannheimer Schädelschau nebst dreihundert weiteren Funden, die belegen, wie fasziniert sich die Menschheit seit je mit diesem Knochenmaterial auseinandergesetzt hat. Die auf antiken Höfen gefundenen Köpfe kündeten mitnichten von keltischer Mordlust, sagt Rosendahl, sondern davon, »dass die Schädel unserer Artgenossen zu den faszinierendsten Accessoires überhaupt gehören«. Seit Jahrtausenden erfüllen sie in unterschiedlichsten kulturellen Kontexten ihre Aufgaben, sagt Rosendahl. »Sie dienten als Mahnmal der Vergänglichkeit, als religiöse Reliquien oder als auffällige, modische Tupfer, die den Betrachter in ihren Bann ziehen.« Womit die frühen Bewohner der Gegend um Eifel, Hunsrück, Taunus und Westerwald ihre Pferde und Liegenschaften schmückten, waren Objekte, die als Rohstoff überall anfielen. Wo als Folge von Alter, Krankheit oder Krieg gestorben wurde, gab es Knochenmaterial. Die frühen Anrainer an Rhein und Mosel konnten sich dem ästhetischen Reiz dieser menschlichen Hinterlassenschaften genauso wenig entziehen wie schon die steinzeitlichen Insulaner Britanniens Jahrtausende vorher. Das Londoner Natural History Museum entdeckte kürzlich, dass Urbriten vor 14 700 Jahren die Schädel ihrer Artgenossen recycelt und einem äußerst weltlichen Zweck zugeführt hatten: Sie tranken daraus. Genauso arglos wie die frühen Schädelzecher stellt zeitgenössisches Volk knöcherne Accessoires zur Schau. Der Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards führt schmucke, schädelverzierte Ringe spazieren. Die Fans des FC St. Pauli schwenken im Stadion zu Hunderten Fahnen mit dem Jolly Roger drauf. »Schädel sind nun einmal ganz besondere Objekte«, sagt Archäologe Rosendahl, »im Kopf wird schließlich gedacht, gelacht, geträumt, geliebt – und dort verliert man auch sein Gleichgewicht.« Seit der Mensch eine Vorstellung davon hat, was darin abläuft, gilt der Kopf als etwas Besonderes. Die Steuerzentrale eines anderen zu präsentieren war daher schon früh ein Ausdruck von Überlegenheit. Wollte der Kelte Haus, Hof oder Pferdesattel aufhübschen, wählte er – wie der moderne Gruftie von heute – Gegenstände von imaginärer Kraft. Er suchte nach einem Nagel und lochte ein Schädelchen.

Köpfe aus dem Drucker Die kostbare Hirnschale (siehe Seite 45) lag in einem keltischen Brunnen bei Kobern-Gondorf. Sie war durchbohrt von einem Nagel, mit Kies gefüllt und drohte auseinanderzufallen, sobald man sie ausgrub. Damit das spezielle Arrangement die Bergung aus dem feuchten Sediment unbeschadet überstand, träufelten die Wissenschaftler wasserlöslichen Knochenleim darüber. Das so gefestigte Objekt bargen sie als Ganzes. Der Nachteil dieser Stabilisierungstechnik: Die Kiesfüllung machte eine Begutachtung des Schädels von innen unmöglich – eine Kopie musste her. Dafür lieferte die Durchleuchtung in einem Computertomografen an der Universität Mannheim einen Teil der Daten. Zusätzlich wurde das Objekt von einem Laserscanner dreidimensional vermessen. Mit den Werten wurde schließlich ein Spezialdrucker der Firma Scyteq in Cochem/Mosel gefüttert, der die täuschend echte Replik des Schädels anfertigte. Anhand der Kopie konnten daraufhin Mannheimer und Koblenzer Wissenschaftler das Innere des Fundstücks aus der Eisenzeit

untersuchen – eine Möglichkeit, die das komplett mit Kies gefüllte, empfindliche Original nicht bietet. Das Herstellungsprinzip ähnelt dem eines Tintenstrahldruckers – erweitert um die dritte Dimension: 0,08 Millimeter dünne Gipslagen bauen sich zur Replik auf. Jede Schicht wird auf die darunterliegende aufgedruckt. Das so entstandene Objekt muss nicht einmal bemalt werden, weil die jeweilige Farbe jeder einzelnen Stelle dem Gips beigemischt wird. Neben dem vollständigen Schädel rekonstruierten die Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg auch das Gesicht eines Kelten. Als Basis nutzten sie einen fast komplett erhaltenen keltischen Gesichtsschädel, der inklusive der Zahnreihen im Landkreis Mayen-Koblenz gefunden worden war. Anhand der Form und der Oberfläche des Schädelknochens wurde die Stärke der einst darüberliegenden Weichgewebe errechnet und am Computer das Antlitz des männlichen Erwachsenen aus der Keltenzeit rekonstruiert. WILL

A www.zeit.de/audio

Original eines Gesichtsschädels, Gipskopie, Rekonstruktion von Schädel und Gesicht

Die Ausstellung »Schädelkult« ist vom 2. 10. 2011 bis 29. 4. 2012 in den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim zu sehen (Di–So, 11–18 Uhr): www.schaedelkult.de

© Reiss-Engelhorn-Museen, Fotos: Wilfried Rosendahl

Fotos: Mauricio Anton/SPL/Agentur Focus; Stills-Online (Rahmen); Montage: DZ

Ein Knochenfund entfacht eine alte Debatte neu: Wer war der Urahn aller Menschen? VON ULRICH BAHNSEN

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15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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Das Geschäft mit dem Feuer

Foto: Houston Chronicle/AP

Mehr als zwei Milliarden Dollar jährlich investieren die USA in die Waldbrandbekämpfung. 11 000 Feuerwehrleute haben ein sicheres Einkommen. Sinnvoll ist ihr Einsatz nur selten VON DIRK ASENDORPF

Feuersbrünste wie hier in Texas sind für den Wald eher nützlich, gefährlich sind sie nur für Häuser, die immer tiefer in den Wald gebaut werden

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eilenweit schlängelt sich die O’Brien Creek Road durch ein bewaldetes Tal im US-Bundesstaat Montana am Rande der Rocky Mountains. Links und rechts stehen, locker zwischen gewaltigen Kiefern verteilt, typisch amerikanische Holzhäuser: Holzplanken umzäunen das Grundstück, Holzschindeln zieren die Dächer, große Holzterrassen erstrecken sich in Richtung Wald, darunter liegt sauber gestapeltes Feuerholz. »Die Leute ziehen immer weiter in die Wälder hinein«, erklärt Roger Archibald, »es ist die Massenbewegung der letzten Jahrzehnte.« Schön ist es hier, keine Frage. Aber auch gefährlich. Denn wenn es im heißen Westen der USA wochenlang nicht regnet, reicht eine achtlos weggeworfene Zigarette oder ein Blitzschlag, und das liebliche Tal verwandelt sich in einen Feuerkessel. Gewaltige Buschbrände in den USA, Texas in Flammen – das waren Schlagzeilen der letzten Wochen. Im vergangenen Jahr hatte es vor allem Kalifornien getroffen. Immer gehen die Bilder gewaltiger Rauchsäulen, verkohlter Häuser und wagemutiger Feuerwehrmänner um die Welt. Roger Archibald war einer von ihnen. Die Erfahrung hat ihn gründlich desillusioniert. Heute sieht er in der amerikanischen Art der Waldbrandbekämpfung vor allem ein großes Geschäft. Wie er das meint, kann er nirgendwo besser erklären als auf der O’Brien Creek Road. Am Steilhang oberhalb des Tals ist eine große hellgrüne Fläche zu erkennen. Dort wütete im Sommer 2003 einer der größten Waldbrände, die es in Montana je gegeben hat. Zur Bekämpfung wurden mehr als tausend Feuerwehrleute aus dem ganzen Land zusammengezogen. »Zwei Tage lang haben wir versucht, ein Übergreifen auf das besiedelte Tal mit Gegenfeuern zu verhindern«, erinnert sich Archibald, »als klar wurde, dass das nicht funktioniert, haben Hubschrauber noch mal zwei Tage gebraucht, um all die Glutnester wieder zu löschen, die wir dabei gelegt hatten.«

Die Nutzlosigkeit ihres Einsatzes störte die Feuerwehrmänner wenig. Frage man, wie die Feuersaison laufe, würden sie »wunderbar« antworten, sagt Archibald. »Das heißt nicht etwa, dass es keine Feuer gibt, sondern – ganz im Gegenteil – besonders viele.« So verdienen die Feuerwehrleute mit Überstunden- und Gefahrenzulagen weit mehr als mit ihrem Grundgehalt. Immer wieder gab es Fälle, in denen Brandbekämpfer versuchten, ihr Einkommen mit Brandstiftung aufzubessern. Inzwischen dürfen deshalb bei einem Großfeuer nur noch maximal 20 Prozent des eingesetzten Personals aus der direkten Umgebung stammen. Der Rest wird aus anderen Landesteilen eingeflogen. Das erfreut Fluglinien, Hotels und Caterer. Und im Sommer zieht eine ganze Armada fliegender Händler von Waldbrand zu Waldbrand. »Vor unserem Zeltlager wurden Duschkabinen und mobile Waschautomaten aufgestellt, es gab Süßigkeiten und sogar T-Shirts mit dem Aufdruck ›Black Mountain Fire 2003‹ zu kaufen«, erinnert sich Archibald. Er gehörte damals zu den smoke jumpers, einer Elitetruppe für schnelle Einsätze in besonders abgelegenen Regionen. Am Fallschirm

springen die smoke jumpers in waghalsigen Aktionen direkt vor den brennenden Wald. Zwei Milliarden Dollar stellt der US-Kongress jedes Jahr für die Waldbrandbekämpfung zur Verfügung – fast die Hälfte des Gesamtbudgets aller Forstbehörden. Reichen die Mittel nicht aus, darf der Feuer-Etat überzogen werden. 11 000 Feuerwehrleute stehen ausschließlich zur Waldbrandbekämpfung bereit, dazu kommen bis zu eine Million freiwillige Helfer. Ihre Aufgabe: in mehr als 800 000 Quadratkilometern öffentlichem Wald – mehr als der doppelten Fläche Deutschlands – jedes Feuer zu verhindern. Damit folgt die US-Forstbehörde noch immer einem Prinzip, das preußische Forstwirte vor mehr als 100 Jahren aus der Alten Welt mitgebracht hatten. »Was im feuchten Mitteleuropa richtig war, konnte hier aber nicht funktionieren«, stellt Steve Arno fest. In seinen Jahrzehnten als Mitarbeiter der Forstverwaltung hat er den Einfluss des Feuers auf den Wald in Montana genau untersucht. Er kennt die Baumarten, die nur keimen können, wenn ihre Samen in die fruchtbare Asche fallen, die von einem Bodenfeuer zurückbleibt. Und an Baumringen kann er sehen, dass die Wälder Montanas vor dem Eingreifen des Menschen alle ein bis zwei Jahrzehnte gebrannt haben. Der Wald hat gut damit gelebt. Wenn Bodenfeuer das Unterholz ab und zu lichten, werden die Flammen nicht heiß genug, um ausgewachsenen Bäumen ernsthaften Schaden zuzufügen. Anders beim großen Feuer von 2003. Über Jahrzehnte hatten sich abgestorbenes Holz und große Mengen Nadeln auf dem Waldboden angesammelt und brannten so heiß, dass alle Kiefern abstarben. Jetzt, sieben Jahre später, ist der Hang wieder mit einem hellgrünen Wald kleiner Nadelbäumchen überzogen. Dazwischen stehen einige riesige Lärchen, manche mehr als 300 Jahre alt. Bis in zwei Meter Höhe ist ihre Rinde schwarz verkohlt, ansonsten sind sie unversehrt. »Die Lärchen brauchen das Feuer«, erklärt Arno, »es hält ihnen die schnell wachsenden Kiefern vom Leib, von denen sie sonst geradezu erdrückt werden.« Wichtigster Auslöser für die Brandbekämpfungspolitik der US-Forstbehörde war ein Großfeuer, das im August 1910 in drei Tagen Wald von der Ausdehnung Mallorcas vernichtete und 78 Feuerwehrleute das Leben kostete. Erst Mitte der achtziger Jahre kamen Zweifel auf, ob das Löschen wirklich immer und überall die beste Lösung für einen Waldbrand ist. Vor allem in Nationalparks werden seitdem Bodenfeuer sogar absichtlich gelegt, um das Unterholz auszudünnen. Überall dort, wo bewohnte Gebiete bedroht sind, gilt jedoch nach wie vor die Parole »Feuer aus – koste es, was es wolle«. Jack Cohen ist überzeugt, dass es auch anders ginge. Der Physiker arbeitet am Feuerwissenschaftlichen Institut der US-Forstbehörde in Missoula, der zweitgrößten Stadt Montanas. Das Großfeuer 2003 brannte in Sichtweite seines Büros. Als es sich vom Steilhang langsam hinunter in Richtung des bewohnten Tals fraß, konnte der Experte seine Theorie mit dem Fernstecher überprüfen. »In den Medien ist oft von einer Feuerwalze die Rede«, sagt Cohen, »doch diese Vorstellung ist völlig falsch, und wer im Wald wohnt, sollte das wissen.« Nicht die bedrohlich wirkenden Flammen sind gefährlich für die Häuser, sondern der Funkenflug. Im feuerfest ausgekleideten Laborraum des Instituts kann die Ausbreitung eines Waldbrands für verschiedene Baumarten und Wetterlagen simuliert werden. Selbst bei ungünstigsten Bedingungen reicht ein Abstand von zehn Metern, um ein direktes Übergreifen der Flammen zu verhindern. Doch wenn ein Baum brennt, entsteht dabei gleichzeitig ein sehr starker Aufwind. Und der kann glühende Aststückchen viele Hundert Meter weit schleudern. Landen die Funken auf brennbarem Material, entzünden sie dort ein Feuer. »Und leider sind viele unserer Häuser echtes Zündholz«, beklagt Cohen.

Zum Beweis zeigt er Fotos frisch abgebrannter Siedlungen. Von den Häusern sind darauf nur noch ein paar verkohlte Reste zu sehen. Doch dazwischen stehen grüne Bäume. Und manchmal hat – wie durch ein Wunder – sogar inmitten der Siedlung ein ganzes Haus das Feuer ohne jeden Schaden überstanden. »Aber das Gerede von den sogenannten Wunderhäusern ist kompletter Unsinn«, erklärt Cohen. Wer sein Dach mit Faserzementplatten (Eternit) statt mit Holzschindeln decke, hölzerne Gartenzäune nicht direkt an die hölzerne Terrasse heranführe, kein Brennholz an der Hauswand lagere und in einem

Umkreis von zehn Metern heruntergefallene Äste und Nadeln regelmäßig wegfege, sei bestens geschützt. »Bei einem Waldbrand ist ein solches Haus der sicherste Fluchtort.« Nicht das Feuer sei das Problem, sondern die Unvernunft der Menschen, die im Wald wohnen, sagt auch Ex-Feuerwehrmann Roger Archibald zwischen den Holzhäusern an der O’Brien Creek Road. »Aber wenn ein Politiker diese simple Wahrheit aussprechen würde, wäre er schnell weg vom Fenster.« Statt für gründliche Aufklärung und strikte Bauvorschriften zu sorgen, rufe die Politik im Fall des Falles lieber lauthals

nach der Feuerwehr. Wenn dann erst einmal die Bilder mutiger Feuerwehrmänner mit rußverschmierten Gesichtern über die Bildschirme flimmerten, frage niemand mehr nach dem Sinn solcher Einsätze. »Meistens sind sie überflüssig«, meint Archibald. Das gelte auch für Löschflugzeuge. »Die machen sich gut im Fernsehen und beruhigen die Öffentlichkeit, tragen aber fast nichts zur Brandbekämpfung bei.« So war es auch 2003 beim Black Mountain Fire. Tagelang waren die Löschversuche ohne Ergebnis geblieben. Dann drehte der Wind, es begann zu regnen, und die Flammen erloschen ganz von alleine.

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Essen im Müll Der Film Taste the Waste, der am vergangenen Donnerstag in die Kinos kam, hat es noch einmal auf drastische Weise deutlich gemacht: Während eine Milliarde Menschen hungern, landen in den entwickelten Ländern Lebensmittel, die noch genießbar sind, in großem Maßstab im Abfall. Vom Essensmüll der USA und Europas könnten die Hungernden der Erde siebenmal satt werden. Die 80 Kilogramm, die der durchschnittliche Deutsche jährlich wegwirft, haben einen Wert von über 300 Euro. 30 Prozent der verpackten Lebensmittel werden gar nicht erst geöffnet. Die meisten Verbraucher missverstehen auch das Mindesthaltbar-

keitsdatum auf der Packung: Anders als das Verbrauchsdatum etwa auf Fleischprodukten sagt es nichts darüber aus, ob das Lebensmittel noch genießbar ist. Immerhin haben zwei von drei Deutschen ein schlechtes Gewissen, wenn sie Essen in die Tonne werfen. Allerdings ist der Verbraucher nicht der einzige Verschwender. So wird viel Obst und Gemüse entsorgt, das zwar einwandfrei und schmackhaft ist, aber dem gängigen Schönheitsideal nicht entspricht. In den Entwicklungsländern ist vor allem die Lieferkette das Problem. Fast die Hälfte aller Lebensmittel kommt nie beim Endverbraucher an.

Noch essbar Die Hälfte der Lebensmittel, die in Deutschland weggeworfen werden, könnten noch gegessen werden

THEMA: ERNÄHRUNG

Die Themen der letzten Grafiken:

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Sommer 2011

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Das neue World Trade Center

Tote Kalorien

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Pro Kopf der Weltbevölkerung erzeugen Bauern täglich 4600 Kilokalorien – 1400 davon erreichen niemals einen Magen

Weitere Grafiken im Internet:

Codes

www.zeit.de/grafik

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Sparsame Afrikaner

Vom Feld auf den Teller: Wo in Europa die Verluste entstehen Landwirtschaftliche Produktion

Handhabung und Lagerung direkt nach der Ernte

Verarbeitung und Verpackung

Vertrieb (Großund Einzelhandel, Supermärkte)

Verbraucher

Milchprodukte

3,5 %

0,5 %

1,2 %

0,5 %

7%

Obst und Gemüse

20 %

5%

2%

10 %

19 %

Lebensmittelverschwendung pro Jahr durch die Konsumenten, in Kilogramm pro Kopf

Gesamt

12,7 %

56 % Grafische Idee und Fotografie: Sarah Illenberger

Fleischprodukte

11 3,1 %

0,7 %

5%

4%

11 %

23,8 % 6

Getreideprodukte

2%

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10,5 %

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43,5 %

Europa

USA

Südliches Süd- und Afrika Südostasien

Montage: Mechthild Fortmann Recherche: Claudia Füßler Quellen: FAO, Save Food, BMELV, Tristram Stuart: »Für die Tonne«, WWF, Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels Weitere Fotos: Stills-Online, Prisma

WISSEN

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Fotos (Ausschnitt): Teich/Caro; Tom Hoenig/VISUM; Pascal Sittler/REA/laif; plainpicture (2); Kröger/Gross/StockFood (v.l.n.r.)

Was die Etiketten verstecken »Ohne Gentechnik« bedeutet oftmals doch »mit«, denn die Kennzeichnungspflicht ist lückenhaft VON ALINA SCHADWINKEL UND STEFAN SCHMITT

Waren im Supermarkt: Aus mehr als 250 000 Produkten können deutsche Verbraucher wählen. Die Bundesregierung strebt eine exaktere Kennzeichnung der Inhaltsstoffe an

E

ssen ist Illusion. Das gilt nirgendwo mehr als in der industriellen Produktion von Nahrungsmitteln. Was sich Verbraucher nicht alles einbilden oder wenigstens einreden lassen: glückliche Kühe, kreisrunder Vorderschinken, gesunde Zuckerbomben und Markensoßen aus liebevoller Handarbeit. Seit vergangener Woche ist diese Liste um eine Illusion reicher. Die Illusion, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg halte unsere Honige – und damit das gesamte Lebensmittelsortiment – frei von Gentechnik, sofern diese nicht klar auf der Verpackung deklariert ist. Und wo steht das schon drauf? Ist ja auch nicht gerade populär. Immer wieder spricht sich in Umfragen eine deutliche Mehrheit der Deutschen gegen die Anwendung von Gentechnik aus. Viele dürften sie für eine exotische Nischentechnologie halten, auf die man in Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion genauso gut verzichten könnte. Schließlich scheint im Lebensmittelregal nichts davon anzukommen. Dem widersprechen Schätzungen von Experten: 50, 60 oder gar 80 Prozent aller Artikel in einem typischen Supermarkt seien bei irgendeinem Herstellungsschritt mit der Technologie in Berührung gekommen. Die Zahlen schwanken ganz enorm. Zwar halten Lebensmittelexperten einen überraschend hohen Anteil für realistisch. Aber in Wahrheit weiß es niemand so richtig. »Dazu haben wir keine Angaben«, sagt der Sprecher von Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner und fügt hinzu: Eine Analyse müsse wohl ganz unten beginnen, »also bei Vitaminen, Zucker, Milch, Tierfutter ...« Drehen wir also eine Runde durch einen typischen deutschen Supermarkt: An welcher Stelle könnten gängige Lebensmittel mit Gentechnik in Berührung gekommen sein? Enthalten sie gar Spuren von transgenen Organismen? Und falls ja – warum ist es trotzdem völlig legal, dass uns die Etiketten oftmals nichts davon verraten? Das Brotaufstrich-Regal – Als Konsequenz aus dem Honigurteil des EuGH könnte die Auswahl schrumpfen. Der Nulltoleranzidee folgend, hatten die Luxemburger Richter im Sinne eines Augsburger Imkers geurteilt: Enthält Honig auch nur einen einzigen Pollen einer hierzulande nicht zugelassenen, genveränderten Sorte, dann darf er ohne eigene Zulassung nicht verkauft werden. Nichts zu tun hat das Urteil mit Gesundheitsrisiken (darauf gab es keine Hinweise) und der Möglichkeit, dass der Pollen sich noch verbreiten könnte (kann er definitiv nicht). Da vier von fünf Gläsern Honig aus dem Ausland enthalten und in Übersee genveränderte Pflanzen weitverbreitet sind, muss man davon ausgehen, dass solcher Pollen keine Seltenheit ist. Aber auch in Nussnougatcreme und Marmelade

könnte Gentechnik enthalten sein, speziell im Zucker (siehe unten: süße Quengelware). Die Gemüsetheke – »Grüne Gentechnik«, also die Veränderung von pflanzlichem Erbgut, ist paradoxerweise just bei Tomate, Salat und Co. ausgeschlossen. In Deutschland müsste jedes transgene Gemüse einzeln auf Unbedenklichkeit geprüft und für den menschlichen Verzehr zugelassen werden. Keine einzige genetisch veränderte Speisesorte besitzt derzeit diese Zulassung, nur eine Industriefrucht. Es ist die Kartoffel Amflora, die allerdings nur für die chemische Industrie angebaut werden soll. Die Käsetheke – Aus Milch kann erst Käse werden, wenn das Milcheiweiß aus der restlichen Flüssigkeit ausfällt. Dieser künstlichen Verdauung half man früher mit natürlichen Verdauungssäften auf die Sprünge, mit dem Magensaft von Kälbern (Lab), der das Enzym Chymosin enthält. Inzwischen wird dieses überwiegend synthetisch erzeugt, und zwar mithilfe genetisch veränderter Mikroben. Daher kauft der Verbraucher bei nahezu jeder beliebigen Sorte fast jedes Herstellers ein Lebensmittel, das indirekt mithilfe von Gentechnik entstanden ist. Die Herstellung von Enzymen, Emulgatoren und ähnlichen Hilfsstoffen im Bioreaktor wird auch »weiße Gentechnik« genannt. Denn die Substanzen entstehen als Stoffwechselprodukte von Mikroben, die genetisch verändert worden sind. Erzeugen sie einen Lab-Ersatz,

ist dieser chemisch rein und nicht vom Naturprodukt unterscheidbar. Auf dem Etikett steht meistens nicht, was eine Käserei benutzt hat. Als Produktionshilfsstoff muss Lab nicht in der Zutatenliste auftauchen. Diese Stoffe stammen auch bei anderen Lebensmitteln – vor allem industriell erzeugten – oft aus weißer Gentechnik (siehe unten: die Getränkeecke). Klarheit herrscht an der Käsetheke nur bei Biokäse. Bei dessen Herstellung sind gentechnische Hilfen verboten. Die Fleischtheke – Beim Kauf von Rind-, Schweineund Geflügelfleisch springt bei manchen Verpackungen wie auch bei Milchprodukten das Siegel »Ohne Gentechnik« ins Auge. Mit diesem Etikett wollte die Bundesregierung mehr Transparenz schaffen, doch die Kennzeichnung (siehe Kasten) ist umstritten, weil sie Ausnahmen zulässt: So dürfen Rinder bis zu 12 Monate vor ihrer Schlachtung mit transgenen Pflanzen gefüttert werden. Bei Schweinefleisch sind es vier Monate, bei Hähnchen zehn Wochen Karenzzeit. Jederzeit dürfen Fleisch-, Milch- und Eierlieferanten zudem Zusatzstoffe ins Futter mischen, die aus dem Bioreaktor stammen, um Ernährungsmängel bei der Mast auszugleichen. Zufällige Verunreinigungen des Futters mit zugelassenen und als sicher befundenen Gentechniksorten, etwa mit importierter Soja, werden bis zu einer gesetzlich festgelegten Grenze von 0,9 Prozent toleriert. Hinzu kommt, dass alle Nutztiere mit gentechnisch erzeugten Medikamenten

Klar oder korrekt? Das Siegeldilemma Was steckt drin? Klarheit schaffen wollte die Bundesregierung mit dem 2009 eingeführten Siegel »Ohne Gentechnik«. Betriebe können sich freiwillig darum bewerben. Vergeben wird die grüne Raute (siehe unten) vom Verband Lebensmittel ohne Gentechnik. Die Negativkennzeichnung darf nur auf Erzeugnissen prangen, die keinerlei transgene Bestandteile enthalten. Allerdings ist dieses Verbot nicht absolut. Daher erfährt das Siegel ähnliche Kritik wie sein gesetzlich vorgeschriebenes Gegenteil. Die Positivkennzeichnung ist nach geltendem Recht europaweit für alle Lebensmittel verpflichtend, die genveränderte Organismen oder Bestandteile davon enthalten oder daraus hergestellt worden sind. Ihre Verpackung muss den Hinweis tragen »gentechnisch verändert« oder »aus gentechnisch verändertem ... hergestellt«. Auch diese Kennzeichnung wird kritisiert, weil viele Ausnahmen zulässig sind: So wird generell eine Verunreinigung mit zugelassenen genetisch veränderten Or-

ganismen bis zu einem Anteil von 0,9 Prozent toleriert. Zusatz- und technische Hilfsstoffe, die gentechnisch gewonnen wurden, müssen nicht ausgewiesen werden. Erst eine absolute Prozesskennzeichnung würde transparent machen, ob ein Lebensmittel bei der Herstellung je mit Gentechnik in Berührung gekommen ist. Eine »Nulltoleranz«-Lösung ohne Schwellenwert wäre jedoch unpraktikabel, denn moderne Analytik fände fast immer etwas. Generell hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag eine Prozesskennzeichnung vereinbart. Ob, wann und wie diese umgesetzt wird, ist indes unklar. Denn das zuständige Bundesministerium für Verbraucherschutz drängt auf eine EU-weite Regelung. »Ein deutscher Alleingang würde nicht von Erfolg gekrönt sein, da wir einen europäischen Lebensmittelmarkt haben«, erklärt der Sprecher des Ministeriums, Holger Eichele. In Brüssel habe Deutschland für diese Forderung aber bislang nicht die Unterstützung anderer EU-Staaten. ASC/STX

und Impfstoffen fit gehalten werden dürfen. Somit können an der Fleischtheke und im Milchregal nicht nur die grüne und die weiße, sondern auch die »rote Gentechnik« vertreten sein.

den, wenn es unmittelbar aus transgener Soja hergestellt wurde. Die übrigen genannten Vitamine und Enzyme stammen hingegen aus dem Bioreaktor und müssen daher nicht deklariert werden.

Das Regal mit den Konserven – Im nächsten Gang stapeln sich Dosen, Tüten und Pappschachteln. Zu den Klassikern wie Ravioli in Tomatensoße, Eintopf oder Thai-Suppe kommen unzählige Fertiggerichte (convenience food). Eine Viertelmillion verschiedener Produkte stehen in deutschen Lebensmittelgeschäften, jedes Jahr kommen Zehntausende hinzu – eines raffinierter als das andere. Auch hier kann die Gentechnik beteiligt sein, etwa in Form von Sojaprodukten. Soja ist weltweit die wichtigste Öl- und Eiweißpflanze. Rund zwei Drittel der global angebauten Bohnen sind gentechnisch verändert (gv), um sie gegen Unkrautvernichtungsmittel resistent zu machen. Ein Großteil der Rohstoffe wird als Tierfutter verarbeitet, doch gv-Soja findet sich auch in zahlreichen Lebensmitteln, wie etwa der ThaiSuppe. Denn Soja ist Quelle zahlreicher Zwischenstoffe. So finden sich in unserer Konserve zum Beispiel Sojaeiweiße und Lecithine. Beides sind gute Emulgatoren, binden also Wasser und Fette. Die Proteine können zudem als Grundstoff für Aromen dienen. Meist hilft ein Blick auf das Etikett: Pflanzliche Eiweißerzeugnisse, Öle, Fette oder Lecithin aus gentechnisch veränderten Sojabohnen müssen nämlich gekennzeichnet werden. Dennoch bleibt Spielraum für Ungewissheit. Jährlich führt die EU 35 Millionen Tonnen Soja ein, doch eine absolute Trennung zwischen transgenen und anderen Bohnen ist bei der Verarbeitung nicht möglich (in solchen Fällen greift die 0,9-ProzentRegel). Daher finden sich auch in als »gentechnikfrei« deklarierten Produkten sehr geringe Mengen gentechnisch veränderter Soja – bundesweit. 2008 war bereits gut ein Viertel der Nahrungsmittel betroffen.

Die süße Quengelware – Schokoriegel, Bonbons und Eiscreme enthalten Zucker, der oft aus Zuckerrüben hergestellt wird. Die Pflanze ist 2009 weltweit auf mehr als 4,3 Millionen Hektar angebaut worden, 11 Prozent davon waren genetisch verändert. In der EU ist das nicht erlaubt, der Import von gvRüben aus Nordamerika – ihr Anteil beträgt dort 95 Prozent – hingegen schon. Einige US-Produkte mit Gen-Süße finden sich daher auch in deutschen Supermärkten. Sie müssen allerdings gekennzeichnet werden – unabhängig davon, ob genveränderte Stoffe der Rübe im Endprodukt nachgewiesen werden können. Bei Traubenzucker oder Glukosesirup aus Mais sind die Regeln unklar: Zwar muss Zucker gekennzeichnet werden, der unmittelbar aus gentechnisch verändertem Mais gewonnen wurde. Da die Herstellung aber in mehreren Schritten abläuft, ist nicht eindeutig geklärt, wann auf Gentechnik hingewiesen werden muss. Deshalb unterbleibt es zumeist.

Die Getränkeecke – Vom herkömmlichen Saft bis hin zum exotischen Fruchtsaftgetränk, oft wird die Natürlichkeit betont. Doch auch bei ihrer Herstellung kann Gentechnik eingesetzt worden sein. Etwa beim Auspressen der Früchte, wenn mittels Enzymen die Zellwände zerstört werden, um mehr Saft aus Apfel, Traube und Co. herauszupressen. Die Enzyme Pektinase, Cellulase oder Xylanase können allesamt von gentechnisch veränderten Mikroben stammen. Zusätzlich werden Amylasen eingesetzt, um trübe Säfte klar werden zu lassen. Auch Vitamin C ist nicht immer natürlichen Ursprungs. Es wird in unbekanntem Maße bereits kommerziell von transgenen Mikroorganismen hergestellt. Die Vitamine B2 und B12 stammen sogar fast ausschließlich von Gentechnik-Bakterien. Vitamin E wird oft aus genetisch veränderter Soja gewonnen. Kennzeichnung oder nicht, das hängt vom Detail ab: So muss zwar Vitamin E ausgewiesen wer-

An der Kasse kommt der Durchschnittskunde somit zwar mit vollem Einkaufswagen an. Welche seiner Einkäufe absichtlich oder unabsichtlich mit welcher Art von Gentechnik wie intensiv in Berührung gekommen sind, weiß er nicht. Der gedankliche Bummel durch einen typischen Supermarkt zeigt die Gründe für diese Intransparenz: 1. Winzige Gewinnmargen im Lebensmittelgeschäft zwingen Hersteller zu effizienter Produktion, auch mithilfe neuer Methoden. 2. Wo dabei Gentechnik eingesetzt wird, können Verbraucher oft nicht erkennen, weil eine Kennzeichnungspflicht für den gesamten Prozess von den Zutaten bis zum Lebensmittel fehlt. 3. Die geltende Regelung für die Kennzeichnung von transgenen Zutaten erlaubt nicht den Umkehrschluss auf eine gentechnikfreie Herstellung, dafür gibt es zu viele Ausnahmen. Nach heutigem Stand der Forschung stellen weder transgene Pflanzen noch andere gentechnisch gewonnene Stoffe eine Gefahr für die Gesundheit dar. Unabhängig davon müssten sich in der Forderung nach mehr Transparenz die Befürworter und die Gegner der Technik einig sein. Die Befürworter, weil sie zeigen können, wo sich die Gentechnik in der harten Konkurrenz auf dem Agrar- und Lebensmittelmarkt bereits durchgesetzt hat. Die Gegner, weil bei dem weitverbreiteten Misstrauen gegenüber dieser Technologie sich jeder Supermarktkunde frei entscheiden können muss: Gentechnik, ja oder nein? Und falls ja, welche und wie viel davon? A www.zeit.de/audio Siehe auch Wochenschau Seite 20

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WISSEN

KOMPAKT

DIE ZEIT No 38

STIMMT’S?

ERFORSCHT UND ERFUNDEN

Müssen wir Mineralwasser trinken?

Weisheit der Masse

Gelächter der Gruppe

Ein Tag der offenen Tür am eigenen Institut ist für Verhaltensforscher ein besonderer Quell der Erkenntnis. Andrew King und seine Kollegen an der University of London nutzten die Gelegenheit, um Wissen über die »Weisheit der Masse« zu sammeln (Biology Letters, online). Sie stellten ein Glas voller Bonbons auf und ließen jeden, der vorbeikam, die Anzahl der Süßigkeiten darin raten. Zwar lagen viele Angaben völlig daneben. Aber der Schätzwert in der Mitte (Median) traf mit 752 Bonbons fast das exakte Ergebnis (751). In manchen Besuchergruppen simulierten die Forscher zusätzlich den sozialen Einfluss. Sie informierten die Teilnehmer entweder über den Tipp ihres jeweiligen Vorgängers oder über den Durchschnitt der bisherigen Schätzungen – beides machte das Gruppenergebnis ungenauer. Fazit: Die Masse ist nicht weise; aber ihre Dummheit verteilt sich so, dass die Weisheit genau in der Mitte liegt.

Lachen ist nicht nur die beste Medizin. Es hilft auch, Schmerzen besser zu ertragen. Allerdings ist dafür spontanes, herzhaftes Gelächter nötig, wie es insbesondere in Gruppen aufkommt (Proceedings of the Royal Society B, online). Forscher um den Anthropologen Robin Dunbar aus Oxford testeten die Schmerzgrenzen ihrer Probanden mit eiskalten Umschlägen oder aufgepumpten Blutdruckmanschetten. Anschließend durften die Teilnehmer verschiedene TV-Clips ansehen. Wer etwa über die Scherze von Mr. Bean lauthals lachte, zeigte danach eine signifikante Steigerung der Schmerztoleranz um bis zu zehn Prozent. Bei den Betrachtern von Filmen über Golf hingegen veränderte sich nichts. Die Forscher beließen es nicht bei Experimenten im Labor: Sie ließen die Besucher eines Theaterfestivals anstrengende Skigymnastik absolvieren und testeten deren Schmerzempfinden. Zuschauer einer Comedy-Vorstellung konnten mit dem Schmerz deutlich besser umgehen als jene, die

… fragt Hélène Martin aus Frankfurt am Main Mineralwasser oder Leitungswasser? Das ist ja heute fast schon eine Glaubensfrage. Die Mineralwasserfraktion rechtfertigt den riesigen ökologischen Fußabdruck, den die Verpackung und der Transport von H₂O in Flaschen erzeugt, nicht nur mit dem (angeblich) besseren Geschmack, sondern auch mit einem Gesundheitsargument: Die Mineralien im Flaschenwasser seien lebensnotwendig, den Leitungswassertrinkern drohe Mangelernährung. Aber diese Bedenken sind gleich aus mehreren Gründen nicht gerechtfertigt. Erstens muss Mineralwasser seit 1980 keine Mindestmenge an Mineralien enthalten – die Stiftung Warentest hat

jedes zweite Mineralwasser als »mineralstoffarm« qualifiziert. Vielerorts enthält das aus der Tiefe geförderte Leitungswasser sogar mehr Mineralien als die Flasche aus dem Supermarkt. Zweitens nehmen wir durch unsere Nahrung eigentlich genügend Mineralien zu uns, das Wasser ist da nur eine Ergänzung. Eine (im Auftrag der Wasserwirtschaft erstellte) Studie der Universität Paderborn kam 2001 zu dem Ergebnis: Wasser als Mineralquelle wird überschätzt. Von vielen Mineralien nehmen wir ohnehin schon zu viel zu uns – etwa vom Natrium, das im Kochsalz steckt. Deshalb werben viele Mineralwässer mit dem Prädikat »natriumarm«. CHRISTOPH DRÖSSER

Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, oder [email protected]. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts www.zeit.de/audio

einem tragischen Stück beiwohnten. Studienleiter Dunbar führt das vor allem auf den bonding effect zurück: In der Gruppe lache es sich nicht nur leichter, sondern auch effektiver. Denn dabei würden Endorphine freigesetzt, die den Schmerz lindern.

MEHR WISSEN: Im Netz: Irrflug im Kalten Krieg: 1961 geraten zwei Bundeswehrjets in den sowjetischen Luftraum. www.zeit.de/irrflug-berlin Wie der Ökonom Sir Richard Layard die Menschheit glücklicher machen möchte. Das neue ZEIT Wissen: Am Kiosk oder unter www.zeitabo.de

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15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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P O L I T I K , W I S S E N , K U LT U R U N D A N D E R E R Ä T S E L F Ü R J U N G E L E S E R I N N E N U N D L E S E R WER WAR EIGENTLICH ... (19) DER ELEKTRONISCHE HUND D

Agatha Christie Agatha Christie war eine der erfolgreichsten Krimi-Schriftstellerinnen der Welt. Vor 120 Jahren wurde die Autorin in England geboren. Sie wurde von ihrer Mutter zu Hause unterrichtet, und diese merkte schnell, wie gut ihre Tochter Geschichten erzählen konnte. Ihren ersten Roman veröffentlichte Agatha mit 30 Jahren. Der Name des Detektivs, der in diesem Buch einen Mord aufklären muss, wurde weltberühmt und lautet: Hercule Poirot. Noch mehr als ihn lieben Agatha-ChristieFans aber die Hobby-Detektivin Miss Marple. Das ist eine schrullige alte Dame, die sich immer in die Polizeiarbeit einmischt und stets klüger ist als die Polizisten. Insgesamt hat Agatha Christie etwa 80 Romane, 40 Theaterstücke und viele, viele Kurzgeschichten geschrieben. Ihre Bücher wurden in 100 Sprachen übersetzt.

BLEEKER

Nick braucht die Dinge nicht zu sehen, er kann sie hören, fühlen, riechen. Der Zwölfjährige liest die Blindenschrift Braille (Mitte). Den Umgang mit dem Stock muss er noch üben (unten)

Die Radiogeschichte über Agatha Christie hört Ihr am Sonntag um 8.05 Uhr in der Sendung »Mikado – Radio für Kinder« auf NDR Info oder im Internet unter www.ndr.de/mikado

FRAGEBOGEN Jede Woche stellt sich hier ein Kind vor. Willst Du auch mitmachen? Dann guck mal unter www.zeit.de/fragebogen

Dein Vorname:

Mit den Händen sehen Nick ist blind, trotzdem geht er wie jedes andere Kind in die Schule, ins Museum und macht Radtouren – alles auf seine eigene Weise VON ULRIKE LINZER

Wie alt bist Du?

Ü

Was ist besonders schön dort?

Und was gefällt Dir dort nicht?

Was macht Dich traurig?

Was möchtest Du einmal werden?

Was ist typisch für Erwachsene?

Wie heißt Dein Lieblingsbuch?

Bei welchem Wort verschreibst Du Dich immer?

ZEIT Leo ist da! Wildschwein

Fischotter

Fuchs

Hase

de n ne n r s p a nd e s t h e M en f i T he m ne u e n m Du i L e o k! Z E I T a m K io s t z t im Je I n fo s e r e t i We rnet: .de Inte .z eit leo www

Fotos: Michael Jungblut für DIE ZEIT/www.michaeljungblut.com (Nick); 50er-Jahre,Everett Collection/action press (wer war...); Illustrationen: Jon Frickey für DIE ZEIT/www.jonfrickey.com (Wappen, Leo)

Wo wohnst Du?

ber den Hund ist Nick noch nie gestolpert. »Das hat Buddy ziemlich schnell kapiert, dass er den Weg frei machen muss, wenn ich komme«, sagt Nick. Er ist zwölf Jahre alt und von Geburt an blind. Eigentlich wollten seine Eltern den Labrador zum Blindenhund ausbilden lassen, aber Buddy war dann wegen einer Verletzung nicht so gut geeignet. Und außerdem war Nick damals kein großer Tier-Fan. Doch die beiden haben sich dann gut aneinander gewöhnt und leben seit sieben Jahren friedlich zusammen. Und Buddy hilft Nick, indem er ihm aus dem Weg geht. Ein Hund kann das – aber die Spielsachen seines um zwei Jahre jüngeren Bruders Ben können Nick nicht ausweichen. Deshalb geht Nick nicht in Bens Zimmer, erzählt er. »Seine Sachen fliegen immer überall herum, und ich stolpere dann darüber.« Es ist der einzige Raum in der Wohnung, in dem Nick sich nicht alleine bewegen kann. Sonst weiß er genau, wo die Türrahmen sind und wo ein Schrank oder Regal steht. Manchmal bleibt er stehen und orientiert sich, indem er um sich herum tastet. Damit Nick nicht hinfällt, muss immer gut aufgeräumt sein und alles am selben Platz bleiben, sagt Nicks Mutter. »Und die Türen dürfen nie halb offen stehen. Entweder ganz zu oder ganz auf.« Um Nick die Orientierung zu erleichtern, sind die Böden der Wohnung verschieden ausgelegt: Fliesen, Teppich, Parkett. »Es klingt dann anders, wenn man darauf geht, so weiß Nick schneller, wo er gerade ist.« Nicks Tag beginnt um Viertel nach sechs, dann klettert er die Leiter seines Hochbetts hinunter. »Alleine, versteht sich!« Er zieht sich an, die Sachen haben ihm seine Eltern schon hingelegt. Nach dem Frühstück fährt einer von beiden ihn und seinen Bruder Ben zur Schule. Gerade ist Nick aufs Gymnasium gekommen, in seiner Klasse ist er das einzige blinde Kind. Er macht den Unterricht genauso mit wie seine nicht blinden Mit-

schüler. Zum Lesen benutzt er eine sogenannte Braillezeile. Das ist ein Gerät, das an den Computer angeschlossen wird. Mithilfe einer speziellen Software wird der Bildschirmtext in Blindenschrift übersetzt. Die Blindenschrift ist ein System aus tastbaren Punkten, die aus dem Material herausragen und deshalb mit den Fingern lesbar sind. Mit der Braillezeile können Blinde sogar schreiben. Sie ist sehr wichtig für Nick, denn damit kann er alleine am Computer arbeiten. Ungefähr einmal pro Woche bekommt Nick Hilfe von einer Ambulanzlehrerin. Sie tippt vor allem Unterrichtsmaterialien für ihn ab, wenn es die Texte noch nicht digital gibt. Den Rest bekommt er von den Lehrern – als Dateien auf einem USBStick. »Eigentlich läuft der Schultag für mich so wie für alle anderen Kinder auch«, sagt Nick. Außer beim Sportunterricht. Den bekommt er nicht zusammen mit seinen Mitschülern, sondern mit anderen sehbehinderten Kindern aus anderen Klassen und einer anderen Schule. »Sport ist sowieso nicht so mein Ding«, erklärt Nick. Aber im vergangenen Winter hat er sich bei der Klassenfahrt ins Allgäu sogar einmal auf die Skier gestellt und ist den Abhang hinuntergerutscht. »Irgendwie ging das«, sagt er. Und ist schon ein bisschen stolz auf sich. Wenn Nick nachmittags nach Hause kommt, macht er seine Hausaufgaben und kann sich dann seiner großen Leidenschaft widmen: Hörspiele und Podcasts zu produzieren. Er kann Texte einsprechen, Tondateien schneiden und die fertigen Podcasts im Internet hochladen. Sein Vater hat es ihm beigebracht, auch Workshops hat Nick schon belegt. Er würde das später gerne beruflich machen. Blinde Menschen haben oft ein sehr feines Gehör. Überhaupt nehmen sie mit ihren verbleibenden Sinnen sehr viel wahr: Sie tasten, schmecken oder riechen

besser als Sehende. Denn das ist ihre Möglichkeit, ihre Umwelt zu verstehen und sich zu orientieren. Draußen kann Nick nicht alleine herumlaufen, noch nicht. »Dafür brauche ich den Stock-Führerschein«, sagt Nick. Damit meint er ein Training, bei dem Blinde lernen, den Blindenstock richtig zu nutzen. Noch ist Nick mit dieser Ausbildung nicht fertig, aber gelegentlich nimmt der den weißen Langstock schon auf Familienausflüge mit: An einem Sonntag fährt er mit seiner Mutter und seinem Bruder zum Berliner Technikmuseum und läuft mithilfe des Stockes allein den Bürgersteig hinab. Während andere Kinder ins Museum gehen, um sich etwas anzusehen, besucht Nick das Museum, um Dinge zu erfühlen. Er wird an einer Führung teilnehmen, die speziell für blinde Kinder gedacht ist: Die Objekte werden ertastet, auch ihre Akustik spielt eine wichtige Rolle. Und so finden Nick und auch die nicht blinden Geschwister Dinge heraus, die andere Besucher vielleicht übersehen. »Fühl mal den Propeller. Ganz vorsichtig an der Kante entlangtasten!«, sagt der Museumsmitarbeiter Sören Marotz. Er nimmt Nicks Hand und führt sie zu dem rostigen Propeller eines alten Flugzeugs. Nick tastet konzentriert und fragt: »Warum ist der so verbeult und rissig? Das Flugzeug ist bestimmt abgestürzt.« Stimmt genau, erklärt Sören Marotz: »Der Propeller stammt von einem russischen Kriegsflugzeug, das im Zweiten Weltkrieg über Deutschland abgeschossen wurde.« Weiter geht es durch das technische Museum. Nick ist ganz aufgekratzt, tastet viel, klettert über Schiffsschrauben, ruft in hohle Turbinen hinein und erfreut sich am Klang seiner Stimme. Nach der Führung will Nicks Bruder Ben endlich los, denn die Familie hat noch andere Pläne für den Tag: eine Fahrradtour. Nick sitzt dann hinten bei seinem Vater auf dem Tandem. »Ich muss auch mitstrampeln«, sagt Nick. Das begeistert ihn zwar nicht besonders – aber vielleicht kann er nachher einen Podcast darüber machen.

UMS ECKCHEN GEDACHT U M S E C K C H E N G E D A C H T

Findest Du die Antworten und – in den getönten Feldern – das Lösungswort der Woche? 1. Lang ist’s her, dass welche in Bussen mitfuhren, zum Kassieren 2. Wann fährt – außer in einigen Großstädten – kein Bus mehr? 3. Der Vorsitzende im Leutetransporter 4. Wer sein Fahrgeld bezahlt hat, wird vor dem keine Angst haben 5. Mit einem MARKENTOAST können wir im Bus nichts anfangen, mit ihr andererseits schon – viele Tage lang 6. Ranzen-und-Ranzenschlepper-Beförderer 7. Den muss lesen, wer passend zum Einsteigen und Abreisen da sein will 8. Eine Halle mit Zusatzfüllung: hat nur ein Schild und vielleicht ein Wartehäuschen 9. Damit man weiß, welche ... er fährt, hat jeder Bus eine Nummer 10. Ohne Verspätung und ohne Verfrühung fährt der Bus wie?

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Schick es bis Dienstag, den 27. September, auf einer Postkarte an DIE ZEIT, KinderZEIT, 20079 Hamburg, und mit etwas Losglück kannst Du mit der richtigen Lösung einen Preis gewinnen, ein tolles Bücher-Überraschungspaket.

Lösung aus der Nr. 35: 1. Saloons, 2. Lasso, 3. Kriegsbeil, 4. Herde, 5. Sporen, 6. Sheriff, 7. Western, 8. Mustang, 9. Rodeo, 10. Goldgraeber. – LAGERFEUER

GLAUBEN & ZWEIFELN

FEUILLETON

Papstbesuch: Deutsche Machtkämpfe, großes Theater und ein paar offene Fragen S. 70–72

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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Fotos: (Ausschnitt) Mohamed Abd El-Ghany/Reuters (l.); [M] Public Address

KO M M U N I K AT I O N

Bereits im Mai protestierten die Ägypter nicht nur für die Demokratie. Sondern auch gegen Israel

Erwachen im Herbst Über die dunkle Seite der arabischen Freiheitsbewegungen

H

atte Mubarak doch recht mit seiner Warnung vor dem Chaos nach ihm? Oder ist der Westen mit den Tyrannen einen Teufelspakt eingegangen? Wir kriegen Ruhe, Öl und Berechenbarkeit; im Gegenzug kriegen die Diktatoren unsere Rüstungsgüter, garniert mit beflissenem Schweigen – sogar jene Reverenz, die sich in der pompösen Gastfreundschaft für Gadhafi in Rom und Paris niederschlug. Ja, es war ein Teufelspakt; die Rechnungen werden seit Jahresbeginn von der »Arabellion« in Tunis und Tripolis, in Kairo und Damaskus präsentiert – wie schon vor dreißig Jahren in Teheran, als unser guter Freund, der Schah, von den Chomeinisten vertrieben wurde. Doch diese Revolution ließ schon ahnen, dass auf Despotismus nicht unbedingt Demokratie folgt. Stattdessen ergriff die Macht eine klerikale Gewaltherrschaft, die das Volk effizienter unterdrückt, als es Reza Pahlevi je konnte. Noch schlimmer: Iran, einst ein strategischer Pfeiler des Westens, ist zur größten Bedrohung der Stabilität in Mittelost herangewachsen – Nettogewinn negativ. Wer im Westen hat nicht mit den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz gebangt, wer nicht applaudiert, als Mubarak fiel? Stefan Zweig hätte in diesen heroischen Wochen seinen Sternstunden der Menschheit ein 15. Kapitel hinzugefügt: Die arabische Morgenröte. Doch die verdunkelt sich, wie der Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo zeigt. Ein hässliches Paradox. Begonnen hatte es mit einer Routine-Demonstration gegen das Militär auf dem Tahrir-Platz; dann zog eine mit Brecheisen bewaffnete Meute los, um die Botschaftsmauer niederzureißen; die Sicherheitskräfte ließen sie stundenlang gewähren. Der Mob habe »Dampf ablassen« wollen, hieß es, doch das Muster ist vertraut: Wer sich gegen den Stärkeren – das Militärregime – nicht traut, schlägt auf den Schwächeren ein. Kommentar des Bloggers Wael Ghonim, eines Taktgebers der Revolution: »Was wir heute sehen, ist das Gegenteil von meinem Traum.« Welche Theorie steht denn hinter dem Traum? Wir können sie nachlesen bei Kant und Tocqueville, bei den Liberalen des 18. und 19. Jahrhunderts. Ganz knapp verhieß sie: »Demokratien sind friedfertig.«

Weil, so Kant, das gemeine Volk nie einem Krieg zustimmen würde, dessen Blutzoll es selber, nicht König oder Fürst, entrichten müsste. Weil, so Tocqueville, die »kriegerischen Leidenschaften« schrumpfen, wenn die »Gleichheit der Lebensbedingungen« wächst. Beide: Mitsprache schafft Frieden. Tatsächlich haben Demokratien nie Krieg gegeneinander geführt, es sei denn, man bezeichnet England und Amerika anno 1814 als Demokratien; damals haben die britischen Invasoren Washington niedergebrannt. Krieg haben die Demokratien nur gegen Autoritäre und Totalitäre ausgefochten. Das ist geradezu ein historisches Gesetz, welches allerdings nicht ausschließt, dass Demokratien im Namen der Demokratie in den Krieg gezogen sind: Amerika unter Wilson 1917 und Bush 2003, der Westen als solcher in Libyen 2011.

Wahlen bedeuten noch lange keine liberale Demokratie Hinter diesem Gesetz lauert aber noch ein anderes: Am gefährlichsten werden Regime im Übergang zwischen Despotie und Demokratie. Denken wir an Deutschland: demokratisch 1918, totalitär 1933, Weltkrieg ab 1939. Oder an Russland: erst Kerenski, dann Lenin, dann Krieg gegen Polen, dann Stalins Verschwörung mit Hitler gegen den Westen. Oder an die befreiten Völker Osteuropas nach 1918. Kaum als Demokratien wiedergeboren, zettelten sie Grenzkonflikte an, begannen sie ihre Minderheiten zu verfolgen; bald setzten sich im Inneren die Marschälle und Faschisten durch. Dito in Italien. Keiner von ihnen hatte Kants Ewigen Frieden im Sinn. Warum das so ist? Was durch die Diktatoren mit Gewalt zusammengehalten wird, zerfällt im Übergang im Klassen-, Rassen- und Regionalkonflikt. Was dann kommt, hat Shakespeare in Heinrich IV. beschrieben, der seinem Nachfolger rät: »Beschäft’ge stets die schwindlichten Gemüter / Mit fremdem Zwist ...« Diese Logik darf man auch dem ägyptischen Militärregime unterstellen, das den Mob stundenlang gegen die israelische Botschaft toben ließ, bevor es eingriff. Das Erdoğan-Regime ist nicht durch die Revolution an die Macht gekommen, sondern durch Wah-

VON JOSEF JOFFE

len und dann durch Wahlen glänzend bestätigt worden. Aber Wahlen sind noch keine liberale Demokratie – siehe auch den Hamas-Sieg in Gaza, dem die Dezimierung der Fatah-Konkurrenz folgte. In dem Maße, wie Erdoğan und seine Islamisten ihre Vorherrschaft gefestigt haben – ganz demokratisch –, ist das Land weder liberaler noch friedfertiger geworden. Die Medien werden immer schärfer gezügelt, die mächtigste Bastion der Opposition, das Militär, ist geschleift. Vergessen ist der »Drang nach Westen«, in die EU. Verblasst ist die Politik der »null Probleme«, die Außenminister Davutoğlu verkündet hatte; stattdessen gilt der Rundum-Expansionismus. Die Türkei bombardiert kurdische Ziele im Nordirak; die Zeitung Zaman berichtet von »Front-Garnisonen« jenseits der irakischen Grenze. Ankara legt sich mit Bulgarien und Zypern an und natürlich mit Israel, dem einstigen strategischen Partner. An Erdoğan zeigt sich eine weitere Gesetzlichkeit: Wer mit einer Heilslehre die Macht gewinnt, will mehr davon – nach innen wie nach außen. Dazu bietet der »andere« – die Kurden, die Medien und das Militär daheim, die Israelis vor den Toren – eine unwiderstehliche Versuchung. Die sunnitischen Regime wackeln ringsum, Amerika zieht sich zurück, das Machtvakuum winkt. Um die arabische Welt unter der türkischen Flagge zu einen, gibt es kein besseres Mobilisierungsinstrument als den Hass auf Israel, den Fremden in ihrer Mitte. Erdoğans Säbelrasseln im östlichen Mittelmeer wirkt wie eine bizarre Zeitreise ins späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, da Wilhelm II. mit der Bagdad-Bahn, mit dem »Panthersprung nach Agadir« und der Einmischung in den Buren-Krieg die europäischen Mächte provozierte. Dass die UN die israelische Blockade des Gaza-Streifens für legal erklärt haben, ist Erdoğan egal. Er will sie notfalls mit seiner Flotte durchbrechen. Man muss hoffen, dass sein Mut nicht so groß ist wie sein Mund. Denn die israelische Luftwaffe – größer als die deutsche oder französische – würde die Seeschlacht vor der eigenen Küste in ein paar Stunden gewinnen. Das Pogrom von Kairo am vergangenen Freitag lässt ahnen, dass auch dem dortigen Militärregime die probate Ablenkungstaktik nicht fremd ist, obwohl

es keinerlei Interesse daran hat, den Frieden mit Jerusalem aufzukündigen oder gar auf die Milliarden aus Amerika zu verzichten. Aber diese Armee hat kein politisches Projekt, es sei denn, den Schutz ihrer renditeträchtigen Monopole in der ägyptischen Wirtschaft. Sie taktiert von Tag zu Tag und verschiebt die Wahlen. Was Wunder, dass die einzige organisierte Kraft, die Muslimbruderschaft, in das Vakuum eindringt. Ursprünglich wollte sich die Bruderschaft nur um 33 Prozent der Parlamentssitze bewerben; jetzt sind es 49 Prozent. Setzen sich die Islamisten durch, könnte es dem Militär so ergehen wie einst dem iranischen und jetzt dem türkischen: kastriert und kaserniert.

Es dauert bis zur Ankunft im gelobten Land von Kant und Tocqueville Hat also Mubarak recht mit seiner Warnung vor Chaos und Krieg? Die Anzeichen mehren sich, obwohl Jerusalem und Kairo sich inzwischen bemühen, den Schaden zu begrenzen. Im weiteren Sinne aber trägt Mubarak die Schuld. Denn auch er ist einen Teufelspakt eingegangen. Sein Regime hat systematisch den Amerika- sowie den Israelund Judenhass geschürt, der das Volk von seinem Unglück – Armut, Chancenlosigkeit, Unterdrückung – ablenken sollte. Gleiches gilt übrigens auch für Israels Quasi-Verbündete in Amman und Riad: Je ruhiger das Verhältnis zwischen den Staaten, desto wütender der Antisemitismus, den die arabische Welt übrigens zu hundert Prozent von Europa übernommen hat, Ritualmord inklusive. Spätestens seit Mai brennen israelische Flaggen auf dem Tahrir-Platz. Die Moral? Demokratie ist gut, der Weg dorthin ist mit Minen gepflastert – siehe den Irak heute, siehe Europa nach 1789. Zweitens: Demokratien sind besser als Despotien, doch der Übergang ist der gefährlichste Moment im Leben eines Volkes. Drittens: Es dauert bis zur Ankunft im Gelobten Land von Kant und Tocqueville. Nehmen wir Schweden. Im 17. Jahrhundert war es die Geißel Europas. Erst im zwanzigsten wurde das Land zum »Volksheim«, das wir als Inbegriff der Friedfertigkeit und Gerechtigkeit bewundern.

Meinungsfreiheit Miriam Meckel schreibt über das Netz und Günther Jauch

Diese Woche also erscheint das neue Buch Next von Miriam Meckel, in dem sie sich mit dem Internet auseinandersetzt. Miriam Meckel ist Direktorin am Institut für Medienund Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen. Die renommierte Wissenschaftlerin ist einerseits berühmt geworden durch ein Buch, das von ihrem Burnout handelt, andererseits auch durch ihre Beziehung mit der Moderatorin Anne Will. Next ist dem bereits von Frank Schirrmacher in dessen Buch Payback dargestellten Determinismus im Netz auf der Spur; dem Umstand also, dass wir unser Handeln zunehmend nach der Software ausrichten, die uns umgibt. Die Algorithmen geben vor, welche Entscheidungen wir fällen, etwa in unserem Konsumverhalten. Wir handeln nach »einem Skript, einem Programm oder Drehbuch«. Im Netz wird demnach die Willensfreiheit verhandelt. Auch Miriam Meckel sieht den Zufall und das menschliche Ermessen gefährdet und fragt, welchen Preis wir eigentlich dafür zahlen, dass wir unsere Handlungsoptionen an den Computer outsourcen. Wurde die Antwort auf diese Frage womöglich bereits vergangenen Dienstag geliefert? Da titelte die Bild-Zeitung: Anne Wills Freundin stichelt gegen Jauch. Was war geschehen? Die Redakteure hatten die Twitter-Beiträge Miriam Meckels gelesen, die sie zur neuen Talksendung von Günther Jauch am Sonntag verfasst hatte. Der hatte, wie jeder weiß, ihre Freundin Anne Will von ihrem tollen Sendeplatz verdrängt. Miriam Meckel war im Netz und postete: »da freuen wir uns doch ab sofort darüber, dass es stern tv jetzt auch in der ARD gibt«. Und: »jetzt bin ich doch unsicher, ob man #jauch zum bundespräsidenten wählen sollte«. (Das bezieht sich auf eine Umfrage, nach der sich viele Deutsche Jauch als Bundespräsidenten vorstellen können.) Und: »Ich bin nicht die Pressesprecherin von #Anne Will. Ich habe eine eigene Meinung, die ich zum Ausdruck bringe.« Womit der freie Wille im Netz nun doch lebhaft behauptet, ja eingeklagt wurde. Gerade so, als sei das Internet eben doch nicht die Stätte völliger Ergebung, sondern vor allem ein Verstärker unserer ewigen Plauder- und Lästerlust. Dass Kommunikation indes nicht gefahrlos ist, hatte hinreißend Niklas Luhmann auf eine Asymmetrie von Schweigen und Reden zurückgeführt: »Wer schweigt, kann immer noch reden. Wer dagegen geredet hat, kann darüber nicht mehr schweigen.« Das gilt für den mittelalterlichen Marktplatz wie für Twitter. Weshalb in Kommunikationsratgebern seit je Zurückhaltung im Reden anempfohlen wird. Vorzugsweise bei Erregungen. ADAM SOBOCZYNSKI

FEUILLETON

DIE ZEIT No 38

NEU AM KIOSK

Mom ist nicht Mama Hiermit wären wir einen Schritt weiter. Der Flair der sechziger Jahre, all you need is love, leuchtet jetzt von einem neuen Zeitschriftencover, eine strahlende junge Frau unterm Hut in Schwarz-Weiß, und die riskante Lebensfreude der Roaring Sixties wirkt nicht mehr sittenwidrig, sondern ausgeruht klassisch. Mom ist da. Das wäre geschafft: Muttersein ist zumindest illustriertenmäßig vom Perfektionszwang befreit, Mom ist nicht Mama, beim Preisrätsel winkt mal wirklich ein Preis, nämlich eine Haushälterin für ein Jahr, und es wird kein Ratschlag erteilt, wie man pflichtschuldigst die Beckenmuskeln entspannt. Stattdessen ist klar: Mutterschaft bringt einen um, außer man liebt ins Unreine und affektiv eher barock, im offenen Wettkampf von Wonne und Wut. Die Frauenzeitschrift Brigitte bringt also Mom auf den Ist das jetzt Markt, »Das Magazin mit stardie zeitgemäße ken Nerven«, und es hat begrifFrau? fen, dass seine Zielgruppe multiidentitär, erschöpft, voller Sehnsucht nach Freiheit und doch verloren im Meer der Möglichkeiten ist. Und glücklich, einigermaßen. Alles zugleich natürlich, die Rubriken heißen daher »schön sein«, »schlau werden«, »haben wollen«, »anders machen«. Väter gibt’s auch, nette sogar, aber wer mehr Zeit fürs Lesen hat, liegt auf der Hand: Mom. Das Kleid, das hier unter »Jobmode« empfohlen wird, kostet »ca. 1475 Euro«, damit ist der Schlamassel umschrieben: Es geht nur, wenn man ins Unreine lebt, mit diesem Kleid wird es wahrscheinlich nichts, und besser, man tut erst gar nicht ideal. Weswegen doch noch das wenig magazinhafte Wort von der Politik fallen muss, das sich in Mom rar macht, denn gleichzeitig steht ja in der Tageszeitung zu lesen, im politischen Teil, dass

von ZEIT-Autoren können Sie auch hören, donnerstags 7.20 Uhr.

Eltern zufriedener seien, wenn der Mann arbeite und die Frau nicht, auch wenn sie die alten Rollenmuster gern endlich los wären. Aber weniger anstrengend ist es schon, wenn man so weitermachen kann, wie es immer war. Wenn man sich’s leisten kann. Und wenn man mal ein paar Jahre nicht ans statistisch gut mögliche Alleinerziehen ohne Job denkt. 3,80 Euro pro Heft, im Taschenformat nur 2,80 Euro. Sobald es Männer massenhaft läsen, am Spielplatzrand, wären wir noch einen Schritt weiter. Aber vielleicht lesen die doch lieber die Tageszeitung. ELISABETH VON THADDEN

Das Logo von »Art Leaks«: Hier klagen Künstler ihre Arbeitsbedingungen an

NETZPROTEST VON ART LEAKS

Wo bitte bleibt mein Honorar? Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – würden Rezipienten so mit der Kunst umgehen, gäbe es wohl bald keine Kunst mehr. Denn Kunst lebt von Wahrnehmung und Dialog, und selbstverständlich gilt als Kriterium für gute Kunst, dass sie Kritik an der Gegenwartsgesellschaft übt. Wenn allerdings Künstler und Kuratoren das Kunstsystem kritisieren, gibt es Ärger. Die neue Internetplattform Art Leaks sammelt Informationen über Zensur, Ungleichbehandlung und nicht gezahlte Honorare. Gegründet wurde Art Leaks von Corina Apostol, Kuratorin und Doktorandin der Kunstgeschichte an der Rutgers-Universität in New Jersey, Dmitry Vilensky und David Riff vom Künstlerkollektiv Chto Delat? in Russland, Jean-Baptiste Naudy vom französischen Künstlerkollektiv Société Réaliste und anderen. »Wir wollen, dass die Rechte der Kulturschaffenden ernst genommen werden«, sagt Apostol, »sie sollen bezahlt werden und ohne Zensur arbeiten dürfen.« Als Beispiele haben die Gründer drei Fälle aus Osteuropa online gestellt. So habe etwa das Management des Pavillons der UniCredit Bank in Bukarest mehrfach »repressive Manöver« gegen Künstler, Arbeiter und Besucher der Kunstausstellungen angewandt. Laut Art Leaks wurden im März 2011 die rumänischen Künstlerkollektive Postspectacle und The Bureau of Melodramatic Research erst eingeladen, an der Ausstellung Just do it. Biopolitical Branding teilzunehmen. Als sie ein Produktionsbudget von 1000 Euro forderten und ankündigten, eine Überraschungs-Performance bei der Eröffnung zu zeigen, wurden sie wieder ausgeladen.

Schon jetzt, kurz nach dem Start, hat Art Leaks weitere Informationen über die Verletzung von Rechten bekommen, zum Beispiel von einem deutschen Künstler, dem 2009 ein New-YorkStipendium entzogen wurde, als er sich künstlerisch mit Guantánamo auseinandersetzen wollte. Ein slowenischer Künstler schrieb, das Museum moderner Kunst in Wien habe ihm mitgeteilt, er solle sich geehrt fühlen, dort ausstellen zu dürfen – ein Honorar zusätzlich zur Ehre brauche er nicht zu erwarten. Anders als es bei WikiLeaks der Fall ist, sollen die Art Leaks-Whistleblower nicht unbedingt anonym bleiben: »Die Kunstszene ist so klein, dass man sie sowieso finden würde«, sagt Apostol. Als Kunstaktion will sie Art Leaks nicht verstanden wissen: »Es ist uns ernst!« EVELYN RUNGE

FERNSEHEN

Kommissar Niedlich ermittelt Der bezaubernde Til Schweiger, einer der niedlichsten Männer der jüngeren deutschen Filmgeschichte, soll demnächst als Kommissar im Tatort auftreten. Kann das gut gehen? Oder schärfer noch gefragt: Kann in der Meisterkrimiklasse des deutschen Fernsehens, die bisher von verwitterten Haudegen und souveränen Brummbären beherrscht wurde, plötzlich ein süßer Junge mit dem schelmischen Lächeln des ewig Verschusselten glaubhafte Polizeiarbeit machen? Seine Kinorollen jedenfalls haben ihn eher als die Unschuld vom Lande profiliert, die aus einer Kette von Pleiten, Pech und Pannen am

Ende doch siegreich emportaucht, weil Unschuld unverwundbar macht. Dies allerdings ist ein Motiv, das auch aus der älteren deutschen Filmgeschichte bekannt ist. Es ist das Charakterbild Heinz Rühmanns, des Inbegriffs biederer Unschuld schlechthin, die sich mit genau jenem Gran Frechheit behauptet, das den Bezirk des Liebenswerten niemals verlässt. Genau in jenem Bezirk hat Til Schweiger, zu Verblüffung aller, die ihn für moderner hielten, seine selbst produzierten Filme, die Keinohrhasen und was ihnen folgte, angesiedelt. Die Frage, seine Tatort-Tauglichkeit betreffend, lautet daher, ein zweites Mal umformuliert: Können wir uns einen Heinz Rühmann, für das 21. Jahrhundert verjüngt, dort als Kommissar vorstellen? Und die Antwort kann nur lauten: Ja! Nichts können wir uns besser vorstellen, nichts können sich Deutsche sehnlicher wünschen, als dass noch einmal Naivität, gegen alles Zeugnis einer zynischen Realität, stellvetretend siegt. HEINZ PUTEL

NACHRUF AUF DANIEL KEEL

Bücher müssen unterhalten Sein Erfolgsrezept war ein ganz einfaches: Für Daniel Keel gab es nie E- und U-Literatur. Eine seiner berühmtesten Formeln lautete: »Diogenes-Bücher sind weniger langweilig.« Er konnte göttlich spotten über Schriftsteller, die ihn bloß anstrengten, nicht unterhielten. Unterhaltung war für ihn aber sehr vieles, nicht nur Patrick Süskind, Bernhard Schlink oder Martin Suter, die er zu gigantischen Welterfolgen führte, auch ein Alfred Andersch oder ein Friedrich Dürrenmatt. Dass Dürrenmatt sein spätes Hauptwerk, Stoffe, schrieb, war vor allem das Verdienst von Keel. Den Diogenes Verlag hat Daniel Keel in den fünfziger Jahren zusammen mit seinem Kompagnon Rudolf C. Bettschart aufgebaut: Die Liste der Titel reicht von Woody Allen über Balzac bis zu Wondratschek oder Leon de Winter. Be- Diogenessonders lagen dem Self- Verleger made-Verleger Keel Auto- Daniel Keel ren am Herzen, über die der seriöse Literaturbetrieb die Nase rümpfte, weil sie zu viel Humor hatten: Dass Loriot und Keel früh zusammenfanden, ist gewiss kein Zufall. Daniel Keel starb am Dienstag in Zürich kurz vor seinem 81. Geburtstag. JULIAN SCHÜTT



WAS MACHE ICH HIER ?

Stereoskopie eines Blumengrußes – Aufnahme vom 5. April 1938

N O S TA L G I E

Endlich kommt Hitler in 3-D Ralf Georg Reuth, Journalist und Biograf von Hitler, Goebbels und Rommel, hat einen Band mit dem elektrisierenden Titel Das Gesicht der Diktatur. Das Dritte Reich in 3D-Photos herausgegeben (Piper/Pendo, München 2011; 208 S., 14,99 €). Man muss nur die beigelegte Brille aufsetzen, und schon reckt der Führer seine Grußhand in nie zuvor gesehener Räumlichkeit über die aufmarschierten Massen. Zu den idées reçues der Vergangenheitsbewältigung gehört bekanntlich der Satz, dass es unmöglich sei, vom Hitler-Reich ein Bild zu gewinnen, das seine Verführungskraft verständlich macht. Aber vielleicht hat das 3-DBild gefehlt? Der Historiker Michael Wolffsohn wagt den Gedanken in seiner Einleitung nicht auszuformulieren, verspricht sich aber von der »Selbstdarstellung des NS-Staates« folgenden Erkenntnisgewinn: »Sie war klug, ja raffiniert und alles andere als plump. Wir sehen auf diesen Fotos die Selbsterhebung und Selbstästhetisierung des ›Dritten Reiches‹.« Andere indes, die Pappbrille auf der Nase, sehen eher, dass Göring noch fetter war als gedacht. Der Umstand, dass die Werkstatt Heinrich Hoffmanns, des Leibfotografen Hitlers, 6966 stereoskopische Aufnahmen angefertigt hat, von denen dieser Band die druckbarsten enthält, steigert die Lächerlichkeit der Propaganda noch durch den Aufwand einer unzulänglichen Technik. Sollte die Arbeitslampe, die sich mit denkwürdiger Plastizität über den Kartentisch in der Wolfsschanze reckt, von den rot-grünen Farbsäumen des 3-D-Drucks luziferisch geschmückt, tatsächlich einen neuen Eindruck des Erhabenen vortragen? Kaum zu glauben. JENS JESSEN

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Rettet die Kastanienallee! Till und ich trafen uns wie immer, wenn wir abends dant und eine Kunstakademiepräsidentin. Die was vorhaben, vorher im 103. Ich schimpfte kurz Moderatorin – Typ SFB-Abendschau 1987 – sagte auf die neue Speisekarte, während er einen merk- ständig »tutti paletti«, und irgendwann stand der würdigen Kartoffelauflauf aß, und als er fertig war, Modedesigner einfach auf und ging aufs Klo, und standen wir gut gelaunt auf und gingen langsam die dann standen Till und ich auch auf, um draußen zu Kastanienallee hoch. »Neulich habe ich die Schilder gucken, ob man am Büfett schon etwas bekam. Es gezählt, die hier stehen«, sagte er, als wir in die Oder- war ein warmer, freundlicher Berliner Sommerberger Straße einbogen, Richtung Kulturbrauerei. abend, die Luft stank ausnahmsweise nicht nach »Was glaubst du, wie viele es sind?« – »7000.«– »Fast. Smog, und wir sahen uns grinsend, aber auch ein 175! Seit sie angefangen haben, die Straße aufzurei- bisschen traurig an. Klaus Wowereit hatte auch einen glänzenden ßen, sind es doppelt so viele wie vorher.« Als wir in der Kulturbrauerei ankamen, war Anzug und Kastenschuhe an, und vielleicht hat Till Klaus Wowereit noch nicht da. Es war überhaupt ihn darum später unter den vielen Anzugmännern noch niemand da, bis auf ein paar Leute von der an den Stehtischchen nicht gefunden. Er selbst trug SPD. Die Männer hatten fast alle glänzende An- ein gestreiftes Barbesitzersakko und ein weißes Tzüge an und Schuhe, die wie KasShirt. Seine Glatze glänzte sexy und tenbrot aussahen, und an die Fraugefährlich. Er machte noch zwei, drei Runden, dann sagte er: »Ist en kann ich mich nicht einmal egal. Lass uns gehen.« mehr erinnern. Auf der leeren Bühne war ein rotes Plakat, auf dem Till meint es wirklich ernst mit der stand: »Reicher werden. Sexy bleiRettung der Kastanienallee. Er hat ben. Kreativ Macht Berlin.« Ich mit ein paar Leuten eine Facebookbekam einen etwas zu lauten LachGruppe gegründet, sie geben stänanfall. Till guckte mich böse an und dig Interviews und brauchen für sagte: »Hör auf. Ich habe heute Till kämpft für die Straße eine Art Volksabstimmung noch vor seiner Bar 103 ungefähr dreihundert Millionen Abend eine Mission.« Stimmen, damit nicht weiterTill, dem das 103 gehört, will nicht, dass die Kastanienallee umgebaut wird. Keine gebaut wird und die Kastanienallee noch in hundert Parkbuchten, keine Schnellfahrerspur für Fahrrad- Jahren so aussieht wie damals, in den goldenen nazis, keine neupreußische Geschmacklosigkeit. Ostberliner Neunzigern, als Till aus Göppingen Ausgedacht haben sich den Umbau die Grünen von nach Berlin gezogen war, um hier die Nacht und Pankow, und weil praktisch jeder, der an der Kas- Politik zu studieren. Ich lache manchmal über ihn, tanienallee wohnt, dagegen ist, aber trotzdem auch aber ich verstehe ihn auch. Auf dem Rückweg kamen wir wieder an der irgendwie für die Grünen, fand Till, man sollte kurz vor der Wahl dem SPD-Spitzenkandidaten davon Ecke Oderberger Straße und Kastanienallee vorerzählen. »Entschuldige«, sagte ich lachend. »Meinst bei. »Hier war früher ein alter Farbenladen«, sagte du, es klappt diesmal?« – »Bestimmt«, sagte Till. Das Till. »Dort haben wir damals Ausstellungen und letzte Mal hatte es leider nicht geklappt, obwohl er Konzerte gemacht. Und weiter unten, in der 54, sogar zu einem Abendessen mit dem Spitzenkan- haben wir eine Wohnung besetzt. Im Erdgeschoss didaten eingeladen war. Aber in der Nacht davor war eine Nazikneipe, wir nannten sie Sieg-Heilhatte er das K-TV aufgemacht, einen schmutzigen Imbiss, und einmal bin ich reingegangen, und die Club in der Chausseestraße, und die Eröffnung ging Nazis haben zu mir gesagt, ich soll abhauen, sonst so lange, dass er am nächsten Tag zu kaputt war für krieg’ ich eine aufs Maul.« – »So, wie es war«, sagte ich lachend, »wird es nie mehr sein. Oder?« – Geheimdiplomatie. Wir gingen raus, dann gingen wir wieder rein, »Manchmal vielleicht doch«, sagte er. »Die neue und jetzt war der Saal voll mit Leuten wie Wolfgang Speisekarte im Café funktioniert wirklich nicht, Thierse und diesem hübschen alten Herrn, der die du hast recht. Nächsten Monat gibt es wieder die Berlinale macht, und auf der Bühne saßen ein DJ, alte.« Dann grinste er sexy und gefährlich, und wir ein Modedesigner, eine Autorin, ein Theaterinten- gingen zurück ins 103. MAXIM BILLER

Abb.: Zampa di Leone, ArtLeaks, Drawing, 2011 (o.); Fotos (im Uhrzeiger): Bayer. Staatsbibliothek München/Fotoarchiv Hoffmann; Marc Wetli/13 Photo; [M] John/Schneider-Press; Maxim Biller für DZ

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FEUILLETON

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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Ohne Maß Wir dürfen uns vom wild gewordenen Finanzmarkt nicht in die Enge treiben lassen. Plädoyer für eine verantwortete Marktwirtschaft

Fotos: Jan De Wit/Cinetext (aus »Das grosse Fressen«, 1973 (o.); Peter Rigaud/laif

VON PAUL KIRCHHOF

Gegen »Das große Fressen« im Alltag ist nichts einzuwenden, gegen die Maßlosigkeit der Finanzjongleure schon

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er Mensch ist nicht gierig. Wir erziehen unsere Kinder zu dem Bewusstsein, dass Handeln aus Gier verwerflich ist. Der Verfassungsstaat bindet staatliches Handeln in eine Kultur des Maßes, gewährt Freiheit als definiertes Recht, das auf die Rechte anderer abgestimmt ist. Doch im wirtschaftlichen Wettbewerb scheinen andere Regeln zu gelten. Der Unternehmer handelt nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung; der Zuwachs an Gewinn und Wachstum kann nie genug sein. Diese Maßstabslosigkeit tendiert zur Maßlosigkeit. Der Konkurrent bekämpft seinen Mitbewerber, bis er ihn »schöpferisch zerstört« oder feindlich übernommen hat. Dieses System des Wettbewerbs fördert Erfindungsreichtum, Unternehmermut und kaufmännisches Geschick. Doch der Preis dieses Wettbewerbs ist: Der Schwache wird verdrängt, der Starke bevorzugt. Der Wettbewerb teilt die Bewerber in Sieger und Besiegte und rechtfertigt dieses harte Ergebnis aus der Chancengleichheit aller Beteiligten. Doch dieser Wettbewerb ist nicht grenzenlos. Auch im Wirtschaftsleben gelten definierte Freiheiten, die eine beliebige Herrschaft über andere Menschen – Willkür – ausschließen.

Kaum jemand kann sich dem Sog des Geldes und der Wirtschaft entziehen Das System des freien Erwerbs setzt voraus, dass der Freiheitsberechtigte auf eigene Chance und eigenes Risiko handelt. Die Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung war im 18. Jahrhundert insbesondere in England verboten, weil Firmeneigentum (Risiko) und Firmenleitung (Chance) nicht in einer Hand vereint waren. Wer das Geld fremder Leute bewirtschafte, neige zu Nachlässigkeit und Verschwendung, verspreche Anlegern märchenhafte Gewinne. Konkreter Anlass, Kapitalgesellschaften zu verbieten, waren deren Geschäfte mit den Südseekolonien, die zu einer Spekulationsblase führten, die platzte und vielen Menschen Unglück brachte. Selbstverständlich können heute Finanzierungsaufgaben, etwa der Bau einer Eisenbahn, nur durch große Kapitalgesellschaften erfüllt werden. Doch diese Großunternehmen müssen Ertragschance und Kapitalmacht, Rendite und Haftung in einer Hand vereinen. Wird der Kapitalgeber vom Ankeraktionär, der seinem Unternehmen in Gewinn und Verlust jahrzehntelang verbunden ist, zum flüchtigen Anleger, der ständig seine Beteiligung wechselt, so sucht er hohe Rendite, ohne den Einsatz seines Kapitals zu verantworten. Legt ein Anleger sein Geld in Fonds an, erzielt er Einkommen, ohne auch nur zu wissen oder verantworten zu können, wie seine Kapitalmacht genutzt wird, ob er durch Anbau von Weizen oder Produktion von Waffen sein Geld verdient. Und im Kreditgeschäft geht Verantwortlichkeit verloren, wenn der Bankier einen Kredit nicht ausschließlich der Person gibt, für deren Bonität er einstehen kann, sondern einem beliebigen Kunden ein Darlehen für 6 Prozent Zins gewährt, diese Forderung am selben Tag für 9 Prozent an eine Zweckgesellschaft verkauft, diese die Forderung mit anderen zu einem Paket schnürt und an Anleger verkauft, sodass die Beteiligten ihren Gewinn machen, ohne dass der Kre-

ditschuldner Kreditsumme und Zinsen zurück- fluss zu gewinnen. Kaum jemand kann sich der zahlt. Macht des Geldes, dem Sog der Wirtschaft entziehen. Das im vertraglichen Einvernehmen angelegte Bei der Debatte über das Grundgesetz war deshalb Maß ist umso mehr geschwächt, je weniger die die Frage der »Wirtschaftsverfassung« ein Kernthema. Vertragsparteien Waren und Arbeitsleistungen ge- Im Kampf um die unterschiedlichen Freiheitsvorstelgen Geld tauschen und eigenen Bedarf befriedi- lungen – eines wirtschaftspolitischen Laissez-faire gen, je mehr sie auf eine ungewisse Zukunft wet- oder einer Sozialisierung – verständigte man sich zuten. Auf dem Finanzmarkt wird nicht ein Gut zur nächst auf eine wirtschaftspolitische »Neutralität« der Befriedigung eigenen Bedarfs erworben, sondern neuen Verfassung. Doch die Grundentscheidungen Geld vermehrt. Marktbeteiligte tauschen Geld ge- für Eigentümerfreiheit und Berufsfreiheit waren gen Geld. Der Spekulant kauft Erwartungen, die gefallen. Ein Kartellrecht suchte zunächst, Unternehweder im Gegenstand noch in der Fantasie des men mit marktbeherrschender Stellung zu verbieten, Spekulierenden begrenzt sind. Diese auf Spiel und erreichte dann durch Regeln gegen den Missbrauch Wette angelegten Geschäfte sind tendenziell maß- dieser Stellung einen Teilerfolg. los. Der Finanzmarkt vermehrt sein Gut, das Geld, So suchte der Staat mit dem Instrumentarium nahezu beliebig, findet weltweit Kunden, die die des Rechts, wirtschaftliche Macht zu mäßigen, zu Erwartungen, Chancen, Hoffnungen kaufen und lockern, auf Verbraucherinteressen abzustimmen. kühner und leichtsinniger werden. Doch die sechziger Jahre brachten eine grundlegenDie Grundidee von Markt und Wettbewerb ist de Änderung: Der Staat soll jetzt mit seinem Hauseine andere. Freiheitsrechte erwarten die verant- halt die Wirtschaft global steuern, wird auf das wortliche Wahrnehmung von Freiheit, verbinden »magische Viereck« (Geldwertstabilität, hoher BeChance mit Risiko, Handlungsbefugnis mit Haf- schäftigungsstand, ausgeglichene Außenhandelsbitung, Freiheit mit Anstand. Das Vertragsrecht wird lanz, stetiges Wirtschaftswachstum) verpflichtet. von Tatbeständen wie »Treu und Glauben«, »Ver- Nun gehört schon grundsätzlich die Magie nicht in kehrssitte«, den Prinzipien des ehrbaren Kauf- das Recht. Verhängnisvoll aber war, dass die staatlimanns, der ordnungsgemäßen Buchführung, der che Stabilitätspolitik zwar ursprünglich auf eine Erklärung »nach bestem Wissen und Gewissen« Globalsteuerung angelegt ist; Subventionen und bestimmt. Markt und Wettbewerb bauen auf das Steuervergünstigungen sollten ausdrücklich abgeVerantwortungseigentum. baut werden. Tatsächlich jedoch wurde die ErwarSchon im Aufbruch zur Wirtschaftsfreiheit war tung begründet, der Staat möge dem Bürger und bewusst, dass freies Wirtschaften Teilen meint. insbesondere dem Unternehmer nicht nur gutes Adam Smith lehrte für die damals (1759) bestim- Recht, sondern auch gutes Geld geben. Der Staat mende Agrarwirtschaft, dass die »unsichtbare Hand« wird bei jeder Schwierigkeit als Problemlöser in Andie Erwerbswirtschaft mäßigt: Der Landwirt steht spruch genommen. Sind Produktionsstätten nicht vor seiner Scheune und stellt sich vor, wie er seine mehr leistungsfähig, Arbeitsplätze nicht mehr wertErnte mit Genuss verzehren wird. Doch dann wird haltig, die Gelder am Kapitalmarkt nicht mehr ausreichend, soll der Staat den ihm das begrenzte Fassungsbestehenden Zustand finanvermögen seines Magens zieren und erhalten, neue bewusst, und er sieht sich verKapitalismus – kaputt? Unternehmen und Arbeitsanlasst, seine Güter mit andeplätze durch Finanzzuweiren zu teilen. Nur der Untersungen fördern, dem Kapinehmer, der teilt, der die talmarkt Geld bereitstellen, Bedürfnisse anderer Menselbst wenn er dieses vorher schen befriedigt und daraus am Kapitalmarkt aufnehmen seinen Gewinn erzielt, hanTeil 1: Jens Jessen muss. delt vernünftig und langfrisTeil 2: Arundhati Roy Trotz dieser Überfordetig erfolgreich. Die AufkläTeil 3: Paul Kirchhof rung des Staates gelingt es rung will Verstand »und Tuden Menschen, ihre Finanzgend« unter den Menschen In den nächsten Wochen erwartungen an den Staat zu zur Entfaltung bringen. Der antworten auf unsere Frage Rechtsansprüchen zu verkategorische Imperativ forunter anderem Lisa Herzog, festigen, sodass sie das staatColin Crouch und Tim Jackson dert vom Menschen Mündigliche Geld fordern und ihre keit, die Bereitschaft und Forderungen mithilfe der Kraft zur Freiheit – allerdings Gerichte durchsetzen können. Doch diesen Annach Maßstäben, die sich verallgemeinern lassen. Ein Freiheitsrecht ermöglicht Selbstverantwor- spruchsberechtigten flüstern Verbände und Parteitung, begrenzt wirtschaftliche Macht (von Hum- en ein, der Anspruch gegen den Staat könne noch boldt), erschließt den Markt für Erkenntnisse, die höher sein. So empfangen die Menschen hohe stets nur Versuch und Irrtum sein können (von Staatsleistungen und sind dennoch unzufrieden. Hayek), fordert Haftung für eigenes Tun (Walter Eu- Dieses System entsolidarisiert. cken). Die »soziale Marktwirtschaft« entwickelt eine Hinzu tritt weltweit ein verführerischer Gedan»geistige Haltung« aus der Bereitschaft zu Eigenver- ke staatlicher Konjunktursteuerung. Der Staat möge antwortung, zu Leistung, Wettbewerb mit freier Preis- bei schwacher Inlandsnachfrage den Markt mit bildung, gebunden in einem Korridor des Rechts als staatlichem Geld beleben, das er nicht vorher steuBedingung von Wirtschaft und Demokratie. Gewinn erlich dem Markt entzogen, vielmehr durch Kredit rechtfertigt sich, weil der Unternehmer den Bedarf finanziert hat. So lässt sich sicherlich kurzfristig ein anderer befriedigt hat (Ludwig Erhard). Wirtschaftsimpuls organisieren, langfristig jedoch Die Herrschaft über Geld erlaubt es, den eigenen drückt diese Wirtschaftsbelebung die Konjunktur Bedarf zu befriedigen, andere Menschen in Dienst nieder, weil der Staat nicht die Kraft hat, nach wiezu nehmen, Konkurrenten auszuschließen, Preise und dererlangter Prosperität die Altschulden zu tilgen. damit den Markt zu bestimmen und politischen Ein- Der Bund musste allein im letzten Jahr mehr als 40

Milliarden Euro Zinsen – Folge früherer Konjunkturprogramme – an seine Kreditgeber zahlen. Nach der Gesetzmäßigkeit des Steuerstaates kann der Staat als Wohltäter nur geben, was er vorher steuerlich genommen hat. Doch eine Demokratie, die dem Bürger geben will, was der Bürger verlangt, trifft auf die Erwartung, der Staat möge mehr Geldleistungen erbringen, aber weniger Steuern fordern. Deswegen weicht der Staat in die Staatsverschuldung aus, gibt der Gegenwart mehr, als die Gegenwart zu finanzieren bereit oder in der Lage ist. In diese Entwicklung schaltet sich der Finanzmarkt ein. Er drängt als Großkreditgeber hochverschuldete Staaten, nach seinen Bedingungen Geld aufzunehmen und zu verwenden. Der eben noch als insolvenzunfähig geltende Staat ist als Bankkunde willkommen, weil er immer wieder neue Kredite nachfragt, diese niemals tilgt, jedoch ständig höhere Zinsen zahlt. Und wenn die Staateninsolvenz droht, sollen andere verschuldete Staaten dem gefährdeten Staat beispringen. Sie nehmen Geld beim Finanzmarkt auf, geben dieses Geld dem Finanzmarkt zurück, damit dessen Forderungen und Erwartungen befriedigt werden. Der Bürger versteht diese Welt nicht mehr. Die maßstabslose Gewinnmaximierung, die Überforderung der Haushalte, der Verlust der Distanz zwischen Staat und Wirtschaft, die Übermacht des Finanzmarktes auch gegenüber Staaten lassen Zweifel entstehen, ob Markt und Wettbewerb, vielleicht sogar Freiheit überzeugende Grundlagen für die Produktion und Verteilung von Gütern, für den Einsatz von Geld und Wirtschaftsmacht, für Chance und Erfolg jedes einzelnen Menschen seien. Doch angenommen, wir würden heute erstmals die beste der möglichen Wirtschaftsformen erproben, begännen wir mit einer Arbeitsteilung. Jeder produziert in seinem Beruf mehr, als er braucht, bietet deshalb seine Leistungen am Markt an. Aus dem Gütertausch wird sich bald eine Geldwirtschaft entwickeln, die Geldwirtschaft eine Kreditwirtschaft zur Folge haben – Freiheit, Arbeitsteilung, Geldwirtschaft, Konkurrenz kommen zur Blüte. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise stellt deshalb nicht Freiheit, Markt und Wettbewerb infrage, sondern eine moderne Feudalwirtschaft, die – als Markt getarnt – die Herrschaft des Geldes gegenüber produzierenden Unternehmen und Staaten auszuüben sucht, die Gewinn ohne Risiko, Chance ohne Haftung, Herrschaft ohne Legitimation beansprucht. Deswegen ist die Idee des Freiheitsrechts zu erneuern, das Vertrauen in Leistung und Haftung des anderen wieder herzustellen, das Marktgeschehen wieder verständlich zu vermitteln. Dadurch werden alle nicht legitimierten Formen wirtschaftlicher Fremdherrschaft sichtbar, mag sich der Diktator auch hinter seinem Willen zum Gemeinwohl verstecken. Der Markt muss wieder nach den Regeln der christlichen Seefahrt handeln: Der Kapitän verlässt als Letzter das Schiff. Die Folgerungen liegen auf der Hand: Die Verbriefung von Forderungen in Zweckgesellschaften sollte wieder verboten, die Vernetzung der Banken mit der Folge »systemischer« Risiken in einer neuen Weltrechtsordnung als Kartellrechtsproblem qualifiziert, die Intransparenz der »Finanzprodukte« durch Aufklärungspflichten und Haftungsverantwortlichkeiten aufgehellt werden, Ertragschance und Erwerbsgrund bei Fonds sollten rechtlich miteinander verbunden, Universalbanken in ihren Sparten je nach

Risiko rechtlich undurchlässig untergliedert werden. Vor allem aber muss bewusst werden, dass der hochverschuldete Staat auch ein Sanierungsfall ist. Sanierungen durch den Staat setzen Gegenseitigkeit voraus. Das sanierte Unternehmen gibt dem sanierenden Staat zinslose Kredite oder Forderungsnachlässe, stellt ihm unentgeltlich seine Produkte – Fahrzeuge oder Computerprogramme – zur Verfügung. Und eine Finanzmarkttransaktionssteuer schließt eine Lücke im Steuerrecht, zieht den Finanzmarkt als Störer des Wirtschaftssystems zur Rechenschaft und fordert eine Folgenverantwortlichkeit in dem Instrument, das den Finanzmarkt am meisten interessiert – seinem Geld. Markthandeln wird wieder verantwortet.

»Kapitalismus« ist ein Warnwort, das nicht zur Resignation führen sollte Diese Rückbesinnung auf Freiheit, Gediegenheit und Ehrbarkeit entlarvt auch wohlfeile Beharrungsargumente. Wer eine besondere Kompliziertheit unserer Welt behauptet und daraus eine notwendige Intransparenz, auch eine weitere Verkomplizierung des Rechts ableitet, behauptet im Grunde nur, unsere Probleme seien anspruchsvoller als die vergangenen. Doch ist unsere Hochkultur wirklich komplizierter als der Ausgangsbefund des Grundgesetzes 1949, als Deutschland den Krieg verloren hatte und die Ministerpräsidenten die Frage stellten, ob wir den nächsten Winter überleben? Ist Frieden und Freiheit komplizierter als Krieg und Diktatur? Ist die Grenzenlosigkeit in Europa und die weltweite Offenheit des Reisens, der Wissenschaft und Kunst komplizierter als einst die Schlagbäume an den Staatsgrenzen, die eine Reise von Heidelberg nach Rom bürokratisch, teuer und zeitraubend gestalteten? Führen die Unverständlichkeit, Widersprüchlichkeit und Verschleierungsstrategie des Finanzmarkt und des Steuerrechts in eine Resignation vor der modernen Welt oder zurück zu der 1835 ausgesprochenen Warnung von de Tocqueville, das Gesetz dürfe uns nicht »mit einem Netz verwickelter Vorschriften« bedecken, die das Volk so herunterbringen, »dass es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere bildet, deren Hirte die Regierung ist«? Wir dürfen uns nicht auf die unterschiedlichen Rechtsordnungen der zweihundert Staaten dieser Erde verweisen lassen, unter denen sich der Unternehmer die für ihn bequemste aussuchen möge. Europa- und Weltoffenheit ist kein Rechtstitel, um das Recht der Staaten jeweils auf niedrigstem Niveau zulasten der Verbraucher zu nivellieren. Vielmehr muss jeder Staat täglich sein Recht verbessern – das ist das Ideal der Demokratie. Schließlich lassen wir uns auch nicht von der These irritieren, der Parteien- und Verbändestaat sei so verflochten mit den Mächten von Wirtschaft und Finanzen, dass maßvolle und gleichmäßige Regeln im Recht der Wirtschaft unerreichbar würden. Kapitalismus ist ein Warnwort, nicht eine in die Resignation drängende Problembeschreibung. Der Mensch ist mit Würde begabt, zur Freiheit fähig, sozial bestimmt. Er hat die Kraft, eine verantwortete Marktwirtschaft wieder herzustellen. Paul Kirchhof war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht. Er ist Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg www.zeit.de/audio

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FEUILLETON

DIE ZEIT No 38

Fotos: Holger Talinski für DIE ZEIT

Kultur vor der Wahl Berlins Museen, Opern und Orchester: Was sind sie Senat und Bund wirklich wert? Ein Streitgespräch DIE ZEIT: Frau Grütters, Herr Schmitz, in den Bundes in Berlin immer wieder verteidigen: Meine frühen neunziger Jahren, in denen Sie beide hier in Hauptaufgabe besteht darin, den enormen Anteil Berlin begannen, Kulturpolitik zu machen, war der Bundeskulturpolitik für Berlin zu rechtfertidie Erwartung an Berlin, insbesondere an seine gen. Mehr als 40 Prozent – 420 Millionen Euro – Kultur, hoch: Welche Hoffnungen haben sich des Haushalts des BKM gehen nach Berlin – aus erfüllt, und wo ist Berlin hinter seinen Möglich- gutem Grund! Aber vom Land Berlin erwarte ich, keiten zurückgeblieben? dass die Hauptstadt sich als kultureller MittelAndré Schmitz: Wir haben nach der Wende lange punkt versteht, der allen dient. um den Bestand der Berliner Kultureinrichtungen Schmitz: Das tut die Hauptstadt. gerungen: Welche von den Institutionen in Ost Grütters: Im Gegenteil: Der Regierende Bürgerund West kann Berlin noch finanzieren? Braucht meister fällt hauptsächlich dadurch auf, dass er Berlin drei Opernhäuser? Der Super-GAU war die ständig die Hand aufhält. Kaum hatten wir den Schließung des Schiller-Theaters, dies hat jahre- Haushalt wie oben beschrieben entlastet, wollte lang als traumatisches Erlebnis der Berliner Kul- er, dass wir die Staatsoper komplett übernehmen turszene nachgewirkt. Aber ich muss sagen: Jetzt – gegen jede verfassungsrechtliche Logik. So etwas steht die Kulturlandschaft Berlins glänzend da. In geht natürlich nicht. Und trotzdem: Wir haben den letzten fünf, sechs Jahren hat es außerdem wieder geholfen, mit 200 Millionen für die Sanieeine Konsolidierung gegeben, durchaus auch mit- rung des Hauses, aber mit der Maßgabe, 100 Millionen in die Opernstiftung zu investieren, hilfe des Bundes, was ich gerne anerkenne. ZEIT: Frau Grütters, der Bund hat sich nach der weil das ja vorher nicht geschehen war. Wende in der Berliner Kulturpolitik erheblich en- Schmitz: Ich glaube, dass die Bundeshauptstadt gagiert. Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden? kulturell durchaus das erfüllt, was die Frau KolleSabine Grütters: Es gibt positive wie negative Er- gin da einfordert. Wenn ich mit Leuten aus dem fahrungen. Wir haben das Land Berlin mehrfach Auswärtigen Amt rede, dann sagen die mir: Das entlastet, zum Beispiel durch die Übernahme der beste Werbemittel für Deutschland im Ausland Akademie der Künste und der Kinemathek zum ist Berlin, gerade wegen seiner faszinierenden Bund. Dies geschah, um im Berliner Kulturhaus- Kulturszene, wegen seiner Weltoffenheit, wegen halt Spielraum zu schaffen, damit Berlin modell- der 6000 bildenden Künstler, die hier leben. hafte Kulturstrukturen entwickelt wie zum Bei- Grütters: Das habe ich nie infrage gestellt. spiel eine Opernstiftung. Das ist nicht geschehen. ZEIT: Gibt es denn, wechselseitig, noch offene Wünsche? Schmitz: Dem widerspreche ich ausdrücklich. Grütters: Diese Opernstiftung Grütters: Ich finde, dem Hauptist eine Enttäuschung. Der Stifstadtkulturvertrag, in dem datungsrat ist mittelmäßig bemals das Verhältnis zwischen ANDRÉ SCHMITZ setzt, die Zuschüsse an die Berlin und dem Bund geregelt Mitglied der SPD, kam Häuser wurden abgesenkt. wurde, fehlt noch ein Schluss1992 nach Berlin als stein: Die Berliner PhilharmoniSchmitz: Frau Reim, die IntenVerwaltungsdirektor der ker gehören als nationale Instidantin des RBB, ist Mitglied, Berliner Volksbühne. tution eigentlich in die Obhut genauso wie ein ehemaliger Von 2001 bis 2006 leitete des Bundes. Intendant der Münchner Oper, er die Senatskanzlei, Sir Peter Jonas, der Berliner Schmitz: Eben haben Sie mir seither ist er Wowereits Finanzsenator, der Regierende noch vorgeworfen, wir hielten Staatssekretär für Kultur Bürgermeister – alles mittelimmer die Hand auf. Jetzt greimäßige Gestalten? fen Sie nach einer weiteren Berliner Kultureinrichtung. Grütters: Ein solcher weltweit einmaliger Stiftungsrat müsste auch mit Weltklas- Grütters: Nein, nein, ich habe immer gesagt: Die se-Opernexperten besetzt sein. Warum ist bei- Übernahme der Staatsoper hätte strukturpolitisch spielsweise Gerard Mortier nicht dabei? ein verfassungsrechtliches Problem dargestellt, Schmitz: Mortier wollte Intendant aller drei Opern weil es 84 Opernhäuser in der Republik gibt. Wain Berlin werden; das war seine Forderung. Es war rum sollte der Bund die Staatsoper übernehmen richtig, dass wir das nicht erfüllt haben. Wir wol- und die Münchner Oper nicht? Die Berliner Philharmoniker dagegen gibt es nur ein einziges Mal. len die Vielfalt der Opern. Grütters: Ich muss das Kulturengagement des Die sind Weltklasse, ein Weltspitzenorchester.

ZEIT: Das passt doch eigentlich ganz gut zur ein-

zigen Weltstadt in Deutschland. Grütters: Möchte man meinen. Aber offenbar tut sich das Land Berlin mit dieser selbstbewussten, unabhängigen Institution im Umgang sehr schwer. Der Regierende Bürgermeister und Kultursenator hat jedenfalls in einigen Kuratoriumssitzungen durch sein respektloses Auftreten für große Irritationen gesorgt. Das ging so weit, dass er eine solche Sitzung nicht wie stets in der Philharmonie, sondern im Roten Rathaus abhalten wollte. Schmitz: Unerhört, nicht wahr: Der Regierende Bürgermeister als Kuratoriumsvorsitzender lädt in seinen Amtssitz. Ich glaube, diese Kritik spricht für sich! Mich freut jedenfalls das Interesse der Kollegin an den Berliner Philharmonikern. Ich biete heute gerne über die ZEIT an: Wenn der Drang nach Finanzierung beim Bund so groß ist, können wir aus den Philharmonikern eine Stiftung machen, die zur Hälfte vom Land und zur Hälfte von der Bundesrepublik Deutschland getragen wird. Dann wird den Sehnsüchten der Frau Kollegin nach den Philharmonikern vielleicht Rechnung getragen. ZEIT: Die Diskussion um die Vereinigung der Akademie der Künste aus Ost und West war eine der spannendsten Debatten überhaupt. Aber war das nicht der letzte Höhepunkt, der intellektuell von dieser Akademie ausgegangen ist? Grütters: Es war zumindest eine der wenigen, die in der historischen Betrachtung bleiben werden. Berlin müsste viel mehr ein Katalysator in Meinungsbildungsprozessen sein, im Politischen wie im Ästhetischen. Die Akademie hat den ausdrücklichen Auftrag, Politikberatung zu leisten, und wenn man bedenkt, welch intellektuelles Potenzial der gesamten Republik sich da konzentriert, bin ich enttäuscht, dass zum Beispiel gerade jetzt kein Beitrag zum Wertesystem Europa kommt. ZEIT: Herr Schmitz, hat nicht die Übernahme durch den Bund den Berliner Kultureinrichtungen gutgetan? Schmitz: Der Bund hat in Berlin aus historischen und politischen Gründen Mitverantwortung für die Kultur übernommen, und das war richtig. Die Kultureinrichtungen dieser Stadt haben lange gedacht, dass sie beim Bund besser aufgehoben sind – aus finanziellen Gründen. Dafür sprach auch einiges. Das hat sich in dieser Legislaturperiode erfreulich gewandelt. Die Kommune Berlin hat den Etat um fast 40 Millionen erhöht, entgegen dem Trend, den es sonst in der Bundesrepublik Deutschland gab. Ich denke nur an das

CDU-geführte Hamburg, wo man fast ein ganzes Schmitz: Deshalb ist ein zentrales Thema dieses Schauspielhaus und ein Museum schließen wollte. Wahlkampfes die Sorge, ob diese KünstlerkarawaZEIT: Klaus Wowereit hat als Regierender Bür- ne nicht weiterzieht, weil in Berlin die Mieten angermeister auch das Amt des Kultursenators ziehen, der Atelierraum nicht mehr zur Verfügung steht. Allerdings sind wir von den Hamburger übernommen. Schmitz: Die Kultur ist beim Regierenden Bürger- oder Münchner Mieten noch sehr weit entfernt. meister bestens aufgehoben. Nur weil Kultur Grütters: Dass die Künstlerkarawane weiterzieht, Chefsache war, sind wir aus den Haushaltsbera- liegt auch in der Natur der Sache – deshalb heißt tungen so erfolgreich herausgekommen. sie Karawane. Wir müssen mehr tun, um attraktiv ZEIT: Sein Interesse an den Institutionen erscheint zu bleiben, als nur stabile Mieten zu garantieren. gleichwohl nicht immer ausgeprägt. Als kürzlich ZEIT: Was kann Berlin da tun? die Berliner Festspiele ihr 60-jähriges Bestehen Schmitz: Kunst und Kultur leben von der Bewegefeiert haben, sah man weder den Regierenden gung, von der Veränderung. Aber es wird die HeBürgermeister noch ein anderes Senatsmitglied. rausforderung der nächsten Jahre werden, wie Schmitz: Es gab vom Bund, der die Festspiele ja man Orte schaffen kann, damit Kunst und Kultur finanziert, nicht einmal eine persönliche Einla- auch im innerstädtischen Bereich ihre Räume dung, weder an den Regierenden noch an mich. finden. Grundsätzlich hat Berlin viel Fläche. Das Das Klagen des Staatsministers über die fehlenden Tempelhofer Feld, das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof, ist dopRepräsentanten der Berliner pelt so groß wie die HamburPolitik verbuche ich auf das ger Speicherstadt, und meine Konto Wahlkampf. MONIKA GRÜTTERS Heimatstadt hat 30 Jahre geGrütters: Bei der Eröffnung der Stellvertretende braucht, um diesen Bereich zu spektakulären Hokusai-AusstelVorsitzende der Berliner entwickeln. lung im Martin-Gropius-Bau, CDU. 1995 bis 2005 Mitdie der Bundespräsident eröffGrütters: Dass die Frage des glied des Berliner Abnet hat, war auch niemand vom Tempelhofer Feldes immer geordnetenhauses. Seit Land Berlin zugegen. Bei der noch offen ist, wundert mich 2005 sitzt sie im BundesSaisoneröffnung der Philharschon, denn diese unbefrieditag und ist Vorsitzende moniker? Fehlanzeige! Wenn gende Situation gibt es ja schon des Kulturausschusses das bürgerliche Berlin konzenseit Jahren. triert zusammenkommt und Schmitz: Tempelhof, das darf ich nicht ein einziges Mal ein ich dann doch prognostizieren, einziges Gesicht aus dem Land Berlin sehe, gibt wird wahrscheinlich die Erfolgsgeschichte der Kulmir das schon zu denken. turpolitik überhaupt: Wir haben mit dem nächsZEIT: Hat sich in den letzten 20 Jahren tatsächlich ten Doppelhaushalt beschlossen, für 270 Millioso etwas wie eine neue Berliner Gesellschaft ent- nen Euro dort einen Neubau der Zentral- und Landesbibliothek zu bauen. wickelt – und wenn, wie? Grütters: Die Stadt gewinnt enorm von den Zu- ZEIT: Der zentrale Ort des Zusammenarbeitens gezogenen, dem internationalen intellektuellen von Bund und Land ist das Humboldt-Forum im Publikum, das sagt: »Ich möchte in Berlin leben.« rekonstruierten Hohenzollernschloss. Das tut uns sehr, sehr gut. Schmitz: Ja, das Humboldt-Forum ist eine so Schmitz: Berlin hat 3,5 Millionen Einwohner, ge- überzeugende kulturpolitische Antwort des 21. nauso viele wie vor der Wiedervereinigung. Aber Jahrhunderts. Ich bedauere es sehr, dass es dafür etwa die Hälfte davon ist neu zugezogen. Der noch keine stärkere Bürgerbewegung gibt. Dafür sollten wir uns alle gemeinsam engagieren. Stadt hat dieser Bevölkerungsaustausch gutgetan. Grütters: Spannend machen die Stadt die interna- Grütters: Mit diesem bedeutendsten Kulturprotionalen Bewohner aus den Wissenschafts- und jekt dieses Jahrhunderts definiert die Kulturnation Kulturmilieus, das sind dynamische, neugierige, den zentralen Platz der Republik neu. Wir haben oft jüngere Leute. Das macht im Moment den viel gelernt. Das Humboldt-Forum muss die VisiReiz dieser Stadt aus. Doch es wäre fatal, sich da- tenkarte eines weltoffenen Deutschlands werden. rauf auszuruhen. Wir müssen immer wieder neue Orte schaffen und die Milieus bewahren, die diese Das Gespräch führten MORITZ MÜLLER-WIRTH kreativen Leute brauchen. und IJOMA MANGOLD

FEUILLETON LITERATUR

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

GEDICHT: R. S. THOMAS (1913–2000)

Wie sie ihn liebte

Das Wort

Erstmals werden Gespräche von Jackie Kennedy über ihre Jahre an der Seite des Präsidenten veröffentlicht

E Jacqueline Kennedy: Gespräche über ein Leben mit John F. Kennedy; mit einem Vorwort von Caroline Kennedy; a. d. Engl. v. Helmut Dierlamm u. a.; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011; 479 S., 24,99 €

s sind sieben Gespräche. Man liest Abschriften von Tonbändern, die von der Tochter Caroline Kennedy redigiert wurden, so viel zum Thema Enthüllungen, man kann sich entspannen. Die Gespräche arbeiten sich chronologisch vor auf einem Gelände, das bibliotheksfüllend ausgeleuchtet ist – von der Bewerbung des irischstämmigen jungen Senators John F. Kennedy für die Vizepräsidentschaft im Jahre 1956 über seine Nominierung für die Präsidentschaft im Juli 1960. Die Inauguration in das Amt. Das SchweinebuchtDesaster. Die Berlin-Krise, die Kuba-Krise, Bürgerrechtsbewegung. Natürlich Vietnam. Zuletzt, wenige Wochen vor Kennedys Tod, der Stopp überirdischer Atomversuche. Ja, nicht nur das Heute ist reich an Spannungen, hier haben sich nun private Stichworte zwischen die Historie geschoben, »erste Ehejahre« oder »Rückenprobleme« oder »JFKs Temperament«, natürlich »JFK und die Kinder«. Jackie erzählt, wie ihr Mann seinen Stab zusammenstellte, wen sie für ein Leichtgewicht hielt. Ihr Urteil war gefürchtet. Ihre Tonlage ist spitz, auch wenn sie vorträgt, was er von Eisenhower hielt (nicht viel) oder Franklin D. Roosevelt (ein Blender), von Martin Luther King (moralisch enttäuschend) und dann Indira Gandhi (Horror!). Sie erinnert sich lachend, wie Caroline in den High Heels ihrer Mama in die Konferenzen stolperte. An die schwere Geburt von John-John, wie Mamie Eisenhower Jackie wenige Wochen nach dem Kaiserschnitt bei ihrem Antrittsbesuch im Weißen Haus erbarmungslos durch den alten Schuppen schleifte.

Dass Präsident Truman das Parkett mit seinen genagelten Golfschuhen völlig ruiniert hatte. So plaudern sie, Jackie und Arthur. Für Arthur Schlesinger Jr. waren die Gespräche wohl Recherche für eines seiner Buchprojekte, Die Politik der Hoffnung oder 1000 Tage. John F. Kennedy im Weißen Haus. Jackie war ihm Informantin – bis er scharf zurückgepfiffen wird, als er Funde aus diesen Unterhaltung in seinen Werken einbaut. Zu privat!

tie von Long Island, fließend in vier Sprachen. Und er der Spross einer katholischen Großfamilie, die sich in Touch-Football rempelnd und grölend auf- und übereinanderwarf. Er habe sie anfangs als Kuriosität betrachtet. Wie sie ihn liebte, das zeigt sie nun. Wie sie sich um ihn sorgte und er sich um sie. Seine furchtbaren Schmerzen, sie habe ihn am Anfang mehr an Krücken gesehen als ohne. Wie er sich freute, als nach Totgeburt und Fehlgeburt der

Foto (Ausschnitt): Paul Schutzer/Time Life Pictures/Getty Images

S

ie mochte es, Jacqueline genannt zu werden. Eine Frau mit dunklem Haar, die Augen so weit auseinanderstehend, wie es Nichtkatzen gerade noch erlaubt ist, ein Mund, fast so breit gezogen wie der von Penélope Cruz. Die Stimme: hauchend, wie vor ständig neuem Schreck ganz atemlos. Dieses süße Haspeln, kein Wunder, dass Jacqueline Bouvier Kennedy die Staatsmänner ihrer Zeit in Bann zog, de Gaulle sich verzaubert zu ihr niederbeugte und Chruschtschow aus Moskau einen Welpen schickte, selbst Churchill sie verehrte, die glamouröse Gattin des 35. Präsidenten von Amerika John F. Kennedy, die gerade mal drei Jahre lang in der Pennsylvania Avenue Nr. 1600 in Washington, D.C., wohnte. Im Maison Blanche, wie sie es scherzhaft nannte. Die Welt nannte sie: Jackie. Auf YouTube laufen Filmchen, in denen Männer als Jackie herumstöckeln. Jackie ist ein Hörspiel von Elfriede Jelinek ist ein Bild von Andy Warhol ist »eine der enigmatischsten Figuren des 20. Jahrhunderts«, wie die New York Times in dieser Woche schrieb. Seit Anfang dieses Jahres tickern fiebrig Vermutungen um den Globus über Gespräche, die Jacqueline Kennedy im März des Jahres 1964, nur vier Monate nach den tödlichen Schüssen von Dallas, mit Arthur Schlesinger Jr. führte, dem Harvard-Historiker, der persönlicher Referent und Redenschreiber ihres Mannes gewesen war. Ein Chronist der Ära Kennedy, ein Freund. Jahrzehntelang waren diese Bänder im Archiv, auf Jackies Wunsch verborgen, nun werden sie veröffentlicht, aus Anlass des 50. Jahrestages der Präsidentschaft Kennedys. Wird es Enthüllungen geben, Einblicke in die Seelenlage der 34-jährigen Witwe, Gespräche über ein Leben mit JFK, darunter kann man sich ja vieles vorstellen, sogar Politik. Bild meldet vorab, man werde nun von Jackies Liebhabern erfahren.

Inaugurationsball 1961. Wie stolz er auf sie war und sie auf ihn

Privat war dieses Präsidentenpaar natürlich nie. Der Reiz des politischen Doppelkörpers Jack und Jackie lag in seiner Unnahbarkeit, und das nicht nur, weil dies eine Ära war, in der niemand erwartete, bei Telefongesprächen der Prominenten mithorchen zu können. Die Bilder von ihnen zeigen Skulpturen, wie sie in vollendeter Haltung nebeneinander stehen, ein schöner Mann und seine sehr schöne Frau. »Zwillingseisberge« hat die Jackie-Biografin Sarah Bradford das Paar genannt. Sie zeigten Würde, aber kaum je eine Geste der Intimität, berichten Freunde, auch nicht, wenn keine Kamera da war. Die wenigen familiären Szenen, die uns zu Ikonen wurden – das Paar auf dem Segelboot, die Familie sonnenumspielt auf der Veranda, John-John auf dem Pferderücken vor der Mama – es waren sorgfältig geplante Scharaden von Familienglück. Als es zu Ende war, bei der Beisetzung des Präsidenten, trug Jackie einen Schleier, und als sie ihn zurückschlug, auch dann war ihr Gesicht nicht lesbar. Waren sie überhaupt ein Paar? Böse Zungen behaupten, die Ehe, geschlossen am 12. September 1953, sei in den ersten Jahren wenig mehr als ein »Handelsabkommen« gewesen, stets am Rande des Scheiterns. Sie eine »frankophile Ästhetin«, wie der Historiker Michael Beschloss Jackie in seiner Einführung zu diesem Buch nennt, eine Kostbarkeit aus der Aristokra-

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Sohn da war, wenige Tage nach dem Sieg über Nixon. Wie er am Abend vor der Amtseinführung an ihrem Bett saß und ihre Anregungen für die Antrittsrede notierte, wie er sie dann abholte zum Ball, wie stolz er auf sie war, wie froh sie war, ihn so stolz zu machen. Wie sie historische französische Bücher in Auszügen für ihn übersetze, als Vorbereitung auf den Staatsbesuch in Paris. Er vor ihrem zehnten Hochzeitstag Fundstücke aus den Antik-Shops apportierten ließ und sie aus ihnen einen ägyptischen Schlangenreif auswählte, weil sie spürte, wie sehr er wollte, dass sie diesen wählte. Wie sie sich ihm unterwarf. »Eine Frau passt sich immer an, besonders wenn sie sehr jung heiratet und sozusagen ungeformt ist, dann versucht sie wirklich, die Frau zu werden, die ihr Mann sich wünscht«, sagt sie. Kein Ton, der den jungen Feministinnen gefallen hätte. Sie erwähnt, wie sehr er sich stets nach den Kindern sehnte. Vieles wird nicht erwähnt. Unter dem Stichwort »Monroe« finden sich im Register nur James, 5. Präsident von Amerika (1758–1831). Marilyn ist in diesem Buch so abwesend, wie Jackie es war an jenem Abend, an dem sich im Madison Square Garden Tausende von Menschen versammelten, um den 45. Geburtstag von JFK zu feiern, und Marilyn auftrat in dem hautfarbenen Abendkleid, in das sie sich hatte einnähen lassen, und Happy Birth-

VON SUSANNE MAYER

day Mr. President gluckste – bevor sie hinter der Bühne zusammenbrach, ein glitzernder Bonbon, ausgespuckt von einem sexsüchtigen Mann. Es war ihr letzter Auftritt.

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ür Jackie ist Jack der Mann, mit dem sie abends Aufnahmen von John Gielgud hört, Shakespeare. Sie erzählt Schlesinger von Jacks Großzügigkeit, wie er immer bereit war zu vergeben, »Bist du mir böse, Liebling«, brauchte sie nur zu sagen, und alles war gut. Sein Gutenachtgebet, abends, auf der Matratze kniend, eiliges Kreuz und fertig. Ihre Freunde kannten solche Anfälle von Heldenverehrung, der Jazzpianist Robin Douglas-Home kommentierte ironisch: »Es ist die rührende, fast kindliche Demonstration einer großartigen Leidenschaft, von der sie, wie mir schien, mir leichter erzählen konnte als ihm.« JFK war natürlich ein bedenkenloser Schürzenjäger. Sie lächelte tapfer, erzählen Biografen, wenn er sie auf Partys stehen ließ und mit Frauen verschwand. Sie hielt durch, als er sich 1956 auf einer Yacht im Mittelmeer mit geladenen Damen vergnügte, während sie zu Hause eine Totgeburt erlitt. Ließ sich von ihm aufs Land schicken an Wochenenden, an denen er sich im Pool des Weißen Hauses vergnügte. Das FBI mochte darüber Akten anlegen – sie hält zu ihm. Mag sein, dass er sie an ihren Vater erinnerte, ein erfolgloser Beau. Nun, ihr Jack war erfolgreich, nicht zuletzt ihretwegen. Wie Jacqueline zum Ruhme der Ära Kennedy beitrug, ist ein aufregendes Drama, und dieses Buch ist darin der letzte Akt. Die Biografen würden Unsägliches ausbreiten, so viel war sicher. Diese Gespräche waren Jackies Chance. Ihr letztes Wort. Sie hatte der Präsidentschaft ihres Mannes die Bühne bereitet. Mit Eleganz und Haltung überlagerte sie sein Image als triebkranker Playboy. Und die von ihr orchestrierte Restauration des Weißen Hauses, die Entfernung von geschmacklosem Sediment aus vielen Jahren Herrschaft, sie war ein Meisterwerk. Vorbereitung durch Lektüre, Gründung einer Stiftung. Hinzuziehung von Experten, etwa des Parisers Stéphane Boudin, die so geheim gehalten wurde wie die Beschaffung einer grünen Moiré-Seide, die über die französische Botschaft ihren Weg ins Maison Blanche fand. Neugestaltung des Rosengartens nach dem Vorbild von Malmaison, dem Sitz von Napoleon und Joséphine. Jacqueline Kennedy formte Amerikas Bild von sich selbst, und es war französisch koloriert. Da stand sie, in ihren wundervollen Roben, Garderobekosten im Jahr 1962: 120 000 Dollar. »Madame«, wird sich de Gaulle vor ihr verneigen, »heute Abend sehen Sie aus wie ein Gemälde von Watteau.« Nun also letzte Retuschen am großen Tableau. Die Inszenierung der Beisetzung, der Entwurf für das Grabmal in Arlington. Sie wird das John F. Kennedy Center for the Performing Arts gründen, um seinem kulturellen Anspruch Ausdruck zu geben. Dazu die John F. Kennedy Presidential Library und das Institute of Politics, in denen zukünftige Generationen sich über das Wirken des 35. Präsidenten von Amerika informieren können. Sie werden Interviews mit 1000 Bürgern vorfinden, die sich an ihren Präsidenten erinnern. Und nun auch ihre Stimme. »Sie erteilte uns eine Lektion darin, wie man Dinge richtig macht«, wird ihr Schwager Ted Kennedy auf Jackies Beerdigung am 23. Mai 1994 sagen. Sie gab alles.

Ein Stift erschien, und der Gott sagte: »Schreibe, was es heißt, Mensch zu sein.« Und meine Hand schwebte lange über dem weißen Blatt, bis dort, wie Fußspuren des unterwegs Verirrten, Buchstaben Form annahmen in der Leere des Blattes, und ich das Wort »einsam« erkennen konnte. Und meine Hand wollte es wegradieren; aber die Stimmen all derer, die an des Lebens Fenster warteten, schrien auf: »Es ist wahr.« R.S. Thomas: Mit den Fängen aus Feuer Gedichte, a. d. Englischen von Kevin Perryman, Babel Verlag, Denklingen; 79 S., 24,– €

WIR RATEN ZU

Unser Claudius Er ist der erste Dichter. Die ersten Verse der klassischen Literatur, die wir lernen, sind seine: Der Mond ist aufgegangen, das singen sie im Kindergarten. Und er ist der letzte: Denn selbst, wenn schon die Demenz das halbe Leben gelöscht hat – diese Verse werden wir noch kennen, werden wir noch krähen im Kreis der Greise. Matthias Claudius, der viel geliebte Asmus, der Wandsbecker Bote. Der Dichter des Abendlieds, des Ersten Zahns, des Kriegslieds, der ergreifendsten Totenklage der deutschen Literatur: »Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer ...« Seltsam nur, dass dieser einfache, enorme Dichter in Jahrzehnten keinen Biografen fand! Die Germanistin und Journalistin Annelen Kranefuss hat es jetzt gewagt. Sie erzählt dieses Leben aus Gottergebenheit und Menschenfreundlichkeit mit der Nüchternheit, die er selber zeitlebens schätzte. Dabei ist ihr ein plastisches Lebensbild gelungen (wenngleich Claudius’ letzte Jahre etwas zu kurz kommen). Sie zeigt uns den fröhlichen Aufklärer ebenso wie den ernsten Gottesmann, den empfindsamen Journalisten ebenso wie den verwirrten Reaktionär, der nach 1789 die Welt nicht mehr versteht. Theologischen Debatten und Dichterzank wird gebührender Platz eingeräumt, aber eben auch dem häuslichen Leben von Rebecca und Matthias Claudius. Wir sehen beide, sehr im Stil der Zeit, gleich intensiv mit der Kinderschar beschäftigt. Ständig denkt er sich Spiele und Feste aus, um die Kleinen zu bespaßen. Anders als im späteren 19. Jahrhundert, da sich die Väter immer weiter aus dem Kreis ihrer Lieben entfernen und zum entrückten Jupiter werden, ist Claudius ganz Familiensonne. Aus diesem Haus-, diesem Tages- und Jahreskreis heraus entstehen seine Gedichte. Ihre innige Magie bleibt ein Geheimnis, ihr Zauber währet ewiglich. BENEDIKT ERENZ Annelen Kranefuss: Matthias Claudius Eine Biographie; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011; 320 S., 23,– €

62 15. September 2011

S VOM

FEUILLETON LITERATUR

DIE ZEIT No 38

L TAPE

Im Wettbewerb

Darüber spricht man nicht

Altern war auch schon beschaulicher

Tina Uebels Roman über die Wohlstandsverwahrlosung im Hamburger Idyll Volksdorf in neuer, entschärfter Fassung

Als Cicero Cato Maior de Senectute verfasste, seine berühmte Schrift über das Alter, war er 61 Jahre alt, körperlich fit und geistig auf der Höhe. Allerdings war er als Anwalt und Politiker kaltgestellt, da Cäsar gerade seine Diktatur errichtete. Die erzwungene Frühpensionierung dürfte ein Grund gewesen sein, weshalb Cicero sich über das Wesen der vor ihm liegenden Lebensphase Gedanken machte. Dass er nur noch ein Jahr zu leben hatte, konnte er da nicht ahnen. Cicero wurde 43 vor Christus ermordet. Seitdem wurde über das Alter so viel geschrieben wie über kaum etwas anderes. Allenfalls das Thema Liebe kann mit dem Thema Alter mithalten. Jonathan Swift, Jean Améry, Simone de Beauvoir ..., die Reihe großer Altersdenker ist lang, und es ist vollkommen logisch, dass auch in der Gegenwart über das Alter geschrieben wird. Die Wahrheit ist aber: Es wird heute in geradezu bedenklichen Mengen über das Alter geschrieben. Momentan befinden sich gleich zwei Bücher auf der Sachbuch-Bestsellerliste, Altern wie ein Gentleman von Sven Joachim Kuntze und Altern ist nichts Fuchsberger: für Feiglinge von Joachim Altwerden ist Fuchsberger. Beiden Büchern nicht für ist etwas abzugewinnen. Denn Feiglinge; die Autoren Kuntze und Gütersloher Fuchsberger sind sich – ganz Verlagshaus, im Sinne Ciceros – in einem Gütersloh 2011; 224 S., 19,99 € Punkt einig: Der eigentliche Gewinn des Alters liege in der Entlastung von Konkurrenz, Ehrgeiz, Ambition und Wettbewerb. Diese beneidenswerte Entspanntheit verfliegt jedoch sofort wieder, wenn aus jeder Ecke ein Buch übers Alter auf den Markt kommt, jeden Monat eine Zeitschrift erscheint, auf deren Cover lachende Rentner auf dem Sven Kuntze: Laufband oder auf dem AlAltern wie ein penwanderweg vom BodenGentleman. see nach Venedig abgebildet Zwischen sind. Es wirkt eher wie publiMüßiggang zistischer Altensport. und EngageUnd den gab es im Jahr 44 ment; Verlag C. vor Christus noch nicht. Es Bertelsmann, gab auch die amerikanische München 2011; 255 S., 19,99 € Marathonschwimmerin Diana Nyad noch nicht. Sie ist 61 Jahre alt, also genauso alt wie Cicero, als er Cato Maior de Senectute verfasste. Diana Nyad stieg vor einiger Zeit in Havanna in den Ozean, um nach Florida hinüberzuschwimmen. Eine Strecke von 166 Kilometern, für die ein sportlicher Schwimmer 60 Stunden benötigt, was Diana Nyad nicht schaffte. Nach 29 Stunden wurde sie aus dem Wasser gezogen. Das Gespenstischste an dem Unternehmen war aber dessen Begründung, denn Diana Nyad verkündete, sie wolle von Kuba nach Florida schwimmen, um »ältere Menschen zu inspirieren«. Aber wozu, um Himmels willen? Zur Anschaffung von Neoprenanzügen? Zum Trainieren im Ärmelkanal? Zum Beweis ihrer Wettbewerbsfähigkeit? Oder, um es deutlich zu sagen: Zum Beweis ihres Anspruchs auf Rente, da es in absehbarer Zukunft nun mal nicht für alle Alten reichen wird? Nichts, rein gar nichts können Sven Kuntze und Joachim Fuchsberger dafür, dass der Doppelauftritt ihrer Bücher an die Anstrengung erinnert, zu der das Alter sozial und ökonomisch heute geworden ist. Das ist einer der Unterschiede zu Ciceros Schrift. Sie war nicht in eine Gesellschaft eingebettet, die Begriffe wie »Altenplage«, »Rentnerschwemme«, »sozialverträgliches Frühableben« erfunden hat. URSULA MÄRZ

eulich, an der Shell-Tankstelle, alte Dame Klara, ihre Tochter Renate, deren Tochfüllt einer seinen Tank, setzt sich ter Juliette, den in der Matrix zwischen Anpassung in sein Auto und fährt davon. und Verweigerung mäandernden 18-jährigen Jo»Und das hier!«, sagt ein Kunde, shua. Zusammen mit weiteren Figuren lässt sie der gerade an der Kasse steht und diese wie Satelliten im Volksdorfer Universum von zahlt, als der Diebstahl geschieht. Hier, das ist Einsamkeit, Sinn- und Selbstsuche, Drogen und Hamburg Volksdorf, ein wohlsituierter Stadtteil Missbrauch kreisen, und es ist Uebels Sprache, die im Nordosten, mit traditionell hoher CDU- daraus ein Erlebnis macht. Wählerschaft und Vereinen für alles, was es zu Tina Uebel hat sich durch Poetry-Slams einen erhalten gilt: das Museumsdorf, das Waldbad, Namen gemacht, ihre bisherigen Bücher blieben die Ehemaligen des Gymnasiums. Ein Lesestoff für Eingeweihte. Von der Gabe Stadtteil, in dem die Menschen in ihdes rhythmischen Erzählens, der Fähigkeit, ren eigenen Häusern wohnen und die für jede Figur die passende Sprache zu Frauen Porsche Cayenne fahren. Der finden, profitiert der Roman. Das macht Kinder wegen und der großen Eindas Lesen der stark von inneren Monolokäufe. »Haben Sie denn das Buch nicht gen bestimmten Kapitel nicht immer zum gelesen?«, fragt der Tankwart, und der Vergnügen, doch es spricht für die FertigKunde schüttelt den Kopf. »Da steht keit der Autorin, in fremde Köpfe zu doch drin, wie es hier zugeht.« Egal, kriechen, um Welten zu vermitteln. Sie wo man in Volksdorf hingeht, »das beruft sich auf ihr großes Vorbild Hubert Buch« ist Gesprächsthema Nummer Selby, Autor von Last Exit to Brooklyn, eins. Ein Aufreger. Seine Autorin – Tina Uebel: wenn es um die Klarheit ihrer Sprache, die Last Exit eine Abgesandte des Bösen. »Das muss Volksdorf Präzision ihres Schreibens geht. Mit dem doch nicht sein, so was«, sagt die Dame C.H. Beck Vergleich stellt sie ihre Fähigkeit unter den im Buchladen. Verlag, München Scheffel, eindrückliche Bilder zu finden, Last Exit Volksdorf heißt der Roman 2011; 303 S., der Banalität des Alltäglichen literarisch der Hamburger Schriftstellerin Tina 19,95 € aufzuhelfen, davon zu sprechen, dass elekUebel, und er beschreibt das Leben in trische Rollläden wie Katzen schnurren einem satten, grünen Stadtteil, dessen oder dass es einer alten Dame Mühe Bewohner gedankenverloren um sich selbst kreisen macht, ihre Strümpfe anzuziehen, weil ihre Füße und vor allem eines wollen: dass ihre Kinder alle inzwischen »fern liegen«. Füße, mit denen sie früher Chancen haben. »auf du und du« war. Vier Charaktere stellt die in Volksdorf aufgeLast Exit Volksdorf erschien im Frühjahr dieses wachsene Autorin in den Vordergrund, die sie mal Jahres und lag nur wenige Tage in den Läden, als beim mehr, mal weniger stark miteinander verwebt: die Verlag C.H. Beck das Schreiben eines Anwalts eintraf,

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dessen Mandant seine Persönlichkeitsrechte verletzt sah. Der Fall erinnerte an Maxim Billers Roman Esra. C.H. Beck, Fachverlag für juristische Publikationen, genügte aber bereits die Warnung des Anwalts, eiligst nahm man den Roman von Tina Uebel vom Markt. Jetzt ist er wieder da. Ein paar Namen wurden geändert, und das Mädchen, das in der Ursprungsausgabe von ihren Mitschülern mit einem Hammer vergewaltigt wurde, wird nun »nur« noch, besoffen, wie es ist, ausgezogen, an einer Sackkarre festgeklebt und in allen möglichen Posen fotografiert. Diesen Roman haben die Volksdorfer nicht gewollt. Jede Straßenbiegung hat Uebel genau beschrieben, jeden Trampelpfad geschildert, jedes Geschäft benannt. Drumherum die glückssuchenden sedierten Hausfrauen, die verlorenen Alten, die überbehüteten Kinder. Die Volksdorfer Bürger sehen ihren beschaulichen Stadtteil durch das Buch verunglimpft. Das Hamburger Abendblatt schickte Reporter in den von der City 30 U-Bahn-Fahrtminuten entfernten Ort, um zu recherchieren, dass dort doch nicht jeder Abiturient ein Auto vor die Tür gestellt bekommt. Als Außenstehender wundert man sich, schließlich ist Volksdorf überall. Der Roman erzählt eine Vorstadtgeschichte, wie sie ähnlich schon in American Beauty oder von David Lynch in Twin Peaks erzählt wurde, nicht mehr und nicht weniger. Denkt man. Bis man erfährt, dass die Geschichte auf realen Ereignissen basiert. Die Vergewaltigung, der drogentote Jugendliche, der pädophile Sportlehrer des Gymnasiums – all das hat es während Tina Uebels Jugend gegeben. Die 42-Jährige hat ihre Geschichte aufgearbeitet. Und damit vielleicht auch das Trauma, das entstanden sein mag, als eine wahrscheinlich 14-jährige Mitschülerin von

VON SILKE BURMESTER

vier Jungen aus ihrem Schulumfeld vergewaltigt und fotografiert wurde. Und die Fotos in der Schule rumgingen. Und den Jungen nichts geschah. Ihre Tat ohne Konsequenzen blieb. Die Schulleitung keine Notwendigkeit zum Handeln sah. Hartmut hieß die Schülerzeitung, die Tina Uebel 1988 mitherausgab und die in ihrer fünften Ausgabe das Thema Vergewaltigung behandelt. Das betroffene Mädchen spricht darin über die Tat und vor allem die Folgen. Darüber, dass ein Lehrer sie »Schlampe« nannte, ein anderer fragte, ob er Abzüge der Fotos bekommen könne. Tina Uebel hat ihre Finger in eine Wunde gebohrt, auf die die Volksdorfer ganze Rabatten blühender Landschaften gelegt hatten. Grüne, satte Flächen, die ihre Eigenheime des Glücks rahmen. Doch über den Skandal der Vergewaltigung, darüber, dass die Jungen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden und heute als anerkannte Bürger unter ihnen leben, darüber spricht man nicht. Man spricht darüber, dass die Uebel eine Nestbeschmutzerin sei, dass es ungehörig sei, Volksdorf darzustellen, als seien alle Frauen frustriert und die Kinder wohlstandsverwahrlost. Die Einigung, unter der die überarbeitete Fassung des Buches zustande kam, ist ein filigranes Gebilde. Noch immer müssen Tina Uebel und ihr Verlag fürchten, dass die Person, die ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sah, noch einmal verlangt, dass das Buch zurückgezogen wird. Teil der Einigung ist, dass die Autorin über den gesamten Vorgang schweigt. Die Chance, das Unrecht aus der Volksdorfer Versenkung zu holen, wurde vertagt. Eine, die das Schweigen nicht aushält, hat sogar ein lesenswertes Buch darüber geschrieben.

So lebt man in Bielefeld-Baumheide Das Prosadebüt des Theaterautors Nuran David Calis über eine deutsch-armenische Kindheit

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icht zuletzt geht es hier um öffentlichen seiner Wut auf diesen Un-Ort wappnet sich Nahverkehr. Und um Geld und Liebe. Alen schon mal vor den »Nicht-Baumheidern«, Genau genommen um eine Liebesge- die meinen, »das sei Betroffenheitslaberei, ... wir schichte, die nicht gut ausgeht, weil ein Junge und seien nicht in den Slums von was weiß ich wo, ... ein Mädchen, die sich an einer Bushaltestelle in hier habe jeder eine Chance, der nur wirklich Bielefeld kennengelernt haben, verschiedene wolle«. Welche Chance einer irgendwo genau Wege gehen, obwohl sie sich eigentlich sehr mö- hat, hängt wahrscheinlich davon ab, was ihm so gen. Wenn man zu verstehen versucht, warum, zustößt, wenn er gerade nichts Besonderes will, also einfach nur so. Und da ist es schon dann hat man sich schon weit in einen eine essenzielle Frage, ob der eigene Bereich hineinbewegt, in dem gewöhnKiez an den öffentlichen Nahverkehr lich Wörter wie Multikulturalität oder angeschlossen ist. Was in Baumheide Parallelgesellschaft zu fallen pflegen. Beeinfach so passiere, meint Alen, sei, griffe, die dann so ein Mädchen und so dass man schuldig werde, selbst »wenn einen Jungen auf ihre Plätze verweisen, man nichts Unrechtes getan hatte«. sodass sie eben nicht zusammenkomDurch die Busfahrerei hat Alen immen können. Bevor sie sich trennen, reden die beimerhin Flo kennengelernt, die aus Bethel den über ihre Träume. Alen, der Erzähler kommt. Das ist ein gutbürgerlicher Stadtdes Romans Der Mond ist unsere Sonne teil, und sie ist ein gutbürgerliches Mädchen, das Sachen sagt wie »Ja, meine Favon Nuran David Calis, arbeitet als Tür- Nuran David Calis: milie lebt schon viele Generationen in steher in einer Disco in Bielefeld. Sein Der Mond ist Vater ist vor einem Jahr an Leberzirrhose unsere Sonne Bielefeld. Aber ich bin anders. Ich bin wie gestorben, seitdem ist seine Mutter nur S. Fischer Verlag, eine Nomadin«. Weil man auf der Basis noch mit dem Überleben beschäftigt und Frankfurt 2011, solider Wurzeln eben selbstbewusst seine stummer denn je. Die Eltern sind Arme- 207 S, 17,95€ Differenzen kultivieren kann. Alen indes nier, aus Istanbul nach Bielefeld gekomdenkt: »Ich will einer von allen sein. Ich will nicht anders sein.« men, und es gibt eine Großfamilie, die Diese beiden also streiten sich über Träume: von Ressentiments und Scham völlig zerklüftet ist, aber dennoch eine gewaltvolle Solidarität fordert. In Saint-Tropez möchte er leben, sagt er, »mein Alle wohnen im Stadtteil Baumheide, und Geld verprassen«. »Was du deinen Traum wenn Alen erklärt, was da los ist, zählt er die nennst«, antwortet sie, »ist und bleibt das ProBusse und Straßenbahnen auf, die dort hinfah- dukt deines Albtraums. Jeder Geldschein, den ren und die einen vor allem von dort wegbringen du verfeuerst, erinnert dich daran, dass du aus könnten. Das sind nicht viele. Sie fahren selten ganz armen Verhältnissen kommst.« Er fragt und klappern die ganze Peripherie ab: »Es dauert also, was sie sich wünsche, und sie antwortet: eine Ewigkeit, wenn man in die Stadt will. Im Gesundheit. »Klar«, sagt er, »das kann sich echt Schnitt fünfzig Minuten. Ab 23 Uhr wird der nur ein Mensch wünschen, der nie Probleme mit gesamte Betrieb eingestellt. Dann ist Schluss.« In Geld hatte.«

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VON MARIE SCHMIDT

Die unspektakuläre Unversöhnlichkeit solcher Szenen macht Nuran David Calis’ Buch wertvoll, selbst wenn sie sich in eine Erzählkonstruktion einfügen, die eher schwerfällig wirkt. Etwa durch die auf den Showdown hinholpernden Hinweise, ab jetzt in 69, 61, 58 Stunden werde alles ganz anders sein. Oder die eingefügten Hip-Hop-Verse, deren Funktion nur mühevoll zu erkennen ist. Es ist Calis’ Debüt als Prosa-Schriftsteller, als Regisseur und Autor für Film und Theater genießt er seit einigen Jahren einige Aufmerksamkeit. An Der Mond ist unsere Sonne schreit vieles, vor allem die Wutausbrüche der Hauptfigur, geradezu nach einer Bühne. Nicht immer, aber oft geht es in Calis’ Arbeiten um jene, die Feridun Zaimoglu früher einmal Lumpenethnier genannt hat, und er vertritt ihre Anliegen durch die Authentizität seiner Biografie: Bielefeld-Baumheide, armenische Familie, Tod des Vaters, Türsteherjob – das hat er alles selbst erlebt. Viele Motive kehren ein ums andere Mal wieder, wie jener in einem Dorf im Araratgebirge vergrabene Goldschatz, der als Familienmythos gleichermaßen Erlösung von der quälenden Frage der Herkunft wie von der Armut verspricht. Alen bricht schließlich, nachdem er in gewalttätige Händel des Bielefelder Drogenmilieus verwickelt wurde, auf ins Land seiner Ahnen und schwört sich dort, keiner zu werden, der »auf seiner Heimat-Scheiße hängengeblieben ist«. Flo fährt mit dem Bus nach München in die Schauspielschule. Calis, der auf der Otto-FalckenbergSchule in München Regie studiert hat, kennt vielleicht selbst beide Wege. Die Geschichte von Alen und Flo aber läuft auf die zwei Sätze hinaus: »Was weißt du schon von mir. Was weiß ich schon von dir.« Und man braucht wirklich keine Migrationsdebatte, um das als Ende einer Liebesgeschichte schrecklich traurig zu finden.

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Petra Pinzler: Immer mehr ist nicht genug! Vom Wachstumswahn zum Bruttosozialglück; Pantheon, München 2011; 312 S., 14,99 €

Thomas Fischermann/ Götz Hamann: Zeitbombe Internet Warum unsere vernetzte Welt immer störanfälliger und gefährlicher wird; Gütersloher Verlagshaus 2011; 255 S., 19,99 €

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FEUILLETON LITERATUR

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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Ich sterbe vor Hunger auf alles VON CHRIS KÖVER

Fotos: © privat

Alice Schwarzer erzählt von sich. Ihre Autobiografie »Lebenslauf« lässt sie uns neu erkennen

Im Uhrzeigersinn: Alice Schwarzer in Pisa (Kleid von Marimekko), mit Udo Jürgens im Club Med, in Dänemark 1968, mit ihrem Lebensgefährten Bruno, bei der Vorbereitung zur ersten »Emma«-Ausgabe

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enn eine derart öffentliche Per- üben. Man sieht diese Bilder – Schwarzer am son wie Alice Schwarzer eine Strand, im Minirock, lässig rauchend in der Bar, Autobiografie schreibt, so ist eng umschlungen mit dem Freund, grinsend mit das natürlich eine besondere der besten Freundin im Fotoautomaten – und Situation, schon weil jeder, der würde am liebsten die nächsten Seiten schnell überoder die die vergangenen 30 Jahre nicht unter blättern, vor bis zur nächsten Bilderseite. einem Stein gelegen hat, ein Bild von ihr hat. Es ist kein Zufall, dass die ersten Seiten genau Selbst wer ihre Bücher und Artikel nicht gelesen dieses Bild zeichnen, dafür ist Alice Schwarzer hat, kennt ihre Auftritte, weiß um ihre Rolle im eine viel zu kluge Frau. Und doch: Diese Alice ist Kachelmann-Prozess und kommt nicht umhin, eine, die man selbst nur allzu gern als Freundin die Debatten zu verfolgen, die über sie geführt gehabt hätte: mutig, abenteuerhungrig, politisch werden – derzeit etwa anhand ihres öffentlichen interessiert, auch mal verplant und gerade desSchlagabtauschs mit der Autorin der Schoßgebete halb so sympathisch. Charlotte Roche. Eine solche Autobiografie geDie entscheidende Frage ist: Wie wurde aus winnt zwangsweise den Charakter einer Gegen- dieser energetischen jungen Frau die Alice Schwardarstellung. zer, die man heute kennt? Eine, die immer noch Umso höher ist es Alice Schwarzer anzurechnen, überaus witzig, herzlich und charismatisch sein dass dieses Buch, veröffentlicht unter dem lako- kann, die die Frauenbewegung in so vielerlei Hinnischen Titel Lebenslauf, ebendas nicht ist. Es geht sicht vorangebracht hat, aber zugleich ihre spezifium die ersten 35 Jahre ihres Lebens, von der Kind- sche Sicht von Emanzipation und Feminismus heit bis zur Gründung ihres Frauenmagazins Emma allzu oft als die einzig mögliche betrachtet, mit unim Jahr 1977, und nur selten gewinnt man in geheurer Dominanz durchsetzt und – das ist vieldieser Rückschau den Eindruck, hier habe jemand leicht das Bedauerlichste – kaum noch Kritik an eine Rechnung zu begleichen. Zwar enthält das ihren Handlungen und Äußerungen annehmen Buch den einen oder anderen Verteidigungs- kann, auch nicht berechtigte. Eine kämpferische, versuch, Angriffe gab es über die Jahre ja genug, aber in sich abgeschlossene hermetische Bastion. Diese Haltung hat Schwarzer über die Jahre Klischees auch. Gerade in den ersten Kapiteln über ihre Kindheit und Jugend wirkt es aber, als genieße viele FeindInnen eingebracht, auch innerhalb der Schwarzer es, zurückzublicken, in Erinnerungen Frauenbewegung. Man muss das nach Lektüre nicht und Unterlagen zu suchen und daraus die eigene weniger problematisch finden, aber zumindest kann Geschichte zu spinnen. Zu berichten gibt es da ja man jetzt einiges nachvollziehen. Über die unsägweiß Gott genug. lichen persönlichen Diffamierungen und ErniedÜber die Kindheit in Wuppertal, wo sie in einer rigungen, die sie nach der Veröffentlichung des atypischen Familiensituation aufwächst – als un- Kleinen Unterschieds jahrelang über sich ergehen eheliches Kind, mit der denkbar wenig mütterlichen lassen musste, schreibt Schwarzer überaus ehrlich, Mutter, einer politisierten Großmutter und dem auch über die Verletzungen, die dies zur Folge fürsorglichen Großvater –, hatte man schon in der hatte: »Wäre ich, als das mit mir losging, damals nicht autorisierten kritischen Biografie von Bascha nicht schon Anfang 30 gewesen und eine Frau mit Mika, der ehemaligen Chefredakteurin der Tages- der gelassenen Lebenserfahrung, begehrt zu sein – zeitung, gelesen. Schwarzer erzählt es jetzt wieder, diese Flut von Hohn und Spott hätte mich unter und man versteht danach in der Tat, wie sich begraben können.« Da ist es vereine, die unter solchen Umständen aufständlich, dass man Schutzwälle hochwächst, zur Feministin werden muss – zieht, um nicht gänzlich verschüttet zu dass die Geschlechterrollen nicht von werden unter dieser Lawine von NiederNatur aus vorgegeben sind, hat sie ja am tracht. Auch wenn es bedauerlich ist, dass eigenen Leib erlebt! man diese Wälle später auch denen gegenDie Alice Schwarzer jedoch, die über nicht wieder abbauen kann, die gar man auf den folgenden Seiten trifft, nicht verletzen wollen, sondern einfach kannte man so bislang noch nicht. nur inhaltliche Differenzen aussprechen. Eine, die als Mädchen für Elvis Das Erstaunlichste an diesem Buch, schwärmt. Die mit 14 am Waldrand auch für all diejenigen, die Schwarzer den ersten Jungen küsst. Die später Alice Schwarheute kennen, ist allerdings ihre damalizer: Lebenslauf; während der Ausbildung an der Han- Kiepenheuer & ge politische Haltung. Wenn man liest, delsschule mit ihrer Mädchenclique in Witsch, Köln wie stark Schwarzer sich einmal als links Wuppertal um die Häuser und durch 2011; 464 S., verortete, wie sie jede Form von Konserdie Jazzkeller zieht und als Blondine im 22,99 € vatismus und Spießbürgerlichkeit verkurzen Rock den Männern den Kopf achtet hat und als junge Journalistin in verdreht. Die mit 20 ihr erstes Mal erParis vor allem aus den Fabriken berichlebt. Mit den Freundinnen per Autostopp nach tete, dann wird es umso unverständlicher, wie sie Hamburg, München, Paris, Nizza trampt. An 30 Jahre später eine konservative Kanzlerin unterden Freund in Paris schreibt sie damals so herz- stützen kann, nur weil diese eine Frau ist. Und ergreifend leidenschaftliche Sätze wie: »Ich sterbe wenn sie schreibt, wie sie in München und Paris vor Hunger auf alles. Absolut Alles!« und: »Unse- nächtelang mit Prostituierten an der Bar gesessen re Pläne sind viel zu bürgerlich. (...) Ich will ei- und geredet hat, wird umso verwunderlicher, wie nen großen Schritt machen. Etwas Neues. Mich undifferenziert sie Sexarbeiterinnen heute pauschal befreien!« Und dazu diese Bilder! als Opfer abstempelt. Die Bilder begleiten jedes der 15 Kapitel in Lesenswert ist dieses Buch nicht nur aufgrund diesem Buch, Fotos aus Schwarzers privatem Archiv, dieser Widersprüche, sondern auch, weil man aus es sind diese Seiten, die einen besonderen Sog aus- der Innensicht noch einiges mehr erfährt über die

verschiedenen Stationen ihrer Geschichte, die sich manchmal liest wie ein unwahrscheinlicher Entwicklungsroman. Wie es war, im Deutschland der Fünfziger eine junge Frau gewesen zu sein, und wie viele andere Wendungen Schwarzers Leben hätte nehmen können oder statistischer Wahrscheinlichkeit zufolge hätte nehmen müssen – ohne Abitur, vor der Erfindung der Pille –, darüber erfährt man hier einiges (im Übrigen eine interessante Parallele zur Biografie der von ihr so verehrten Simone de Beauvoir). Auch über die Anfänge der Frauenbewegung

in Paris und Deutschland, die Freundschaft mit de Beauvoir, die damaligen Zustände in der deutschen Presselandschaft, wo Schwarzer nach ihrem Volontariat bei den Düsseldorfer Nachrichten von Pardon bis Film und Frau verschiedene Stationen durchlief, bevor sie Korrespondentin in Paris wurde. Und selbstverständlich geht es auch um die stern-Aktion gegen den Paragrafen 218 und ihren Werdegang in der deutschen Presse zur »frustrierten Tucke« und »Schwanz-ab-Schwarzer« im Anschluss an die Veröffentlichung des Kleinen Unterschieds.

»Dass meine Realität in weiten Strecken so ganz anders aussieht als diese Projektionen, auch das gilt es zu sagen«, schreibt Schwarzer im Vorwort. Man muss diese Realität nun nicht für die einzige wahre halten. Und sicher ist nicht jede Kritik an ihr reine Projektion, auch wenn sie es gerne so darstellt. Aber überraschend anders als das öffentliche Bild ist ihre Realität allemal. Die Kulturwissenschaftlerin Chris Köver, Jahgang 1979, ist Mitbegründerin des Frauenmagazins für Politik und Popkultur »Missy«

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FEUILLETON

DIE ZEIT No 38

Stasi raus! Wie geht es eigentlich der Stasi? Lebt sie noch, oder ist sie ausgestorben? Und falls sie in Brandenburger Gärten ihren Ruhestand verdämmert, wollen wir da mit dem Racheschwert dreinhaun und aus längst verjährten Gründen der Gerechtigkeit den wunderbaren deutschen Frieden stören? Roland Jahn, der neue Erzfeind alter Stasis, der seit einem halben Jahr die Bundesbehörde für die Stasiunterlagen leitet, würde sagen, dass dieser Frieden falsch ist. Weil sein Preis darin bestand, die Spitzel zu Lebzeiten ihrer Opfer irgendwie zu akzeptieren und die Täter, nun ja, zu integrieren. Aber nicht einfach nur in die Bundesrepublik. Sondern in unseren obersten Geschichtsaufarbeitungsbetrieb, jene gepriesene Gauck-Birthler-Jahn-Behörde. Damit soll jetzt endlich Schluss sein. Deshalb fordert Jahn eine Änderung des Stasi-Unterlagengesetzes, die es erlaubte, 47 einstige Mitarbeiter des MfS, die seit der Wende in seiner Behörde angestellt sind, zu versetzen. Wohlgemerkt: nicht rauszuwerfen, nur zu versetzen. Worum handelt es sich hier? Um einstige Geheimdienstler, die die Geschichte ihres Geheimdienstes kritisch mit aufarbeiten sollten. Man kann das den größten Witz der Wiedervereinigung nennen. Man kann auch sagen, dass so ein Fehler in den Wirren nach einer historisch einmaligen Revolution schon mal vorkommt. Wenn er jetzt korrigiert würde, wäre das besser als nie. Doch was geschieht stattdessen? Roland Jahn wird als rachsüchtiger Vollstrecker seiner persönlichen Abrechnungsgelüste attackiert. Als einer, der an harmlosen Pförtnern ein spätes Exempel statuieren will. Ja, liebe Versöhnervom-Dienst, dass die Korrektur so spät kommt, ist nun nicht die Schuld von Jahn! Und findet ihr die einstigen Stasimänner als Zerberusse eines der sensibelsten Aktenbestände dieses Landes wirklich »okay«? In den Neunzigern verließen übrigens mehrere Bürgerrechtler und Historiker im Protest die Behörde, eben wegen jener Stasileute. Jürgen Fuchs schrieb darüber den großen Roman Magdalena: wie es ist, wenn ein Ex-Häftling ins Stasigefängnis zurückkehrt, »in den Innenhof der Macht«, und von MfSOffizieren lächelnd begrüßt wird. Dieser Vorgang war aber keine bloße Posse, sondern ein symbolpolitisches Desaster. Weil die meisten Verantwortlichen für das DDRUnrecht nie belangt werden konnten (darin liegt die Crux aller demokratischen Nachfolgejustiz), ist es für die Opfer von eminenter Bedeutung, dass Täter als solche benannt und von bestimmten Schlüsselpositionen in der neuen Ordnung ausgeschlossen werden. Jahns geplante Gesetzesänderung soll nun Rechtsbruch sein. Da kann man nur sagen: Was ist die Änderung eines Gesetzes gegen die Erfindung eines Gesetzes! Wir haben hier den klassischen Fall einer starken Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit. Dass es diese Diskrepanz gibt, ist typisch für die Situation nach dem Sturz von Diktaturen. Deshalb gebührt dem Vorstoß Jahns alle Ehre – als Zeichen gegen ein wurschtiges gesamtdeutsches Schwamm-drüber-Establishment. Nein, politisches Unrecht lässt sich nicht nachträglich verhindern. Aber wenn Mitschuldige durch allzu umstandslose Integration salviert werden, dann entsteht Revisionismus. Er zeigt sich heute nicht nur als mangelndes Unrechtsbewusstsein einstiger Stasis, sondern ganzer Gesellschaftsschichten. Manche Deutsche denken ja, die DDR sei vorbei. Diese glücklichen Ignoranten vergessen, dass so mancher Denunziant, Vernehmer, Richter noch keine vierzig war, als die Mauer fiel, und demzufolge heute keineswegs als harmloser Greis in seinem Brandenburger Garten sitzt. EVELYN FINGER

Illustration: Nicolas Mahler für DIE ZEIT/www.mahlermuseum.at

Roland Jahn kritisiert zu Recht das geltende Stasi-Unterlagengesetz

Nur keine Häme gegen Talkshows! Und keine Kulturkritik: Der Fernsehtalk ist auf der Höhe seines Erfolgs. Er ist nicht mehr zu überbieten

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n dem Augenblick, da eine Sache anfange, »ein Beruf zu werden«, hat Egon Friedell einmal geschrieben, und somit aufhöre, »etwas allgemein Menschliches zu sein, verliert sie ihre beste Kraft und ihren geheimnisvollen Reiz«. Das trifft voll und ganz auf die Entwicklung der Fernsehtalkshows in Deutschland zu. Sie haben sich professionalisiert und multipliziert, mit einer zentralen Gästedatenbank bei der ARD, demnächst wahrscheinlich mit Talk-Unterausschüssen in den Rundfunkräten. Der österreichische Philosoph Robert Pfaller hat kürzlich bemerkt, dass in den Talkshows der 1970er und 1980er Jahre noch Gesamtpersönlichkeiten als Gäste gefragt gewesen seien, heute fast nur noch »one-trick-ponys« – also Figuranten, von denen dramaturgisch eine ganz bestimmte Haltung erwartet wird. Die Talkshows sind heute scripted reality, in der Oskar Lafontaine oder Gregor Gysi ihre feste Funktion haben wie einst Slatko und Jürgen bei Big Brother. Auf dem Werbefoto der ARD (»Wir sind eins«) für ihre Fünf-Talkshows-Woche posieren Jauch, Beckmann, Maischberger, Plasberg und Will wie die B-Mannschaft einer US-Anwaltsserie. Jeder Eingeweihte weiß, dass sie sich im wirklichen Leben nicht besonders mögen. Die Verpflichtung von Jauch hat die Konkurrenzverhältnisse noch einmal verschärft – es ist nicht klar, wer sich wie lange auf welchem Sendeplatz halten kann. Günther Jauch, der alte Fuchs, hat es geschickt gemacht. Erst verspottete er die ARD-Häupter als »Gremlins«, ließ sich dann von ihnen einkaufen und übermittelte schließlich: Seht her, ich mache überhaupt nichts Neues. Ich moderiere einfach so etwas wie stern TV unter größerer Kuppel, wähle ein möglichst unoriginelles Thema wie »9/11« zum Sendestart am 11. September und lade ganz wie die anderen Teilnehmer am ARDTalkathlon nur Gäste ein, von denen man weiß, was sie sagen werden. Mathias Döpfner verteidigt die Freiheit des Westens, Jürgen Todenhöfer ist gegen den Krieg in Afghanistan, Peter Struck begründet, warum eine deutsche Beteiligung daran doch notwendig war. Elke Heidenreich erzählt, dass sie am 11. September auf dem Weg in die Harald Schmidt Show war. Zu Beginn die Betroffene vom Dienst,

Marcy Borders, die »dust lady«. Ja, 9/11 war schrecklich, es hat lange gedauert, das zu verarbeiten. Und auf Wiedersehen. Günther Jauch kann es sich leisten, so überraschungsfrei aufzutreten, weil er seinen »Gremlins« nur sagen muss: Ich bin der Günther, euer neuer Wizard of Talk. Mit mir wird euer Programmschema siegen oder untergehen. Da kann es schon passieren, dass Jürgen Klinsmann als der Intellektuelle in der Runde erscheint, weil er darauf hinweist, dass die US-Bürger zu viele obskure Nachrichten von Fox News sehen.

Bei Maischberger sitzen auffallend häufig Kollegen Verblüffenderweise war der Lichtblick der vergangenen Woche Reinhold Beckmann. Obwohl für seinen bemüht investigativen Stil bekannt (und schon karikiert), ließ er diesmal unaufgeregt den Vater eines Islamisten aus der »Sauerland-Gruppe« zu Wort kommen. Wie sich brave deutsche Jugendliche in Anhänger des Dschihad verwandeln können, bleibt zwar rätselhaft, aber die Erzählungen des Vaters machen zumindest den familiären Schock konkret. Zwar will auch Beckmann mit Peter Scholl-Latour auf einen der alten Dauertalker nicht verzichten, aber seine Sendung zeigte doch, was es bringt, wenn Interviewpartner ihre Geschichte erzählen dürfen. Anne Will, Sandra Maischberger und Frank Plasberg taten sich dagegen schwer mit ihrer neuen Zweitrangigkeit. Will hatte sich für das Opening die unglücklich geliftete und gespritzte Gräfin Brandstetter aufschwatzen lassen, sodass man ohne Ton gedacht hätte, bei der Sendung gehe es um die schrecklichen Folgen von Schönheitsoperationen. Die in Monaco residierende Gräfin ist leider schon in zahllosen RTL-Reportagen totgesendet worden. Zudem litt die Themensetzung »Euer Geld möchte ich haben!« daran, dass Reiche im Fernsehen nicht so gerne über ihren Reichtum sprechen. Plasberg, der eigentlich »Politik auf Wirklichkeit« treffen lassen will, verhandelte das Schicksal von Patchwork-Kindern, angeregt durch das Buch einer offenbar durch familiäre Verhältnisse schwer belasteten Journalistin der FAZ. Mit dabei: die Patch-

VON LUTZ HACHMEISTER

work-Experten Dieter Thomas Heck, Dana Schweiger und Ingo Naujoks. Ansichten über die Familie sind Privatsache und öffentlich kaum sinnvoll zu diskutieren. Ebenso ergebnislos könnte man über die Vor- und Nachteile von Homosexualität talken. Sandra Maischberger, in ihrem früheren Leben die begabteste Interviewerin des deutschen Fernsehens (bei Spiegel TV und NTV), lässt über die Euro-Krise (»Schrecken ohne Ende?«) reden, mit den Chefökonomen Peter Hintze, Klaus von Dohnanyi, Tissy Bruns und einem wirklichen Bankenverbandsvertreter. Zudem ist Anja Kohl dabei, die von Sandra Maischberger uncharmant, aber treffend als »das ARD-Börsengesicht« eingeführt wird. In der Woche davor war bei Maischberger die Talkfrau Bettina Böttinger. Offenbar gibt es einen starken Hang zur Kollegenorientierung. Übers Handwerkliche, die Moderationsleistung und die Gästeauswahl lässt sich immer streiten. Nicht das Genre ist das Problem. Der Fehler liegt in der besinnungslosen Vervielfältigung. Über Fernsehtalk wird heute fast nur noch satirisch geschrieben – über die Dauergäste wie Klaus Kocks oder Hans-Olaf Henkel, über alarmistische Sendungstitel oder konfuses Abfragen erwartbarer Statements. Die ARD kann über ihr neues Image als »Talkshow-Sender« nicht glücklich sein, zumal keine ihrer Sendungen die Qualität des BBC-Hardtalk erreicht.

Wann wird Waldemar Hartmann endlich eine neue Talkshow erhalten? Kein ARD-Verantwortlicher wird einem ernstzunehmenden Gesprächspartner weismachen, fünf Talkshows im Ersten dienten in irgendeiner Form der Aufklärung oder einem rationalen Erkenntnisgewinn. Es geht vielmehr um Flurbegradigung, sicherheitsorientierte Gleichförmigkeit, »Stripping« der Programmlinien. Und natürlich darum, bekannte Namen der Konkurrenz wegzukaufen, um so lange wie möglich in der Illusion des Massenmediums zu leben. Abgesehen von den Honoraren für die Moderatoren und ihre Produktionsfirmen, sind Talkshows Billigfernsehen, strukturell vergleichbar mit den Gerichtsoder Containershows, die gerade an ihr Ende kom-

men. Die Kontinuität der Talkmeister ist für die technokratische Programmplanung angenehmer, als sich mit irgendwelchen einzelnen Reportern und Dokumentarfilmern herumplagen zu müssen. Nun ist eine fundamentalistische Talkshow-Kritik genauso hilflos, wie es die allgemeine Kulturkritik an populärer Öffentlichkeit und Massenmedien schon immer war – von Heideggers »man« und »Gerede« bis zu Botho Strauß’ »telekratischem Terror«. Genauso gut kann man in der Uckermark die Bäume anbrüllen, weil der Mensch ein Mängelwesen ist und wir das Ziel der Evolution nicht kennen. Ich war schon immer ein Anhänger der »Sonthofen«-Strategie von Franz Josef Strauß, wonach die Verhältnisse sich erst verschlimmern müssen, bevor sinnvoll interveniert werden kann. Ein internes Papier der ARDMedienforschung über weitere Möglichkeiten der »strukturellen Homogenisierung« des Programms macht wahrscheinlich, dass demnächst auch freitags und samstags getalkt wird. Zum Beispiel könnte der beim Volk beliebte Weißbiertrinker Waldemar Hartmann samstags über Sport und Politik debattieren und Maybrit Illner, vom ZDF abgeworben, freitags bei der ARD weitermachen. Man könnte auch alle fünf Talker des Ersten an einem Tag der Woche über die kommenden Talks fachsimpeln lassen. Was der Talk mit der ARD macht, ist vielleicht gar nicht so wichtig – aber was macht der Talk mit der Gesellschaft? Die Ausweitung der Talkzone ist eine Form bürgerlicher Beruhigung, eine mediale Spielart der Establishment-Reproduktion. Solange über die Welt mit all ihren Krisen noch rituell geredet werden kann, ist sie nicht untergegangen. Auf der anderen Seite klinken sich jüngere Leute aus diesem Modell der sedativen Suada aus, wie die Umfrageergebnisse für die Piratenpartei in Berlin gerade zeigen. Der Fernsehtalk steht damit auf der Höhe seines Erfolgs für eine politisch-mediale Konfiguration, die selbst bedroht ist. Lutz Hachmeisters Dokumentarfilm »Auf der Suche nach Peter Hartz« läuft im November auf 3sat, gekürzt im Ersten; sein Doku-Drama »The Real American – Joe McCarthy« (ZDF/BBC) kommt im Januar ins Kino www.zeit.de/audio

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erblüffend, wie die Kunst hier über und Konstruktionen erproben und am lebenden Obsich hinauswächst. Wie sie locker jekt, am Besucher, beobachten, was seine Kunst beden Hamburger Bahnhof füllt, wirkt, wie sich die Menschen verändern, wenn sie diese gewaltige Museumshalle in ungesichertes Terrain betreten, sich in 30 Meter Höhe Berlin, in der sonst selbst große über Netze hangeln, plötzlich spüren, wie abhängig sie Skulpturen verzwergen. Jetzt aber sind: vom Gewohnten und auch voneinander. Jede wünschte man, der Raum wäre viel Bewegung des einen bekommt der andere zu spüren, weiter, höher, offener. Am besten fort mit den Stahl- jeder Schritt setzt sich in den Netzen und Luftkissen trägern, weg mit dem Dach! Blick frei auf den Him- vibrierend fort. Und so bleibt niemand in dieser Kunst mel! Nur ein solcher Raum, ein unendlicher, wäre allein. Sie fordert ein Miteinander. angemessen für die Kunst des Tomás Saraceno. Doch anders als viele seiner Kollegen begreift SaraSaraceno ist ein Welten- und vor allem ein Wol- ceno das Miteinander nicht allein als soziale Erfahkenwanderer. Er ist Künstler und Architekt, Forscher, rung; auch in der Technik sucht er danach. Auf fünf Ökologe, Gesellschaftstheoretiker, in den Museen Patente hat er es bereits gebracht, eine Thermalhülle ebenso daheim wie in den Laboren der Nasa. Oder für lighter than air-Fahrzeuge hat er entwickelt (Parichtiger: Er ist das alles und ist nichts davon. Am tent 20206527.8), auch eine irisierende Folienmemliebsten wäre er nirgendwo zu Hause. Denn wenn er bran (Patent 202008012960.5). Für manche Entnur könnte, würde er schon heute entschweben und wicklungen interessiert sich auch die Industrie, doch das irdische Klein-Klein, alle Denkschablonen und Saraceno träumt von einer idealen Welt, in der sich erst recht den ewigen Pessimismus hinter sich lassen. alle am Wissen aller bedienen. Fasziniert blickt er auf Saraceno träumt von einem neuen Himmel – und Phänomene wie Wikipedia – und wünscht sich, dass meint es auf verspielte Weise furchtbar ernst. auch die Cloud City, jenes Himmelsgespinst, das er Ein Stück von diesem Himmel ist nun in Berlin zu ganz ernsthaft bauen möchte, durch ein Kollektiv besichtigen, viele riesige Kugeln aus Plastikfolie hat denkender, fühlender, spielender Menschen errichtet Saraceno dort an Wänden und Decke vertäut, viele werde. Alle Passagiere sollen dort Piloten sein, sollen Gespinste aus Gummiband aufgespannt, und überall steuern, was nicht zu steuern ist: eine Stadt aus Wolbaumeln Wüstenpflanzen. Wer möchte, kann in ei- ken, ohne feste Form, ständig in Veränderung. nige der Ballons hineinklettern, über eine steile TrepDas unterscheidet Saraceno von all den alten Avantpe geht’s hinauf, rasch die Schuhe abgestreift und hi- gardisten, die im 20. Jahrhundert den neuen Menschen nein ins Vergnügen: Alles schwankt, federt, wogt – heraufbeschworen und immer schon wussten, wie die eben noch stabile Museumswelt löst sich auf, wird dieser Mensch zu sein hatte. Saraceno borgt sich bei weich, beweglich und ein wenig unheimlich. Denn den alten Visionären den unbedingten Zukunftswillen, ob die Folie hält, ob sie mich und all jene trägt, die doch das lineare Geschichtsdenken der Moderne, ihr auch noch hineinwollen in Saracenos durchsichtige Credo der Uniformität, ist Saraceno fremd. Nicht zuSchwabbelwabbel-Kunst? Beim ersten Schritt hinein fällig finden in seiner Kunst zwei Formwelten zusamin seine Sphären ist es tatsächlich so, als beträte man men, die sich eigentlich ausschließen: der Ballon, der Wolken – ein großes Nichts, nur nicht so feucht. die Idee der Abkapselung in sich trägt, und das Netz, Das mögen manche läppisch finden: wieder so in das alle eingesponnen werden, halb gehalten, halb eine Groß- und Kleinkinderbespaßung im Hambur- gefangen. Der Gegensatz zwischen dem Einzelnen und ger Bahnhof, werden sie sagen. Andere werden sich den vielen scheint bei Saraceno überwunden, Monade über den Epigonen Saraceno echauffieren, der sich und Netzwerk sind eins. großzügig bei den utopischen Architekturfantasien Fast kann es einem schwindelig werden, so leicht des 20. Jahrhunderts bediene, ohne eigene Ideen bei- und unideologisch schnürt Saraceno zusammen, was zusteuern. Und beiden wird man recht geben: Ja, eben noch getrennt lag. Er ist nicht zufällig ein bediese Kunst ist ungemein vergnüglich, und ja, sie be- geisterter Spinnenforscher, der die Web- und Knüpfgeistert sich für die Utopien von Buckminster Fuller, formen akribisch studiert und die Spinnenseide Frei Otto oder Yona Friedman. Doch interessiert sich preist, die relativ zu ihrer Größe belastbarer sei als Saraceno keineswegs nur für die Formen und Struk- Stahl. Demnächst wird er mit anderen Experten bei turen, und das unterscheidet ihn deutlich von vielen den Weltraumforschern der Esa einen Forschungsananderen Gegenwartskünstlern, die in trag stellen, damit endlich erkundet den letzten Jahren fleißig die Nachwird, wie Spinnen unter den Bedinkriegsmoderne neu entdeckten. Angungen der Schwerelosigkeit zurechtders als diesen geht es Saraceno nicht kommen. Zugleich träumt Saraceno ums Zitatespiel und noch weniger ganz unwissenschaftlich davon, wie um lässige Gesten, modisches Campes wäre, wenn Urlauber nicht länger Gehabe oder irgendeine Art von Momit dem Flugzeug in den Süden dernekritik. Dieser Künstler ist nicht brausen müssten, sondern einfach eicool, er glüht für etwas: Er hofft auf nen Ballon bestiegen und hinaufeinen neuen Raum, auf eine verän- Tomás Saraceno, führen über die Wolkendecke, wo derte Gesellschaft – und sucht in der 1973 geboren, stammt immer die Sonne scheint und große aus Argentinien Technik einen Verbündeten. Schwebekissen auf sie warten, die zuIn Argentinien, seiner Heimat, gleich als Kollektoren landschaftshatte er mit dem Architekturstudium schonend Energie erzeugen. Zahlenbegonnen, später kam er nach Frankfurt an die Stä- hungrig beugt sich Saraceno über die Computer der delschule, und der legendäre Peter Cook wurde zu Ingenieure und reckt doch seinen Kopf weit über die seinem Lehrer. Vor zwei Jahren dann besuchte er die Wolken der Wirklichkeit hinaus. Space University der Nasa und lernte dort am eigenen Warum aber überhaupt der ganze Himmeltraum, Leib, was Schwerelosigkeit bedeutet: An 20 Parabol- weshalb Fliegen, Schweben, Gleiten? Warum eine flügen nahm er teil, je eine halbe Minute lang war er neue Welt errichten und nicht die alte retten? Wer frei von allem, was uns sonst hält – und seither sehnt fliegen kann, sagt Saraceno lächelnd, der kann auch er sich nach einer Form für diese Freiheit. alles andere. Der lernt, wie er das Klima bewahren Mit weit aufgerissenen Augen schwärmt er von kann, vor allem begreift er aus seiner Schwebekapsel Ballons, die so leicht sind, dass sie an sonnigen Tagen heraus, was für einem Raumschiff er sich selbst vervon allein aufsteigen und ohne Weiteres ein, zwei dankt, dem schönsten, das es geben kann, der Erde. Menschen mit sich tragen können. Oder wie wäre es Nicht durch Klimagipfel sei sie zu retten, nicht durch mit einer Sphäre für große Gruppen mit einem Dämmvorschriften, erst recht nicht mit apokalyptiDurchmesser von 1,3 Kilometern? Auch so ein Rie- schem Ingrimm, sondern nur durch jede Menge Irrsending könnte fliegen, erklärt Saraceno. Allein durch witz und Zuversicht – davon erzählt Saracenos Kunst. den Atem der Menschen steige die Temperatur im Sie träumt von dem, was der Künstler das »planetariInneren um ein paar Grad an, sodass die Luft in der sche Gefühl von Zugehörigkeit« nennt. Nicht selten Sphäre wärmer sei als die Außenluft – und also die frage er sich, erzählt er zum Schluss, was denn eigentKunstblase zu schweben beginne. Nur Spinnerei? Vor lich wäre, wenn er jedes Jahr einen neuen Freund gehundert Jahren, sagt er, hätte sich ja auch niemand wänne. Und was wäre, wenn das allen sieben Milliarvorstellen können, dass heute Abertausende Flugzeu- den Menschen gelänge? Das wäre dann vermutlich ge kreuz und quer über den Globus fliegen. »Alles, das ultimative Kunstwerk, noch viel größer, als selbst was unmöglich ist, kann noch erreicht werden«, das ein Saraceno es sich auszudenken vermag. hat Jules Verne gesagt, einer seiner Helden. Als eine Art Forschungszentrum begreift Saraceno Bis zum 15. Januar in Berlin (www.hamburgerbahnhof. denn auch das Museum. Hier kann er neue Materialien de); im kommenden Jahr auch im K21 in Düsseldorf

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Der Wolkenwanderer Endlich ein Künstler mit utopischem Feuer: Tomás Saraceno träumt von einem neuen Himmel – und meint es damit auf spielerische Weise verdammt ernst VON HANNO RAUTERBERG

Fotos: [M.] picture-alliance/dpa (l.); Tomás Saraceno/Andersen’s Contemporary/Tanya Bonakdar Gallery/pinksummer contemporary art (Foto: Tomás Saraceno)

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Als wandelte man auf weitem Nichts – Einblicke in eine Saraceno-Sphäre in der Hayward Gallery in London

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Tanz der verlorenen Seelen

Die Sonne, unser Feind

Es müssen nicht immer die ganz großen Bilder sein. Aber Teufel auch, die Mischung macht’s! Eine Bilanz der 68. Filmfestspiele von Venedig VON KATJA NICODEMUS

Tim Fehlbaums Kinodebüt »Hell« ist ein endzeitlicher Action-Film. Und ein Glücksfall für das deutsche Kino VON MAXIMILIAN PROBST

Fotos: Alexander Sokurov/La Biennale di Venezia, 2011 (l.); Paramount Pictures (3)

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Gretchen (Isolda Dychauk) und ihre Mutter (Antje Lewald) in »Faust« von Alexander Sokurow

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an muss nicht an den Teufel glauben, um ihn zu sehen. In Venedig konnte man ihn erleben, ganz wirklich und leibhaftig. In Alexander Sokurows vogelfreier Faust-Adaption, die den Goldenen Löwen der 68. Filmbiennale gewann, sieht man Mephisto beim Besuch in einem überfüllten Badehaus. Ins Wasser gleitet ein unförmiger nackter Körper, umspannt von hauchdünner Pergamenthaut. Ein weißlich fahles Wesen ohne Geschlecht, dafür mit einem kleinen Schweinsschwänzchen. Die anderen Badenden starren diesen Teufel an und blicken zugleich durch ihn hindurch. Es ist eine Szene, die den Betrachter erschauern lässt, weil sie alles sagt über die monströse Normalität des Bösen. Zwei Stunden lang wanzt sich Mephisto in Sokurows Film an Faust heran, kriecht und schleicht und klammert und glitscht. Genauso kriecht er auch in unsere Erinnerung und setzt sich im Rückblick auf dieses Festival wie eine böse Klette fest. Faust ist ein weiteres Monumentalwerk des russischen Regie-Exzentrikers Sokurow, der sich schon immer an ganz großen Figuren, archaischen Mythen und letzten Fragen abarbeitete. Sein Faust steht am Ende eines mehr als zehn Jahre umspannenden Autorenprojekts, einer Tetralogie über die Macht und das Böse: Taurus (1999), Moloch (2000) und Solntse (2005) heißen Sokurows Filme über Hitler, Lenin und den japanischen Kaiser Hirohito. Nach realen Diktatoren und Machtmenschen mündet dieser auf sinfonischen Klangteppichen und im weichgezeichneten, manchmal wie vernebelten Licht dahinschwebende Bildertrip nun also in den deutschen Theaterklassiker schlechthin. An Goethes Faust interessiert Sokurow jedoch nicht der Drang nach Macht, Wissen und Welterkenntnis. Sein abgerissen gekleideter Faust wirkt eher wie ein historischer Hartz-IVEmpfänger, der sich ein bisschen Sex erkaufen will. Damit steht dieser Titelheld auch quer zur russischen Literatur- und Theologiegeschichte, die in der Faust-Gestalt jene anmaßend weltenlenkenden zerstörerischen Kräfte walten sah, die dann zur Oktoberrevolution führen sollten. Sokurows Faust ist aber kein Menschenformer, sondern ein depressiver Hedonist. Von Anfang durchwandert er ein mephistophelisches Reich: ein rattenverseuchtes, höhlenhaft verschattetes, mittelalterlich anmutendes deutsches Städtchen, durchpulst von körperlichen Säften und Kräften. Hier inszeniert Sokurow den dialogischen Kampf um Fausts Seele als

symbiotisch verklammerten Pas de deux. Mit einer genialischen Tonregie: Indem Sätze aus dem Bildhintergrund nach vorn drängen, Nebenfiguren die Zeilen der Hauptcharaktere aufnehmen, fortführen, überlagern, entsteht der Eindruck einer Welt ohne Koordinaten, Orientierungen, Maßstäbe. Es mag sich zunächst paradox anhören: Aber Sokurows abgehobene Vision hat im zugleich wuchtigsten und realistischsten Film des Wettbewerbs einen Seelenverwandten gefunden. Auf den ersten Blick scheint Cai Shangjuns People Mountain People Sea, der im ärmeren Südwesten Chinas gedreht wurde, Lichtjahre entfernt von der phantasmagorischen Umsetzung eines deutschen Klassikers zu sein. Doch beide Filme spielen in einer endzeitlichen Normalität. In beiden steht am Anfang die Gier und am Ende der Höllenschlund. Während die Menschen bei Sokurow in dunklen Häusern von mittelalterlicher Enge leben, drängen sie sich bei Cai Shangjun in überfüllten Bretterverschlägen und in den Kohleschächten der chinesischen Provin. Sokurow zeigt das Aufbäumen einer verlorenen Seele, Shangjun eine Welt, in der die einzelne Seele nichts mehr wert ist. People Mountain People Sea, der Film, der den Silbernen Löwen für die beste Regie gewann, beginnt mit einem äußerst brutalen Raubmord in einer kargen Landschaft: Ein Mann ersticht einen jungen Motorradfahrer, um dessen Maschine zu klauen. Als die desinteressierte Polizei den Mörder nicht findet, begibt sich der Bruder des Opfers auf die Suche. Der einsame Rachefeldzug führt durch ein desolates Land, in dem die Menschen zwischen einer pervertierten Kollektividee und einem wild wuchernder Kapitalismus geschreddert werden. Mit fast unheimlicher Ruhe filmt Shangjun einen Mann, der die Aggression einer Gesellschaft nach außen kehrt. Der Film gipfelt in halb dokumentarischen Aufnahmen von illegalen Minen, in Szenen von Mord, Totschlag, vollkommener Verwüstung. People Mountain People Sea und Faust liefen in Venedig am gleichen Tag im Wettbewerb. Und man muss Venedigs Festivalleiter Marco Müller ein geradezu mephistophelisches Talent bei der Auswahl, Platzierung und Kombination seiner Filme bescheinigen. Die 68. Ausgabe des ältesten Filmfestivals der Welt hatte vielleicht nicht das überragende, bildgewaltige Werk zu bieten, doch dafür entfaltete sich auf der Leinwand ein höchst verführerischer Dialog der Motive, Themen und Bil-

der. Etwa wenn die Triebe und Impulse, die in Roman Polanskis Psychodrama Carnage an die Oberfläche dringen, direkt danach von C. G. Jung und Freud in David Cronenbergs A Dangerous Method bearbeitet werden. Oder wenn das verlorene Mädchen aus William Friedkins Killer Joe in Texas Killing Fields von Ami Canaan Mann eine Art Schwester findet. Und es zeugt schon von einer Mischung aus kuratorischer Klugheit und Chuzpe, einen Film wie Alpis in den Wettbewerb zu nehmen. Wenn die Seele bei Faust verloren und in People Mountain People Sea entwertet ist, dann ist sie im Film des Griechen Yorgos Lanthimos auf provozierende Weise austauschbar geworden. Zwei Frauen und zwei Männer bilden in dieser mal traurigen, mal bitterbösen Farce eine Art Minisekte. Deren Mitglieder bieten Hinterbliebenen eines geliebten Menschen an, den Verstorbenen gegen Bezahlung zu ersetzen. Bei Besuchen in der Familie, durch immer gleich ablaufende Rollenspiele und kleine Verkleidungen. In Lanthimos’ Film herrscht ein merkwürdiger Gegensatz zwischen der realistischen Form und dem absurden Thema. Zunächst ist man irritiert, wenn eine Krankenschwester eine bei einem Unfall ums Leben gekommene 16-Jährige in deren Familie imitiert. Wenn sie sich in ihren Tennisschuhen und Schweißbändern auf dem Sofa lümmelt und mit den Eltern kuschelt. Aber bald gewöhnt man sich an diese Second-Life-Realität, in der gespielte und echte Familienszenen zunehmend verschwimmen. Alpis ist ein Spiel mit virtuellen Wirklichkeiten, mit unserer Sehnsucht nach ewigen, austauschbaren Welten. Doch als eine der Imitatorinnen sich in ihren Doppelexistenzen verliert, kommt es zur Eskalation. Alpis ist ein Film, der letztlich auch vom Kino erzählt, als Flucht in Zweitwelten und in die schöne Entfremdung. Acht Jahre lang leitete Marco Müller das Festival von Venedig, acht Jahre manövrierte er die Filmbiennale durch die chaotische italienische Kulturpolitik und logistische Katastrophen, wie etwa den ewig verzögerten Neubau des neuen Festivalpalastes. Nun hat Müller seinen Rücktritt angekündigt. Und das, obwohl er auch in diesem Jahr seine Unersetzlichkeit vorgeführt hat. Zum ersten Mal hat das italienische Kulturministerium Marco Müller offiziell um eine Verlängerung seines Vertrages ersucht. Und es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn er sich nicht erweichen ließe.

ichts erfährt in unseren nördlichen Landstrichen eine höhere Wertschätzung als die Sonne. Fast immer fühlen wir uns von ihr übergangen, fast nie ist ein Sommer groß genug, und wer’s sich leisten kann, fährt jetzt im Herbst noch schnell in den Süden. Die Sonne: Das ist Licht, Wärme, Leben – Punkt. Nach ihren Verächtern muss man schon mit der Lupe im großen Buch der Kulturgeschichte suchen. Selbst Schopenhauer, dem fast alles auf den Senkel ging, gerät bei der Sonne ins Schwärmen, sodass man erst bei Thomas Bernhard fündig wird: »Ich hasse die Sonne.« Das sagt der Kunstkritiker Reger in Bernhards Roman Alte Meister. Ebenso hätte der Satz aber auch in Hell (Kinostart 22.9.), dem erstaunlichen Kinodebüt von Tim Fehlbaum fallen können. Genauso gut hätte er »Helle« oder »Hölle« heißen können. Eine Klimakatastrophe hat die Welt verwüstet, auch in Deutschland liegen Wiesen und Wälder von der Sonne versengt. In den Städten lässt es sich nicht mehr leben. Nur in den Bergen soll es noch Wolken geben, Wasser und, wer weiß, ein Rest von dem, wofür einmal das Wort Zivilisation stand. In die Berge. Dorthin sind drei Überlebende des Zusammenbruchs unterwegs. Ein voll gepackter Volvo, Phillip als Mann am Steuer, auf dem Beifahrersitz seine Freundin Marie, auf der Rückbank Maries kleine Schwester Leonie. Fast wirken diese anfänglichen Sequenzen des Films wie die familiäre Ferienfahrt in den Süden. Wenn da nicht die Tiergerippe am Straßenrand wären und die zugeklebten Scheiben des Autos als Schutz vor der Sonne. Die brennt so stark, dass die Truppe vermummt und mit Skibrillen geschützt aus dem Auto steigt, um eine verlassene Tankstelle zu inspizieren. Eine filmische Dystopie aus Deutschland, mit einem Setting, das eher an die australischen Mad Max-Filme erinnert als an die traute Heimat, ist schon erstaunlich genug. Noch mehr erstaunt und erfreut, wie sehr dieser Film überzeugt. Hell erklärt uns nicht, wie es zur Katastrophe gekommen ist, er konfrontiert uns ganz einfach mit ihr. Wie das Grüppchen an der Tankstelle einen Wasserrest aus der Heizung lässt, wie der zwielichtige Tom dazustößt, der noch über einen Kanister Benzin verfügt, wie die Gruppe in die Berge gelangt, dort aber sogleich in eine Falle gerät mit dem Ergebnis, dass Tom und die kleine Leonie von Wegelagerern entführt werden: Das alles verfolgt man mit einer Beklemmung in der Brust, die sich erst legt, wenn man das Kino verlässt. Dabei beruht die Bannkraft der Bilder auch auf einfachen, aber souverän genutzten filmischen Mitteln. Etwa dem Wechsel zwischen Überbelichtung und Verdunkelung. Schattensatt sind die Bilder aus dem abgedunkelten Auto, dem verkohlten Wald und zum Ende aus den Innenräumen eines Bauernhofs. Tritt die Kamera hingegen ins Tageslicht, wird es auch im Kinosaal so hell, dass man sich schützend die Hand über die Augen legen will.

Dazwischen gibt es nichts; die Farben sind aus der Welt verschwunden, die feinen Unterschiede ohnehin. Auch bei den Charakteren: Der anfangs großspurig auftretende Phillip (Lars Eidinger) erweist sich in der ersten brenzligen Situation sofort als eingefleischter Feigling, Tom (Stipe Erceg) und Marie hingegen (gespielt von einer mitreißenden Hannah Herzsprung) finden in der Gefahr zu schier übermenschlichem Mut. Als sich Marie allein auf die Suche nach ihrer entführten Schwester macht, gelangt sie zu einer verlassenen Bergkapelle, bricht dort zusammen und wird von einer alten Bäuerin aufgelesen. Angela Winkler spielt diese Figur so wunderbar bedächtig und in sich ruhend, dass wir uns für eine kurze Weile dem sanften Licht der Hoffnung hingeben können: Es gibt sie noch, die Zivilisation. Die Bäuerin Elisabeth nimmt Marie mit in einen am Fuß der Berge gelegenen Weiler und weist ihr ein Zimmer an, das auf einen Hof mit spielenden Kindern geht. Umso härter trifft dann der Fausthieb, der unsere Illusion zerschmettert: Marie ist mitten ins Herz der Finsternis geraten. Statt der letzten Reste der Zivilisation gibt es ein kannibalistisches Schlachtfest. Tim Fehlbaum, der bis 2009 in München an der Hochschule für Fernsehen und Film studierte und nun auf die 30 zugeht, hat einen geradlinigen, temporeichen Genrefilm gedreht, einen auch in den Details überraschenden Endzeit-Thriller. Hier vollzieht sich jeder Umschlag rasch und total. Die bipolare Konstruktion hat im Film aber noch eine tiefe Berechtigung, spiegelt sie doch dessen Sujet selbst: den Ernstfall als Regel postapokalyptischen Lebens. Ein Kampf, in dem sich jeder Einzelne immer wieder entscheiden muss: für sich – oder für den anderen. Rennen oder bleiben, helfen oder kneifen? Schopenhauer lobte die Sonne, weil sie »für den Willen die Wärme« spende und »für die Erkenntnis das Licht«. In der Hitze von Hell wächst dieser Wille ins Unermessliche. Er zeigt sich als verzweifelter Überlebenswille, der wie im Fall von Phillip auf Feigheit setzt oder wie bei Angela Winklers Elisabeth auf eine obszöne Bauernschläue, die ihre Unmenschlichkeit als Zweckrationalität legitimiert. Die Erkenntnis, die Hell in seiner Überbelichtung zeigt, lautet aber, dass es daneben noch einen völlig anders gearteten Willen zum Leben gibt. Der verlangt, vom eigenen Leben abzusehen, ja, es in äußerster Konsequenz für das der anderen aufs Spiel zu setzen. Und erst wer wie Marie diesen Willen aufbringt, wird wahrhaft leben. Als Action-Film hat Hell die Wucht und Durschlagskraft jenes Bolzenschussgeräts, das im Metzgereibetrieb des Bauernclans zum Einsatz kommt. Dass der Film zugleich und völlig unangestrengt eine zart gewobene Vision des rechten Lebens ausstrahlt, macht ihn für das deutsche Kino zu einem Glücksfall.

KUNSTMARKT

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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Eine Ausstellung zwischen Buchdeckeln

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in Sonderkatalog wie jener, mit dem das Berliner Auktionshaus Bassenge am Samstag kommender Woche die Herbstsaison eröffnet, ist in Deutschland nach wie vor die große Ausnahme. In einer Spezialauktion werden dann nämlich rund 150 Fotobücher zum Aufruf kommen – zu nach wie vor moderaten Schätzpreisen. 500 Euro soll zum Beispiel die 1976 vom MoMA veröffentlichte Erstausgabe von William Egglestons epochaler Farbfotobibel Guide kosten. Antiquarisch ist sie, wenn überhaupt noch, selten unter dem anderthalbfachen Preis zu finden. Mit 900 Euro ist in der Auktion Bernd und Hilla Bechers Erstveröffentlichung Anonyme Skulpturen angesetzt, allerdings ohne Schutzumschlag; 3000 Euro werden für die japanische Ausgabe von Robert Franks The Lines of My Hands von 1972 verlangt. Seit Langem schon ist manches Fotobuch teurer als ein Vintage Print seines Autors. Der angelsächsische Handel – allen voran Swann in New York und Christie’s in London – hat das Potenzial dieses Sammelgebiets erkannt; dort gibt es solche Spezialauktionen inzwischen mehrmals im Jahr. In Deutschland bieten gelegentlich die Fotokataloge von van Ham und Lempertz in Köln und regelmäßig die von Schneider-Henn in München solche Bücher an. Die Auktion bei Bassenge und drei neue Publikationen könnten nun dafür sorgen, dass

auch hier mehr Sammler das Fotobuch als eigenständige Ausdrucksform entdecken. Die Bücher stellen – ähnlich wie schon das in zwei Bänden erschienene Photobook von Martin Parr und Gerry Badger – einen Kanon der Fotobuchgeschichte vor. Für Deutschland im Fotobuch (Steidl Verlag) haben sich der Sammler Manfred Heiting und der Fotograf Thomas Wiegand auf 287 Titel konzentriert. Eine »Ausstellung zwischen Buchdeckeln« nennen die Herausgeber ihr Werk, in dem etwa Albert Renger-Patzsch, Will McBride und Heinrich Riebesehl geehrt werden – als Buchgestalter, nicht nur als Fotografen. Das Layout zeigt deshalb keine seitenfüllenden Aufnahmen, sondern faksimilierte Buchtitel und Doppelseiten. Ähnlich verfährt auch der vom Fotokurator Hans-Michael Koetzle herausgegebene Band Eyes on Paris (Hirmer Verlag), der die so betitelte, nun in den Hamburger Deichtorhallen eröffnende Ausstellung begleitet. Hier stehen Fotobücher aus der Zeit zwischen 1890 und der Gegenwart im Mittelpunkt, die sich allein auf die französische Hauptstadt beziehen. Koetzle trennt dabei die banale Schnappschuss-Spreu vom konzeptuellen Weizen. Beginnend mit einem anonymen Reisealbum, stellen Koetzle und seine kompetenten CoAutoren Klassiker wie Brassaï, Henri CartierBresson und Bettina Rheims als Buchautoren

vor. Überraschend sind die Texte zu Bildautoren, deren Metier die Fotografie eigentlich nicht ist. Jean Cocteau schrieb 1977 einen klugen Text zu Pierre Jahans Aufnahmen von Friedhofsstatuen, und Ilja Ehrenburg versuchte, die Collagetechniken der russischen Fotografie auf Pariser Motive anzuwenden. Ein dritter Band, unter dem leider irreführenden Titel Fotografen A–Z ebenfalls von Hans-Michael Koetzle herausgegeben (Taschen Verlag), weitet das Thema global aus. Alphabetisch geordnet, stellt dieses Lexikon mehr als 400 der wichtigsten Fotobücher des 20. und 21. Jahrhunderts vor. Auch hier werden zurückhaltend und äußerst ästhetisch jene Ideen dokumentiert, die die großen Fotografen aus Geschichte und Gegenwart für die Präsentation ihrer Bilder entwickelt haben. Nicht wenige der in diesen Bänden vorgestellten Meisterwerke des Fotobuchs kann sich der interessierte Neusammler jetzt bei Bassenge ersteigern. Dass es sich um ein Sammelgebiet mit Zukunft handelt, bestätigen auch die Fotografen selbst. »Als große Abzüge haben meine Bilder an der Wand zwar eine viel stärkere suggestive Kraft«, sagt etwa Joel Sternfeld, »aber das Konzeptuelle und Serielle meiner Bücher lässt sich so nicht reproduzieren.« Eine signierte Erstausgabe seiner American Prospects von 1987 kostet heute übrigens mindestens 2000 Euro.

VON STEFAN KOLDEHOFF

Auf moderate 500 Euro ist diese Erstausgabe von William Egglestons epochaler Farbbildfibel »Guide« (1976) geschätzt

Im Kraftfeld der zerstörerischen Mächte Der ZEIT-Museumsführer: Die Anhaltische Gemäldegalerie in Dessau TÄGLICH GEÖFFNET, AUSSER MONTAGS



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Peter Paul Rubens: »Ludwig XIII.«

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VON WOLFGANG BÜSCHER

er erste Eindruck ist der eines Hauses, in dem sich einiges angesammelt hat über die Jahrhunderte, aus manchen Epochen mehr, aus anderen weniger. Es scheint hier die Hand eines Kunstliebhabers zu walten, der sich von seinen Bildern nicht trennen mag und lieber ein paar mehr aufhängt, auch wenn es nicht so edel ausschaut wie in einem kühl kalkulierten Museum. Und dieser Eindruck ist nicht ganz falsch angesichts der Geschichte der Dessauer Sammlung, die turbulente Zeiten überstand – wichtiger als Details ist zunächst einmal, dass sie überlebt hat. Am Anfang steht eine verstoßene Prinzessin: Henriette Amalie von Anhalt-Dessau, 1720 bis 1793. Einer standeswidrigen Liaison und eines unehelichen Sohnes wegen musste sie den Fürstenhof verlassen und als Stiftsdame nach Herford gehen. Alle Versuche ihres Vaters Fürst Leopold I., sie mit einem Mann von Stand zu verheiraten, scheiterten an Henriette Amaliens eigenwilligem Lebensstil. Sie lebte inzwischen in Frankfurt am Main mit einem fünfzehn Jahre jüngeren Baron in wilder Ehe. Wichtiger für die Nachwelt ist der Umstand, dass die Prinzessin sich als geistig rege und kunstsinnig erwies und überdies als tüchtige Landwirtin. So erwirtschaftete sie die Mittel, um eine naturwissenschaftliche Kollektion und eine Bibliothek auf-

zubauen und rund 700 Gemälde zu sammeln. Als französische Revolutionstruppen 1792 Frankfurt bedrohten, floh sie heim nach Dessau und starb dort im Jahr darauf. Schon zwanzig Jahre zuvor hatte sie ihr Testament verfasst und darin festgelegt, ihr Vermögen solle der Armenund Krankenpflege zugute kommen und ihre Sammlung öffentlich zugänglich sein – eine ungewöhnliche Geste in der damaligen Zeit. Ihre Familie hatte sie der Heimat verwiesen, sie vergalt es der Stadt mit reichen Geschenken. Fürst Franz, der 1757 die Regentschaft in Dessau übernommen hatte, baute die Sammlung seiner Tante aus. Er hatte sie oft besucht, sein Interesse an Kunst, namentlich an altdeutscher Malerei, war Henriette Amaliens Erbteil. Anhaltische Fürstenporträts gibt es, dazu biblische, bürgerliche und Landschaftsmotive deutscher und europäischer Maler. Zu den Höhepunkten gehören Werke des jüngeren Pieter Brueghel (Das Pfingstbraut-Spiel), eine Anbetung der drei Könige von Hans Baldung, ein Rubens-Porträt des französischen Königs Ludwig XIII., eine grandiose Landschaft mit orientalischem Brautzug des viel reisenden Regensburgers Agricola sowie Bilder von Johann Heinrich Roos, des älteren Bartel Bruyn und des jüngeren Lucas Cranach. Es ist die größte Sammlung alter Meister in Sachsen-Anhalt.

Vom älteren Cranach zeigt man in Dessau unter anderem ein Porträt der Erzherzogin Margarethe von Österreich, Tochter von Kaiser Maximilian und Ziehmutter Kaiser Karls V., sowie die kunst- und religionsgeschichtlich interessante Verlobung der Hl. Katharina von 1516 – Maria mit dem Jesuskind im Kreise von fünf heiligen Frauen. Cranachs ursprünglich himmelsköniginblaues Mariengewand wurde später pastorenschwarz übermalt und so der Beweis erbracht, dass sogar Kunstwerke reformiert wurden, um dem Geschmack protestantischer Fürsten erträglich zu sein. Geblieben ist dem Bild die große Stille und Eleganz. Im 20. Jahrhundert gerieten auch Dessau und seine Kunstsammlung ins Kraftfeld der großen zerstörerischen Mächte. Tradition und Moderne, Malerei und Propaganda, linke und rechte Weltenstürze – das alles deutete sich an, aber zunächst, ein paar unruhige Jahre lang, existierten die verschiedenen Richtungen nebeneinander, ohne der jeweils anderen das Lebensrecht streitig zu machen. Der als Alt-Impressionist angesehene Paul Riess malte seine geliebten Dessauer Landschaften zur selben Zeit, in der Bauhaus-Künstler radikal andere Wege gingen. Noch in der Eröffnungsausstellung der neu gegründeten Gemäldegalerie Dessau im September 1927 hingen Riess und die

Bauhäusler vielleicht nicht einträchtig, aber doch friedlich nebeneinander. Bilder blieben Bilder, sie wurden nicht zur Waffe. Ein Zeitgenosse, der Kunsthistoriker Wilhelm van Kempen, schrieb damals: »Wer da meint, die ältere, d. h. Impressionistische Kunst vertrüge sich nicht mit moderner, mit abstrakter, der sehe sich an, wie überraschend köstlich Riess mit Feininger und Moholy zusammensteht.« Die ideologische Waffenruhe währte aber nicht lange. Was kunstinterne Spannung zwischen einer regional verwurzelten Landschaftsmalerei und der abstrakten Moderne der Zwischenkriegszeit gewesen war, heizte sich innerhalb weniger Jahre auf. 1933 wurde der Kunsthistoriker Ludwig Grote, der die fürstliche Sammlung 1927 in die neue städtische Gemäldegalerie überführt und diese geleitet hatte, von der Nazipartei als »Kulturbolschewist« abgesetzt – er war es, der das Bauhaus von Weimar nach Dessau geholt hatte. Nach Kriegsende verschwanden Teile der Sammlung in der Sowjetunion, auch im New Yorker Kunsthandel tauchten Werke auf. Vieles war gezielt geplündert, anders von Soldaten auf eigene Faust gestohlen worden. Immer noch fehlen rund 200 Werke. Doch anderes als in vergleichbaren Fällen konnte zumindest der Beutezug der sowjetischen Sieger großenteils revidiert werden. Dessau, du hast es besser!

Abb.: Museum of Modern Art, New York, 1976/Bassenge (o.); Anhaltische Gemäldegalerie Dessau

Mit einer Spezialauktion widmet sich Bassenge dem Fotobuch – und einem Sammelgebiet der Zukunft

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FEUILLETON

DIE ZEIT No 38

Foto: Georg Soulek/Burgtheater

Wie man das Böse einzäunt Gelächter über Abgründen: Am Wiener Burgtheater beginnt die Saison mit Kleists »Zerbrochnem Krug« und Thomas Vinterbergs »Kommune« VON PETER KÜMMEL Der Herrscher und sein Volk: Joachim Meyerhoff (Mitte, als Erek) mit Regina Fritsch und Tilo Nest in »Die Kommune«

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oderne Bühnen sind ziemlich oft von Schlamm bedeckt. In manchen Inszenierungen ist der Schlamm sogar der Hauptbedeutungsträger. Vor drei Jahren etwa ließ Michael Thalheimer in Berlin Was Ihr wollt, Shakespeares Komödie über die Grausamkeit und Narrheit verliebter Menschen, in einem braunen Schlachtfeld spielen und versinken. Der Schlamm stand für den Eros, die Gier, den Lustkrieg zwischen den Menschen. Jetzt, in Wien, bedeckt der Schlamm die Bühne des Akademietheaters, hier symbolisiert er die Korruption zwischen den Menschen, die verdorbenen Sitten. Doch auf dem Schlamm liegt ein

weißes Rechteck aus Holz. Der Schlamm trägt dieses weiße Feld, als wäre es ein Floß im Meer. Dieses weiße Rechteck ist: der Ort der Gerechtigkeit, der Wahrheit. Gespielt wird Der zerbrochne Krug von Heinrich von Kleist, die Komödie um den sich selbst verfolgenden und zur Strecke bringenden Dorfrichter Adam, und ehe die Menschen, aus dem Schlamm steigend, das weiße Rechteck betreten, streifen sie ihre schmutzigen Schuhe ab und treten in Socken, damit das Weiße unbefleckt bleibt, vor den Richter. Rechtsprechung, ja Zivilisation, das ist, so lernen wir schnell, ein ständiger Kampf zwischen dem Schlamm und dem weißen Feld – zwischen dem Dreck, der immer da ist

und alles verschlingen möchte, und der rettenden Fläche darüber, um deren Fortbestand gerungen werden muss. Am Ende wird das weiße Rechteck besudelt und entzaubert sein. Matthias Hartmanns Inszenierung, man kann es nicht anders sagen, hat Genuss an diesem Vorgang. Gern wird der Richter Adam unheimlich und massig dargestellt, als eine Bestie, die sich an der Macht überfrisst. In Wien sehen wir einen Adam, der leicht ist wie ein Fähnchen; ein Multioptionalist von heute. Michael Maertens spielt einen Stand-up-Trickser, dem man beim Verfertigen der Lüge im Reden zusehen kann: Er denkt sich eine Geschichte aus zu den Wunden, die ihn entstellen und verraten. Er kennt das Ende

des Satzes noch nicht, dessen Anfang er gerade spricht; ein Garnspinner auf der Flucht. Er schindet das Gesetz, er schindet seine Leute, er schindet Zeit. Um einen Gedankenvorsprung herauszuschlagen, verwendet er Theatermittel: absichtsvolle Schwerhörigkeit und tiefe Begriffsstutzigkeit, bei angelsächsischen Komikern als slow burn bekannt. Adam ist der Alleinherrscher im Dorf Huisum. Sein Rechtsverständnis ist ein Zusammenspiel von Gier und Allmachtsgewissheit, Eigeninteresse und Tageslaune. In der Nacht vor diesem Morgen, so lernen wir später, war er bei dem jungen Evchen und wollte es zum Sex erpressen. Adam versprach, Eves Verlobten Ruprecht vor der Verschiffung zum Kriegsdienst nach Hinterindien (und dem sicheren Tod) zu bewahren mittels eines ärztlichen Attestes. Dieses Attest wollte er Eve nur unter der Bedingung aushändigen, dass sie ihm zu Willen wäre. Nun aber trat Evchens Verlobter Ruprecht ins Haus und verscheuchte, freilich ohne ihn zu erkennen, den Richter Adam, der bei seiner Flucht den titelgebenden Krug zerbrach und sich selbst an Kopf und Bein verletzte. Nun muss Adam seine eigene Spur verwischen und Eve zum Schweigen bringen. Er tut es, indem er, zum Schein, Gericht hält. Adam ist seinem Feind, dem Gerichtsrat Walter, immer nur um einen Halbsatz voraus. Es ist eine Verfolgungsjagd zwischen Unbeweglichen, denn Adam kann nicht fliehen, er hat einen Klumpfuß und ist außerdem umringt von Bürgern seines Dorfes, es ist ja Gerichtstag. So flieht Adam nach innen – indem er seine Verfolger in seinen Lügenpalast hineinlockt. Bevor er die Verhandlung eröffnet, dreht er aus einer plötzlichen Eingebung seinen Richterstuhl um 180 Grad, und damit hebt er den Gerichtssaal aus den Angeln: Nun müssen alle außer ihm, der im Zentrum sitzt, ihre Plätze wechseln. Adam ist ein böses Kind, ein Hütchenspieler der Wahrheiten, und das Spiel (nicht die Wahrheit) ist ihm der höchste Zweck. Wie Michael Maertens seinen Richterstuhl erklimmt, der an den Hochsitz eines Tennisschiedsrichters erinnert, wie er dem Gerichtsrat Walter den Bestechungswein zwischen dessen abwehrenden Fingern hindurch ins Glas gießt, das ist von komischer Souveränität: Adam ist ein Korruptionsclown; er verbrennt sich mit jaulendem Vergnügen an dem Licht, hinter das er die anderen führt. Aber er ist auch ein Entfesselungskünstler, der an dem Käfig, dem er sich entwindet, greinend hängenbleibt: eine Spottgestalt. Maertens ist so sehr besprenkelt mit Zeichen der Schuld, dass er einem leidtut wie ein frisch geschlüpftes Küken, an dem noch die Splitter der Eierschale kleben.

Der Schlamm ist es, der uns verbindet: Er wärmt uns alle Am Ende, als er schon glaubt, davongekommen zu sein, dankt er freudig dem Teufel: Dabei grüßt er hinauf zum Himmel. Er verdreht die Welt, er richtet sie nach seinem Kompass, und bei Adam liegt der Norden eben im Süden. Vor drei Jahren hat am Berliner Ensemble der Schauspieler Klaus Maria Brandauer den Richter Adam gespielt; Brandauers Adam hauste in Huisum fast wie ein Künstler in seinem Atelier, er verfuhr mit dem Recht wie ein wühlender Action-Painter mit seinen Farben: Da waren grabestiefer Eigensinn, Selbstzerstörungslust, Todestrieb im Spiel. Bei Maertens nun in Wien triumphiert der Richter als Entertainer, Selbsterfinder, Verpuffungsphänomen. Er flieht nicht, er geht schwebend ab. Er verabschiedet sich heiter von allen, die er gepeinigt hatte, er gibt Küsschen wie ein Schauspieler, der die letzte Vorstellung hinter sich hat: Im weißen Anzug huscht er über den Schlamm davon, in einem von niemandem aufzuhaltenden Zeitlupenlauf. Der Staat deckt ihn, und der Gerichtsrat Walter, ein viel größerer Verbrecher, lacht plötzlich dasselbe Clownslachen, das Adam immer gelacht hat, wenn er mit einer Schweinerei davongekommen war – Walter hat vom Dorfrichter das Lachen übernommen und die Macht gleich mit. Walter sinkt übrigens, in der letzten Sekunde des Abends, im Schlamm ein; vermutlich wird er darin untergehen. Mehr als den Schlamm hat der Regisseur Matthias Hartmann nicht aufgeboten, um die morasti-

ge Natur eines Staates zu zeigen, welcher einen Adam deckt und nährt. Indem er einen überlegenen Clown triumphieren lässt, der wie ein travestierter Jesus über dem Schlamm wandelt, zeigt er auch, was von den anderen zu halten ist, die immer tiefer einsinken: Die sind zu blöd, sich zu arrangieren. Und indem er den Gerichtsrat Walter, den obersten Repräsentanten des »Systems«, in den Schlamm sinken lässt als eine Art Opfergabe, sagt er uns: So sind die Verhältnisse. Heute ist der Schlamm immer noch da, wir spazieren über seine geronnene Kruste. Der Schlamm ist in dieser Inszenierung die große, alle menschliche Fehlbarkeit entschuldigende Übermacht: Was sollen wir schon gegen ihn ausrichten? Vor 40 Jahren, als das Theater forciert »politisch« gewesen ist, wäre dem Publikum ein solches Bild wohl zu billig, zu pauschal gewesen; heute funktioniert es prächtig. Man sieht die Schauspieler in den Matsch schlagen – und schon ist einem leichter ums Herz. Der Schlamm ist das, was uns verbindet und zusammenhält: Er wärmt uns alle. Politisches Theater hat einmal bedeutet, diesen Umstand für unzumutbar zu erklären. Heute gibt es sich damit zufrieden, ihn opulent zu beleuchten.

Auch die Wohngemeinschaft ist eine Schreckensherrschaft Auch die zweite Premiere der neuen Burgtheatersaison befasst sich, kurz gesagt, mit der Frage, ob man im falschen System und unter der Herrschaft von Tyrannen ein glückliches Leben führen kann. Der dänische Regisseur und Dogma-Filmemacher Thomas Vinterberg (Das Fest) hat sein zweites Stück für die Burg geschrieben, es heißt Die Kommune und verwertet Kindheitserfahrungen des Autors. Erek besitzt ein Haus, hat eine Frau und eine Tochter – und gründet eine Kommune. Wenn es im Stück einen Bösewicht gibt, der Kleists Adam nahekommt, so ist er es. Erek (Joachim Meyerhoff) führt in seinem Haus eine jähzornige Schreckensherrschaft, die von allen jovial gedeckt wird: In Wutanfällen stellt er die Weichen des Kommunelebens, und um seine Ausbrüche herum geht das Leben weiter. Er betrügt seine Frau und holt seine Geliebte ins Haus, woran seine Exfrau und seine Tochter schier zerbrechen. Das wird in kurzen, genauen Flackerszenen gezeigt, und darum herum gibt es viel hübsch-harmlosen Entlastungswitz, WG-Folklore: Liebesgestöhn durch dünne Wände hindurch, von den Mitbewohnern fachmännisch belauscht; frustrierte Männer, die sich über die Menstruationslaunen grimmiger Frauen lustig machen; nackte Liebespartner, die, formell grüßend, einander im Wohnzimmer begegnen; Lustvagabunden, die von einem Bett ins nächste kriechen. Nichts kann hier sorgfältig entwickelt werden, dies ist eine Gruppenkomödie, da müssen die Umrisse rasch gezeichnet sein und straff sitzen, aber das Barocke, das selbstvergessen Eigene wölbt sich doch über die Ränder der Typen-Silhouette hinaus: Bei allen Figuren ist mehr da, als sie zeigen können. Und so sind die Gruppenszenen dieses Gebrauchstheaterstückes, in Vinterbergs eigener Regie, soghaft stark. Man zieht sich vor der Welt zurück und hegt Animalität mit Gemütlichkeit ein: Gitarrenmusik, Weihnachtslieder – und immer wieder mörderische Momente. Im Grunde gilt auch hier: Man zähmt das Böse (auch das eigene), umhäkelt es mit Zivilisation, umgattert es mit Regelwerk. Wo die Leute bei Kleist im Schatten eines Willkürrichters leben, tun sie es bei Vinterberg in der Gnade eines despotischen Hausbesitzers. Und alle richten sich im Bodenlosen recht gemütlich ein. Kann man so wirklich leben? Eine schlagende Szene aus dem Zerbrochnen Krug zeigt, wie es gemacht wird. Ruprecht, der zu Unrecht Beschuldigte, war mit schmutzigen Schlammlatschen in den Gerichtssaal gekommen, zog seine Anzugjacke aus, warf sie vor sich auf den Boden und stellte sich mit seinen Schuhen drauf, aus Angst, den Boden des Gerichtssaals zu verunreinigen. Am Ende, als seine Unschuld bewiesen ist, hebt er die dreckige Jacke auf, wendet das Innere nach außen, zieht sie an – und geht erhobenen Hauptes von dannen. Er hat seine Jacke so behände umgestülpt, dass man als Zuschauer denkt: Der hat das jetzt nicht zum ersten Mal gemacht.

FEUILLETON

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Kernschmelze in Zeitlupe

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s ist alles okay. Geht weiter einkaufen!« Mit Kreide hat das jemand auf den Bürgersteig der Brücke in Luzern geschrieben. Und die schicken, wohlhabenden Luzerner gehen weiter einkaufen, über die Schrift hinweg, die zwei Stunden später kaum noch zu lesen ist. Die Sonne scheint, es ist alles okay. Aber gleich nebenan, im nobelsperrigen Quader des Kulturzentrums KKL, in einem dunklen Saal, erhebt sich eine Woge. Ein Tsunami aus Klangsplittern bricht über die Musiker herein, die ihn erzeugten, hinterlässt lähmende Ruhe, vorübergehend. Bis der große Sturm beginnt. Wer nach der Uraufführung des Siebten Streichquartetts von Georg Friedrich Haas ins Freie tritt, traut seinen Augen nicht mehr. Über dem Himmelblau am Vierwaldstättersee ahnt man eine Schwärze. Aber sie bedrückt einen nicht, man blickt weit in ihr. Georg Friedrich Haas läuft so herum, wie es das Vorurteil vom leicht weltfremden Avantgardisten nahelegt. Zwischen den schicken Luzernern fällt er mit seiner übergroßen Lederjacke auf, dem festen Schuhwerk, dem etwas tapsigen Gang eines Bergbewohners. Dieser freundliche, leise Mann erweitert die Möglichkeiten der Musik derzeit wohl nicht weniger, als es 1859 gleich gegenüber im Hotel Schweizerhof geschah. Da vollendete Richard Wagner seinen Tristan, indem er die Harmonik an die Grenzen ihrer Auflösung trieb. Haas löst die uns vertrauten Intervalle auf. Er komponiert mit Mikrotönen. Das tun auch andere, nicht erst seit gestern. Haas aber hat eine so unverwechselbare, starke Musik entwickelt, dass der 58-Jährige, mit Aufträgen überhäuft, nun auch composer in residence beim renommierten Lucerne Festival ist. Noch vor 15 Jahren kannten nur Insider den Österreicher, der im Skiort Tschagguns aufgewachsen war und mit 17 beschlossen hatte, Komponist zu werden. »In der Pubertät schrieb ich Gedichte und habe gemerkt, dass die Sprache

nicht präzise genug ist. Dass ein Akkord, den ich am Klavier anschlage, viel deutlicher ist.« Aber die Klaviertöne sind längst verblasst neben dem Spektrum, das Haas später entdeckte. Möglich, dass das Umspannwerk eines nahen Stauseekraftwerks die früheste Anregung war. Aus statischen Maschinenklängen, sagt er, hört man am deutlichsten die Naturtonreihe heraus, also all die mitschwingenden Obertöne, deren ungeheure Vielfalt in der

»wohltemperierten« Stimmung von zwölf Halbtönen grob reduziert wird. Allerdings nur in der Theorie, denn jeder Streicher, der ein Vibrato spielt, jeder Sänger, der einen Ton der Brillanz wegen leicht anhebt, arbeitet unwillkürlich mit Teiltönen. »Wir sind eigentlich gewohnt, mikrotonale Aufführungen zu hören«, meint Haas. Im Gegensatz zu den Interpreten haben die Komponisten erst spät aus dem Zwölftongehege gefunden, von György Ligeti bis Klaus Huber. Stark beeindruckt war Haas von den französischen »Spektralisten«, die Töne und Klänge analysieren und mit den dabei gefundenen Obertönen arbeiten – längst auch mit Computerhilfe. »Aber sobald es zur Dogmatik wird«, sagt er, »habe ich panische Angst.« Haas will subjektiv sein dürfen. In seiner Kammeroper Nacht schuf er Spannungen zwischen normal gestimmten und mikrotonal umgestimmten Streichern. Mit diesem Werk fiel er 1996 in Bregenz auf; es wird an diesem Wochenende auch in Luzern gespielt. Erst in einem Alter, in dem manche große Komponisten bereits berühmt oder tot oder beides sind, begann Haas, sich zu etablieren. »Es tut einfach weh, wenn man nicht beachtet wird«, erinnert er sich, »andererseits hat sich die Lernphase wesentlich verlängert.« Im Umgang mit den Mikrotönen erwarb er dabei eine intime Selbstverständlichkeit wie kein anderer. Welche Wirkung das haben kann, zeigte sich vor einem Jahr in Donaueschingen. Die Uraufführung der Limited Approximations für sechs Klaviere im Zwölfteltonabstand und Orchester war nicht nur eine Sensation, sondern eine jener halben Stunden, in denen Musikgeschichte geschrieben wird. Der Klang der Flügel verflüssigte sich. Wie schmelzendes Geröll flossen ihre Töne durch Schichten des Orchesters. Eine menschenleere Tektonik entsteht, wie vor dem Anfang oder nach dem Ende der Zeiten, die Bedrohliches hat in ihrer Eigengesetzlichkeit. Wie ein brodelnder Meeresspiegel scheint einmal der Klang auf die Hörer zuzukippen. Und wenn manche Akkorde von fern wie Septakkorde bei Anton Bruckner tönen, dann nur als Fata Morgana über einem Prozess, der mit Tonalität so viel zu tun hat wie die Entstehung der Alpen. In diesem Prozess wird einem das gewohnte Treppenmaß der zwölf Töne unter den Füßen weggezogen, während ein ganz anderer, höchst sinnlicher und physisch spürbarer Zusammenhang sich einstellt. Ehe man weiß, wie einem geschieht, ist man ins Gravitationsfeld eines anderen Planeten geraten. Vielleicht ist es auch die Erde, neu betrachtet. Haas’ Stücke, unverwechselbar auch durch ihr ausgedehntes Pulsieren, führen ihre Hörer weit weg. Und doch blickt man danach schärfer auf die Welt. Die präzise Arbeit an kleinsten Nuancen scheint beim Hörer Spuren zu hinterlassen. An zwanzig Sekunden Klang sitzt dieser Komponist schon mal 24 Stunden lang, vorzugsweise in abgelegenen Berghütten. Er findet aber auch Zeitdruck hilfreich. »Die Vorstellung, wenn ich nur lange über etwas nachdenke, wird’s schon von selbst gut, stimmt weder im Leben noch in der Musik.« Auch seinen Interpreten will er Qualen ersparen. In Limited Approximations empfiehlt er

Das Letzte

VON VOLKER HAGEDORN

dem Orchester auf Seite 73 ausdrücklich, »in die Intonation dieser Stelle nicht zu viel Zeit zu investieren und sich mit einer groben Annäherung zu begnügen«. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass das geniale Werk ins Repertoire wandert. Welcher Veranstalter kann die Anmietung von sechs Flügeln und deren mikrotonale Umstimmung bezahlen? Anfragen, ob man nicht auch elektronische Instrumente nehmen dürfe, lehnt der Komponist ab: »Ich brauche die sechs Flügel als lebendige Resonanzkörper.« Haas ist dabei kein Technologiekritiker. Er studierte am Pariser IRCAM, hält die Verfügbarkeit von 500 Jahren Musik per Knopfdruck für einen »gewaltigen Fortschritt« und braucht beim Komponieren außer einer Kaffeemaschine auch einen PC. Doch was ihn derzeit vor allem interessiert, ist Transzendenz. Die »intensive Wahrnehmung des Klangs« fülle die Lücke, die der »Verlust der Religion« hinterlassen habe. Und das sagt einer, der sich einmal als politisch motivierter Komponist verstand? Haas hält seine Stücke aus der Zeit immer noch für gut, aber eher trotz ihrer politischen Anliegen. »Die Struktur von in vain ist doch viel zu schön für den österreichischen Rechtsrutsch 2000!« Es passt in diese paradoxe Logik, dass sein jüngstes Werk sehr persönlich und darum umso politischer ist. Haas hat sein Siebtes Streichquartett geschrieben, als in Fukushima die Kernschmelze eintrat, in dem Land, in dem die Großeltern seiner fünfjährigen Tochter leben. Zum ersten Mal seit Langem hat Haas den Instrumenten Elektronik hinzugefügt. Das Arditti Quartett entwickelt in Luzern eine fragile, durchscheinende Klangwelt, aus deren Material eine zweite Ebene geschaffen wird. Es gibt da Zeitlupenexplosionen von eisiger, grauenhafter Schönheit, nach denen die Ardittis wieder liebevoll mit Holz und Haar an Nuancen feilen. Und es gibt, nach dem elektronischen Tsunami und vor dem großen Sturm am Schluss, das regelmäßige, tonlose Rascheln der Bögen wie leise Brandung auf bleiernem Meer. Unendlich traurig, trostlos. Zum ersten Mal glaubt man zu sehen, zu begreifen, was eigentlich geschehen ist. Und in die Schwärze hinein entfalten sich all die feinen Schwebungen, Glissandi, irisierenden Akkorde, Klangblüten, die man zuvor hörte, wie etwas, das nicht enden kann. Es endet übrigens auch nicht mit dieser Uraufführung. Georg Friedrich Haas spendet die Tantiemen seines Streichquartetts für eine mobile, aufblasbare Konzerthalle. Der Künstler Anish Kapoor und der Architekt Arata Isozaki haben diese »Ark Nova« für die Katastrophenopfer in Japan entworfen, im Auftrag des Lucerne Festivals. Im nächsten Jahr sollen in der mobilen Konzerthalle Aufführungen in den verwüsteten Regionen stattfinden. Keiner soll behaupten, dass die Luzerner Festivalmacher immer nur einkaufen gehen.

Foto (Ausschnitt): Marion Kalter/akg-images

Der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas hat ein Streichquartett zur Katastrophe von Fukushima komponiert. Jetzt feiert ihn das Lucerne Festival

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Es sind nicht mehr die Heuschrecken. Spätestens in diesem nassen Sommer avancierte eine ganz andere Kreatur zum Wappentier der Globalisierungsangst. Längst fürchten sich nicht nur Gartenfreunde vor der Spanischen Wegschnecke, die mit ihrer ewig raspelnden Zunge Dahlien, Kürbisse und Rittersporn niedermacht. Auch der unschuldige Passant kann Arion vulgari nicht entgehen beziehungsweise ist auf einer solchen schon ausgerutscht und hat böse Brüche davongetragen. Bald werden wir nicht mehr von Weg-, sondern von Killerschnecken sprechen. Doch bei allem Streit darüber, wie ihnen am besten beizukommen sei, ob man sie zertreten, zerschneiden oder besser mit heißem Wasser übergießen solle – im Grunde verdienen sie Bewunderung. Wie in keinem anderen Geschöpf verdichten sich in diesem alle Ideale der Globalisierung. Oder anders gesagt: Wer die Wegschnecke hasst, hasst sich selbst. Bei den Heuschrecken war das noch anders. Da schien es, als seien es einige wenige Investmentbanker, die als Landplage mal hier und mal dort über eine Firma herfielen oder einen Staat zermalmten. Würde man diese Plagegeister ausrotten, dann wäre der Kapitalismus wieder der alte, so konnte man glauben. Nun, in der zweiten großen Krise binnen weniger Jahre, zeigt sich: Der Finanzkapitalismus ist hartnäckiger, er ist wegschneckenhaft. Wer einmal mit dem Schneckenschleim in Berührung kam, der weiß, was das heißt. Er lässt sich nicht abwaschen, selbst mit Seife nicht. Natürlich gibt es Schneckenzäune, Schneckenkragen, Schneckenfallen, Schneckengift. In Dänemark gibt es sogar eine »nationale Strategie« gegen die Schnecke. Doch nichts hat sie aufhalten können. Sie ist die körpergewordene Globalisierung: vollflexibel, gänzlich unbehaust (was sie schneller macht) und von größter Zähigkeit. Weder die Kälte des Winters noch die Dürre im Frühjahr vermochten etwas gegen sie. Wie der Kapitalismus geht sie aus jeder Krise gestärkt hervor. Sie gehorcht perfekt seiner Logik, derzufolge immer der Stärkere zu obsiegen habe. Die Nacktschnecken fressen, auch wenn sie Vorlieben haben, im Zweifel alles und jedes und natürlich auch einander. Jede zerschnittene, zerquetschte Schneckenleiche wird so zum stärkenden Mahl der Hinterbliebenen. Und selbst die hervorstechendste Eigenart des Finanzkapitals haben die Nacktschnecken längst inkorporiert: Als Zwitter befruchten sie sich stets gegenseitig, wie das Geld, das Geld zeugt. FINIS WÖRTERBERICHT

MINT MINT, das klingt frisch und anziehend, wie die Modefarbe im Frühling 2012. Junge Frauen sollten es lieben, aber das tun sie nicht. Denn MINT steht für »Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik«. Das finden die Frauen laut einer Studie der Universität Buffalo unsexy, vor allem weil sie fürchten, junge Männer könnten es unsexy finden. Nach wie vor in: »was mit Sprachen.« ANDREA HEINZ www.zeit.de/audio

GLAUBEN

DIE ZEIT No 38

Fragen an den Papst Was wollen deutsche Katholiken vom Papst wissen? Wir haben Personen des öffentlichen Lebens um eine Frage gebeten – kleine Reminiszenz an einen Appell aus dem Jahr 1980: Heinrich Böll war damals dabei, auch profilierte Vatikankritiker wie Hans Küng. Einen offenen Brief, den 16 deutsche Theologen formuliert hatten, unterzeichneten insgesamt 135 Christen und 25 kirchliche Gruppen. Sie zählten Probleme auf, »welche viele Christen und Nichtchristen in diesem Lande bedrängen und auf die sie eine Antwort erwarten«. Vor dem Papstbesuch in Deutschland erschienen Sechs Fragen an Johannes Paul II. Von ihm erhofften sich die Unterzeichner: 1. eine Freigabe der Geburtenkontrolle, 2. praktische Fortschritte in der Ökumene, 3. ein Ende der Diskriminierung Wiederverheirateter, 4. die Abschaffung des Zölibats und die Ordination von Frauen, sowie 5. die Freiheit theologischer Fakultäten von kirchlicher Gängelung. Einzig ein sechster Komplex des Briefes (es ging etwa um die Haltung Roms zum Wettrüsten der Supermächte) liest sich heute historisch entrückt. Alle übrigen Fragen wird man wohl auch dem nächsten Papst noch stellen können. STEFAN SCHMITT

WOLFGANG THIERSE

Vater, könnten Sie sich »Heiliger zu der symbolischen Handlung verstehen, die Exkommunikation Martin Luthers (enthalten in der Bannbulle Papst Leo X. von 1521) zurück zu nehmen, um die nicht nur atmosphärischen Voraussetzungen dafür zu verbessern, dass wir das Reformationsjubiläum 2017 als ökumenisches Ereignis gemeinsam begehen können?

«

Wolfgang Thierse, 67, ist SPDPolitiker und Vize-Präsident des Deutschen Bundestages JOHANNES B. KERNER

die vielen Frauen, die in »Sollten und an der Kirche Dienst tun, nicht auch zumindest die Möglichkeit haben, ihre religiöse Mittlerrolle nach außen durch den Empfang der Priesterweihe zu befördern? Außerdem frage ich mich: Was tun, wenn man als Gläubiger seine Zweifel nicht spirituell, also im Gebet, lösen kann?

«

Johannes B. Kerner, 46, ist Fernsehmoderator und hat bei Sat.1 seine eigene Show »Kerner« NORBERT DENEF

geehrter Herr Dr. Ratzinger, »Sehr Betroffene von sexualisierter Gewalt fordern die Aufhebung der zivil- und strafrechtlichen Verjährungsfristen. Was empfehlen Sie dem Deutschen Bundestag?

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Norbert Denef, 62, ist Sprecher des Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt e.V. PAT E R K L A U S M E RT E S

meinten Sie konkret, als Sie »Was im letzten Jahr sagten, das Böse (des Missbrauchs) käme nicht von außen, sondern aus dem Inneren der Kirche?

«

Klaus Mertes, 57, ist Jesuit und war Rektor des Canisius-Kollegs Berlin. Jetzt leitet er das Kolleg St. Blasien JOHANNA RAHNER

ist für Menschen in ei»Warum ner säkularen Gesellschaft eine Kirche attraktiv, obgleich sie Frauen von der Teilhabe institutionalisierter Macht weitestgehend ausschließt, die eigenen Machtstrukturen nicht reflektiert, das Thema Sexualität und Macht tabuisiert, ein klerikalautoritäres Regime reproduziert und weiten Teile dieser Gesellschaft eine Partizipation verweigert? Welche prominente protestantische Persönlichkeit wären Sie gern für 14 Tage?

«

Johanna Rahner, 48, ist Professorin für Fundamentaltheologie und Dogmatik in Bamberg

Der Stellvertreterkrieg

Gute Katholiken? Kardinal Joachim Meisner (links neben Benedikt XVI.) kritisiert das Ehepaar Christian und Bettina Wulff

Kann denn Scheidung Sünde sein? Vorm Papstbesuch ringt die Kirche um ihre Moral – und den wiederverheirateten Bundespräsidenten

V

orn ist die Kathedrale bereits erleuchtet für die Amtseinführung des neuen Berliner Erzbischofs, im Hof nach hinten hinaus aber wirbeln noch die Ministranten und Diakone. Fast drei Dutzend Bischöfe drängeln sich wie Jungen beim Aufbruch zur Klassenfahrt, aufgeregt und um Ordnung bemüht zugleich. In robustem Berliner Tonfall ruft eine Stimme die im Hof Versammelten zur Ordnung: Erst die Ministranten, dann die Bischöfe bitte in eine Reihe. »Alte und Gebrechliche zuerst, damit sie einen Sitzplatz haben.« Halb pikiert, halb amüsiert bringen sich die Würdenträger in Aufstellung, als gebrechlich mag hier keiner gelten. Der Ordnungsrufer beschwichtigt: »Heute läuft das vielleicht nicht so protokollarisch, wie Sie sich das wünschen, beim Papst wird das dann anders sein.« Beim Papst wird alles anders. Einig und freudig, so will sich die katholische Kirche in Deutschland ihrem größten Sohn aus Rom präsentieren, wenn er sie Ende September besucht. Es liegen harte eineinhalb Jahre hinter den Katholiken im Land der Reformation. Der Missbrauchsskandal, dessen Aufdeckung hier in Berlin ihren Ausgang genommen hat, steckt allen noch in den Knochen, und in der Folge übertraf die Zahl der ausgetretenen Katholiken – historische Schmach – zum ersten Mal die der ausgetretenen Protestanten. Darum ist es nicht nur die Kollegialität, die an diesem letzten Samstag im August mehr als 30 »Brüder im Bischofsamte« in der Berliner Hedwigskathedrale zusammenführt, es ist auch eine Demonstration der Einigkeit im Angesicht äußerer und innerer Widrigkeiten: Hier macht sich eine Kirche selber Mut. Und doch wird keine Woche vergehen, bis die immer noch machtvolle katholische Kirche in Deutschland mit ihren knapp 25 Millionen Mitgliedern in einen Streit um ihren Kurs und ihr Angesicht verwickelt ist. Denn der Besuch des Papstes hat bereits im Vorfeld einen ganz eigenen Wettlauf in Gang gesetzt: Wie voll werden die Plätze sein, wie rege der Zuspruch, vor allem aber – welche Botschaften der Kirche wird der Besucher verstärken, welche Erwartungen dämpfen? Und seit Wochen ist ein Ringen darum zu beobachten, den Vater in Rom auf die eigene Seite zu ziehen. Zwei Protagonisten stehen für die Gegensätze, die die Kirche derzeit prägen, und beide sind an diesem Samstagmorgen in der Hedwigskathedrale. Da ist Robert Zollitsch, der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof im grünen Vorzeigestädtchen Freiburg. Auf Zollitsch trifft das PapstWort vom demütigen Arbeiter im Weinberg des Herrn nicht nur wegen der sonnigen Hanglagen in seinem Heimatbistum zu. Weder mit dem Talent zum Talkshow-Geistlichen noch mit formaler Kommandogewalt über die anderen Bischöfe ausgestattet, dient er leise und beharrlich der liberalen Sache. Joachim Kardinal Meisner wiederum ist der Altmeister des konservativen Kirchenflügels. Die Öffentlichkeit kennt ihn für seine Vergleiche zwischen Holocaust und Abtreibung (inzwischen ausgeweitet auf Fukushima und Abtreibung), seine manchmal schrillen Äußerungen für Anliegen, die gleichwohl kirchliches Kerngeschäft sind. Bei aller Erregung der Medien über ihn liegt auch eine Kraft in Meisners konservativer Unbeugsamkeit. Der Kardinal sieht seinen Auftrag darin, das Evangelium zu verbreiten, nicht den Kritikern zu gefallen. Wenn das den Zorn der Welt erregt – und zur Not auch ein paar Wankelmütige aus den eigenen Reihen vertreibt –, dann ist das für ihn keine Anlass für Zweifel, sondern eine Ermunterung zum Weitermachen. Dass Bischöfe vernehmlich aneinanderrasseln, ist die große Ausnahme. Der offene Konflikt wird nicht geschätzt in der Konsensmaschine Una Sancta, der

Einen Heiligen Kirche. Doch hinter der Fassade der Ein solches Problem stellt ausgerechnet der kaEinmütigkeit ist ein zäher, stiller Richtungskampf tholische Bundespräsident für seine Kirche dar. im Gange. In immer neuen Wendungen wird nichts Christian Wulff, einmal geschieden und jetzt mit weniger als die künftige Ausrichtung der Kirche in seiner zweiten Frau Bettina verheiratet, könnte der Deutschland erstritten: Wie weltzugewandt, wie Stolz seiner Kirche sein: das Staatsoberhaupt, einer weltabgewandt soll sie sein? Wie viel Tradition von uns. Tatsächlich aber ist Wulff als wieder verheibraucht sie, wie viel Fortschritt verträgt sie? rateter Geschiedener von der Kommunion ausgeDie breite Öffentlichkeit erreichen nur die we- schlossen, dem Mittelpunkt der katholischen Messe. nigsten dieser Gefechte, und oft sind es Stellvertre- Wäre der Neu-Berliner Christian Wulff an diesem terkonflikte, die da ausgetragen werden: An Einzel- Samstagmorgen die drei Kilometer von Schloss fällen von manchmal nur lokaler oder partikularer Bellevue zum August-Bebel-Platz gekommen, um Bedeutung entscheidet sich symbolhaft, welche Seite der Einführung seines künftigen Bischofs beizuwohgerade Terrain gutmachen konnte. Wird ein ange- nen, hätte er bei der Austeilung der Hostien in der hender Diakon geweiht, auch wenn er der Frauen- Bank sitzen bleiben müssen. ordination zuneigt und sich mit Protestanten gut In der Hedwigskathedrale ist inzwischen der versteht? Darf ein Pfarrer in herausgehobener Stel- Höhepunkt der feierlichen Zeremonie erreicht. Der lung die Befürchtung äußern, wenn der Papst sich Nuntius, der Botschafter des Heiligen Stuhls, übernicht besinne, werde er die Kirche womöglich »gegen reicht dem neuen Erzbischof die päpstliche Ernendie Wand fahren«? Keineswegs sind die Frontverläufe nungsurkunde, ehe sie, so will es der Brauch, dem in diesen Fragen immer klar. Domkapitel und dem Volk verlesen wird: Benedictus Selbst auf die Theologen ist kein Verlass mehr. Episcopus Servus Servorum Dei, beginnt das lateiniSeit weit mehr als 300 von ihnen ein Memorandum sche Schriftstück – Benedikt, der Bischof von Rom für Reformen in der Kirche unterzeichnet haben, ist und »Diener der Diener Gottes«, entbietet dem von das Argument brüchig geworden, nur notorische ihm Ernannten Gruß und apostolischen Segen! Nörgler oder halbe Protestanten haderten mit dem Reihum umarmen die Bischöfe den Neuling, die Kurs ihrer Kirche. Harmonie scheint perfekt. Und so ist diese Kirche derWas kaum einer der Anwezeit mindestens zweifach zersenden weiß: Am Tag vorher, rissen: zwischen oben und uneinem Freitag, hat Robert Zolten, aber eben auch zwischen litsch, der Vorsichtige, einen liberal und konservativ. Der eigenen Weg beschritten. In horizontale Riss zwischen Baeinem schmucklosen Raum sis und Hierarchie, zwischen des Freiburger Erzbistums T I T E LG E S C H I C H T E enttäuschten Schäfchen und gibt er ein Interview, das in entrückten Hirten hat Tradider ZEIT erscheint und ihn tion, gerade in Deutschland. Gleichzeitig wohnt der auf die Titelseite von Bild befördert: Als »Gewinner Klage darüber aber auch eine Selbsttäuschung inne: des Tages« wird Zollitsch dort gerühmt, weil er ReDie katholische Kirche ist nun mal hierarchischer, formen im Umgang mit wieder verheirateten Geauch autoritärer verfasst als ihr evangelisches Pen- schiedenen verlangt. »Eine Frage der Barmherzigdant. Bei uns ist jeder sein eigener Bischof, sagt der keit«, nennt Zollitsch seinen Plan. Als Kronzeugen Protestant. Für den Katholiken gilt: Durch den Bi- führt der Bischof den Bundespräsidenten an, den schof spricht auch der Heilige Geist. Das schränkt Gastgeber Benedikts bei dessen Deutschlandreise. die Spielräume etwas ein. Letztlich tiefer aber teilt An welche Veränderungen Zollitsch konkret der Riss zwischen liberal und konservativ die Kirche, denkt, lässt er – ganz Politiker – offen: die Zulassung denn er verläuft vertikal, teilt die Basis genauso wie zur Kommunion? Oder eine eher symbolische Geste die Bischöfe. Im Zentrum steht dabei die Frage: Wie des Zuspruches? Dafür nennt er einen Zeithorizont: viel Reform verträgt diese Kirche – und wie viel Li- »zu meinen Lebzeiten«. In einer Kirche, die Verändenientreue braucht sie? rungen in Jahrhunderten misst, ist das eine fast hektisch kurze Zeitspanne. Zollitsch ist 73. Roma locuta, causa finita – Rom hat entschieden, Gemeinsam ist den Feinden der Glaube, die Sache ist erledigt. Bislang galt das auch für die wahrhaft katholisch sei nur man selber Wiederverheirateten. Nun hat der Vorsitzende der Weil die Freiheit zu kritischen Gedanken in einer Bischofskonferenz die Linie der Vorsicht verlassen. zentral geführten Kirche seit je klein ist, finden sich Bild konnte er damit für sich gewinnen, wiewohl das die unermüdlichsten Propagandisten von Aufbruch Blatt sonst gern treu an der Seite des Papstes steht. Ist und Veränderung meist jenseits der beamtenähnli- vielleicht auch in Rom Bewegung denkbar? Den chen Strukturen des Arbeitgebers Kirche. Christian Kardinal von Köln hat Zollitsch jedenfalls nicht Weisner etwa, Sprecher der Basisinitiative »Wir sind überzeugt. Zollitsch gegen Meisner, das ist auch imKirche«, gehört zu jenen Aktivisten, die bei Regen mer die Frage, welches Antlitz diese Kirche den Menoder Sonnenschein, bei jedem Kirchentag oder schen zeigen soll: ein Gesicht der Güte oder eines der Papst-Besuch die dreifache Umkehr bei Frauenordi- Strenge. So gerne Meisner von der Liebe des Herrn spricht, so sehr steht er für die Position, dass man es nation, Zölibat und Sexuallehre predigen. Auf der anderen Seite versammeln sich bei Kon- den Menschen mit dem Glauben nicht zu leicht magressen wie dem gerade zu Ende gegangenen Treffen chen darf. Hat es etwa den Protestanten genützt, dass »Freude am Glauben« die traditionell papsttreuen sie die letzten 50 Jahre dem Drängen des Zeitgeists Katholiken und beschwören eine Zukunft, die in nachgegeben haben? Sind ihre Kirchen voller, ihre maximaler Übereinstimmung mit Roms vermutetem Gläubigen fröhlicher? Lieber eine Kirche der wenioder tatsächlichem Willen liegt. Gemeinsam ist bei- gen, die das Richtige glauben, als eine Kirche der den Lagern die Überzeugung, wahrhaft katholisch vielen, die nicht wissen, wofür sie stehen. So resolut der Kardinal verdammen kann, so rafsei nur man selber: weil wir die Mehrheitsmeinung deutscher Katholiken vertreten, reklamiert »Wir sind finiert kann er kontern. Er sei vielfach angesprochen Kirche«; weil wir um die rechte Lehre wissen, meinen worden auf Zollitschs Initiative, erklärt Meisner in einem umgehend anberaumten Gegeninterview, und die Anhänger von »Freude am Glauben«. Was auf der Strecke bleibt in dieser sterilen Kon- habe »dann auch meine großen Fragezeichen gefrontation, ist der Versuch, der Kirche die Stärke ih- macht«. Von der Lektüre des Interviews sei er jedoch rer Traditionen zu erhalten, ohne darum offensicht- »positiv überrascht« worden, schließlich habe Zollitsch sich lediglich als Ortsbischof von Freiburg geliche Probleme zu ignorieren oder gar zu verklären.

VON PATRIK SCHWARZ

äußert und nicht als Sprecher aller Bischöfe. »Denn wenn der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz ein solches Interview gibt«, so Meisner im kircheneigenen Domradio, »dann muss er sich auch des Konsenses der Bischöfe vergewissern.« Eine unmissverständliche Warnung: In meinem Namen spricht der Vorsitzende nicht. Ansonsten aber sei Meisner »sehr berührt vom Glaubenszeugnis« des Bruders im Amte gewesen.

Benedikt ist der stärkste Verbündete. Wer ihn gewinnt, gewinnt die Kirche Welche Chuzpe! Nichts in Zollitschs Äußerungen deutete darauf hin, dass er seinen Vorstoß nur als Freiburger Lokalangelegenheit verstanden wissen wollte, also gewissermaßen bloß als halber Bischof sprach. Auch das Beispiel des Bundespräsidenten vermag den Kardinal nicht zu beeindrucken. »Ich will dazu nur sagen: Die Unauflöslichkeit der Ehe gilt für alle Stände und für alle Repräsentanten der Gesellschaft.« Und weil Meisner nicht Meisner wäre ohne die provokative Analogie, setzt er Christian Wulff, den modernen Patchwork-Mann, in Bezug zu Englands blutrünstigem, sechsfach beweibtem König Heinrich VIII.: Ganz England habe die Kirche verloren, weil sie dem Herrscher die Zustimmung zur Wiederheirat so hartnäckig verweigerte, dass dieser seine eigene Kirche begründete, die anglikanische. Sollten nach Meisners Intervention noch Fragen offen geblieben sein, so ließ am selben Tag auch der päpstliche Botschafter in Berlin seine diplomatische Rücksichtnahme fallen: In dieser Frage sei »die Lehre der Kirche klar und mit einer Veränderung nicht zu rechnen«, gab der Nuntius via Katholische Nachrichten-Agentur die amtliche römische Linie aus. Kardinal und Botschafter öffentlich vereint gegen den Vorsitzenden einer Bischofskonferenz, die binnen Monatsfrist den Papst erwartet, das hat es lange nicht gegeben. Wurde hier telefoniert? Gab es Absprachen? Wer weiß. Das Telefon ist jedenfalls eine beliebte Waffe im modernen Kirchenkampf. Die andere ist das Flugzeug nach Rom. Von Gott einmal abgesehen, kennt der katholische Kosmos keinen stärkeren Verbündeten als den Papst. Wer Benedikt gewinnt, gewinnt die Kirche. Wer zu ihm Zugang hat, kann seine Sicht darlegen. Auch an ihm zerren also die Frontleute beider Flügel. Auch durch ihn aber geht – so bezeugen es Menschen, die mit ihm sprechen – ein Riss: Als Pontifex maximus, als oberster Brückenbauer, möchte er die Kirche des Dogmas mit der Kirche der Seelsorge versöhnen, die Pflicht zur Strenge mit dem Wunsch nach Barmherzigkeit. Hat nicht Jesus sich in zahllosen biblischen Geschichten gerade den Sündern zugewandt? Wie kann da die Kirche hartherzig sein? So fragen die Seelsorger. Und die Dogmatiker antworten: Wer die Ehe zum Sakrament erklärt hat, kann nicht die Zweitehe einfach gnadenhalber billigen. Die kirchlichen Lehren gründen in der Bibel, genauer in deren Interpretation durch Generationen von Theologen. Wer hier Veränderung wünscht, muss theologisch einen Ausweg aus der bisherigen Sichtweise aufzeigen. Wie praktisch, dass der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff, mit Erzbischof Zollitsch eng verbunden, gerade ein Werk zum Thema vorgelegt hat. Entscheidender sind aber vielleicht zwei kurze Meldungen aus Italien: Der Papst hat bei einem Auftritt in Ancona erneut die Bedeutung der Unauflöslichkeit der Ehe hervorgehoben. Warum wohl? Das zeigt vielleicht eine andere Notiz aus dem Vatikan: Der Papst habe Kardinal Meisner zu einer Privataudienz in der Sommerresidenz Castel Gandolfo empfangen. »Über Anlass und Inhalt des Gespräches«, so endet die Meldung, »machte der Vatikan keine Angaben.«

Fotos (Ausschnitte): KNA; Yorck Maecke/GAFF/laif; privat (kl.Foto, S. 71 unten)

70 15. September 2011

T I T E LG E S C H I C H T E : Der Papst kommt nach Deutschland

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

71 Fotos (Ausschnitte): Eric Vandeville/Gamma/laif; Alessandra Benedetti/corbis (s.a.: »Päpste« v. Helge Sobik, Feymedia Düsseldorf 2010

& ZWEIFELN

Alte Pracht, sportiver Stil

Gipfel der Macht: Der Papst auf Urlaub in den italienischen Alpen und bei der Messe im Petersdom

Der Vatikan ist eine Bildermaschine. Was sagt der Fachmann für Liturgie über die aktuelle Selbstinszenierung der Kirche? DIE ZEIT: Herr Richter, wenn Sie die Auftritte des

Papstes betrachten – was fällt Ihnen dabei auf? Klemens Richter: Dass die Auftritte viel stärker inszeniert sind als bei seinen Vorgängern. Es gibt eine Gesamtdramaturgie, in der eine hierarchisch gegliederte Kirche betont wird, die sich mit Elementen der ebenso hierarchischen Popkultur verbindet. Auf der Bühne stehen die Stars, der Papst und die Bischöfe. Darunter die jubelnde Menge. ZEIT: Das war früher doch auch so. Richter: Die mediale Vermarktung des Papstes hat enorm zugenommen. Auch die liturgischen Zeichen sind andere. Bei Papst Benedikt reichen sie weit zurück ins 19. Jahrhundert. Denken Sie nur an die Ferula, den Papststab. Seine Vorgänger Paul VI. und Johannes Paul II. benutzten einen schlichten Stab, der oben ein Kreuz trägt. Benedikt aber benutzt die Ferula von Pius IX., der selig gesprochen wurde. ZEIT: Pius IX. war ein rabiater Anti-Demokrat und ein harter Kritiker der modernen Gesellschaft. Richter: Zumindest wird damit nicht zufällig auf einen Papst verwiesen, unter dem die päpstliche Unfehlbarkeit dogmatisiert wurde. ZEIT: Der Papst trägt Prada, titelte die SZ einmal. Jedenfalls trägt er im Winter eine Hermelinmütze. Richter: Ja, den roten Camauro aus dem 17. Jahrhundert. Er trägt auch rote Schuhe. Und an den liturgischen Gewändern in Rom finden Sie verstärkt einen Spitzenbesatz, der zurückgeht bis ins Barockzeitalter. Merkwürdig ist auch die Erfindung von Traditionen. Der jetzige Chef der Rota Romana, Kardinal Burke, hat ein neues Kardinalshütchen, einen Galero, kreiert. Das wurde historisch nie getragen, sondern ist nur im Wappen der römischen Titelkirchen der Kardinäle sichtbar. Man knüpft also an eine Tradition an, die es nie gab. Seit dem 18. Jahrhundert war übrigens die Schneiderei Gamarelli für die Papstkleidung zuständig, inzwischen hat der Papst zu einer Firma mit einem etwas sportiveren Stil gewechselt. Aber das kann man ja auch positiv sehen.

ZEIT: Ist bei Benedikt auch das Private inszeniert? Richter: Muss flottere Kleidung unbedingt Insze-

nierung sein? Als Ratzinger noch nicht Papst war, trat er in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend auf – er trug nur dezente schwarze Kleidung. Auch die Liturgie nach dem Tod von Johannes Paul II. war äußerst zurückhaltend und hat mich tief beeindruckt. Ich vermute, dass die Inszenierung seines Auftretens in der Öffentlichkeit weniger von ihm ausgeht als von seinem Umfeld, so von seinem Zeremoniar Marini, der beim jetzigen Deutschlandbesuch jede Einzelheit exakt vorgibt. ZEIT: Der Vatikan ist ein modernes Unternehmen und kennt die Gesetze des Marketings. Rom soll zur Marke werden. Richter: Der Vatikan war immer unverwechselbar in seinen Riten und Formen. Das gilt auch für den Farbkanon der liturgischen Gewänder. In der evangelischen Kirche ersetzen zunehmend farbige Gewänder den schwarzen Talar. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange es nicht um Prunk geht. ZEIT: Welche liturgischen Veränderungen beobachten Sie noch? Richter: Beim Weltjugendtag in Madrid stand die Anbetung stark im Vordergrund. Der Papst macht sie wieder zum zentralen Moment der Liturgie, während das Zweite Vatikanische Konzil den Dialog zwischen Gott und Mensch betonte. Außerhalb des Gottesdienstes fällt mir auf, dass es seit 2010 ein neues Papstwappen gibt. Darin taucht die alte Papstkrone, die Tiara, wieder auf. ZEIT: Wofür steht die Tiara? Richter: Die Tiara ist aus der phrygischen Mütze der römischen Kaiser entstanden. Sie ist ein monarchisches Hoheitszeichen für die absolute Machtfülle der Kirche und die Überhöhung des Papstes. Zuletzt hat sie Paul VI. bei der Krönung verwendet, doch er legte sie während des Zweiten Vatikanischen Konzils ab – als Zeichen einer neuen Demutshaltung der Kirche. Seitdem gibt es die Papstkrone nicht mehr. In den Wappen von Johannes Paul II.

und Paul VI. wurde sie nur mit drei goldenen Quer- kundäre Zeichen entfallen, die die Mitte des Glaustreifen in der Mitra angedeutet, wie eine letzte Er- bens eher verdeckten. Als Konzilsberater von Karinnerung an die Geschichte. Benedikts Wappen dinal Frings hatte Ratzinger diese Liturgiereform enthält wieder die Tiara. Hier wird erkennbar, dass übrigens begrüßt und für notwendig erachtet. er die Machtfülle des Papstamtes neu bewertet. ZEIT: Papst Benedikt behauptet, die TridentiniTheologisch gesehen, ist das ein Schritt zurück. sche Liturgie sei nie abgeschafft worden. ZEIT: Steht die Papstkrone für die alte Reichstheo- Richter: Das ist so nicht richtig. Sie wurde durch logie, als der Papst noch die Hoheit über die welt- neue römische liturgische Bücher ersetzt und nur liche Macht beanspruchte? für alte Priester übergangsweise weiter erlaubt. Die Richter: Die Tiara war immer ein Zeichen der ab- Wiederzulassung begründet der Papst damit, dass soluten Machtfülle des obersten Hirten-, Priester- es nie einen Bruch in der liturgischen Tradition und Lehramtes. So muss man diese Neuinszenie- gegeben habe. Tatsächlich gab es immer Brüche. Ein Beispiel dafür ist die tridentinische Messe rung wohl verstehen. ZEIT: Will Rom sich von der modernen Gesell- selbst, die 1570 alle Formen verboten hat, die nicht älter als 200 Jahre waren. Beim Zweiten Vaschaft abgrenzen? tikanum ändert sich das KirchenRichter: Jedenfalls wählt der Papst verständnis hin zu einer Volk-Gotoft vorkonziliare Symbole, und das passt zu seinem theologischen K L E M E N S R I C H T E R tes-Theologie. Die Kirche ist nicht mehr von oben nach unten geordKurs. 2007 hat er die tridentinische net, sondern eher von unten nach Liturgie wieder erlaubt, und das ist oben. Die einzelnen Gemeinden, nicht irgendein Ritus, sondern entdie die Eucharistie feiern, bilden spricht einem hierarchischen Kirdie Kirche, und zwar in Verbinchenverständnis. Der Priester ist dung mit ihren Bischöfen, auch der Mann Gottes, hinter dem die dem Bischof von Rom. Gemeinde auf den Altar zugeht. Ganz anders in der Liturgie nach ZEIT: Warum dreht sich in der dem Zweiten Vatikanischen Kon- ist einer der wichtigsten kirchlichen Diskussion eigentlich zil. Hier wird die Messe nicht für Liturgiewissenschaftler in alles um das Zweite Vatikanum? die Gemeinde gefeiert, sondern die Deutschland. Der Richter: Weil dieses Konzil eine Gemeinde feiert die Messe mit ih- katholische Emeritus, große Befreiung war von vielerlei rem Priester. Das ist ein völlig an- Jahrgang 1940, forscht Erstarrung, eine Rückkehr zu den deres Kirchenverständnis. Wie sie zur Theologie und Praxis Ursprüngen und ein Anschluss an beide nebeneinander existieren sol- des Gottesdienstes die Moderne. Es nahm die Relilen, ist mir ein Rätsel. gionsfreiheit ernst und forderte die Ökumene. Das Konzil wollte die ZEIT: Benedikt würde sagen: Das Zweite Vatikanum hat die Bildbedürftigkeit der volle und tätige Teilnahme aller Gläubigen an der Gläubigen unterschätzt und die Kirche schleichend Eucharistiefeier und der Kommunion. Jahrhundertelang waren sie oft nur einmal im Jahr zur säkularisiert. Richter: Ja, vermutlich. Aber die Liturgie, die das Kommunion gegangen. Als Ersatz hatte man die Zweite Vatikanische Konzil erneuerte, ist in ihren »Augenkommunion«, die Anbetung Christi in der Bildern nicht weniger stark. Es sind nur viele se- Hostie im Tabernakel. Aber Jesus sagte nicht,

kommt am Sonntag vor dem Tabernakel zusammen. Er trug uns auf, mit ihm das Mahl zu teilen und darin seine Gegenwart zu erfahren. ZEIT: Steckt hinter der majestätischen Liturgie des Papstes auch Angst – Angst vorm Verschwinden der katholischen Kirche? Richter: Manche, die Ratzinger kennen, meinen, er sei ein ängstlicher Mensch. In der römischen Kurie herrschte schon bald nach dem Konzil die Sorge, dass die Einheit der Kirche gefährdet sei und dass durch muttersprachliche Liturgien Schwesterkirchen entstehen. Aber wenn ich dem Heiligen Geist vertraue, muss ich doch fragen: Was ist daran so schlimm? Das war doch in der Frühzeit genauso. Die Kirche von Jerusalem hat sich anders entwickelt als die Kirche von Rom oder Konstantinopel. In Rom scheint man zu glauben, nur eine total einheitliche Liturgie – und zwar möglichst auf Latein wie die tridentinische – könne die Einheit der Kirche bewahren. ZEIT: Droht der Kirche eine neue Erstarrung? Richter: In der Tat, das ist meine größte Sorge. Rom fühlt sich in Bedrängnis, und deshalb werden die Reihen enger geschlossen. Das war kirchengeschichtlich fast immer so, denken Sie nur an die Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes 1870/71. Aber welche Kirche wollen wir? Eine Kirche, die die Gemeinschaft stärkt – oder eine ausschließlich hierarchische Kirche? Diejenigen, die sich Letzteres wünschen, sind in Rom extrem stark vertreten. Das gilt auch für Bewegungen wie das Opus Dei, vor allem aber für die Pius-Bruderschaft. Ich sehe hier einen Weg ins Ghetto, wie wir es bei Sekten kennen. Sie stehen für ein christliches Leben außerhalb der Welt. Das kann keine Zukunft haben. Und besonders jesuanisch scheint es mir auch nicht zu sein. Christen leben nun einmal in der Spannung, sich nicht dieser Welt anzugleichen, aber sie doch zu gestalten. Die Fragen stellte THOMAS ASSHEUER

GLAUBEN & ZWEIFELN

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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Fotos (Ausschnitte): Denis Doyle/Getty Images; Markus Schreiber/AP (re.)

T I T E LG E S C H I C H T E : Der Papst kommt nach Deutschland

MARTIN MOSEBACH

Vater, warum reisen Sie »Heiliger in ein Land, in dem Sie erwartet werden von illoyalen Bischöfen, nationalkirchlich-schismatischen Theologen, von Katholiken, die ihre Religion nicht mehr kennen, einer zutiefst verständnislosen Medienöffentlichkeit und von ungezogenen Politikern?

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Martin Mosebach, 60, ist Schriftsteller. Soeben erschien von ihm »Das Rot des Apfels – Tage mit einem Maler« im zu Klampen Verlag WERNER WENNING

kann die Kirche tun, um »Was mit ihren Werten Antworten auf die dringenden Bedürfnisse der Zukunft zu finden?

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Werner Wenning, 64, war Chef des Chemiekonzerns Bayer und ist Vorsitzender des E.on-Aufsichtsrates MARIA HÖFLRIESCH

stehen Sie aktuell zur Tibet»Wie Frage, und wie würden Sie Ihr Verhältnis zum beschreiben?

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Dalai

Lama

Maria Höfl-Riesch, 26, ist als Skirennläuferin mehrfache Olympiasiegerin und Weltmeisterin REINHARD LOSKE

profitiert die katholische »Warum Kirche eigentlich nicht von der zunehmenden Suche nach Spiritualität und sogar (temporärer) Askese in unserer Gesellschaft, obwohl ihr doch beide Bedürfnisse vertraut sein sollten?

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Da kommt was auf uns zu: Eine junge Frau demonstriert in Spanien gegen den Pontifex, eine deutsche Benediktinerin wiegt Hostien für die Papstmesse in Berlin

D

as Christentum gehört zu Deutschland, der Islam gehört zu Deutschland. Gehört der Papst auch zu Deutschland? Bundespräsident Christian Wulff hat ihn eingeladen, er wird diese Frage nicht stellen, wenn er am 22. September den Pontifex in Schloss Bellevue begrüßt. Aber sie stellt sich. Wenige Tage vorher hat Wulff den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül zu Gast. Wer warum zu Deutschland gehört, ist eines der Leitthemen seiner Präsidentschaft. Integration, präzisiert seine Pressesprecherin, meine nicht nur das Zusammenleben von Türken und Deutschen, sondern auch das von Gläubigen und Atheisten, Alt und Jung, Arm und Reich. Laut einer neuen Umfrage der KonradAdenauer-Stiftung sind 63 Prozent aller Deutschen stolz darauf, dass es ein Landsmann auf den Heiligen Stuhl geschafft hat, 44 Prozent freuen sich auf den Besuch. Eine Wir-sind-Papst-Euphorie geben diese Messergebnisse nicht her, aber von Desintegration kann auch keine Rede sein. Allenfalls von Desinteresse. Den Papst erwarten freudige, gleichgültige und feindlich gesinnte Deutsche. Protest gehört nun einmal zu Deutschland, der Wirkungsstätte Martin Luthers und anderer hauptamtlicher Papstkritiker. Mehr als 60 Gruppen haben das kritische Bündnis »Der Papst kommt« geschmiedet. Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) war gleich beim Dagegensein dabei, Ex-Musliminnen schlossen sich an, weil Islam und Katholizismus in ihren Augen einiges gemeinsam haben. Adressat der Demo soll weniger der Papst als die Öffentlichkeit sein. Deshalb kämpft das Bündnis um einen attraktiven Demo-Platz in der Hauptstadt. Der neue Berliner Erzbischof Rainer Maria Woelki gibt sich gelassen, Kurienkardinal Paul Josef Cordes, Mitglied der päpstlichen Delegation, sagt: Die Aktion der Gegner mache deutlich, dass es Widerstand gegen Glauben und Gott gebe. Ein lockeres Heimspiel steht Benedikt XVI. nicht bevor. Von einem »Arbeitsbesuch« spricht Pater Hans Langendörfer, Chefkoordinator des Besuchs und Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz. Zum Stellenpro-

fil des Stellvertreters Christi gehört seit Johannes Paul II. ness. In Berlin, der ersten Station, wird er das Gespräch rück. Die Eltern des Joseph Ratzinger lernten sich noch die Kunst, jubelnde Massen zu versammeln. Der Welt- mit der Politik suchen; in Erfurt, just in jenem Augusti- über eine Anzeige im Altöttinger Liebfrauenboten kenjugendtag in Köln war 2005 ein katholisches Sommer- nerkloster, in dem Martin Luther Antipäpstliches for- nen, ihm selbst ist der Katholizismus mehr Heimat als märchen für den frisch gewählten Benedikt. Mild mulierte, bemüht er sich um den Dialog mit der evan- Deutschland. So wird er fast zum Fremden im eigenen lächelnd, ein bisschen schüchtern, streifte Joseph Rat- gelischen Kirche. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch Land. Und nichts fürchtet das Oberhaupt der Una zinger damals den Ruf des Panzerkardinals ab. Intellek- hin dauert der Gedankenaustausch länger als ursprüng- Sancta, der einen Kirche, mehr als Entfremdung. Für Christian Wulff bedeutet der Katholizismus tuelle, die Gott für eine Erfindung des Gehirns hielten, lich vorgesehen, exakt von 11.45 Uhr bis 12.20 Uhr. Er achten ihn als Top-Denker, doch Katholiken ohne wird im Eichsfeld Marienfrömmigkeit zelebrieren und auch Heimat. Der Papst ist ihm ein FamilienoberPhilosophiestudium sehnen sich nach einem Weltklasse- in Freiburg im Konzerthaus sprechen. Dazwischen sind haupt, der Heilige Vater, nicht nur Seine Heiligkeit. seelsorger. Ein pastorales Wunder von Bern wird vom Begegnungen mit der jüdischen Gemeinde, Vertretern Wulff gehört zu denjenigen, die als wiederverheiratete Pontifex erwartet: Er soll Glaubwürdigkeit für die des Islams und Opfern des Missbrauchs vorgesehen, über Geschiedene auf das seelsorgerliche Fünfe-geradesein-Lassen hoffen. Doch ob er im persönliKirche zurückgewinnen, zerstrittene Lager chen Gespräch mit Benedikt Reformen anversöhnen, die Ökumene voranbringen regen wird? Ob Klaus Wowereit, ebenfalls und den Opfern des Missbrauchs ein ZeiKatholik, mit dem Pontifex über Homosechen geben. Das eine Lager erhofft sich xualität und Schöpfungsordnung diskutiert? klare Worte gegen den Relativismus, das Und Angela Merkel, erste deutsche Kanzleandere die Erlaubnis, in der Seelsorge auch rin, über die Rolle der Frau? mal fünf gerade sein lassen zur dürfen, ohne Der Papst hat kein Land außer Italien des Verrats an der Dreifaltigkeit beschuldigt öfter besucht als dieses. Er will zu Deutschzu werden. land gehören, aber er gehört Deutschland Das Fernsehen wird berichten wie von nicht. Von 1,2 Milliarden Katholiken welteiner Königshochzeit, je nach Zitatlage geweit leben 24,6 Millionen hier. Zum Verlangt Benedikt in den Unterhaltungs- oder gleich: Brasilien hat 155 Millionen. Was der Erregungskreislauf. Er ist kein glänzender Global Player in Freiburg sagt, soll auch in Redner. Was er sagt, lässt sich selten in zwei Warum Benedikt ins Land der Papstkritiker Rio Bestand haben. Das macht konkrete knackigen Sätzen verwerten. »Und der Papst Versprechen wenig wahrscheinlich. schweigt« war eine beliebte Formulierung kommt VON CHRISTIANE FLORIN Vor gut dreißig Jahren, beim Besuch von in der Missbrauchsdebatte. Doch wer hören Johannes Paul II. in München, kritisierte die wolle, könne klare Botschaften vernehmen, Vorsitzende des Bundes Katholischer Jusagt Hans Langendörfer: »Die Missbrauchsgend, abweichend vom Manuskript, die katholische debatte hat die deutschen Bischöfe sehr beschämt. Es gab allem schweben die Messfeiern vor großer Gemeinde. Vielleicht lobt er im Reichstag die Verfassung und Sexualmoral. Joseph Ratzinger, damals Erzbischof im Episkopat Angst und Verzagtheit, da hat der Papst einen Impuls gegeben, den Weg der Aufklärung zu ge- dankt in Thüringen den ostdeutschen Christen für ihren von München und Freising, war verärgert. Mittlerhen.« Mittlerweile haben die Bischöfe eine Studie in Auf- Beitrag zur Einheit Deutschlands? Vielleicht«, vermutet weile löst das Thema eher Resignation als Redelust trag gegeben, die das Ausmaß an Verbrechen und Ver- Hans Langendörfer, »dankt er auch den Christen, dass aus, auch bei Jugendlichen. In der Kirche von heute tuschung offenlegen soll. Ihre Bußgeste gegenüber den sie sich durch schwierige Zeiten hindurch bemühen, ist nicht mehr die Basis zuständig für UnvorhergeseOpfern fiel bei der Frühjahrsvollversammlung diskret dem Evangelium zu entsprechen.« Schwierig sind die henes, sondern die Spitze. Warum also kommt der aus. Gelingt Benedikt ein sichtbareres Signal? Zeiten nicht nur wegen des Missbrauchsskandals und Papst nach Deutschland? Der Vatikan schweigt, der Der Papst hat einen Heimvorteil, doch sein Einsatz der 180 000 Kirchenaustritte des vergangenen Jahres. Gläubige kann es sich denken: weil Benedikt XVI. das verlangt rhetorische, diplomatische und spirituelle Fit- Die Zahl der Taufen und Trauungen geht deutlich zu- Land Luthers nicht sich selbst überlassen will.

Zu Gast bei Feinden?

Reinhard Loske, 52, war für die Grünen Senator in Bremen und prägt als Wissenschaftler die Umweltdebatte in Deutschland ANDREAS MAIER

kenne kaum noch einen Gläu»Ich bigen, der sich für schuld an der Welt hält. Für die meisten ist die Welt offenbar etwas ganz normales. Vielleicht von Risiken bedroht, aber normal und eigentlich gut so. Dabei leben wir ja nicht anders als die, die Jesus regelmäßig hart angeht. Warum ist der Schuldgedanke fast völlig aus der öffentlichen Kirchensprache verschwunden?

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Andreas Maier, 44, ist Schriftsteller. Zuletzt erschien der Roman »Das Zimmer« bei Suhrkamp CHRISTOPH MÖLLERS

ist nach 2000 Jahren beständi»Was gen Wandels an der Kirche ewig?« Christoph Möllers, 42, ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie in Berlin TINE STEIN

Gott uns mit der Geschichte »WvonennEva, die die Frucht vom verbotenen Baum der Erkenntnis isst, lehren will, dass wir eigene Entscheidungen treffen müssen, für die wir uns zu verantworten haben, ist dann nicht gerade die moderne Welt mit ihren Wahlmöglichkeiten eine der göttlichen Bestimmung des Menschen zur Freiheit sehr angemessene Zeit?

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er kürzeste Witz über die Allmacht be- Dass das Papsttum einem Verhängnis gleichkommt, hat nicht das Gefühl, der legitime Besitzer des Schlüssels steht nur aus einem Satz: »Wenn du Gott nicht zuletzt für den Papst selbst, davon handelt auch zum Himmelreich zu sein. Erfüllt ein Papst überhaupt zum Lachen bringen willst, erzähl ihm eine neue Filmkomödie von Nanni Moretti, die in Italien den biblischen Auftrag richtig, diesen Schlüssel zu vervon deinen Plänen.« Das soll heißen, dass innerhalb nur zweier Monate eine Million Zuschauer walten, indem er absolutistisch über das geistige Reich der Allmächtige sich nicht um die kleinen Pläne seiner hatte. Habemus Papam – Ein Papst büxt aus erzählt von des Katholizismus herrscht? Darüber streiten nun seit Petrus die Theologen. Es Geschöpfe kümmert. Der Mensch denkt, und Gott einem Auserwählten, der es nicht schafft, nach seiner lenkt: So sahen es schon die alten Griechen, so unge- Wahl auf den berühmten Balkon überm Petersplatz zu ist aber eine Frage, die auch Nichtkatholiken interesfähr steht es in der Bibel, und so kann es sieren kann, weil sie letztlich unser aller Verselbst einem Papst passieren. Als vor sechs hältnis zur Herrschaft und unser VerständJahren Joseph Ratzingers Wahl durch das nis von Freiheit betrifft. Schlicht gesagt: In Konklave besiegelt wurde, da fühlte der Kareiner freien demokratischen Gesellschaft dinal, wie er später sagte, »das Fallbeil auf muss sich alle Macht innerhalb der Welt mich herabfallen«. Wieso empfindet der und mit Vernunftgründen legitimieren. Stellvertreter Gottes diese höchste aller EhEine Macht, die das nicht will und kann, ist ren als ein Todesurteil? Aus Ehrfurcht vor für uns schwer akzeptabel. Der päpstliche dem Herrn? Aus Sentimentalität für das nun Anspruch jedenfalls, einen direkten Draht unwiederbringliche Gelehrtendasein? Nein. zu Gott zu haben, und deshalb im ZweifelsWer vor der eigenen Papstwahl erschrickt, fall die Wahrheit zu dekretieren, passt nicht reagiert nur allzu menschlich auf das Abin die Demokratie. Carl Schmitt fand: Der surde dieses Amtes. Führer setzt das Recht, weil er der Führer ist. Der Vatikan findet: Der Papst ist der Denn wer Papst wird, hört auf, ein Mensch Weil Gott unfehlbar ist. Über die Paradoxien Stellvertreter Gottes, weil das Gottes Ratunter Menschen zu sein, und muss für den schluss ist. Aus dieser totalitären Falle Rest seines Lebens als Gottes einsamster Dieines besonderen Amtes VON EVELYN FINGER plomat im Niemandsland zwischen Himmel kommt man auch nicht heraus, indem man und Erde schweben. Das gelegentliche Herabfordert, der Papst müsse sich ändern – denn steigen zu den Gläubigen – huldvolle Segnung, dann müsste auch Gott sich ändern. Vielleicht ist das ja der Grund, warum viele Kathognadenvolle Berührung – besiegelt nur die eigene Ent- treten. Blöder Jux, kann man sagen. Doch der Film zeigt, rücktheit. Denn die Distanz des Papstes zur Welt ist eine was als Unbehagen die Debatte um das Papsttum schon liken hierzulande den Papst zwar ungern missen möchandere als die der weltlichen Herrscher oder Stars, näm- ewig prägt: die absolute und durch nichts Irdisches legi- ten, aber sein Amt auch nicht wirklich ernst nehmen. lich Zeichen des Absoluten. Dieser eine kennt den timierte Macht. Da weichen die Kardinäle plötzlich vor Sie ignorieren jedenfalls seine Positionen zu gewissen Willen Gottes und die Wahrheit. Dieser eine ist unbe- dem einen Kardinal zurück und himmeln ihn als Heili- Fragen. Für sie ist der Papst auch nur ein Mensch. Und zweifelbar, also unberührbar. Mal ehrlich: Wer will das? gen Vater an, was diesen in Panik versetzt, denn er selbst was denkt Benedikt? Wer wie er die alten Attribute

Der Papst ist unfehlbar

Gottes ernst nimmt, wer also an Allmacht, Allwissenheit, Allgüte glaubt, der gerät als Papst in einen Selbstwiderspruch. Es ist der Widerspruch zwischen seiner Herkunft als Bürger und seinen quasigöttlichen Attributen. Selbst Benedikt, so wenig begeistert von der Demokratie er sein mag, kommt doch aus einer freiheitlichen Gesellschaft, wo die Gewalt geteilt ist und die Wahrheit des Katholiken ebenso viel wie die des Atheisten gilt. Dementsprechend behandeln denn auch deutsche Politiker den Papst, nämlich als Bürger, und beantworten so die Machtfrage gegenüber dem Vatikan. Zwei letzte Fragen aber können nur die Katholiken selbst klären. Erstens: Ist ein Katholizismus ohne Papst denkbar? Nein, sagen konservative Theologen, er ist der unverrückbare Fels dieser Kirche. Zweitens: Lässt das Papstamt sich demokratisieren? Vielleicht, sagen manche Reformtheologen, die sich damit aber ganz klar außerhalb der gegenwärtigen offiziellen Kirchenlehre stellen. Die Kirche ist hierarchisch ganz starr auf den Papst hin ausgerichtet. Trotzdem wäre auch ein Papstamt ohne kirchliche Allmacht und ohne Unfehlbarkeit denkbar, als Symbol der Einheit der Kirche, als moralische Instanz, als Repräsentation der Kirche nach außen. Ein Papst, demokratisch vom Volk Gottes gewählt. Ein Papst, der nicht über den Entscheidungen von Synoden und Konzilien stünde. Diese Diskussion ist schon seit dem Mittelalter unter dem Stichwort »Konziliarismus« im Gange. Zurzeit kann man darüber aber nicht offen reden. Wer sich dazu als Theologe äußert, muss leider mit einem Lehrbeanstandungsverfahren rechnen. Denn hier geht es um eine Frage der Macht.

Tine Stein, 46, ist Professorin für Politische Theorie in Kiel HANSJOCHEN VOGEL

würde den Papst fragen, ob es »Ich nicht an der Zeit sei, den wiederverheirateten Geschiedenen ein Zeichen der Versöhnung zukommen zu lassen, wie es kürzlich sogar den Piusbrüdern zuteil geworden ist. Auch würde ich ihn bitten, gerade jetzt die katholische Soziallehre mit Nachdruck zu vertreten.

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Hans-Jochen Vogel, 85, war Bundesvorsitzender der SPD, Bundesminister und Regierender Bürgermeister von Berlin FRANZ BECKENBAUER

verehre den Papst, er ist eine »Ich unglaubliche Persönlichkeit und erfüllt seine Aufgabe hervorragend. Über eine Milliarde Menschen zu führen ist extrem schwierig, und ich möchte ihm dabei nicht die Zeit mit meinen Fragen rauben.

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Franz Beckenbauer, 66, ist Deutschlands erfolgreichster Fußballer. Er war als Spieler und als Trainer Weltmeister. Er ist Ehrenpräsident des FC Bayern München

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Wie sollen wir denn lieben?

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

KULTUR

SAISON

Inhalt Überall Premieren und Eröffnungen – der Kulturbetrieb brummt wieder. Zeit, die Höhepunkte der Herbstsaison auf 12 Seiten zu präsentieren: Revival Das neue Leben der Postmoderne Seite 75 Klassik Eine Reportage aus dem Irak Seite 76 Theater Die Neuanfänge an deutschen Bühnen Seite 77 Kunst Ein Besuch auf der Farm des großen Ed Kienholz Seite 84 Isabelle Hupperts neuer Film »I’m not a f ***ing princess« kommt im Oktober in die Kinos

DIE ZEIT: Ein mittlerweile legendäres Buch namens La femme aux portraits zeigt Fotos, die berühmte Fotografen von Ihnen, Madame Huppert, angefertigt haben. Auf der letzten Seite sehen wir eine leere Kinoleinwand, und davor sitzt, nur von hinten zu sehen, ein einzelner Mensch. Isabelle Huppert: Ja, das hat Hiroshi Sugimoto fotografiert. Er hat sich viel mit leeren Kinosälen beschäftigt, nur diesmal hat er den Saal mit einem ganz kleinen Körper bevölkert, und das ist meiner. ZEIT: Man sagt Ihnen eine Leidenschaft für die Fotografie nach. Huppert: Die habe ich nicht. Eher eine Leidenschaft für mich selbst ... ich lasse mich gern fotografieren. ZEIT: Auf die leere Leinwand kann der Betrachter projizieren, was er will. Genauso wie auf Ihr Gesicht, das die Filmkameras gerne in Großaufnahme zeigen. Huppert: Jeder Zuschauer erzeugt seine eigene Fiktion. Er stellt eine Verbindung zwischen dem Körper des Schauspielers und seiner eigenen Vorstellungswelt her. Und zugleich erzeugt der Schauspieler eine Fiktion mithilfe der Rolle, die er verkörpert. ZEIT: Das Kino zeigt nicht nur fiktive, sondern auch wirkliche körperliche Verrichtungen, etwa wenn die Schauspieler essen. Was sie in den Filmen, die Claude Chabrol mit Ihnen gedreht hat, ziemlich oft tun. Huppert: Eine komplizierte Sache. Die Mahlzeit als soziale Versammlung, das ist ja nun schon weitgehend im Kino dargestellt worden, aber der Umgang mit der Nahrung selbst, das ist etwas anderes. Den hat das Kino bisher nicht richtig gut gezeigt. Für mich sind es zwei sehr verschiedene Dinge, sich zum Essen zu treffen und selbst zu essen. Mir zum Beispiel fällt es eher schwer, mit anderen zu essen, ich esse sehr gerne allein. Mit anderen zusammen, da müssen Sie reden und essen ... ZEIT: ... mit demselben Organ, mit dem Sie außerdem noch atmen ... Huppert: ... eben, und das ist besonders im Film schwierig. ZEIT: In Ihrem neuen Film I’m not a f***ing princess geht es ebenfalls um den Körper und die Projektionen. Es wird deutlich, dass der Körper eine Doppelexistenz führt: Man hat einen Körper, und man ist ein Körper. Auch wenn man ihn hergibt, bleibt man doch darin. Huppert: Wie die Schauspieler; sie geben ihre Körper her, aber halten an ihnen fest. ZEIT: Sie spielen in dem Film eine Fotografin, der es schwerfällt, in der Pariser Kunstszene Erfolg zu haben – bis sie auf den Gedanken verfällt, erotisierende Aufnahmen ihrer kleinen Tochter anzufertigen, opulent und kitschig in Szene gesetzt. Huppert: Auch das kleine Mädchen gibt seinen Körper her, aber nicht wirklich aus freien Stücken. Es wird nicht nach seiner Meinung gefragt. Die Mutter nimmt ihm seinen Körper. Bis die Kleine dagegen revoltiert; gegen etwas, das sie fast wie einen Menschenraub empfindet, oder wie eine Beschlagnahme ihres Körpers. ZEIT: Erst gefällt ihr das aber. Huppert: Es ist ja oft so, dass eine derartige Beschlagnahme dem eigenen Narzissmus entgegenkommt. Dieser Genuss kann stärker als das Aufbegehren gegen die Unterwerfung sein. Aber mit der Revolte übernimmt man dann wieder die Macht über sich selbst.

ZEIT: Die Mutter, die Sie spielen, rechtfertigt die

Fotos, die sie von ihrer Tochter macht, mit der Freiheit der Kunst. Ein Befreiungsdiskurs, der Unterdrückung und Ausbeutung verschleiern soll. Huppert: Sie redet von Kunst und Ausdrucksfreiheit, maßt sich aber eine illegitime Macht über ihr Kind an, das sie mit den Bildern erotisiert. Der Mutter ist nicht einmal bewusst, was sie da anrichtet, und das ist vielleicht noch schlimmer. ZEIT: Das Mädchen macht aus Liebe mit. Huppert: Aus Liebe und weil seine Mutter es hübsch herrichtet und ihm sagt, wie schön es ist. Hinzu kommt seine Faszination für diese volatile Frau, die kommt und geht, wann sie will. Es ist die Geschichte einer gegenseitigen Besitzergreifung, völlig normal und legitim seitens des kleinen Mädchens, aber nicht seitens der Mutter. Natürlich und richtig ist es, dass man sein Kind ein unabhängiges Individuum werden lässt; hier aber verläuft die Entwicklung genau umgekehrt. Der Film zeigt eine Amour fou, eine verrückte Liebe zwischen Mutter und Kind. Und sosehr man eine Amour fou zwischen einem Mann und einer Frau akzeptieren kann, so wenig gilt das für Mutter und Kind. Man darf seine Kinder nicht wie verrückt lieben. Man muss sie mit Vernunft lieben. ZEIT: Die Liebe als Fusion ist gefährlich. Huppert: Sie ist zwischen Mutter und Kind beinahe eine natürliche Tendenz, aber man muss sie bremsen, daran muss man wirklich arbeiten, sonst droht die Katastrophe; in der Mutter-Kind-Beziehung existiert eine offene Tür, hinter der diese abartige und wahnsinnige Sache lauert. ZEIT: Der Film ist autobiografisch. Huppert: In Wirklichkeit war wohl alles noch schlimmer, was die Regisseurin Eva Ionesco mit ihrer Mutter Irina erlebt hat. ZEIT: Eines der Fotos, der wirklichen Tochter, war im Jahr 1977 Titelbild des Spiegels. Ein kleines, nacktes Mädchen in der Pose einer Hure. In der Titelstory ging es dann um Kinderprostitution. Huppert: Das wusste ich nicht. ZEIT: In I’m not a f***ing princess kommen die Journalisten auch nicht besonders gut weg. Huppert: Das stimmt schon, ist aber kein wichtiger Aspekt des Films. Da geht es eher um andere Dinge. Seine ästhetische Form schafft eine gewisse Distanz, und das gibt ihm die Kraft. Er zeigt nicht einfach eine Wirklichkeit, sondern erzählt sie in Form eines Märchens. Sie haben da die Hexe und ein Mädchen, das Prinzessin wird, außerdem die gute Großmutter – Phantasmagorien der Märchenwelt. Hinzu kommen die Schönheit der Orte und die Theatralik der Gesten. Das ist Evas Hommage an das ästhetische Universum ihrer Mutter Irina Ionesco, ein morbides und zugleich kindliches Universum, mit seinen Puppen und Todessymbolen. Der Film ist zugleich conte und règlement de comptes, Märchen und das Begleichen einer Rechnung. ZEIT: Das ist nicht Ihre erste Rolle als Mutter in einer gefahrvollen Beziehung zum Kind ... Huppert: ... und bestimmt nicht die letzte. ZEIT: Das zieht Sie an? Huppert: Man ist wohl gezwungen, das festzustellen. ZEIT: Die Mutter in I’m not a f***ing princess ist auch wieder so ein starrsinniger Charakter, wie Sie ihn schon oft gespielt haben. Fortsetzung auf S. 74

Foto (Ausschnitt): Jason Bell/Camera Press/Picture Press

Die großartige Isabelle Huppert über schreckliche Mütter, rebellierende Töchter und ihre Faszination für das Verderben

74 15. September 2011

KULTURSAISON

DIE ZEIT No 38

Urlaub im Geisterhaus

B

Die Sängerin und Komponistin Tori Amos – ihre neue Platte erscheint in dieser Woche

Fortsetzung von S. 73

Huppert: Ja, diesen Eigensinn bis zur Besessen-

heit. Menschen, die ihr Ziel um jeden Preis erreichen müssen, weshalb es ihnen allen an Weichheit mangelt. ZEIT: Warum spielen Sie das gern? Huppert: Weil darin viel steckt. Kraft, Verzweiflung, da gibt es viele Farben. Und das Verderben. ZEIT: Zwischen Konsequenz und Starrsinn verläuft nur eine feine Linie. Huppert: Sie ist nicht nur fein, sondern liegt auch immer wieder woanders. Wenn es zum Beispiel ums Überleben geht, etwa im Krieg, ist das Festhalten an Zielen, das Durchhalten, eine andere Sache als in normalen Situationen. Letztlich sind es immer die äußeren Umstände, die den Verlauf dieser Linie bestimmen. ZEIT: Und hinter ihr beginnt der Wahnsinn. Huppert: Manchmal. Man muss sich allerdings darüber verständigen, was Wahnsinn heißt. Zum Beispiel die Unfähigkeit, sich einem sozialen Modell anzupassen oder wenigstens mit ihm Kompromisse einzugehen. ZEIT: Wie in dem 1995 von Chabrol gedrehten Film Biester, in dem Sie eine der beiden Frauen spielen, die eine wohlhabende Familie massakrieren.

lut auf dem Teppich und ein Meer von Scherben. Die ersten Zeilen klingen wie die Begehung eines Tatorts. Ein Paar streitet sich in der Tiefe der Nacht. Noch ist nichts Schlimmeres geschehen. »Das ist nicht mein Blut«, singt die Frau. »Das ist nicht das Glas, das ich geworfen habe.« Dazu läuft ein Piano-Riff unruhig durch die unteren Oktaven, darüber hysterisch umherirrende Streicher. Mann und Frau, sie kämpfen, jeder in seiner Tonlage, aber nicht im gleichen Rhythmus. Willkommen auf dem Schlachtfeld einer erlöschenden Liebe. Von der Szene, die sie in Shattering Sea beschreibt, ist Tori Amos derzeit weit entfernt. Ihre türkisfarbenen High Heels mit dem BudapesterLochmuster leuchten beinah so unternehmungslustig wie ihre grünblauen Augen. Ihr langes, glattes rotes Haar scheint an diesem Londoner Juli-Nachmittag einen kleinen Wettbewerb mit der Sonne auszutragen. Ein Lächeln gibt den Blick frei auf unamerikanisch ungebleichte, katzenhaft spitze Eckzähne. »Doch ja ... ich bin noch verheiratet mit meinem Mann«, sagt sie. »Aber natürlich muss man solche Szenen kennen, um sie zu gestalten.« Tori Amos, Jahrgang 1963, hat das Wechselspiel der Identitäten zu einem Teil ihres Werks gemacht. So ziemlich alles zwischen Domina und CollegeGirl hat sie durchprobiert in ihren an Cindy Sherman erinnernden Inszenierungen. Amos’ American Doll Posse oder Strange Little Girls waren Forschungsreisen zu divergierenden Teilen ihrer Persönlichkeit. Sogar ein Ferkel säugte sie an ihrer Brust. Dass die Tochter eines Methodistenpfarrers aus North Carolina zur Spezialistin für aufgewühlte und widerstrebende Gefühlslagen wurde, liegt nicht nur an ihrer Herkunft aus dem Bible Belt. Schon mit fünf Jahren wird das pianistische Wunderkind am Peabody-Konservatorium in Baltimore aufgenommen, jedoch will es alsbald Musik nicht mehr lesen, sondern fühlen, und verlässt das Institut, um sich, zunächst unter Aufsicht des Vaters, 14 Jahre lang als Bar-Pianistin durchzuschlagen. Als sie endlich einen Plattenvertrag ergattert, will die Firma ein Rock-Chick aus ihr machen. Wiederum ergreift sie die Flucht. Ihren Durchbruch erlebt Tori Amos 1992 mit dem A-cappella-Stück Me And A Gun. Sie schildert darin eine reale Begebenheit: ihre eigene Vergewaltigung. Die beinah tonlos vorgetragenen Zeilen, geschrieben in der U-Bahn, machten sie

Huppert: Die beiden rebellieren zunächst mit ab-

Huppert: Ich habe noch viel mehr Komödien ge-

weichendem Verhalten. Eine Klassenrebellion. Natürlich ohne Theorie oder Klassenbewusstsein, sondern organisch aus einer Situation entstanden, in der Arme auf Reiche treffen. Was schließlich zum Desaster führt. ZEIT: Biester zeigt die Entstehung des Bösen. I’m not a f***ing princess ebenfalls. Huppert: Manchmal ist das Böse sehr klar definiert; zwischen Schlächtern und Opfern gibt es keine Verwechslung. In anderen Fällen aber ist die trennende Linie nicht sofort zu erkennen. Das Kino ist da im Lauf der Zeit viel subtiler geworden. Es geht nicht darum, das Böse zu legitimieren oder zu entschuldigen, sondern darum, zu erkennen, wie es Wurzeln schlägt und wie es ein menschliches Wesen verändert. ZEIT: Sie legen sich solche Dinge aber nicht vorher theoretisch zurecht, wenn Sie arbeiten, oder? Huppert: Natürlich nicht. Die Arbeit ist eher intuitiv, sie verläuft allmählich, man arbeitet sich in eine Persönlichkeit hinein. Aber die grundsätzlichen Gedanken begleiten mich durchaus, das schon. Es ist nicht so, dass ich ein Problem mit Theorie hätte. ZEIT: Dass Sie richtig lustig sein können, hat man seit Acht Frauen fast vergessen.

spielt, aber sie lassen sich nicht gut exportieren. Das Tragische, das ist universell, aber das Komische oder Leichte, das ist seltsamerweise territorial gebunden. ZEIT: Sehen Sie eigentlich fern? Huppert: Ja, gar nicht so wenig. ZEIT: Wenn Sie im Film fernsehen, dann haben Sie immer diesen leeren Blick. Huppert: Wenn Sie ins Leere blicken, dann spiegelt sich das eben wider. In Wirklichkeit ist das Fernsehen natürlich nicht immer nur inhaltlos, aber in Kinofilmen erfüllt es die Funktion, Zeichen der Leere zu sein. Da blickt sozusagen die große Bildfläche, die Leinwand, auf die kleine, den Fernsehschirm. Kino als Befreiung, Fernsehen als Entfremdung. Sozusagen. ZEIT: Könnten Sie auf das Fernsehen verzichten? Huppert: Wenn ein Fernseher vorhanden ist, schaltet man ihn an, das ist wie ein Reflex. Im Juli habe ich in einem Dorf in Korea gedreht, da gab es nur koreanische Fernsehprogramme. Ich habe kein Wort verstanden, aber mir einiges angeschaut. Und zwar gern. Mir ist so etwas schon ein paarmal widerfahren. Aber wenn kein Fernsehen verfügbar ist, dann habe ich damit wahrlich auch kein Problem. Das Gespräch führte GERO VON RANDOW

zum Leitstern der Singer-Songwriter-Zunft, nicht in der Nische, sondern mit zig Millionen Verkäufen und später auch mit Techno-Remixen. Gerade hat Amos’ Manager auf seinem Laptop Fotos gezeigt, die in der engeren Auswahl für das Booklet sind, entstanden auf Amos’ Anwesen in Irland. Amos im langen Abendkleid auf der Treppe oder mit weißem Umhang und geblümter Schärpe vor bleigrauem Himmel. Es ist das Haus in Irland, in dem sie lange lebte. Das sie kaufte, weil sie sich dort ihrem Vorfahren John Craigh verbunden fühlte, der im 18. Jahrhundert in die USA ausgewandert war. In diesem Haus entstand Boys for Pele, Pele, die hawaiianische Vulkangöttin. Sie ist eine von vielen mythischen Gestalten, die Amos’ Welt bevölkern. Aus der großmütterlichen Linie kommen die Geister der Cherokee hinzu.

Eine einzige Identität ist ihr zu wenig, gern wäre sie eine dreigesichtige Göttin Aber die Geister sind jetzt mal nicht da. Tori Amos wirkt aufgeregt, wie jeder Künstler, der ein Wagnis eingegangen ist. Diesmal ein musikalisches: ein Klassik-Album, das keines ist. Neue Kompositionen, basierend auf Vorlagen von Bach, Scarlatti, Schumann, Schubert, Chopin, Mussorgsky, Debussy. Mittelmäßig repertoirefeste Hörer werden Eric Saties Gnossienne No. 1 erkennen, deren Thema Amos zunächst mit gedämpften Saiten anspielt, um es dann in die Gesangsmelodie zu übernehmen. Spiritistisch beschreibt sie den Entstehungsprozess: »Die Geister der Meister müssen es wollen. Manche kamen zu Besuch, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, Händel und Mozart schauten vorbei, aber ich fand keinen Weg.« Sie nennt das Unternehmen »gefährlich«. »Don’t mess with the masters!« Worum geht es? Die Deutsche Grammophon, seit Langem strategisch bemüht, die ehernen Grenzen zwischen E und U aufzuweichen, bat Amos, die alten Vorlagen in die Gegenwart zu holen. So wie es vor ihr schon DJs taten, Elektromusikanten oder Rockstars. Amos ging in ihr Studio, genauer gesagt, in das ihres Mannes und Toningenieurs Marc Hawley in der ländlichen Abgeschiedenheit von Cornwall. Hinzu kam ein Kammerorchester. Und Amos’ Idee eines Liederzyklus über Liebe in den Zeiten ihres Vergehens; erzählt mit wechselnden Identitäten. Ein Naturgeist tritt hinzu. Indianische Geister.

VON RALPH GEISENHANSLÜKE

Altirische Mythen. Gender-Fragen. Es geht also um so ziemlich alles. Und es geht manchmal nur knapp vorbei an Baumhoroskopen und Esoterik-Talmi. Tori Amos, die Suchende. Die zwei Flügel zugleich spielt. Oder wie sie sagt: »zwei Bösendorfer«. Ihre Musik entsteht überall auf der Welt, in Flugzeugen, Hotelzimmern, Flughafen-Lounges. Sie führt eine »bikontinentale Beziehung«. Natascha, ihre zehnjährige Tochter, war schon auf sechs Welttourneen dabei. Wo ist ihr ruhender Pol? Vielleicht bei Natascha, die als Annabelle durch das neue Album Night of Hunters geistert. Oder in ihrem Haus in Florida. »In England bin ich nur zu Gast«, sagt sie. In Florida, inmitten menschenleerer Landschaft, entschied sie, »keine Strandhütte zu bauen, sondern eine Kathedrale«. Andere driften ins App-Universum, ins multimediale Nirwana. Warum also nicht mal wieder in den guten alten vorchristlichen Ritualen schürfen. Amos erwähnt den britischen Autor Robert Graves und sein Buch The White Goddess, das nach Inspiration in den heidnischen Kulten, besonders der Kelten grub. Müsste sie sich für eine einzige Identität entscheiden, dann für Graves’ Bild einer »dreigesichtigen Göttin von Geburt, Liebe und Tod« – »Dann wären es wenigstens noch drei.« Wer oder was hat die beiden Liebenden in Night of Hunters entzweit? »Dass sie sich von ihrem Selbst entfernt haben, von ihren ureignen Kräften. Sie hat ihre Welt verlassen, sich von ihren Freunden abgewandt. Sie hat angefangen, ihn zu bevormunden, zu nörgeln. Sie haben anderen erlaubt, sich zwischen sie zu stellen.« Jede Beziehung schafft ihre eigene Wahrheit. Kein Außenstehender kann wirklich erfassen, was sich zwischen zwei Menschen abspielt. Die wechselnden Rollen, sagt Amos, »sind der weibliche Weg, mit solchen Dingen umzugehen. Wir teilen nur bestimmte Dinge mit bestimmten Menschen. Wir gehen in der einen Rolle ins Büro, in der anderen treffen wir unseren Liebhaber. Noch eine andere haben wir für den Ehemann. Diese Technik haben wir über Jahrtausende entwickelt.« Ihr Mann Marc, erzählt sie, hat andere Geister. Die türkisfarbenen High Heels wippen auf und ab, als sie das erzählt. Marc hat immer John Cleese dabei, als Stimme auf seinem Navigationssystem. Natürlich fragt er nie jemanden nach dem Weg. Konzerte: 10. 10. Hamburg, 11. 10. Berlin, 24. 10. Luzern, 25. 10. Wien, 26. 10. Frankfurt/M., 31. 10. Essen

Die eigene Tochter, eine Porno-Prinzessin Seit 1972 spielt Isabelle Huppert Jahr für Jahr in mehreren Filmen, und jedes Mal ist ihre Wahl der Rollen anspruchsvoll. Schon in der Nebenrolle des revoltierenden Teenagers in Die Ausgebufften (1974 mit Gérard Depardieu) zeigen sich Motive, die später oft wiederkehren: die Dialektik von Befreiung und Unterdrückung sowie der Zerfall der bürgerlichen Familie. Huppert arbeitete mit Regisseuren wie Jean-Luc Godard, Claude Chabrol und Michael Haneke (Die Klavierspielerin) zusammen. Die Mutter dreier Kinder lehnt Fragen nach ihrem Privatleben grundsätzlich ab und äußert sich auch über aktuelle Themen ungern öffentlich. In ihrem neuen Film I’m not a f***ing princess spielt Huppert eine Fotografin, die mit erotischen Aufnahmen in der Pariser Kunstszene endlich den ersehnten Erfolg erzielt, nicht zuletzt mithilfe erregungsbereiter Kulturjourna-

listen. Das geht eine Zeit lang gut, bis die Boulevardpresse empört über die freizügigen Bilder berichtet, durchaus auf Kosten des Kindes, das als Porno-Prinzessin bloßgestellt wird. Zugleich rebelliert die Tochter, die sich ihrer Kindheit beraubt sieht, gegen ihre Ausbeutung. Schließlich schreitet der Staat in Form des Jugendamtes ein und verbietet den Verkauf der Bilder. Die Fotografin steht auf einmal mittellos da und beginnt, bisher noch unveröffentlichte Nacktfotos ihres Kindes an Päderasten zu verkaufen. Die Regisseurin Eva Ionesco gibt in ihrem Debütfilm einiges von dem wieder, was sie selbst erlebt hat. Der Originaltitel des auf Französisch gedrehten und 2011 in Cannes vorgestellten Films lautet My little princess, aber der deutsche Verleih zog einen Titel vor, der deutlicher für das ausgebeutete Kind Partei ergreift. In die deutschen Kinos kommt der Film Ende Oktober. GVR

Fotos (Ausschnitte): Victor de Mello/Deutsche Grammophon (l.); X Verleih

Bach auf Indianisch? Tori Amos kreuzt in ihrer Musik die Kulturen und Kulte

KULTURSAISON

Der Kampf gegen den »Einheitsterror der westlichen Vernunft« Die Architektur war nicht das einzige Exerzierfeld der postmodernen Idee. Der Romanautor Thomas Pynchon wurde zum Musterschüler der literarischen Postmoderne und Madonna zum Material Girl; am Theater machte der Regisseur Robert Wilson Furore, und in Europa begann eine Schar »Junger Wilder« wieder figürlich zu malen. Sie scherten sich einen Teufel um das Dogma, die moderne Malerei dürfe sich nur auf dem ästhetischen Königsweg vorwärts bewegen, auf der Einbahnstraße der Abstraktion. Die neue Avantgarde kämpfte nicht allein. Ihr zur Seite standen Intellektuelle wie der postmoderne Paradephilosoph Jean-François Lyotard oder dessen Landsmann Jean Baudrillard, der den »Einheitsterror« der westlichen »Rationalität« durch einen Pluralismus der Stile und Lebensweisen überwinden wollte. Beide waren davon überzeugt, das Versprechen der alten Moderne, also die »Erzählung« von Fortschritt und Aufklärung, sei obsolet geworden. Längst habe die Zivilisation, so Baudrillard, den »Raum des Realen« verlassen und sich auf den Weg in eine neue Ära begeben – in jenes Zeitalter von Simulation und Künstlichkeit, in dem es kindisch sei, zwischen Sein und Schein, Original und Nachahmung unterscheiden zu wollen. Wer die These von der Agonie des Realen für verrücktes französische Wortgeklingel hielt, der musste bloß ins Kino gehen. Dort lief Diva, ein im Stil der Werbeclip-Ästhetik gedrehter Film von Jean-Jacques Beineix. Diva handelt von heimlich aufgenommenen Gesangsaufnahmen und stellte so lange die Frage nach Original und Kopie, nach Realität und Simulation, bis der Zuschauer am Ende selber

glaubte, jede Kopie sei authentischer als die ursprüngliche Stimme. Filme wie Diva oder Stop Making Sense von der Post-Punk-Band Talking Heads geben ziemlich genau das mentale »Aroma« der späten siebziger und frühen achtziger Jahre wieder. Mit dem Siegeszug der elektronischen Medien schien sich das materielle Substrat der Welt aufzulösen und die »wirkliche Wirklichkeit« in einem sinnlosen Spiel der Zeichen und Codes zu verflüchtigen. Postmoderne – das war ein Cocktail aus Ästhetik und Theorie, es war das »gefühlte Wissen«, in einer undurchdringlichen, superkomplexen und doch geisterhaft funktionierenden Welt zu leben. In dieser Welt, so glaubte man, hätten sich die historischen Mächte von Politik und Geschichte verflüchtigt, und selbst soziale Kämpfe gehörten der Vergangenheit an. Und was folgte aus dieser Zeitdiagnose? Die Behauptung, dass sich postmoderne Gesellschaften nicht mehr politisch steuern, sondern nur noch ästhetisch ertragen lassen – cool, ironisch und verspielt. Mit dem Pathos der Distanz, nicht amoralisch, aber doch jenseits moralischer Zwänge glitt der postmoderne Zeitgeist zur Musik von Laurie Anderson auf den waves der visuellen Welt, auf den Glitzerwellen von Lifestyle und Kunst, von Werbung und Mode. Dieser Zeitgeist war, und das ist das Beste, was man über ihn sagen kann, antitragisch; er träumte vom gewaltlosen Nebeneinander der Bürger und ihrer sozialen Systeme, er wollte nicht besserwisserisch aufklären, sondern verführen und sich verführen lassen. Susan Sontags Aufsatz Anmerkung zu »Camp« von 1964 empfand der postmoderne Zeitgenosse ebenso als geniale Vorwegnahme seines Lebensgefühls wie Roland Barthes’ Lust am Text oder die Gemälde von Cy Twombly, dem melancholischen Meister der gemalten Schrift. Melancholisch deshalb, weil ja die wirkliche Wirklichkeit verschwunden war und der Alltag aus nichts anderem bestand als aus der bedeutungslosen Bedeutung austauschbarer Zeichen. Und die gute alte Wahrheit? Sie war in postmodernen Ohren das sentimentale Medley des Abendlandes, eine lästige metaphysische Hinterlassenschaft, deren Rätsel die Gegenwart nicht mehr bekümmern müssen. Die Wahrheit war nur eine ungedeckte Metapher, ein Text unter Texten in einer Welt ohne Tiefe. Selbst unsere innigsten Worte (»I love you!«), so Baudrillard, können die Wahrheit nur verfehlen. »Wenn man sagt: Ich liebe dich, setzt man die Sprache, eine Form des Bruchs und der Untreue, an die Stelle der Liebe.« Dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur semantische Fiktionen, nur unterschiedliche Sprachspiele – das war die größte Provokation, die die Postmoderne damals bereithielt. Denn während die alte Moderne noch die Versöhnung mit den Verhältnissen in Aussicht stellte, so tat die Postmoderne dies nicht mehr. Politisch hieß das: Wir müssen uns mit den sozialen Tatsachen und dem Pluralismus unvereinbarer Lebensweisen abfinden. Und für die Kunst lautete die Botschaft: Form und Gehalt sind nicht mehr verkettet, und damit ist das Ästhetische vom modernen Zwang befreit, den Fortschritt symbolisieren zu müssen, den »Vorschein der Versöhnung« (Adorno). Nach Belieben und mit einem Polytheismus der Stile darf sich der postmoderne Künstler aus dem Schatzkästlein der Vergangenheit bedienen, von der dorischen Säule bis zum spätwilhelminischen Erker. Anything goes. Es war der italienische Schriftsteller Umberto Eco, der diesen Wahrheitsbegriff in seinem Roman Im Namen der Rose beispielhaft ins Bild gesetzt hat. Was Adorno einmal die ästhetische Wahrheit nannte, das verschwand bei Eco in einem dunklen Labyrinth aus Fiktionen und Allegorien, oder wie man damals très chic sagte: im »Gleiten der Signifikanten«. Die Kunst erschien als ein Maskenball; ihre Wahrheit bestand in dem Nachweis, dass es keine Wahrheit gibt, weil sich hinter jeder Maske stets nur eine andere Maske verbirgt. Wenn aber die Kunst weder auf Wahrheit noch auf Erkenntnis zielt, dann bleibt ihr nur eines: die Erzeugung von Emotionen. Gute Kunst, so tönen die intellektuell ausgebrannten journalistischen Nachfahren der Postmoderne heute, »macht gute Laune«. Dieser postmoderne Abschied vom Prinzipiellen (Odo Marquard) brachte die Gegner schon immer auf die Palme. Sie witterten darin einen unappetitli-

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chen Relativismus, der das Kind mit dem Bade ausschütte und politisch zu reaktionären Konsequenzen führen müsse. Und vielfach stimmte das auch. Baudrillard flirtete später mit der französischen Rechten; einige der Hassgesänge, die das »Konkursbuch« am Grab der Moderne anstimmte, waren von rechtem Liedgut nicht zu unterscheiden. Der damals postmoderne Verlag Matthes und Seitz ließ mithilfe eines antisemitischen Autors das »Palaver der Aufklärung« in die Tonne treten, und viele jener »Medienphilosophen«, die einst als Flügeladjutanten der Postmoderne ihr Fähnchen in den Wind hängten, sind heute Minnesänger des wild gewordenen Kapitalismus. Oder der Niederländer Rem Koolhaas, ein Superstar der postmodernen Architektur. Er hält die Menschenrechte offensichtlich für ein beliebiges »Sprachspiel« und hat für sie, jedenfalls was China angeht, bloß ein Achselzucken übrig (ZEIT Nr. 24/08).

Heute bietet die Kunst Orientierung im Dschungelcamp der Warenwelt

Fotos: © Jean-Paul Goude (o.); © V&A images

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ie bitte? Schon wieder die »Postmoderne«, schon wieder das Gerümpel von gestern? War sie nicht längst auf dem Trödel gelandet, bei den Antiquitätenhändlern des Zeitgeistes? Nein, das Gespenst von gestern ist auf die Bühne zurückgekehrt, zumindest in London. Postmodernism – Style and Subversion 1970–1990 heißt die Ausstellung, mit der das Victoria and Albert Museum an jene aufwühlende Zeit erinnern will, in der in den westlichen Kulturmilieus der »Tod der Moderne« ausgerufen und ein neues Zeitalter verkündet wurde – eine neue Ära der Kunst, des Denkens und des Lebens. Fast über Nacht war der Zeitgeist »postmodern« geworden; nicht nur in den Künsten, sondern auch in den Geisteswissenschaften und Feuilletons, überall. V&A zeigt noch einmal das ganze Pandämonium der Postmoderne – zum Beispiel das maternity dress für Grace Jones, die (Möbel-)Stücke von Ettore Sottsass, Martine Bedins »Super Lamp«, die Exaltationen von Jeff Koons und bündelweise Zeichnungen und Baupläne, unter anderen von Philip Johnsons AT&T-Wolkenkratzer, gegen den die New Yorker Bürger damals Sturm gelaufen waren. Johnsons Hochhaus, und darum ist es exemplarisch, verkörpert jene Idee der Postmoderne, die in der Gegenwart mächtiger fortlebt, als es manchem lieb sein mag. Von oben bis unten mit historischen Zitaten gespickt, trägt es auf dem Dach eine Art Chippendale-Kommode mit einem großen sinnlosen Loch in der Mitte. »Attrappenkunst«, schimpften die Kritiker, aber es half nichts. Die Telefongesellschaft ließ das Hochhaus bauen, und heute zählt es – wie James Stirlings Stuttgarter Staatsgalerie oder Ricardo Bofills Les Espaces d’Abraxas – zu den Inkunabeln der Postmoderne, zu ihrem steinernen Glaubensbekenntnis. Tatsächlich setzte Philip Johnson (»Form follows fiction«) nur in die Tat um, was sein Kollege Charles Jencks zuvor in einem Manifest propagiert hatte. Für Jencks, der sich vor allem auf einen im Playboy erschienenen Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Leslie A. Fiedler berief, war die alte Architekturmoderne mausetot. Ihre Fantasie sei imaginativ entleert; die Herzen und Wünsche der Menschen erreiche sie nicht mehr: »Der Fehler der modernen Architektur war, dass sie sich an eine Elite richtete. Die Postmoderne versucht, diesen Anspruch zu überwinden durch Erweiterung der architektonischen Sprache in verschiedene Richtungen – zum Bodenständigen, zur Überlieferung, zum kommerziellen Jargon.«

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Als die Kunst ins Leben trat Warum die Postmoderne mausetot ist – und nie lebendiger war als heute. Ein Ausstellung in London VON THOMAS ASSHEUER

Das »Maternity Dress« (1979) für Grace Jones, entworfen von den Künstlern Jean-Paul Goude und Antonio Lopez. Unteres Bild: »Super Lamp« (1981) von Martine Bedine, Mitglied des Designkollektivs Memphis

Wie auch immer: Die Postmoderne war der überfällige Aufstand gegen eine engstirnige, bloß sozialwissenschaftlich gedeutete Moderne, sie war eine spektakulär neue Schule des Sehens, eine alles umfassende Bewegung, ein letzter ästhetischer Stil – und so wurde aus einer Revolte, die triumphierend alle Erzählungen hinter sich lassen wollte, ironischerweise selbst eine große Erzählung. Und warum lässt das Victoria and Albert Museum diese Epoche im Jahre 1990 zu Ende gehen? Die naheliegende Antwort müsste eigentlich lauten: Weil der Fall der Mauer den postmodernen Katechismus mit Pauken und Trompeten widerlegt hatte. Auf einen Schlag waren das Reale und die Politik auf den Schauplatz der Geschichte zurückgekehrt – also jene historischen Größen, von denen postmoderne Denker immer behauptet hatten, sie hätten sich in mediale Effekte aufgelöst. Die Londoner Ausstellungsmacher aber präsentieren eine andere Erklärung: Für sie ist die Postmoderne untergegangen, weil sie die Nähe zu Konsum und Kommerz gesucht und eine »fatale« Liebschaft mit dem großen Geld begann. Genau diese These aber hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Fredric Jameson schon zu einer Zeit vertreten, als die Bewegung noch in voller Blüte stand. Für Jameson war die Postmoderne zugleich ein Fortschritt und eine Katastrophe. Ein Fortschritt, weil sie die Barriere zwischen Hoch- und Massenkultur niedergerissen, eine Katastrophe, weil sie damit die »Autonomie der Kunst« zerstört habe, ihren kritischen Abstand zur Gesellschaft. Alles, das ganze Leben, wurde plötzlich zur Kunst, auch Werbung und Warenproduktion. Die Postmoderne, so Jameson, war wider Willen der Lehrmeister des Kapitalismus, und fortan unterschieden sich seine Erzeugnisse nicht mehr durch ihren Gebrauchswert, sondern durch ihre Ästhetik. Doch dieser Sieg war eine Falle. Denn nun wurde die Kunst entwaffnet und musste sich des Verdachts erwehren, sie sei nichts anderes als eine ästhetische Investition, eine Wertschöpfung – so wie jenes ironische Werk For the Love of God von Damien Hirst, das auf den ersten Blick nur geschaffen wurde, um damit Geld zu verdienen. Zweischneidig war für Jameson auch das postmoderne Credo, in der Kunst gehe es nicht mehr um Wahrheit, sondern um Gefühl. Jameson befürchtete, damit entstehe ein neuer, »spätkapitalistischer« Geschmackstyp, der Kunstwerke nur noch auf Stimmungen und Stimulationen abtastet, auf Valeurs, die zum eigenen Lebensstil und seinen Konsumgewohnheiten passen. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht hat die Postmoderne tatsächlich alle Hemmungen beseitigt, und wie nie zuvor ist die Kunst nun Teil des ökonomischen Feldes und trainiert »kreativ« den Geschmack des Konsumenten. Zum einen, damit er sich im Dschungelcamp der Warenwelt besser zurechtfindet; zum anderen, damit er sein Leben ästhetisch so modelliert, dass er auf dem Arbeitsmarkt verkäuflich bleibt. Gewiss, das ist eine pessimistische Diagnose, aber sie erklärt, warum die Postmoderne im Lifestyle-Kapitalismus munter weiterlebt, obwohl sie offiziell schon seit Längerem verstorben ist. Im Victoria and Albert Museum vom 29. September bis 15. Januar 2012 (www.vam.ac.uk)

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KULTURSAISON

DIE ZEIT No 38

Mit Haydn in die Zukunft Im National Youth Orchestra of Iraq kommen junge Araber und Kurden zusammen, um gegen die Folgen des Krieges anzuspielen. Ein Probenbesuch im nordirakischen Erbil VON CAROLIN PIRICH

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oseph Haydn ist im Irak angekommen. Etwas behäbig schlurft er durch den Saal, zieht ein Bein nach und zeigt den Besuchern seine schiefen Zähne: »Welcome, welcome!« Das ist das Bild vom alten Meister aus Wien, das die Musiker an ihrem ersten Probentag vermitteln. Der Dirigent mag das nicht. »Nein, nein, nein! Zu gewichtig.« Er sinkt in die Knie, um sie gleich darauf wie ein Tänzer vor dem Sprung wieder durchzudrücken. »Denkt nach oben. Nach oben!« Als die Musiker nacheinander absetzen, hört man immer deutlicher den Muezzin durchs geschlossene Fenster des Konferenzsaals zum Nachmittagsgebet rufen: »Allahu akbar, allahu akbar.« Der Dirigent hebt die Arme, und Haydn hinkt leichtfüßiger über den plüschigen Teppich. Flankiert von zwei jungen Männern mit Zahnspange, die akzentfrei englisch sprechen – einer für die kurdischen Musiker, der andere fürs Arabische –, bereitet Paul MacAlindin das National Youth Orchestra of Iraq auf seinen größten Auftritt vor – ein Konzert beim Beethovenfest in Bonn. Die jungen Musiker proben in einem der vielen neuen Hotels im nordirakischen Erbil, in deren Eingangshallen Kunstblumen prangen, auf Flachbildschirmen glutäugige Sänger pathetische Melodien singen und unübersichtlich viele junge Männer herumsitzen, allezeit bereit, einen Plastikbecher Wasser anzubieten. Für die meisten der 43 jungen Musiker ist diese Konzertreise nach Deutschland die erste Reise ins Ausland überhaupt. Dabei ist es für viele schon ein weiter Weg, nach Erbil zu kommen. Google Maps kann nicht angeben, wie lange eine Autofahrt von Bagdad im Süden des Landes bis nach Erbil dauert. Das Programm kennt die Strecke nicht. Tuqa Saad Awai sagt, sie habe sechs Stunden im Taxi gebraucht. Die Straße ist durchlöchert, immer wieder wurde sie gestoppt und musste an einem Checkpoint ihre Papiere vorzeigen, den Ausweis und ein Begleitschreiben der Regierung für das Cello, damit sie nicht bei jeder

Kontrolle den Instrumentenkoffer öffnen muss, denn Sonne und Sandstaub strapazieren das empfindliche Holz. Aus dem Fenster im Wagen hat Tuqa nur Wüste gesehen. Und bewaffnete Männer. Tuqa ist 17 Jahre alt und die einzige junge Frau im Orchester, die ein Kopftuch trägt. »Es schickt sich nicht, dass ich Cello spiele«, erzählt sie auf Arabisch in einer kurzen Probenpause. »Aber ich mache es trotzdem.« Sie mag Beethoven, sie mag Haydn, die Musik öffne ihr Herz, sagt sie. Ihr schüchternes Stimmchen entlässt nur knappe Sätze. Auf den Fensterscheiben des Konferenzraums hat sich millimeterdick Sandstaub abgesetzt, den teure Karossen und klapprige Taxis in der Hitze aufwirbeln, die Anfang September über der nordirakischen Provinz Kurdistan liegt. Am Horizont kann man die Umrisse des Gebirges erahnen, davor breitet sich Erbil aus. Auf der trockenen Ebene zwischen dem neuen Flughafen und der Stadt ziehen Kräne zwischen Öltanks Häuser, Wohnblocks und Einkaufszentren hoch. Die Regierung lässt in einer Geschwindigkeit bauen, als fürchte sie, die Zeit dafür könne bald wieder vorbei sein. Dabei will jeder nach Erbil: Kurden, die aus dem Exil zurückkehren, Iraker, die im südlichen Teil des Landes die Unsicherheit nicht mehr aushalten; sogar Firmen aus dem Ausland zeigen Interesse. Erbil gilt als die sicherste Stadt im Irak.

Für manche in Bagdad ist der Gesang des Muezzin Musik genug Deshalb trifft sich hier das National Youth Orchestra für seine intensive, aber auch einzige Probenphase im Jahr. In Bagdad, der wunden Metropole, wäre es noch immer zu gefährlich. Die Oboistin Duaa Majid Azawi übt nur bei geschlossenen Fenstern, weil die Nachbarn schon zweimal nach dieser seltsamen Stimme fragten, die aus ihrem Elternhaus drang. Wenn sie auf die Straße geht, versteckt sie ihre Oboe in einem Rucksack. Es wurde schon

auf Musiker geschossen, wenn sie sich mit ihrem Instrumentenkoffer zeigten. Für manche in Bagdad ist die Melodie des Muezzins auf dem Minarett Musik genug. Für Duaa ist das Orchester nicht nur ein Ort, um Musik zu machen. »Es ist der einzige Ort, an dem ich mich wirklich frei bewegen kann.« Duaa ist eine quirlige junge Frau, deren schwarzes Haar offen über die Schultern fällt und deren englische Sätze fröhlich aus ihr heraussprudeln. Sie lernt die Sprache in der Schule in Bagdad und durch amerikanische Fernsehserien. Mit ihren 18 Jahren ist sie das zweitjüngste Mitglied des National Symphony Orchestra in Bagdad, dem einzigen Symphonieorchester im Irak. Trotzdem fährt sie schon zum dritten Mal nach Kurdistan. Ein Freund sagt über sie, Duaa sei die beste Oboistin im ganzen Land. Es gibt auch nur zwei. Zuhal Sultan hat das Jugendorchester 2009 gegründet, eine in England lebende Pianistin aus Bagdad, die Kurden und Araber zusammenbringen will nach dem Vorbild von Daniel Barenboims West-Eastern-Divan Orchestra, in dem Palästinenser und Israelis zusammen auftreten. Das irakische Jugendorchester will nicht nur Friedensarbeit leisten. Es ist der stolze Versuch, ein Stück Kultur in einem zerstörten Land wieder aufzubauen. Sie erholt sich nur langsam nach den Kriegen, im kurdischen Gebiet schneller als im Süden. Aber wenn man die Musiker aus Bagdad nach der Situation in ihrer Stadt fragt, recken sie das Kinn. Noch immer hat in Bagdad kein Kino eröffnet, immerhin gibt es seit einigen Monaten einen privaten Klub, der seinen 3000 Mitgliedern dort ab und zu Filme zeigt. Die Staatliche Schule für Musik und Ballett hat ihren Betrieb wieder aufgenommen, und das Symphonieorchester gibt inzwischen einmal im Monat ein Konzert. Kostenlos, damit überhaupt jemand kommt. Es funktioniert. Beim letzten Konzert waren es 1500 Besucher, manche mussten sogar stehen. Die Regierung bezahlt den Musikern 900 Dollar im Monat,

ein Gehalt, das weit über dem Durchschnittseinkommen der Iraker liegt. Allein dem Orchester fehlen Musiker. Viele haben in den letzten Jahren wegen Bürgerkrieg und Selbstmordanschlägen den Irak verlassen. Für das National Youth Orchestra of Iraq haben sich in diesem Jahr 113 Musiker beworben. Sie haben über Anzeigen in den kurdischen und arabischen Zeitungen des Landes davon gehört, bei Facebook oder von Freunden. Über Skype und YouTube stellten sie sich MacAlindin vor, der in Köln vor seinem Computer saß und geduldig die unstete Internetverbindung ertrug, während die Musiker in Kirkuk, Erbil, Sulaimania und Bagdad ihm vorspielten. Wer gut genug war oder zumindest Potenzial erkennen ließ, den lud MacAlindin ein. So kamen die besten jungen Musiker aus allen Teilen des Iraks zusammen, 43 Kurden und Araber. Ihr Verhältnis ist ein wenig undurchschaubar. Wenn man den Konzertmeister mit »Merhaba« begrüßt, lächelt er gerührt über den Versuch, arabisch zu sprechen. Dann weist er höflich darauf hin, dass er Kurde sei. Umgekehrt vergisst ein Araber nicht, auf das kurdische Wort für danke, das man gerade mühsam eingeübt hat, zu antworten, dass er, bitteschön, kein Kurde sei.

Im Internet sucht der Flötist nach Noten und Fingersätzen Als die Pause vorbei ist, steht die Luft noch immer im Konferenzsaal. Die Klimaanlage funktioniert nicht, und es ist undenkbar, ein Fenster zu öffnen. Dirigent MacAlindin lässt die jungen Männer und Frauen einander an den Händen fassen und den Rhythmus von Haydns Sinfonie hüpfen. Eins, zwei, drei. »Achtet auf den Akzent!« One, two, three. Als sie wieder zu ihren Instrumenten greifen und ansetzen, humpelt der Haydn kaum noch. Dafür verbreitet er jetzt eine erdige Energie. Die Musiker sind ehrgeizig. Sie haben nur diese zwei Wochen im Jahr, in denen sie sich auf ihrem

Instrument verbessern können, denn im Irak fehlen die Lehrer. Zur Probenphase reisen mit dem Dirigenten Dozenten aus den USA und Europa an. Vormittags und nach dem Abendessen geben sie in den Hotelzimmern Unterricht für diejenigen, die noch wollen. Es sind praktisch alle. Bis in die Nacht hört man sie in ihren Zimmern üben. Wenn die jungen Iraker davon erzählen, was sie antreibt, dann klingt es meistens, als erzählten sie von der Begegnung mit einer großen Liebe. Waleed Ahmed Assi traf sie vor vier Jahren in einer Fernsehwerbung, damals war er 19. Er lebte in der Nähe der Ölfelder von Kirkuk, und immer wieder saß er vor dem Bildschirm und wartete auf die hüpfenden Noten und die schlanke Melodie der Badinerie von Johann Sebastian Bach. Er kam nicht darauf, welches Instrument ihn da verzauberte. Ein Freund stellte es ihm schließlich vor: die Querflöte. Als er das Geld zusammenhatte, kaufte er sie ihm ab: ein bescheidenes Instrument aus China, so wie sie in einem der vier Musikgeschäfte in Bagdad zu finden sind. Wenn das Internet funktionierte, suchte er nach Noten, zu denen es Bilder mit den Fingersätzen gab. So lernte Waleed auf seiner chinesischen Flöte Bachs Badinerie. Bis heute hört er sie jedes Mal, wenn sein Handy klingelt. Noch knapp vier Wochen bleiben den Musikern bis zu ihrem Konzert in Bonn: Musik von Beethoven und Haydn und je ein neues Werk eines kurdischen und eines arabischen Komponisten. Auch in der Kultur wird im Irak sorgsam auf den Proporz geachtet. »Schaut mich an!« MacAlindin versucht, den Haydn abzubremsen. Er hinkt längst nicht mehr, auch die Intonation könnte sauberer kaum sein. Aber die Musiker sind nun schneller, als ihr Dirigent es wünscht. Als wollten sie mit ihrem Tempo ein wenig Zeit aufholen. Das National Youth Orchestra of Iraq spielt am 1. 10. beim Beethovenfest in Bonn, die Violinsolistin ist Arabella Steinbacher

Fotos: Tariq Hassoon

Orchesterprobe, Einzelunterricht und Üben bis in die Nacht – die Musiker nutzen die kostbare Zeit in Erbil

KULTURSAISON

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Erinnerung an die Zukunft

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Ein Selbstporträt des Künstlers – im Kreise seiner Liebsten

Von Flughäfen und Krankenhäusern: Kleine Vorschau auf die neue Theatersaison – und zwei Blicke zurück VON PETER KÜMMEL

Abb.: Walter Moers © Eichborn Verlag AG, Frankfurt am Main/Knaus Verlag, München/Piper Verlag GmbH, München; Foto (links): Oliver Heine

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wei Orte gibt es, an denen die Welt von erklärt, um seinem Publikum alle Berührungsheute zwangsläufig zum Stillstand ängste zu nehmen, im Vorwort des Düsseldorfer kommt: den Flughafen und das Hospi- Jahresspielplans erst einmal ausführlich: sich tal. Dort lässt sich studieren, wie der rasende selbst. Er schreibt über das südschwedische Dorf, Mensch aussieht, wenn er festgehalten wird, als aus dem er stammt: »In Veberöd gab es einen Passagier oder als Patient, als Behandelter und Mörder, einen Pädophilen und einen Idioten. als Durchleuchteter. Es sind End-Orte, also Vom statistischen Standpunkt aus betrachtet, sind sie beliebt bei Dramatikern. handelte es sich also mehr oder weniger um eine Wenn nun am Münchner Residenztheater typische Gemeinde.« eine neue Ära beginnt, die Intendanz des KärntDas genüge aber nicht, um ihn, Staffan Valdener Regisseurs Martin Kušej, wird das ganze neue mar Holm, zu verstehen: »Wir lernen uns nicht Ensemble auf einen Schlag zu besichtigen sein durch uns selbst kennen, sondern darüber, wie – als eine Meute von Passagieren (und vielleicht andere uns reflektieren. So gesehen ist das Theater auch von Patienten). Helmut Krausser hat ein eine wunderbare, uralte und in höchstem Maße Stück für 55 Schauspieler geschrieben, es heißt praktische Kunstform, die uns die Gelegenheit Eyjafjallajökull-Tam-Tam, und es spielt auf dem gibt, anhand von Krisen, Mord, Sex, politischen Katastrophen und Erdbeben etwas über unser Flughafen. Im Programmheft steht: »Da sitzen sie, kom- Leben zu lernen, mittels komplett frei erfundener men nicht weg und warten. Warten auf Informa- Biografien, die für den Prozess der Selbstverstäntionen, auf das Ende des Stillstands, auf das Wei- digung möglicherweise hilfreicher sind als die terleben – und sind gezwungen, es miteinander scheinbar authentischen. Im Theater wird man auszuhalten ... 55 Menschen warten in einer Ab- mit Katastrophen in einer repräsentativen Form flughalle, gehen einander auf die Nerven und sich konfrontiert, die garantiert, dass man diese übergegenseitig an den Kragen, entlebt und im Anschluss sicher blößen Geheimnisse, Wunden nach Hause gehen kann ...« und ganz banalen Kleingeist, reDie gemeinsam erlebte Kataden über den Sinn des Seins, über strophe als Domäne des Theaters? Kunst und den Tod.« Das bringt uns zurück zum KranGibt es einen schöneren Ankenhausstück. Es ist auffällig, wie fang für ein Ensemble? Man geht viele Schauspiele derzeit von wehrlosen, dämmernden Mensich auf die Nerven und wartet schen handeln – gerade so, als darauf, endlich abheben zu können. Am 9. Oktober hat Kraussolle uns gezeigt werden, was uns sers Stück in München Premiere. blüht. Aber auch, als läge in der Krankheit die Verheißung einer Zwei Tage früher wird dort, im Umkehr, einer Auferstehung. In Cuvilliéstheater, das neue Stück von Albert Ostermaier uraufgeZürich, am Schauspielhaus, wird führt. Ostermaier hat selbst schon am 22. Oktober Thomas Jonigks mal ein Flughafenstück geschrie- Spielet in Frieden! neues Stück weiter träumen uraufgeführt. Thema: »Eine Frau ben, Letzter Aufruf hieß es und Lina Beckmann vom kam vor Jahren am Wiener Burg- Schauspiel Köln ist wacht im Krankenhaus bei ihrem theater heraus, nun schreibt er ein »Schauspielerin des Mann, der ins Koma gefallen Psychiatrie-Stück für Kušejs Re- Jahres 2010« ist ... Unverhofft tritt ein anderer, sidenztheater: Halali. Es handelt deutlich jüngerer Mann in ihr von einem Mann namens Plisch, der sich in Leben und imaginiert eine gemeinsame Zukunft dauernden Persönlichkeitsspaltungen beispiels- voller Leidenschaft, Erotik und Sexualität ...« Die weise in Jesus und in Franz Josef Strauß verwan- Intensivstation, verspricht die Zürcher Dramaturdelt und, so Ostermaier, »am Ende zurückbleibt gie, werde sich zeigen als »Verhandlungsraum des mit waidwundem Herzen«. Lebens – und als Ort der Komödie«. Ebenfalls im Kušejs Anfang in München ist die spektaku- Krankenhaus spielt das neue Stück von Biljana lärste Neubeseelung eines deutschen Theaters seit Srbljanovic (Das Leben ist kein Fahrrad, Bochum, Langem. Bislang regierte am Resi der textbehut- 3. Dezember), und vom Dasein in der Psychiatrie same Klassizist Dieter Dorn, nun beginnt, nach- erzählt Oliver Bukowski (Nichts Schöneres, Stuttdem das Ensemble fast komplett ausgewechselt gart, 28. September). Von da ist es nur ein Schritt wurde, der Wuchtregisseur und Donnerschlags- nach Frankfurt, wo am 29. Oktober Friedrich intendant Kušej. Er selbst wird am 6. Oktober zum Dürrenmatts große Wahnsinnskomödie Die Phyersten Mal ein Stück von Arthur Schnitzler in- siker neu zu sehen ist. szenieren, Das weite Land, und am 30. Oktober Zum Schluss unserer kleinen Vorschau noch wird Frank Castorf, Herr der Berliner Volksbühne, zwei Blicke zurück in die Theatervorzeit. Erstens: sich seinerseits zum ersten Mal an ein Stück von Es war vor 200 Jahren. Am 21. November 1811 Ödon von Horváth wagen: Er inszeniert Kasimir nahm sich Heinrich von Kleist am Wannsee das und Karoline, ein betäubend lakonisches Volks- Leben. Zur Erinnerung an Kleist veranstaltet im stück aus der Zeit nach der Weltwirtschaftskrise November das Berliner Maxim Gorki Theater ein von 1929. Es spielt an einem Ort, der bei Horváth dreiwöchiges Festival, in dessen Rahmen alle wie eine höllische Kombination von Flughafen- Stücke Kleists gezeigt werden, ja nahezu alles, was halle und Psychiatrie erglüht: auf dem Oktober- er geschrieben hat, soll auf die Bühne – in Neufest. Bei Castorf spielen übrigens zwei Österreicher inszenierungen, Lesungen, Gesprächen, Filmen. mit, die man bisher für lebenslängliche, unver- Es beginnt am 4. November mit dem Käthchen käufliche Starschauspieler des Wiener Burgtheaters von Heilbronn, Regie: Jan Bosse. Zweiter Gedenkanlass: Es war vor 50 Jahren. hielt, die der Österreicher Kušej aber irgendwie doch losgeeist und nach München gelotst hat: Damals, 1961, ging Kurt Hübner in seine letzte Birgit Minichmayr und Nicholas Ofczarek (der Saison als Intendant des Ulmer Theaters. Hübner amtierende Salzburger Jedermann). hatte schon die Leute beisammen, mit denen er Ein anderer großer Neuanfang ist in diesem dann, 1962, in den Norden wechselnd, das »BreTheaterherbst aus dem Westen zu vermelden: mer Wunder«, also das moderne deutsche Theater Staffan Valdemar Holm, der bislang das ruhmrei- auf den Weg brachte. Heute vor 50 Jahren in Ulm che Dramaten Theater in Stockholm geleitet hat war alles schon im Gang: der Aufbruch des Thea(hier war Ingmar Bergman einst Direktor), über- ters, mit Wilfried Minks, Peter Zadek und vielen nimmt das ruhmreiche Schauspielhaus Düsseldorf anderen. Wer sich an Ulm erinnert, erinnert sich (hier war Gustaf Gründgens einst Direktor). Er an die Zukunft.

Wasserfarbenfeuchtfrisch Nervensägen im Museum: Die erste Werkschau des Comiczeichners Walter Moers

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iese Geschichte hätte sich wahrscheinlich nicht mal Käpt’n Blaubär ausdenken können, der größte Seemannsgarnspinner der jüngeren deutschen Geschichte: Das kleine Arschloch, der alte Sack und Adolf, die Nazi-Sau, kommen ins Museum. Nicht als Besucher, um dort schmutzige Witze zu reißen, nein, sie sind selbst die Kunst. Wie konnte es so weit kommen? Nun, Walter Moers, der Erfinder der drei politisch völlig inkorrekten Nervensägen, ist einer der erfolgreichsten deutschen Zeichner und Schriftsteller der letzten beiden Jahrzehnte. Ohne seinen inzwischen inflationär verbreiteten Bären ist eine Kindheit nach 1988 gar nicht denkbar. Sein Adolf hat die ganzen Nazi-Filmklamotten von Mein Führer bis zum Untergang präfiguriert. Und sein kleines Arschloch mit der großen Knollennase ist die Symbolfigur der neunziger Jahre: großmäulig, verantwortungslos, enthemmt. Der Titel eines Moers-

Comics von 1993 liest sich heute wie eine Prophezeiung: Der alte Sack, ein kleines Arschloch und andere Höhepunkte des Kapitalismus. Aber das allein würde noch nicht die erste Werkschau mit Zeichnungen, Gemälden, Skulpturen, Filmen rechtfertigen, die nun die Ludwig-Galerie im Schloss Oberhausen dem 1957 geborenen Mönchengladbacher ausrichtet. Denn seien wir ehrlich: Die paar Striche, mit denen Moers seinem kleinen Provokateur Gestalt verlieh, machen noch keine Kunstgeschichte. Der Künstler selbst, als Zeichner Autodidakt, fand selbst schon immer, dass handwerkliches Können nicht seine starke Seite sei. Aber das war erstens, wie seine späteren, vor allem von Gustave Doré inspirierten Werke zeigen, gelogen. Und ist zweitens auch nicht so wichtig, weil Moers hat, was vielen zeitgenössischen Künstlern abgeht: eine schier unendliche Fantasie. Irgendwann wurde ihm die finanziell lukrative Welt der bösen Comics zu eng, und er erfand eine ganz neue Art der fantastischen Lite-

VON CHRISTOF SIEMES

ratur, in der Fhernhachen, Stollentrolle und Schrecksen durch Wälder voller Riesenumfen und Senfklappern irren, während auf dem Friedhof der Ausgestoßenen die Grabsteine aus Seife beim ersten Regen vergehen. Zamonien heißt der Kontinent, auf dem all das möglich ist; Moers hat ihn in mehreren Romanen beschrieben und mit altmeisterlicher Akkuratesse immer wieder gezeichnet. Nachdem der letzte Zamonien-Band bereits vier Jahre zurückliegt und es seltsam still um den Unerschöpflichen wurde, musste man fast Sorge haben, dass ihm schließlich doch nix mehr einfallen wollte. Doch nun ist für den 5. Oktober ein neuer Roman angekündigt, Das Labyrinth der träumenden Bücher. Die Ludwig-Galerie wird auch daraus Figuren und Szenen quasi wasserfarbenfeuchtfrisch präsentieren – nach 20 Jahren Anlauf sind echte Moerse nun schon im Moment ihres Entstehens museumsreif. Vom 25. 9. bis zum 8. 1. 2012; www.ludwiggalerie.de

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Ein Konzerthaus mit Sauna Große Klänge am Töölö-See: Helsinkis neues, großartiges Musikzentrum geht in die erste Saison geflossen. Musiikkitalo verfügt über sechs davon, einen großen und fünf kleinere, in denen somit gleichzeitig Konzerte und Proben für alle Genres stattfinden können. Diese Simultaneität von Kunst ist auch in pädagogischer Hinsicht gewollt: Wer an der Sibelius-Akademie studiert, bekommt alle paar Meter Musik in jener Qualität geboten, die er selber anstrebt. Ein Faszinosum ist der Orchesterprobenraum: Er doubelt die Bühne in allen Aspekten, sogar mit den Hubpodesten und in der Farbe des Holzes. Damit die Säle gut klingen, wurde bei der Planung der Akustik nichts dem Zufall überlassen. Als das Architekten-Trio LPR Architects im Jahr 2000 den Architekturwettbewerb gewann, enthielt ihr Vertrag die Vereinbarung, die Musiksäle mit der japanischen Firma Nagata Acoustics zu konzipieren. Ihr gehört Yasuhisa Toyota an, der zu den renommierten Akustikdesignern zählt. 2006 wurde er mit der Hamburger Elbphilharmonie beauftragt. Während deren Planer aber immer noch ihre endlose Litanei des Bauens absingen, hat Helsinki sein Musiikkitalo in exakt zwei Jahren in den Boden gestemmt. Der große Saal wirkt nüchtern, auf den ersten Blick kühl, die landesübliche Liebe für warme Töne hat sich verflüchtigt, aber trotzdem fühlt man sich alles andere als unwohl. Denn man rückt dem Geschehen allenthalben überaus nahe. Die Platzierung des Podiums in die Mitte hat sich seit der Berliner Philharmonie weltweit bewährt. Seine Gestaltung in hellem Holz hebt sich vom dunklen Saal eindrucksvoll ab. Insgesamt verteilen sich die Sitzreihen in 17 asymmetrischen Blöcken über den viereckigen, extrem in die Tiefe gebauten Raum. Tiefe bedeutet

aber nicht Unterwelt, nicht Gruft, denn gestaffelte Glasscheiben schaffen mit viel Deckenlicht die Illusion eines aus der Ferne leuchtenden Polarlichts; die Musik wird davon gleichsam transzendiert. Die Streicher sitzen in der Grube und klingen doch luftig, die Bläser delikat. Selbst bei vollem Sound stellt sich nie Bulligkeit ein. Der Nachhall, sehr organisch, erinnert weder an Verliese noch an Tropfsteinhöhlen. Im Eröffnungskonzert spielten die Philharmoniker unter John Storgards und das Radioorchester unter Jukka-Pekka Saraste und Sakari Oramo. Außerdem traten Eleven der Sibelius-Akademie auf. Natürlich wurde Jean Sibelius gespielt, wobei eine eindringlich-glühende Interpretation von Tapiola durch die Philharmoniker auffiel. In den Pausen und nach dem Konzert konnte man viele geglückte Aspekte von Musiikkitalo studieren: Es gibt keine Wand zum Konzertsaal, sondern ein System von Glasscheiben, wodurch Leute, die morgens nur eine Konzertkarte kaufen wollen, bereits Blicke auf die Probe im Saal erhaschen können. Glas dominiert auch die Außenhaut, die alles Licht maximal einfängt und nicht mehr hergibt. So sind denn hier Draußen und Drinnen wundersam verbunden – Musiikkitalo ist das ideale Musikzentrum für die offene, demokratische Gesellschaft. In allen Musikerzimmern gibt es eine Mikrowelle und ein Bügeleisen. In Musiikkitalo gibt es auch eine Sauna, allerdings nur für zwei Personen. An irgendetwas mussten auch die Finnen sparen. Weitere Informationen unter www.musiikkitalo.fi

Foto: Arno de la Chapelle/Helsinki Music Centre

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eben ihrer Trinkfestigkeit, Lichtgier, Lesefreude und technischen Verspieltheit adelt die Finnen auch die Kunst der Ironie. »Wir freuen uns auch, wenn jemand mit triefend nassen Stiefeln hereinspaziert«, sagt Helena Hillivirta. Solche Sätze sind typisch, die Finnen haben ein lächelndes Verhältnis zu den bizarren Aggregatzuständen, in die einige Bürger des Landes zuweilen geraten. Wahrscheinlich meint die Direktorin des neuen Helsinkier Musikzentrums vor allem, dass sie jeden einladen und niemanden ausschließen will. Jetzt wird nämlich alles gut, nachdem die Bürger der finnischen Hauptstadt auf diesen Saal Jahrzehnte gewartet haben. Die Streitigkeiten um den Standort sind beendet, für das Musiikkitalo (zu Deutsch: Musikhaus) beginnt in diesem Herbst die erste Saison. Zwei der drei Helsinkier Orchester (die Philharmoniker und das Radio-Sinfonieorchester) besitzen nun einen festen Standort, die dumpfe Akustik der benachbarten Finlandia-Halle hat ausgeschallt. Sieben Stockwerke gehören der Sibelius-Akademie, der Musikhochschule. Das riesige Gebäude gibt seine Größe bescheiden zu erkennen. Musiikkitalo, von außen fast schüchtern, komplettiert das Ensemble aparter Kulturbauten am Töölö-See, das im Norden vom staatsmännischen Opernhaus und im Süden vom witzig-bauchigen Kiasma-Museum begrenzt wird. Vom Hauptbahnhof sind es zum Konzerthaus nur ein paar Schritte, was klug die Musikfreunde aus dem Umland integriert: Helsinki selbst kommt auf 590 000 Einwohner, mit Espoo und Vantaa sind es potenziell eine Million Musikhörer. Tatsächlich sind die knapp 190 Millionen Euro Baukosten nicht nur in einen einzigen großen Saal

VON WOLFRAM GOERTZ

Viel Licht und viel Konzentration: Einblicke ins Entree und in den Konzertsaal

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Schamanen vom Bosporus

Foto: Alper Ertuğ/Essay Recordings

Ein furioses Spiel mit Traditionen: Die Band Baba Zula macht die Musik für das moderne Istanbul VON DANIEL BAX

Großer Spaß, durchaus politisch – die Bandmitglieder in ihren Lieblingskostümen

on den späten Sechzigern bis Ende der Siebziger war Istanbul ein beliebter Zwischenstopp auf dem legendären »Hippie-Trail«. Tausende Traveller, die auf dem Landweg ins indische Goa oder nach Kathmandu reisten, machten hier Station. Der große Treck des alternativen Tourismus fand damals auch in der Türkei sein Echo, als Musiker wie Erkin Koray oder Orhan Gencebay begannen, nach dem Vorbild westlicher Rockbands ihre Saz, die traditionelle Langhalslaute Anatoliens, elektrisch zu verstärken. So entstand das Genre des »Anadolu Rock« – Rockmusik mit orientalischen Melodien. Murat Ertel ist mit dieser Musik aufgewachsen. Zusammen mit dem Percussionisten Cosar Kamci und dem Musiker Levent Akman bildet er Baba Zula, ein Künstlertrio aus Istanbul, das die Tradition des »Anadolu Rock« auf elektronische Weise neu belebt. Sie greifen Rhythmen und Harmonien aus den reichen Traditionen Kleinasiens auf und verbinden sie mit DubEffekten und brummenden Bässen zu einem trancehaften Trip in die anatolischen Weiten. Löffelgeklapper trifft auf Loops, dadaistisches Gemurmel auf archaisches Gewimmer, Volkstänze münden in Rave. Eine türkische Variante des Krautrock, der in den Siebzigern die deutsche Musik modernisierte. Bei ihren unbedingt empfehlenswerten Auftritten werfen sich Baba Zula obendrein gern in folkloristische Fantasie-Kostüme, die an alte Zeiten erinnern, an Märchen, Volkssagen und Legenden. Murat Ertel mit seinen langen Haaren und seinem wilden Bart trägt Kaftan und Filzhut, während sich Elena Hristova, die bulgarischstämmige Sängerin, in anatolischer Frauentracht kleidet. Die Assoziation mit heidnischen

Riten ist beabsichtigt: »Wir betrachten uns als elektrische Schamanen des 21. Jahrhunderts«, stellt Murat Ertel am Rand eines Auftritts im funktionalen Hinterzimmer des Veranstaltungsorts klar. Wer Fatih Akins Istanbul-Musikdoku Crossing the Bridge gesehen hat, dem dürfte die Szene in Erinnerung geblieben sein, in der Baba Zula auf einem Schiff den Bosporus herunterschippern, dem Sonnenuntergang entgegen. Nicht jeder weiß allerdings, dass Murat Ertel aus einer der prominentesten Familien der Türkei stammt: Sein Vater Mengü war ein namhafter Grafiker, sein Onkel Ilhan Selcuk ein berühmter Journalist, der andere Onkel ein gefeierter Karikaturist. Zu Hause ging die Kulturelite des Landes ein und aus. Häufig zu Gast war der Bassist Ahmet Güvenc, der mit Bunalim die erste psychedelische Rockband der Türkei begründete. Regelmäßig schaute auch der Volkssänger Ruhi Su vorbei, der für die Türkei so etwas Ähnliches war wie Woodie Guthrie für den amerikanischen Folk: Selbst noch als Wandersänger unterwegs, archivierte und vertonte er die Lieder der anatolischen »Asik«-Barden, der »Liebenden«, wie sie genannt wurden. »Mein Vater hat die Cover für seine Schallplatten-Alben gestaltet«, erzählt Murat Ertel nicht ohne Stolz. »Ruhi Su hat sehr konzeptionell gedacht.« Auch Baba Zula sind das, was man eine Konzeptband nennt. Der Titel ihres aktuellen Albums Gecekondu bezieht sich auf die Barackensiedlungen am Rande der türkischen Metropolen, die meist »über Nacht erbaut« wurden, daher der Name. Bei Baba Zula steht Gecekondu allerdings weniger für den realen Ort, gemeint ist eher eine Metapher für den kreativen

Umgang mit Traditionen und Zivilisationsmüll, für das urbane Leben zwischen Asphalt und Beton. Die Illustrationen auf dem Cover von Gecekondu stammen von einem Bühnenbild, das sein Vater ursprünglich für eines der erfolgreichsten Bühnenstücke der türkischen Theatergeschichte gestaltete: Als Kind hatte Murat Ertel in den sechziger Jahren die »Ballade von Ali aus Kesan« gesehen, eine Moritat über Mord und Totschlag in einer Armensiedlung Istanbuls. Für alle, die die Zeichen lesen können, bietet Gecekondu eine Fülle solcher Anspielungen, die Musik ist voller Verweise und Bezüge. Der Titel Abdül Canbaz etwa ist eine Hommage an eine Cartoon-Figur, die Murats verstorbener Onkel einst erfand: ein osmanischer Bürger mit Fez und gewachstem Schnurrbart, der auf einem altmodischen Hochrad unterwegs war. Und das furiose, achtminütige Hopce basiert auf dem 9/8-Takt des Zeybek, eines türkischen Volkstanzes aus der Ägäisregion. Der Name leitet sich von einem Kriegerstamm aus den Bergen Westanatoliens ab, die einst gegen osmanische Herrschaft rebellierten. Wer will, kann darin einen versteckten Protest gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung erkennen, die das Osmanenreich gerne nostalgisch verklärt. Für alle anderen ist Gecekondu schlicht eine flirrende und vielschichtige Orient-Fantasie der urbanen Art. Oder, wie es Murat Ertel selbstbewusst, aber treffend ausdrückt: »Es ist wie ein Eisberg, von dem man nur die Spitze sieht. Aber man weiß, dass unter der Wasseroberfläche noch eine Menge versteckt liegt.« 6. 10. Köln Stadtgarten, 7. 10. Bielefeld Kamp, 13. 10. Berlin Lido

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Ein Mysterium beim Kaffeetrinken

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s kommt der Punkt, da ist die Bühne einfach nicht mehr genug. Anfangs waren da noch Wände, ein häuslicher Raum. Zwei Frauen trinken Wasser, sie atmen in ihre Gläser, und schon sind diese zu Astronautenhelmen geworden, und die Frauen befinden sich im All. Am Ende gibt es kein Haus mehr, die Wände sind zu Landschaften erklärt worden, die Bühne wird zum Universum. The Nowness Mystery, das jüngste Stück der Konzeptkünstlerin Cuqui Jerez, fragt sich, wann, wo und was eigentlich das Jetzt ist. Es zeigt eine brüchige Gegenwart, zerklüftet von Assoziationen und Abschweifungen: das Mysterium des Augenblicks, erfahrbar in jedem noch so banalen Moment. »Wenn du jetzt diesen Kaffee trinkst, bringt dich das auf einen Gedanken, der mit diesem Kaffee zu tun hat und immer so weiter. Der Moment danach ist immer unbekannt.« Cuqui, das spricht sich wie »Cookie«, und süß mag man sie finden, die 1973 in Madrid geborene

Regisseurin, klein und schmal wie sie ist. Auch was sie auf der Bühne anstellt, mag auf den ersten Blick niedlich aussehen, doch es ist zu clever, zu überlegt, um noch als süß durchzugehen. Am Anfang ist da ein Gedanke nachgerade philosophischer Natur, in diesem Fall die Frage nach Raum und Zeit – nicht erst seit Kant ein Dauerbrenner. Für diese Überlegungen sucht Cuqui Jerez nach der richtigen Form. Lange galt sie als Geheimtipp, mittlerweile tourt sie als Hoffnungsträgerin der konzeptuellen Bühnenkunst durch Europa. Ihre Konzepte verzichten auf penetrant-krampfiges Bemühen um gedankliche Originalität, sie stellen stattdessen einfach die richtigen Fragen. Jerez hat keine Angst vor dem Banalen und Albernen, was ihre Stücke charmant, aber nicht minder gescheit macht. Immer noch wird sie oft als Tänzerin gehandelt, hat sie doch Klassisches Ballett und Modern Dance studiert. Doch reiner Körpereinsatz war ihr nicht genug. »Ich brauchte einen sehr guten Grund, um

VON ANDREA HEINZ

nur den Körper zu benutzen – den habe ich nicht gefunden. Die Frage ist doch, was will ich herausfinden? Welche Codes eignen sich dafür am besten?« Es wird nicht mehr viel getanzt bei ihr, doch dass Regisseurin wie Darstellerinnen Fachfrauen sind, die mit dem Werkzeug Körper umzugehen wissen, das ist nicht zu übersehen. Waren ältere Stücke noch streng durchchoreografiert, sollte The Nowness Mystery naturgemäß anders werden, geschrieben erst im Moment der Aufführung: »Weil wir mit der Gegenwart arbeiten, sollte auch alles im Hier und Jetzt passieren.« Anfangs experimentierten Cuqui Jerez und die Darstellerinnen, ihre Schwester Maria und die Tänzerin Amalia Fernández, mit dem Prinzip Abschweifung. Sie stellten sich stundenlang auf die Straße und machten einfach, was ihnen gerade in den Sinn kam. »Es war anstrengend. Aber du siehst, wie dein Gehirn funktioniert, wenn du kein Ziel, keinen Plan hast.« Auf der Bühne funktionierte dieses Springen von einem Gedanken zum anderen, von

Foto (Ausschnitt): Berthold Fabricius

Wie die spanische Performancekünstlerin Cuqui Jerez philosophische Ideen zum Leben erweckt

Jetzt bloß nicht lachen: Cuqui Jerez

einer Zeitebene zur nächsten zuerst nicht: In der brüchigen Gegenwart verloren sich auch die Zuschauer. Deshalb bekommen sie in der überarbeiteten Version, wie sie auf Kampnagel in Hamburg uraufgeführt wurde, zur Orientierung einen kleinen Handlungsfetzen dargeboten: Brad Pitt und Angelina Jolie trennen sich. Daran entspinnt sich die Assoziationskette, und auch der erste Versuch findet noch seinen Platz. Man erzählt Brad Pitt von den anfänglichen Wirrnissen und führt ihm das Stück vor, vom Haus bis ins Universum. Was genau zunächst nicht funktionierte, muss Cuqui Jerez noch herausfinden: »Uns fehlt bisher die Distanz.« Sie kämpft weiter um den richtigen, den besten Ausdruck und scheut sich nicht, zu zeigen, dass sie dabei auch mal eine Schlacht verliert. Schließlich wirft auch das Scheitern noch eine existenzielle Wahrheit ab: »Du suchst etwas, aber du weißt nicht genau, was. Das braucht Zeit.« 2. und 3. 12. Theaterfestival Spielart München

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Foto: Jim Rakete/Berliner Philharmoniker

Schon 17 343 »Followers« Seit einem Jahr ist Martin Hoffmann Intendant der Berliner Philharmoniker. Wie kaum ein anderer wirbt er um das junge Publikum – die Kunst überlässt er dem Orchester VON CHRISTINE LEMKE-MATWEY

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Hoffmann, früher beim Fernsehen, arbeitet heute für das wichtigste deutsche Orchester

er Wildwechsel rund um die Berliner Philharmonie ist eine Attraktion – besonders im Herbst, wenn für Fuchs und Hase im nahen Tiergarten keine Grillabfälle mehr zu holen sind und der Müll an Saft und Kraft verliert. Füchse werden hier, inmitten der Stadt, tatsächlich regelmäßig gesichtet, Kaninchen, Waschbären, Wildkatzen (könnte man diesen Haus-Zoo nicht in das philharmonische Education-Programm integrieren?). Nur die Wildschweine fehlen, und die Marder zieht es traditionell auf die andere Seite, zum Parkplatz unter dem Intendantenbüro. Der verspricht einfach mehr schmackhafte Schläuche, Gummidichtungen und Zündkabel. Seit einem Jahr residiert Martin Hoffmann in diesem Büro, und der Parkplatz ist ihm ein Gräuel. Drinnen so viel kühles, klares Design – und draußen eine Sechziger-Jahre-Tristesse, als kämen gleich Karajan und Wolfgang Stresemann persönlich um die Ecke, zum Unkrautjäten. Ein Erweiterungsbau der aus allen Nähten platzenden Philharmonie soll in Planung sein, ein neues Foyer, das den Scharoun-Bau endlich zum Potsdamer Platz hin öffnet. Bislang dreht Berlins prominentester Konzertsaal der Stadt ja das Hinterteil zu, ein Relikt aus Mauer-Zeiten. Sprechen möchte Hoffmann über diese Pläne nicht, aber die Absurdität des Status quo plagt ihn schon. Eine Telefonzelle ohne Telefon, die nicht beseitigt werden darf, ein Fernseher, an dem die Strippen baumeln, damit man nur ja nicht auf die Idee kommt, er sei Hans Scharouns Idee gewesen – tief bohren sich die Daumenschrauben des Denkmalschutzes hier ins Fleisch der Zukunft. Hoffmann ist 52 und sieht aus, als liefe er Marathon oder betriebe Höhenbergsteigen: fast mager, immer ein bisschen durch den Wind. Das gibt ihm, bei allem Quecksilberfunkeln in den Augen, etwas Sphinxhaftes und leicht Absentes. Visionen kenne er keine, sagt er, »ich habe versucht, das Orchester zu verstehen, ich habe viel zugehört«. Seine erste Amtshandlung? Gespräche mit den »philharmonischen Engeln«, den ehrenamtlichen Helfern im Eingangsbereich, um die Nöte und Sorgen des Publikums kennenzulernen. Und einen Fotoband hat er in Auf-

trag gegeben, Jim Rakete porträtiert die Berliner Philharmoniker, jeden einzeln: »Ich wollte die Musiker mehr ins Schaufenster stellen. Ich wollte unseren Respekt ausdrücken vor denjenigen, die es sind.« Solche Projekte stoßen bei den philharmonischen Mimosen selten auf spontane Begeisterung. »Darüber habe ich nicht so wahnsinnig lange diskutiert.« Wenn Hoffmann über das Orchester spricht, zieht er gern Vergleiche zu anderen Topmarken, dem FC Bayern etwa (was ihm schwer verübelt wurde) – oder dem Computergiganten Apple: »Wenn wir auf Apple schauen, dann waren es Hardware-Entwicklungen, die zu inhaltlichen Explosionen geführt haben.« Heißt das nun, dass die Zukunft per se am Tropf der Technik hängt? Dass klassische Musik jede kommunikative Plattform nutzen muss, um sich zu »verbreiten« und zu überleben? Oder dass er, der studierte Jurist und gelernte Medienmanager, lieber auf Facebook und Twitter setzt als auf Abonnements und Einführungsveranstaltungen? Bei Facebook und Twitter haben die Berliner Philharmoniker die Nase derzeit ganz weit vorn, 234 042 Personen »gefällt das«, 17 343 Followers gibt es, Tendenz steigend. Da kann die Konkurrenz einpacken. Und während die unter 50-Jährigen, um die man sich so verzweifelt bemüht, mal hierhin zappen und mal dahin, kriegt es der Musikliebhaber alten Schlags langsam mit der Angst: Sind das noch seine Philharmoniker?

Eine professionelle Vermarktung muss nicht Verblödung bedeuten Ja, ruft Hoffmann und richtet sich kerzengerade auf, zuallererst gehe es doch immer ums »Herz«, um die »Exzellenz« des Orchesters, die Weltklasse im Ringen ums Beste vom Besten! Und gar nicht so sehr um die »mediale Verwertungskette«, um Podcasts, Blogs, Konzerte im Kino oder die Digital Concert Hall »Alles, was wir tun, hat mit diesem Herz zu tun«, wiederholt Hoffmann inständig. Dass man ihm das bei Amtsantritt nicht recht hat glauben wollen, ja dass die Presse ihn nach wie vor als »Ex-Sat.1-Chef« führt und unter seinen TV-Produktionen lieber genüsslich

Bauer sucht Frau herausstreicht als den Münsteraner Tatort, das ärgert den gebürtigen Heidelberger. Der Mann kann schließlich Noten lesen, hat selber Geige gespielt und war lange, bevor er Intendant wurde, treuer Philharmoniker-Abonnent. Der Kommerz-Heini also und die Hochkultur, der Ausverkäufer der philharmonischen Seele und die Tradition. Ganz so simpel ist es nicht, aber mit dem Inhalt des Herzens, mit dem, was hinter der Marke steht, tut Hoffmann sich schon ein bisschen schwer. »Ich bin nicht derjenige, der hier programmatisch die Pflöcke setzt, das wäre falsch.« Einer wie der frühere Intendant Franz Xaver Ohnesorg wollte Pflöcke setzen – und war den Job nach neun Monaten wieder los. Pamela Rosenberg, Hoffmanns Vorgängerin, hat es gar nicht erst versucht. Die »Setzungsmacht«, betont Hoffmann, gehöre seit je den Dirigenten. Spricht’s, springt auf und klickt sich durchs Archiv der Digital Concert Hall, bis zu einem Interview mit Simon Rattle über Gustav Mahlers fünfte Sinfonie. Rattles Silberlocken tanzen über die tischtennisplattengroße Mattscheibe, sein baritonaler britischer Singsang füllt den Raum – und der Intendant gerät schier aus dem Häuschen: »Das ist doch wahnsinnig spannend! Also ich lerne dabei etwas.« Wenn schon die räumliche Öffnung der Philharmonie nicht gelingt, dann muss wenigstens die virtuelle virtuos sein? »Ich möchte die Musik befördern«, sagt Hoffmann und atmet zum ersten Mal richtig aus. Das steht ihm gut. Man wird sich daran gewöhnen müssen, dass sich ein Luxuslabel wie die Berliner Philharmoniker nicht mehr von selbst verkauft – und dass professionelle Vermarktung keineswegs die Verblödung des kulturellen Abendlandes zur Folge haben muss. Was es am Ende für die Musik bedeutet, weiß Martin Hoffmann auch nicht, »wir wollen nur zugänglich sein«. Als Kontrast zum leidigen Parkplatz hat er sich übrigens ein Gemälde von Kaya Theiss ins Büro gehängt. Schafe heißt es und zeigt wollige Muttertiere und rosaschnäuzige Lämmlein auf einer grünen Wiese. Wenn nachts die Füchse aus dem Tiergarten zum Fenster hereinschauen, läuft ihnen bestimmt das Wasser im Maul zusammen.

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Im Zirkus Beckmann

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ie könnte er das Meer nicht geliebt haben? Seinen ewigen Gesang, die furchtbare Gewalt? Das einsame Umherstreifen am Ufer, den Blick auf endlose, bewegte Weiten? Natürlich hat Max Beckmann, gerade er, das Meer und all die grandiosen Schauspiele geliebt, die es bietet; jene »geheimnisvollen Geständnisse zwischen Mensch und Meer«, die schon der große Historiker Jules Michelet beschwor. Max Beckmann reiste, sooft er konnte, ans Meer. Schon als junger Mann, inmitten des Ersten Weltkriegs, berauscht er sich an der flämischen Küste. Später dann, im Verlauf der zwanziger Jahre, als er in Frankfurt lebt, berühmter wird und mit dem Erfolg auch Geschmack findet am mondänen Leben, am Flair der Grandhotels und Seebäder, wird er noch häufig hinfahren, an die Nordsee oder ans Mittelmeer, als Urlauber, als Beobachter und auch als Maler. Sein Leben hat sich bei Weitem nicht nur zwischen Atelier und Bar abgespielt, wie manche behaupten. Das Meer und die Küste sind Hauptschauplätze seiner geistigen und künstlerischen Existenz, neben dem Zirkus und dem Nachtclub, der Großstadtstraße und dem Varieté. Viel und oft ist Max Beckmann in den letzten Jahren gezeigt worden, und doch, das beweist der Reigen drei großer Ausstellungen in diesem Herbst, war noch längst nicht alles von ihm zu sehen. In Basel, Leipzig und Frankfurt präsentiert man zwar nicht einen völlig neuen Beckmann, doch wird unser Bild von ihm und seinem Werk bereichert und geschärft. Zum Auftakt zeigt das Basler Kunstmuseum den epochalen Figurenmaler ausgerechnet als Landschaftskünstler – und eben als großen Verehrer des Meeres. Viele Landschaften hat er gemalt, mehr etwa als jene Selbstporträts, für die er weltberühmt ist. Bei über hundert seiner Gemälde steht die Landschaftsschilderung im Vordergrund, und wenn diese Werke auch weniger bekannt sind als seine Figurenbilder, so gelten sie doch schon lange als »Geheimtipp« und werden von einigen Interpreten zu den Höhepunkten der Gattung im 20. Jahrhundert gezählt. Der Kunstkritiker Benno Reifenberg etwa hielt ihn für den bedeutendsten Landschaftsmaler der ganzen Moderne. Allerdings kann man sich beim besten Willen nicht durchwegs für alle diese Bilder begeistern. Man möchte sie oft für fast belanglose Gelegenheitsarbeiten halten: eine von Zeit zu Zeit willkommene Abwechslung und Erholung von den strapaziösen Figurenbildern. Anders verhält es sich mit seinen Ansichten der Küste und der See. Der gewaltige Beckmann hat das gewaltige Meer wirklich geliebt. Er hat seine Nähe ersehnt und die Musik des »brüllenden Meeres« (Lord Byron) zutiefst genossen. An den Meer- und Strandbildern lässt sich eine »biografische Inszenierung der

Welt« beobachten, wie der Kunsthistoriker betont, darin liegt ihre tiefe Bedeutung, wenn sie auch künstlerisch nicht immer frappieren. Als Augenzeuge des Spektakels bleibt der Maler in den Bildern stets gegenwärtig: Mit ihm blicken wir von der Hotelterrasse, von der Strandpromenade, aus dem Strandkorb auf das anrollende Meer. Anders als Belting, der Beckmanns Meerstücke deutlich von seinen mythischen Tableaus trennt, könnte man sie aber auch im engsten Zusammen-

Badende in den Fluten sieht. Beckmanns Meer erinnert an eine Theaterbühne mit prächtiger Kulisse, der die Schauspieler fehlen. Eine zwar grandiose, aber noch menschenleere Bühne: eine Spielstätte, bevor die eigentliche Aufführung beginnt. Diesem Welttheater, der Tragikomödie der menschlichen Irren und Wirren ist der Großteil seines Werkes gewidmet, seitdem er sich, durch den Schrecken des Großen Krieges gründlich erschüttert, vom virtuosen spätimpressionistischen

singt er von den großen Menschheitsthemen, vom Geschlechterkampf vor allem. Davon, dass wir uns nicht lieben können und dass dennoch Mann und Frau wie von magnetischer Kraft »zusammengerissen« werden. Aus den Bildern Max Beckmanns tönt Löwengebrüll und Sirenengesang, Stiergetrampel und Leierspiel, christliches Abendland und klassische Antike. Aber auch viel lauter Jazz und schrille SaxofonImprovisationen. Denn so gerne Beckmann in

Mal abgründig, mal heiter, immer lässig: Beckmanns »Brücke« (1950), ein »Meerestrand« (1935) – und er selbst in den USA 1948

hang mit ihnen sehen. Beckmann hat die Küste stets als Zone des Übergangs gemalt, wo sich Ewiges und Heutiges berühren, Urlaub und Urzeit, das Mondäne und das Mythische, deren Zusammentreffen ihn zeitlebens faszinierte und zum Leitmotiv seines Schaffens wurde. Deswegen hat ihn neben der Großstadt mit ihrem schäumenden Menschenozean das Meeresgestade so besonders angezogen: Als »pauvre Odysseus«, wie er sich selbst einmal nannte, steht er im Frack an der Küste, das Champagnerglas in der einen, die Zigarette in der anderen Hand, um Ausschau nach der verlorenen Heimat zu halten. Nur über das grausam weite Meer scheint die Rückkehr dorthin noch möglich. Deswegen haftet diesen maritimen Sehnsuchtslandschaften oft etwas insgeheim Schreckliches, latent Bedrohliches an. Kein Zufall, dass man kaum je

Sezessionsmaler in den »gotischen Beckmann« der frühen Frankfurter Jahre verwandelte. Er suchte im Rückgriff auf spätmittelalterliche Figurationen einen Ausdruck für den »schaurigen Schmerzensschrei der armen getäuschten Menschen«. Und machte sich dann daran, das zeitgenössische Leben mit den großen Erzählungen zu verbinden, die sinnliche Erscheinung mit dem Numinosen. »Heute tritt der Liftboy eben als Schicksal auf« lautet die Devise jener »transzendenten Sachlichkeit«, die im Mittelpunkt seines künstlerischen Programms steht: »Das Unsichtbare sichtbar machen durch die Realität.« Beckmann, vielleicht der deutscheste unter den deutschen Malern des 20. Jahrhunderts, strebt nach »eleganter Beherrschung des Metaphysischen«. Ein Nachfahre Homers, ein Bänkelsänger, ein Schlachtenbarde der Moderne,

Übermenschenpose den tobenden Elementen gegenübertritt, so sehr ist er doch ein Großstadtkind der Moderne, ein nach Zeitgenossenschaft Gierender, bei dem sich alles um die Frage dreht: Was bin ich? Und was bist du? Dieser Beckmann, der nachts durch die Straßen streift, um seinen Wirklichkeitssinn zu füttern, der uns auf den Rummelplatz des Lebens führt, wo sich die Huren, die Dandys, die Feuerspucker und Geschäftemacher tummeln, die Guten wie die Bösen, die Schönen wie die Traurigen, die er peitschenknallend, mit schiefem Grinsen und Pokerface, zu seinem turbulenten Welttheater treibt – dieser Beckmann gehört zum Besten, zum Aufregendsten, was die Kunstgeschichte der Moderne zu bieten hat. Nirgendwo sind die Vorstellungen so unterhaltsam wie im »Zirkus Beckmann«, dem er einmal eine

Graphikserie widmet. Wir lösen dafür gerne eine Dauerkarte. Wir teilen seine Gier nach Menschen, nach Begegnung, nach Leibern im Tanz, in Ekstase, im akrobatischen Kunststück. Erstmals seit langer Zeit bietet nun die Ausstellung in Leipzig wieder einen Überblick über das Porträtschaffen Beckmanns und versammelt Konterfeis von engen Weggefährten des Künstlers, von seinen Frauen und Freunden. Eindrücklich kann man ihn hier als den größten Menschenmaler der Moderne erleben. Von nicht vielen Frauengestalten des letzten Jahrhunderts besitzen wir so einprägsame, reizvolle, ja laszive Bilder wie von seinen beiden Ehefrauen, jenen allzeit lockenden Sirenen in Beckmanns famosem Panoptikum. Die fulminante Schau im Frankfurter Städel widmet sich dagegen dem bildmächtigen Finale des Malerlebens in Amerika, wohin er endlich nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufbrechen konnte. Seine letzten drei Lebensjahren verbrachte er dort, angenehm berührt vom bescheidenen Ruhm, den der in Deutschland fast Vergessene in der Neuen Welt genoss, von der wiedergefundenen Freiheit und den neuen Impressionen. Erstmals überhaupt wird nun ein umfassender Überblick über sein amerikanisches Spätwerk geboten. Wie kaum ein anderer Maler der Moderne – schon gar nicht einer aus Deutschland – hat Beckmann sich hier nach dem Weltkrieg, dem Schlusspunkt so vieler künstlerischer Œuvres und Entwicklungslinien, noch einmal aufschwingen können zu neuer, vitaler und überaus sinnlicher Gestaltungskraft. Zu einer mächtigen Reaktion auf das Leben um ihn herum. In seinem eminenten amerikanischen Werk, wo er, als Entfesselter, als Überlebender, als Neuankömmling aus fast mythischer Vergangenheit das zeitgenössische Leben in sich aufsaugt, die pulsierende Gegenwart und ihre Gestalten, ihr Tempo, ihren Sex-Appeal, wird er noch einmal zum großen Menschenverschlinger und Raubtierbändiger. Am Ende also hatte sich Max Beckmann – gezwungenermaßen und doch glücklicherweise – noch auf den Weg übers weite Meer gemacht, zum »krönenden Abenteuer seines Lebens«, wie seine Frau bemerkte, auf eine Fahrt, die ihn von seinen mythischen Gestaden in die jazzige Nachkriegsmoderne führte. Gestorben ist er dort, wo er stets am intensivsten lebte: in der Metropole. Unweit des Central Park brach er eines Tages tot zusammen. Mitten auf der Straße, unter seinen Zeitgenossen. Die Landschaften sind zu sehen im Basler Kunstmuseum, bis zum 22. 1. 2012; das amerikanische Spätwerk im Frankfurter Städel, vom 7. 10.2011 bis 8. 1. 2012; die Ausstellung »Von Angesicht zu Angesicht« im Museum der bildenden Künste Leipzig, vom 17. 9. bis 22. 1. 2012. Ausstellungskataloge bei Hatje Cantz

Abb.: Privatbesitz/VG Bild-Kunst, Bonn 2011/Foto: Christie’s Images Limited (o.); ProLitteris, Zürich (r.); Foto: Max Beckmann Archiv

Vital, sinnlich, mythisch: Gleich drei Ausstellungen zeigen in diesem Herbst das furiose Werk des sehr deutschen Künstlers Max Beckmann VON MANFRED SCHWARZ

KULTURSAISON

DIE ZEIT No 38

Abb.: © Nancy Reddin Kienholz/L.A. Louver, Venice, CA (o.); Foto: © Nancy Reddin Kienholz (m.); © Kienholz/The Menil Collection, Houston (Foto: George Hixson)

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Das Material für seine Installationen kam oft von Berliner Flohmärkten: »The Pool Hall« von 1993, gestaltet von Edward Kienholz & Nancy Reddin Kienholz, und (unten) »John Doe« von 1959 The Pool Hall, 1993

Schluss mit den Verklemmungen! In Frankfurt zeigt eine Ausstellung Ed Kienholz, einen der größten Rebellen der amerikanischen Kunst. Ein Besuch in Hope, Idaho, wo seine Witwe und viele Freunde noch immer an seinem Werk weiterbauen

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as letzte Mal hat Nancy ihren Mann, Ed Kienholz, gesehen, da saß er neben ihr auf dem Beifahrersitz. Sie hatte ihn angekleidet, Freunde trugen ihn in den metallicbraunen Packard. Dann setzte sich Nancy den Cowboyhut auf und fuhr mit ihrem Oldtimer die paar Meilen durch den Wald und über den Highway den Hügel hinan. Langsam rollten sie durch das hohe Gras in die Grube, die sie zuvor ausgehoben hatten. Dann stieg Nancy aus, und sie schütteten das Erdloch und das Auto mit Erde zu. Das war 1994, das Begräbnis des großen Ed Kienholz. Sie redet nicht gerne von seinem Ende. Noch immer lebt Nancy Kienholz für ein paar Monate des Jahres in der Nähe des Totenhügels, auf einer Halbinsel im Lake Pend Oreille im Norden Idahos, 100 Kilometer entfernt von der kanadischen Grenze. Der Ort, eine lose Ansammlung großer Häuser, heißt Hope, wie die Hoffnung. Neben Hope liegt East Hope und darüber, auf dem Hügel, Beyond Hope, jenseits der Hoffnung. Die Grundstücke haben keine Zäune, die Häuser keine Schlösser. Statt Schlüssel tragen ihre Bewohner Gewehre. Hope hat rund 80 Einwohner, die Republikaner liegen stabil zwischen 60 und 70 Prozent, die Seen sind tief und blau, die Menschen wohlhabend und weiß. Seit 1972, dem Jahr ihrer Heirat, schnitzten, klebten und bemalten hier die Kienholzens die eine Hälfte des Jahres ihre Installationen gemeinsam, die andere verbrachten sie in Berlin. Ihre Themen lassen sich so zusammenfassen, dass sie für all das Partei ergreifen, was die Mehrheit in diesem Landstrich nicht mag: für Abtreibung, gegen Nationalismus und alles andere, was eingepresst zwischen den Buchdeckeln der Religion und des Rechts zu bürgerlichen Verklemmungen führt. Schon von außen hat das Anwesen etwas von einem Widerstandsnest. Gegen das Eindringen reaktionärer Geister hat ein befreundeter Künstler neben der Auffahrt eine Propellermaschine aus dem Zweiten Weltkrieg zu einer Art Hai mit aufgerissenem Maul umgeschweißt. Nancy hat sich das lange, gelockte Haar rot gefärbt und trägt zu engen Schlaghosen sehr weite, sehr grüne Männerhemden. Nach Jahrzehnten des Modellierens an Kunstharz-Menschen hat sie selbst etwas Statuarisches bekommen. Wenn sie läuft, sieht es aus, als schöbe sie eine unsichtbare Hand. Als sie sich kennenlernten, lebte Edward noch in Los Angeles. Seine Liebe zum Automobil und – vor seinem Abtritt – zum großen Auftritt war bereits voll ausgeprägt. Er fuhr einen Truck mit der Aufschrift »Ed Kienholz. Experte«, auf den er das Material für seine Arbeiten lud, das er, ebenso selbst- wie preisbewusst, den Händlern auf

Schrottplätzen und Flohmärkten abgefeilscht hatte. Mit Walter Hopps, der ebenso grauen wie schillernden Instanz der amerikanischen Kunstszene, gründete er die Ferus Gallery, in der Andy Warhol seine erste große Solo-Show bekam, die diesem zum Durchbruch verhalf. Kienholz war bereits vier Mal verheiratet, hatte mehrere Kinder in die Welt gesetzt und eine eigene Kunstform erfunden: das Environment.

Der Unliebsame Viele Jahrzehnte lebten der Autodidakt Ed Kienholz und seine Frau Nance Reddin Kienholz zurückgezogen in ihrem Widerstandsnest im Norden Idahos. Gemeinsam klebten, sägten und löteten sie aus viel Gerümpel und alten Schaufensterfiguren ihre oft politischen Installationen – und waren bald schon in aller Welt bekannt und sind bis heute in vielen Museumssammlungen präsent. Noch immer lassen sich viele jüngere Künstler von den ebenso derben wie spielerischen Werken inspirieren. Von ihrer Wirkmächtigkeit haben sie selbst 15 Jahre nach Kienholz’ Tod (er starb 1994) nichts eingebüßt Seine Methode folgt meist einem schlichten Prinzip: Er baut Orte oder Menschen nach, um sie ein wenig zu verfremden – eine Bar, den Straßenzug eines Rotlichtviertels in Amsterdam, ein Billardzimmer oder den Rücksitz eines Autos mit kopulierendem Pärchen. Gerade deutschen Künstlern ist er mit dieser Form der wirklichkeitssatten Großinstallation ein Vorbild geworden: John Bock, Jonathan Meese, auch

VON SVEN BEHRISCH

Christoph Schlingensief. Seine Kunst will für jeden verstehbar sein: wuchtig in den Dimensionen, damit man sie nicht übersieht, lebensnah in den Details, damit man sie wiedererkennt, und meistens hoch politisch. Letzteres scheint der eine Grund zu sein, warum er in den USA noch weniger bekannt wurde als in Europa. Der andere Grund, der mit dem ersten zusammenhängt, hat mit seinen Wohn- und Arbeitsorten zu tun: nicht New York, sondern Kalifornien, Idaho, Texas und Berlin. Nach Berlin, sagt Nancy, seien sie nur wegen der Flohmärkte gezogen. »Wer Karriere machen wollte, ging dahin, wo alle anderen waren: nach New York.« Politische, engagierte Kunst war dort, wo gerade die ironischen Pop-Art-Künstler die abstrakten Expressionisten ablösten, höchstens ein Fall für die Volkshochschule. Mit der Zeit hat sich das geändert. 1996 richtete das Whitney Museum in New York, die offizielle Krönungshalle moderner und zeitgenössischer amerikanischer Kunst, Kienholz eine Soloausstellung ein; eine Schau im Berliner Gropius-Bau versammelte 1997 die Mehrzahl auch seiner Monumentalwerke und war die Ausstellungs-Sensation des Jahres. Einzig das Los Angeles County Museum of Art (LACMA) zeigte und kaufte Kienholz’ Werk fast von Anfang an. Los Angeles bereitet derzeit im Verbund mit fast allen Kunst-Institutionen Kaliforniens, namentlich dem Getty Center, eine landesweite Leistungsschau vor, die kein geringeres Ziel verfolgt, als die amerikanische Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts umzuschreiben. Dazu gehört auch, Kienholz auf seinen angemessenen Platz zwischen Allan Kaprow und Claes Oldenbourg zu setzen. Nancy lässt sich in einem thronartigen Sessel vor einem Schreibtisch im trüben Licht des riesigen Ateliers nieder. Um sie herum Werkbänke und die meterlangen Vitrinenschränke mit den Accessoires des Kienholzschen Kunstuniversums: den Puppengliedern, Fähnchen, Plastikautos und Fundstücken von den Flohmärkten der Welt. »Nichts,« sagt Nancy, »erzählt mehr über die Kultur eines Landes als das, was die Leute aus ihrem Leben aussortieren.« Hie und da stehen ältere Arbeiten: Die vier patriotischen Männer mit den amerikanischen Flaggen am Revers, die einander, das Gemächt des Hintermanns in der Hand, im Kreis um ein Holzfass herumführen; der Indianer mit Hirschgeweih an dem Notenpult, die Köcher, Decken und das Biwakgerippe hinter ihm als Flohmarktstand einer zerstörten Vergangenheit. Nancy rührt sich nicht in ihrem Stuhl. Sie mag nicht erklären. Die Arbeiten, sagt sie, erklären sich selbst. »Eds Werke kann man lesen wie ein Buch, von oben links nach unten rechts.« Vielleicht meint sie es ironisch. Vielleicht, sieht man die Installation mit dem Billardtisch in der Ecke des

Raums, auch nicht. Zwei Männer machen sich dort daran, die Kugeln zwischen den gespreizten Beinen einer Frau einzulochen. Doch neben solch ironiefreier Derbheit steht ein Environment wie The Art Show, in der sich Menschen mit dem Glas in der Hand auf einer Vernissage gepflegt langweilen. Der Kunst haben sie den Rücken zugewandt und anstelle von Augen, Mund und Nase ein Heißluftgebläse im Gesicht. Kienholz liebte es, mit dem Gewehr in der Hand in den Wald zu gehen. Wie er Auge in Auge mit dem wilden Tier die Flinte ansetzte und schoss, so bekämpfte er auch im Atelier mit offenem Visier, Meißel und Farbtopf als Waffe die warme Luft des Kunstgesprächs, den Chauvinismus der Herrscher oder den republikanischen Feind. Er liebte den Feind, weil er ihn kannte. Er zerlegte ihn, präparierte ihn, präsentierte ihn wie ausgestopftes Wild. So auch den dicken Mann, der breitbeinig auf einem Stuhl sitzt und statt eines Kopfes einen oval verformten Wok auf seinem Hals trägt, aus dem das Bild eines bärtigen Gesichts angriffslustig in die Umgebung blickt. Es ist er selbst. Wenn man an ihm vorbei geht, folgen die Augen wie in einem Hologramm. Ein anmaßender Blick. Er lässt einen so schnell nicht mehr los. Der leibhaftige Kienholz scheint eine noch größere Wirkung auf seine Umgebung gehabt zu haben. Denn um sein Anwesen herum hat sich im Laufe der Jahre eine ganze Schar von Freunden, Anhängern, Sammlern und Jüngern angesiedelt, die sich bis heute für ein paar Monate des Jahres auf ihrer Sommerranch aufhalten. Anstatt wie andere Künstler dahin zu gehen, wo die Galerien und Sammler zu Hause sind, hat die Kienholzsche Gravitationskraft sie einfach mit sich gezogen. Einer von ihnen heißt Monte Factor. Factor ist Millionär, 93 Jahre alt, hat kleine, gelbe Zähne, wässrige, fast vollständig erblindete Augen und immer irgendeinen Krümel um den Mund herum. Jeden Tag kommt er die 200 Meter von seinem Haus am See auf einem vierrädrigen Motorrad herangeknattert. Es ist so laut, dass jeder, der es hört, vor Schreck sofort vom Weg springt, was auch sinnvoll ist, weil Factor ihn nicht sieht. An dem langen Küchentisch füttert ihn Nancy mit Keksen und Babybel, ein, so Factor, »ganz ausgezeichneter Käse«. Factor hat Kienholz zu einer Zeit unterstützt, als der noch Autos und Motorräder reparierte, um sich über Wasser zu halten. 1963 kaufte er ihm die Arbeit The Illegal Operation ab, eine Installation, die aus einem zum OP-

Stuhl umgebauten Einkaufswagen, einer Stehlampe und ein paar rostigen chirurgischen Bestecken besteht. Unschwer erkennt man darin eine notdürftige Operationsstätte für eine Abtreibung. Die Arbeit war ein Skandal, niemand wollte sie ausstellen, geschweige denn kaufen. Factor führte zu diesem Zeitpunkt bereits ein paar gut laufende Firmen, unter anderem eine Bekleidungskette mit Filialen in den meisten großen Städten der USA. Er hatte einige sehr riskante Geschäfte in Mexiko eingefädelt und sich mit den Starfriseuren Hollywoods angelegt, nachdem er sie mit seinem eigenen Haarstudio alle bankrott gehen ließ. Factor mochte, was Kienholz machte. Keiner zuvor hatte es getan; es war mutig, groß und brachte eine Menge Ärger ein. Im Auto geht es mit Factor in ein nahe gelegenes ehemaliges Schulgebäude. Mitarbeiter bauen hier zur Probe für die Frankfurter Kienholz-Ausstellung im Oktober die Ozymandias Parade auf, eine Mammut-Installation. Auf einer spiegelnden Fläche in der Form eines Pfeils bäumt sich ein weißes Pferd, an dessen Bauch ein Mann in schwarzer Uniform ein Schwert in der Hand nach vorne streckt, mit dem er eine Weltkugel aufgespießt hat. Daneben sitzt ein weiterer Mann in Uniform auf den Schultern einer Greisin, in der Hand einen Stab, an dem ein Kreuz, der Koran und ein Davidstern baumeln. Es ist eine Weltuntergangsallegorie mit apokalyptischen Reitern auf einem Narrenschiff, an dessen Bug eine blinde Justitia in die Schnüre ihrer Pendelwaage verstrickt ist; rachsüchtige, blinde Herrscher in einer verkehrten Welt, deren Bewohner in Gestalt von Miniatur-Plastiktieren und Plastikmenschen an den Rand der Spiegelfläche gedrängt sind. Monte Factor ist Teil der Skulptur; für den Reiter auf dem Bauch des Pferdes hat er Modell gesessen, sich stundenlang mit Gips einwickeln lassen. Er mag die Arbeit nicht besonders, so schlecht hätte Kienholz die Welt gar nicht gefunden. Er sagt: »Es gibt Kunst und Galeriekunst. Ed hat Kunst gemacht. Meistens jedenfalls.« Die Schirn Kunsthalle in Frankfurt zeigt vom 22. Oktober bis 29. Januar 2012 eine Werkauswahl unter dem Titel »Kienholz. Die Zeichen der Zeit«

REISEN 15. September 2011 DIE ZEIT No 38

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Welcher Sommer?

Foto (Ausschnitt): Stefan Volk/laif

Ukulelespielen im prasselnden Regen und Häme unter gleißender Sonne – sechs Autoren erzählen von den Hochs und Tiefs ihrer Ferien

Bornholm

Amorgos

Balkonien

Saale-Unstrut

Apulien

Melancholien

Mensch-ärgere-dich-nicht in der Datscha

35 Grad – und bei euch? Ach, wie schade

Offener Brief an meinen ungenutzten Grill

Ein Schoppen im Schuppen von Oma Frölich

Wo die Zikaden zur Siesta zirpen

Zu viel Sonne macht blöd und enthemmt

ie Ostsee ist für uns immer die Südsee gewesen. Grüne Kiefern, weißer Strand, azurblaues Meer. Die Sommer an der Ostsee zogen sich selig dahin wie das Wohltemperierte Klavier von Bach, voll erhabener Gleichmut. Hier bekamen wir immer dasselbe in höchster Qualität, nie zu heiß, nie zu kalt, nie zu windig. Auf unserer Lieblingsinsel Bornholm sind diese Vorzüge der Ostseelandschaft überdies ganz unbehelligt von Strandcafés, Kurpromenaden und ähnlich überflüssigen Annehmlichkeiten zu genießen. Wie jede echte Naturschönheit hat allerdings auch die reine Ostseeschönheit eine Kehrseite. Wenn es außer der unverfälschten Natur nichts zu bewundern gibt, sollte es besser nicht regnen. Ein grauer Strand, halbmeterhohe Pfützen auf den Waldwegen, Schuhe, die nie mehr richtig trocken werden ... Ein solcher Urlaub ist ohne Internetcafé und Teenie-Disco eine echte Herausforderung. Die Feriendatscha wird unfreiwillig zum Zentrum der wochenlangen Sommerfrische, die unter solchen Bedingungen kaum noch so zu nennen ist. Schon morgens im Bett hört man das Geprassel der Tropfen, das die Tage so zuverlässig begleitet wie der eigene Herzschlag. Der Ausflug zum Eisverkäufer ist schnell erledigt, die Spiele sind bald alle schon zehnmal gespielt, auch das Ukulelespiel hilft nur über die ersten fünf Regentage. Dann regnet es aber noch weiter. Die Fähre, die einen zurück in die Zivilisation bringen könnte, ist von all den anderen Urlaubsflüchtlingen schon belegt. In der Zeitung bewundern wir die Sonne, die auf der Wetterkarte über dem Mittelmeer brütet. Wer da jetzt sein könnte ...

D

rüher schrieb man Postkarten, um Daheimgebliebene wissen zu lassen, wie schön man es im Urlaub hat. Man berichtete von hervorragendem Essen, grandiosen Unterkünften, netten Einheimischen und in zahllosen Variationen immer wieder von der Sonne – am Himmel, auf der Haut und (atemberaubend!) beim Untergehen. Wir alle haben diese Karten geschrieben. Und wenn wir ehrlich sind, taten wir es auch, weil ein Schuss Häme unterm Strohhut ganz wunderbar im Kopf perlt. Nur konnten wir nie ganz sicher sein, dass es zu Hause auch hinreichend trist war, während wir den Urlaub genossen. Bis die Smartphones in unseren Alltag traten. Ja, ich gebe zu, dass ich in diesem Sommer mehr als einmal deutsche Wetterberichte auf meinem Handy kontrolliert habe. Dabei bohrte ich meine Zehen wohlig in den warmen Sand eines griechischen Inselstrands, geföhnt von einer lauen Brise. Ich habe mein Handy auch meinen Mitreisenden in die Hand gedrückt, damit sie die kleinen Wolken, Regentropfen und Gewitterblitze mit eigenen Augen ansehen konnten – Augen, die wir mit dunklen Brillen vor der gleißenden Sonne schützten. Das Wort »Schlimm!« kam aus einem Mund, in dessen Winkeln ein böses Lächeln zuckte. Vielleicht habe ich die deutschen und griechischen Wetterberichte sogar fotografiert und irgendwo nebeneinander gespeichert. Aber das würde ich niemals zugeben.

F

ieber Kugelgrill, ich weiß nicht einmal, ob ich dich duzen soll oder Sie siezen. Näher kennengelernt haben wir uns ja bisher nicht, daher einfach unentschieden: Sie plus Vorname. Kugel ist Ihr Vor- und Grill Ihr Nachname? Oder andersrum? Schließlich wurden Sie in China hergestellt. Nun, Kugel, Ihr Anblick ist für mich ein Fazit meines Sommers. Wie neu gekauft stehen Sie vor der Balkontür, Ihre drei Metallfüßchen auf einer Strohmatte bei den Tomatenpflanzen. Gut, dass der Balkon überdacht ist, Tomaten mögen kein Wasser von oben. Und davon gab es in den, ähem, Sommermonaten dieses Jahres viel in Hamburg – über 300 Liter pro Quadratmeter, 43 Prozent mehr als im langjährigen Durchschnitt. Deswegen klebt an dem runden Rost im Inneren Ihres Kugelbauchs auch kein Fleckchen Ruß. Sie unberührter Kugelgrill, haben Sie Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den braun gebrannten Grills aus dem Süden – das Gefühl, etwas verpasst zu haben? Seit dem Frühjahr nenne ich Sie mein Eigen. Jetzt, wo bald der Herbst beginnt, schaue ich Ihnen ernst in die Belüftungsöffnungen. Kugel, nichts verbindet uns. Sie sind aseptisch sauber, ich habe Hunger. Sie stehen still in der hintersten Ecke des Balkons, ich verfluche das Wetter. Was könnten Sie mich wohl lehren (wenn schon nicht das Schwitzen)? Vielleicht, dass nicht auf jedes Frühjahr ein Sommer folgt? Oder wie es den Charakter stärkt, etwas bleiben zu lassen? Sie Buddhablechbauch auf meinem Balkon, Sie Idee eines lauen Abends, nun sagen Sie schon: Was nützt das Grillen in Gedanken?

L

icht jeder Regen ist eine Sintflut, nicht jede Sintflut überschwemmt das ganze Land, und vielleicht kommt der Sommer uns nur deshalb so nass vor, weil so viele Journalisten in Hamburg wohnen. Liebe Kollegen, googelt doch mal das Wetter jenseits eures Gartenzauns! Wenn bei uns gewittrige 22 Grad sind, sind in meiner alten Heimat Sachsen-Anhalt sonnige 28. Deshalb bin ich neulich Samstag früh in den ICE geklettert, um vier Stunden später in einer anderen Klimazone auszusteigen. Sandaletten an und rein in die Tropen. Draußen vorm Bahnhof wartet der Vater und knurrt, warum wir jetzt unbedingt nach Freyburg müssen. Na, weil Tag des offenen Weinkellers ist! Freyburg liegt im Saale-Unstrut-Tal und ist schöner als die Toskana. Vater am Steuer seines alten Toyota schimpft über die Mordshitze. Ich bin glücklich. Die Weinberge ziehen wie Tiere vorbei, und am Fluss träumen grün überwucherte Schenken. Wir halten bei der Winzergenossenschaft, ich koste den Hölder, den sie nach Hölderlin benannt haben. Den nächsten Schoppen trinken wir im Schuppen von Oma Frölich-Hake zusammen mit zwei beschwipsten Radfahrerinnen. Dann geht es zur ältesten Sandsteinbibelgalerie Europas: zwölf Monumente zum Thema Wein. Jetzt ein Handyfoto nach Hamburg! Mein Freund ruft sofort zurück. Bei ihm ist gerade wieder Sintflut. Er kehrt verzweifelt das Wasser aus der Garage. Vater ruft: Junge, halte durch, wir kaufen dir eine Kiste Wein! Denn gegen norddeutsche Sommer hilft nur Flucht nach Freyburg oder ein gepflegter Rausch.

N

talien ist ja auch nicht mehr wie im Prospekt, aber der Sommer wohnt immer noch hier. Er residiert ungefähr so lang, wie die Schulferien der Kinder dauern: geschlagene drei Monate. Von Mitte Juni bis Mitte September Licht, Sonne, Hitze. Am sommerlichsten ist der Sommer im Salento. Südapulien, Stiefelabsatz, weiße Häuser, ein Meer von Olivenbäumen, dazu das Ionische Meer und die Adria. Halb Europa sehnt sich nach dem Sommer, hier herrscht er wie ein Diktator. Schon frühmorgens ist es so heiß, dass man im Schatten Eiskaffee mit Mandelmilch trinkt. Spätestens um 7.30 Uhr trollt man sich zum Strand. Ein, zwei Stündchen im lauen Sand, in der türkisfarbenen großen Badewanne, danach herrscht selbst im Wasser Verbrennungsgefahr. Mittags steht die Sonne so hoch, strahlt ihr Licht so gnadenlos, dass die Olivenbäume sich nicht trauen, Schatten zu werfen. Die Zikaden aber ratschen ihren Sommerchoral. Zitzitzitzitziiitzitzit. Sie zirpen uns in den Schlaf der Siesta, alle Fensterläden fest verschlossen. Erst abends, wenn eine leichte Brise die Bougainvilleen im Hof erschauern lässt, geht das Leben weiter. Die Nacht wird zum Tag, Hochzeitsfeiern, Trauerzüge bewegen sich nicht vor Sonnenuntergang. Wenn der Sommer sein gleißendes Haupt verhüllt, dann atmen alle auf. Und zu später Stunde, wenn der kühle Roséwein die Gedanken klarer werden lässt, denken wir auch mal an Deutschland. Elf Grad! Brrr, es fröstelt uns. Aber vorstellen kann es sich keiner.

I

in normaler mitteleuropäischer Sommer und ich sind psychisch nicht kompatibel. Das liegt daran, dass Sommer meist Sanguiniker sind: sonnig, heiter, optimistisch. Ich hingegen bin Melancholikerin; und jedes Jahr, wenn ein Sommer naht, tritt das gleiche Problem auf: Die Welt draußen und drinnen driften auseinander. Draußen strahlt die Sonne. In mir nieselt es aus Weltschmerzwolken. Das wäre noch auszuhalten, wenn ich Verbündete hätte. Doch der Sommer, dieser Blender, reißt alle mit. Die Leute werden manisch. Lachen grundlos, legen sich in die pralle Sonne. Laufen halb nackt in der Öffentlichkeit herum; setzen dafür seltsame Hüte auf. Am Strand apportieren sie Bälle, als wären sie Hunde. Und sie würden sich in ein Ikea-Regal verlieben, wenn es nur »Giacomo« hieße. Ich bin dann die Einzige, die den Durchblick behält. Früher habe ich noch versucht, meine Umgebung durch Herumjammern zur Vernunft zu bringen. Aber es gibt Grenzen, ich kann mich nicht um alle Irren kümmern. Darum ging ich zuletzt dem Sommer aus dem Weg und flog ins südliche Afrika, nach Island oder Grönland. Dann kam der Sommer 2011. Und ich bin geblieben. Der graue Himmel sah aus, als hätte jemand meine Psyche auf eine Leinwand projiziert. Auch saß keiner zu lange in der Sonne, es war ja keine da; und alle blieben vollständig bekleidet. Und oh, wie schön schlecht waren sie drauf! Dieser Sommer war in Ordnung. Er war Melancholiker, wie ich. Und ihr – ihr wart endlich mal normal.

IRIS RADISCH

KARIN CEBALLOS BETANCUR

STEFAN SCHMITT

EVELYN FINGER

BIRGIT SCHÖNAU

ELKE MICHEL

E

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REISEN

DIE ZEIT No 38

FRISCH VOM MARKT

Foto (Ausschnitt): B. Roemmelt

Plätzchenbacken finnisch

Die Energie für die Achterbahn stammt aus Wasserkraft

Grün und blau Vom Bio-Hendl bis zum Ökostrom: Das Münchner Oktoberfest bemüht sich um Nachhaltigkeit

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underttausende Glühbirnen illuminieren die Theresienwiese bei Tag und bei Nacht, Musik wummert aus riesigen Lautsprechern, schwere Maschinen wirbeln Menschen durch die Luft oder hieven sie in schwindelnde Höhen. Allein der Stromverbrauch des Münchner Oktoberfestes dürfte dem einer Kleinstadt entsprechen. Dazu fleischlastiges Fast Food zum Mitnehmen an jeder Ecke mit den dazugehörigen Müllbergen. Und Millionen Besucher, die oft per Auto oder mit dem Billigflieger anreisen, nur um sich auf der Wies’n ein paar vergnügliche Stunden zu gönnen. Menschen, die sich um Ökologie und Nachhaltigkeit sorgen, ist dieses Treiben ein Graus. Weil sich das seit Jahrzehnten rot-grün regierte München aber intensiv um ein grünes Image bemüht, ist auch das Oktoberfest einem ökologischen Lifting unterzogen worden. Was das Münchner Tourismusamt unter dem Label »Öko-Wies’n« subsumiert, kann sich durchaus sehen lassen. So werden auf der Wies’n schon seit 1991 die Hendl und Hax’n und auch der für Zugereiste etwas gewöhnungsbe-

dürftige Steckerlfisch nur auf Mehrweggeschirr mit Mehrwegbesteck serviert. Erfrischungsgetränke werden, gegen ein Mindestpfand von einem Euro, nur in Mehrwegflaschen ausgegeben. Fünf große Bierzelte sowie die Hühnerbraterei Zum Stiftl beteiligen sich an einem wassersparenden Recyclingprojekt. Dabei wird das Nachspülwasser für die Bierkrüge noch mal in den Zelttoiletten verwendet. Auf 6400 Kubikmeter Wasser beziffert das Amt die Einsparung im vergangenen Jahr. Dem durchschnittlichen Wies’n-Besucher fallen diese grünen Errungenschaften wohl ebenso wenig auf wie die Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller Attraktionen, darunter das Riesenrad, der Olympia Looping und die Wilde Maus nebst einigen Festzelten, mit Ökostrom der Münchner Stadtwerke versorgt werden. Diese garantieren eine Herkunft »ausschließlich aus Wasserkraft«. Augenfälliger sind die »Bio-Schmankerln«. Jahrmarktsnaschereien wie gebrannte Mandeln, Schokobananen und frisch gebackene Waffeln gibt es ebenso in der zertifizierten Biovariante wie Würstel aller

VON GEORG ETSCHEIT

Art, Reiberdatschi (Kartoffelpuffer) und die besonders beliebten Brathendl. Bei der traditionsreichen Hühner- und Entenbraterei Ammer kommen sogar ausschließlich Bio-Hendl auf den Grill. Die Nachfrage sei »stark steigend«, teilt das Unternehmen mit, wobei sich die Gäste auch von höheren Preisen nicht abschrecken ließen. »Wir merken, dass das Thema Bio an Bedeutung gewinnt, sowohl bei jungen Leuten als auch bei ernährungsbewussten Familien.« Martin Hänsel vom Bund Naturschutz in München gerät ob solcher Äußerungen nicht in Euphorie. Zwar stehe das Oktoberfest im Vergleich zu anderen Volksbelustigungen »gar nicht so schlecht da«. Zu einer echten Öko-Wies’n sei es aber noch ein weiter Weg. So böte nicht einmal jeder zehnte Gastronom Biolebensmittel an. Diesbezüglich eine echte Diaspora sind die 15 Großzelte der Münchner Brauereien, in denen mit Abstand die meisten Fleischportionen vertilgt werden. 2010 waren es 505 901 Brathendl, 69 293 Schweinshaxen, 119 302 Paar Schweinswürstel und 119 Ochsen. Toni Roiderer ist Wirt im Hackerzelt

und Sprecher der Wies’n-Wirte. »So viel Bio gibt’s gar nicht, wie wir brauchen würden«, sagt er. Das ökologische Potenzial auf dem Oktoberfest sei mittlerweile »ziemlich ausgeschöpft«. Die Festwirte verhielten sich schon seit Jahren sehr umweltbewusst. Weswegen 13 von ihnen 2008 auch mit dem Bayerischen Umweltsiegel in Gold ausgezeichnet worden seien. Eine weitere Verschärfung des Nachhaltigkeitskurses, wie jüngst von den Münchner Grünen angeregt, lehnt der Gastronom ab. Die Ökopartei will unter anderem mehr fair gehandelte Produkte auf der Wies’n und eine Verbesserung der Klimabilanz etwa durch Solarkollektoren auf den Festzelten. Roiderer möchte das nicht. Beim Stichwort Biobier wird er grantig. »Gott sei Dank, dass es den Schmarrn bei uns nicht gibt.« Das Münchner Bier sei dank bayerischem Reinheitsgebot schon rein genug. »Man soll nicht nach Problemen suchen, wo es keine gibt.« Dabei wäre die Einführung einer Biovariante vielleicht eine gute Möglichkeit für Münchens Brauereien, um den Preis für die Maß endlich über die magische Zehn-Euro-Marke zu treiben.

Wenn es eine Wahl zur klischeegeplagtesten Nation Europas gäbe, so hätten die Finnen gute Chancen auf einen der vorderen Plätze: Für den Rest des Kontinents sind sie ein Volk, das im Sommer Moskito- und im Winter Schneemassen trotzt. Und eine seltsame Sprache spricht, wenn es nicht gerade schweigt oder Wettbewerbe im Handy-Weitwurf und Luftgitarre-Spielen veranstaltet. Wer die Finnen wirklich kennenlernen will, kann sich nun bei ihnen zu Hause einladen. Die Organisation Cosy Finland bietet verschiedene Reisepakete an, vom mehrgängigen Abendessen über einen Sauna- oder Damenabend bis zum Sonntagslunch, Weihnachtsfest und gemeinsamen Plätzchenbacken. Alle Veranstaltungen finden daheim bei Privatleuten statt – und nur keine Berührungsangst vor der Sprache: Die meisten Gastgeber sprechen Englisch, einige auch Deutsch. Preise ab 58 Euro, www.cosyfinland.com

Norditaliens Gärten Wer eine edle Villa oder ein Schloss besitzt, schließt die Tore seines Anwesens in der Regel sorgfältig ab. Das gilt nicht am 2. Oktober in den italienischen Regionen Piemont, Ligurien und in der Lombardei: Am Tag der »Castelli e Giardini Aperti«, der geöffneten Schlösser und Gärten, haben Besucher Zutritt zu etwa 170 staatlichen und privaten Villen, Burgen, Schlössern und Gärten. Unter den Sehenswürdigkeiten sind auch etliche, zu denen die Öffentlichkeit normalerweise keinen Zugang hat – und sehr berühmte wie etwa die Gärten der Villa Hanbury in Ventimiglia und des Palazzo Principe in Genua. Viele Eigentümer bieten eigens Besichtigungstouren und Sonderveranstaltungen an. Übersicht unter www.castelliaperti.it

REISEN

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Aufstieg zum Ben Nevis in den schottischen Highlands (unten und Mitte). Blick von der Spitze des Snowdon in Nordwales (rechts)

Fotos (Ausschnitte; v.l.n.r.): Jiri Rezac; Wolf Alexander Hanisch für DIE ZEIT; Cephas Picture Library/Alamy; imago

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s gibt Wünsche, mit denen nicht zu spaßen ist. Jetzt zum Beispiel muss ein heißes Bad her. Unbedingt. Dann ein Steak, ein Bier und ein vernünftiges Bett. Immerhin haben wir gerade den höchsten Berg Großbritanniens bestiegen. Der strahlt mit seinen bauchigen Flanken zwar die Arglosigkeit eines adipösen Mönchs aus und ist nur 1344 Meter hoch. Doch weil der Pfad auf seinen Gipfel fast auf Meereshöhe startet, ginge der schottische Ben Nevis in den Alpen locker als Zweitausender durch. Schweißverklebt stehen wir nun wieder unten und beobachten die Letzte unserer Gruppe. Es ist Emily, die sich mit ihren Teleskopstöcken die Geröllzungen hinunterstochert wie eine Spinne in Funktionsklamotten. Als sie endlich auf dem Parkplatz steht, geht alles sehr schnell. Dean setzt sich ans Steuer seines Minibusses und hupt. Minuten später sind wir alle hinter ihm versammelt und rammen die Schiebetür ins Schloss. Keine Badewanne, kein Bier, kein Bett. Und statt Steak gibt es Studentenfutter. Denn jetzt geht es erst richtig los. Dean und sein mürrisch dreinblickender Kol- Ben lege werden uns zu zwei weiteren Bergen durch Nevis war das halbe Land karren. An diesem Wochenende er kaum schneller verwandeln wir uns nämlich in Three Peaker: als Emily. Auf dem nächsten Berg aber, da ist er Wir besteigen den höchsten Berg von Schottland, sicher, werden seine Qualitäten schon zum Vorden höchsten von England und den höchsten von schein kommen: Immerhin sei er geübt im WanWales – in 24 Stunden. Das ist zumindest das dern bei Dunkelheit – er habe im nächtlichen Ziel. »Three Peaks Challenge« nennt sich dieses Hyde Park mit Stirnlampe trainiert. »Der Unterschied zwischen einem Berg und Rennen gegen Berg und Zeit, das in Großbritannien legendär ist. Man kann es wie wir als Tour- einem Hügel liegt in der Erscheinung, nicht in paket bei einer Agentur buchen, die den Trans- der Höhe«, deklamiert jemand aus einem Reiseport und zwei Führer pro Berg organisiert. Viele führer: »Und was die betrifft, ist der Scafell Pike Briten machen sich im Sommer aber auch in Ei- ein Berg Zoll für Zoll.« Englands höchster Gipgenregie auf den Weg: insgesamt 40 Kilometer fel erhebt sich knapp 1000 Meter über dem Lake Fußmarsch über steile Auf- und Abstiege, dazwi- District, den wir kurz nach Mitternacht erreichen. Als wir aussteigen, ist ihm unser Respekt schen elf Stunden Fahrt. Zum Abschied setzt die Abendsonne dem schon sicher: Die Bergführer Simon und Vicky Granitschädel des Ben Nevis noch eine goldene empfangen uns in millimeterdichtem RegenMütze auf. Dass dieser Brocken jährlich etwa geprassel. Wie ein Glühwürmchengeschwader zehn Menschenleben fordert, können wir kaum trotten wir mit unseren Stirnlampen steil bergglauben. Wo sich sonst die Schlechtwetterfronten an. Immer wieder schweben uns andere Lichter des Atlantiks austoben, gleißte heute der Himmel entgegen – im Sommer sind hier pro Nacht gut vor Gunst. Auf der einen Seite funkelten Seen 700 Challenge-Teilnehmer unterwegs. Einmal und Meeresarme, auf der anderen staffelten sich durchwaten wir einen knietiefen Gebirgsfluss, die blau-grauen Kegel der schottischen Munros der jeden Respekt vor Goretex vermissen lässt. wie Wogen von fast durchsichtiger Zartheit. Und der Rat zu Handschuhen in der VeranstalWenn eine Landschaft elegant sein kann, dann tercheckliste wirkt auch nicht mehr übertrieben. diese. Ganz im Gegensatz zur Bergsteigerschar, Die Temperaturen sind längst einstellig. Beste die uns begegnete. Die war nichts als grell: Män- Voraussetzungen für Larmoyanz also – doch tatner im Schottenrock und Gruppen im Clownkos- sächlich herrscht Euphorie. Ganz dem Augentüm – ein paar Burschen hatten sich sogar Frau- blick ergeben, fokussiert mein Blick das ständig enunterwäsche über die Outdoorkluft gestreift. wechselnde Muster der Steine im Lichtkegel vor »Wohltätigkeitswanderer«, erklärten unsere Berg- mir. Eine Marmorierung glänzt bunter und führer den Mummenschanz. »Neun von zehn schöner als die andere in der Nässe. Die LinienThree Peakern sammeln bei Bekannten Geld für gespinste sehen aus wie Zeichnungen von Fabeldie Tour und spenden es dann.« Die Maskerade wesen, und unser rhythmisches Keuchen ähnelt dem Soundtrack eines psychedelischen Films. soll die Beweisfotos aufpeppen. Im Bus ist es heiß. Und so eng wie in der Lon- Sagenhaft. Ich will nur noch in Regennächten doner U-Bahn zur Rushhour. Sechs Stunden wandern! Plötzlich fällt der Lichtfleck auf Gras, und Fahrt nach England liegen nun vor uns. Überall knistern die lollibunten Verpackungen von Ener- morastige Löcher gieren nach unseren Bergstiegyriegeln, zischen Dosenverschlüsse von Fitness- feln. Wir sind irgendwo unterhalb des Grats. drinks. Es riecht nach Schweiß und Erschöpfung, Der Sturm von der nahen Irischen See erinnert und der Vauxhall entpuppt sich immer mehr als jetzt an ein Kind, das sich so sehr in sein Heulen fahrende Folterkammer. Es ist, als führten wir ei- hineingesteigert hat, dass es durch nichts zu benen Tanz auf. Er heißt »Wie kann ich sitzen?« und sänftigen ist. Dennoch sieht man vor Nebel keiendet nie. Alle fünf Minuten probieren wir neue ne zwei Meter weit. Dann wird klar, dass Simon Stellungen für Beine und Hintern aus. An Schlaf und Vicky sich verlaufen haben. Eine Ewigkeit ist nicht zu denken. Draußen prangen die schot- lang hantieren sie mit Kompass, GPS und Karte, tischen Highlands. Immer wieder tauchen Pubs und wir irrlichtern zwischen grabsteingruseligen auf, deren Butzenscheiben-Gemütlichkeit von Felsen herum. Doch die Stimmung könnte nicht Mal zu Mal verführerischer wirkt. Ab Glasgow besser sein. Es ist die Stunde von stiff upper lipp kommt, was kommen muss: Der Sinn der Sache und englischem Sportsgeist – bloß nicht anmerbeginnt zu erodieren. Spaß sieht schließlich an- ken lassen, dass es brenzlig wird. Das muss das ders aus. Also, Leute: Warum tun wir uns das an? psychische Fundament des Britischen Empires »Weil Reiseabenteuer heute nur noch in alten gewesen sein, denke ich. Und male mir aus, welBerichten vorkommen«, erklärt der schlaksige che Empörungschoräle jetzt wohl in einer deutChris und beißt ein Gähnen weg. »Wenn du schen Wandergruppe losbrächen. Unser Gipfelbesuch ist nur ein Abklatschen. wirklich etwas erleben willst, musst du deine Grenzen spüren. Darum geht es hier.« Matt, Und der Abstieg eine Quälerei. Immer sehnsüchtiger stelle ich mir vor, wie die Bacon Dave und die milchblonde Tess sehen das Rolls wohl aussehen werden, die uns ähnlich. Kein Glücksgefühl ohne Dean unten versprochen hat. GeLeistung, sagen sie. Außerdem gen Ende wird es hell, und wir machen auch sie in Benefiz: JeBen Nevis, 1344 m erkennen erst jetzt das mader hat 1000 Euro für AsthGlasgow jestätische Auf und Ab der matiker und Krebskranke geHügel des Lake Districts sammelt. Sash hingegen, der GRO SSBR ITAN NI EN ringsum. Dann hören wir indische Banker aus LonScafell Pike, Deans Lachen. Er drückt don, will bald den Kilima978 m uns bleiche Pappbrötchen ndscharo besteigen und Snowdon, IR L AN D 1085 m mit Speckstreifen in die sieht die Tour als Test. Am

Großbritannien

ZEIT-Grafik

Veranstalter: Für ca. 365 Euro organisiert die Agentur »Three Peaks Challenge« die gleichnamige 24-Stunden-Tour auf den schottischen Ben Nevis, den englischen Scafell Pike und den walisischen Snowdon. Transport und zwei lokale Führer je Berg sind inbegriffen (Tel. 00441970/86 81 01, www.threepeakschallenge.org) Anreise: Per Flugzeug nach Glasgow, dann weiter im Zug Richtung Norden nach Fort William (knapp vier Stunden). Rückflug von Manchester oder Birmingham

Unterkünfte: Vor der Tour am besten in der Nähe des Ben Nevis einquartieren, z. B. im Clan MacDuff Hotel, DZ/F ab 66 Euro (Achintore Road, Fort William, PH33 6RW, Tel. 0044-1397/70 23 41, www.clanmacduff. co.uk). Nach der Challenge ist das berühmte Pen-y-Gwryd Hotel im Snowdonia-Nationalpark ideal: Dort wohnte schon Edmund Hillary, und Teile seiner Everest-Ausrüstung sind zu besichtigen. Ü/F ab 45 Euro (Nant Gwynant, Gwynedd, North Wales, LL55 4NT, Tel. 0044-1286/87 02 11, www.pyg.co.uk)

Über alle drei Berge Mit Schweiß, Speckbrötchen und Sportsgeist: In 24 Stunden auf die höchsten Gipfel von Schottland, England und Wales VON WOLF ALEXANDER HANISCH

Hand, die er über einem Gaskocher geröstet hat. Ich bin sicher, niemals zuvor etwas so Wunderbares gegessen zu haben. Auf dem Weg nach Wales ist mein Kopf vor Müdigkeit wie leer gefegt. Gegen das Licht binden wir uns gerollte T-Shirts um die Augen, sodass wir aussehen wie ein Bus voller Entführungsopfer. Aber es hilft nichts. Statt zu schlafen,

beobachten Chris und ich das immerzu flüsternde Pärchen vor uns, das sich mit orangefarbenen Bröckchen Cheddarkäse füttert. Als wir auf der Autobahn sind, geraten wir in einen Stau. Schaffen wir es überhaupt in 24 Stunden? »Mach dir keine Sorgen«, sagt Dean und erklärt, dass er bei Staus die Uhr anhalte. Dann zwinkert er und schiebt sich eine Sonnenbrille auf die Nase. Am Fuß des Snowdon braucht er die nicht mehr. Immer wieder zerrt der Sturm an unseren Jacken, reißt an den Kapuzen, lässt die Rucksackschnüre um sich peitschen. In den Alpen würde man jetzt eingeschüchtert am Kachelofen hocken. Wir aber besteigen mit Gesichtern wie zerdrückte

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Semmeln die 1085 Meter hohe Pyramide des walisischen Paradebergs. Edmund Hillary und Tenzing Norgay übten hier 1953 für ihre Erstbesteigung des Everest – sie hatten herausgefunden, dass der Snowdon ein Modell des welthöchsten Bergs im Maßstab eins zu acht ist. Mit uns scheint das ganze Commonwealth auf den gezackten Graten unterwegs zu sein. Manche Wanderer sind gekleidet, als gingen sie zum Strand. Prompt knattert ein wespenfarbener Rettungshubschrauber über dem Bergsee, in dem König Artus seine letzte Ruhe gefunden haben soll. Den Hubschrauber sieht man hier oft. Pro Monat fordert der Snowdon ein Leben, pro Woche wird ein Schwerverletzter zu Tal geflogen. Doch wir werden nur nass. Chris, Dave, Matt und ich sind die Ersten auf dem Gipfel. Nach 23 Stunden und zehn Minuten reichen wir uns festen Blicks und mit angewinkelten Ellenbogen die Hand. Britischer geht’s nicht. Zur Belohnung kommt sogar die Sonne durch, und die Grasberge glänzen wie ein Gemälde aus irgendeiner sehr grünen Periode, das erst noch trocknen muss. Auf dem Weg hinab schmerzen Muskeln und Gelenke bei jedem Schritt. Gut so. Bewusster als jetzt kann mir mein Körper doch gar nicht sein. Gibt es mich überhaupt, wenn nichts wehtut? Als ich abends im Zimmer einer klammen Lodge an der Küste die Vorhänge zuziehe, bin ich seit 40 Stunden ohne Schlaf. Kurz zuvor habe ich noch in lauem Wasser gebadet, schaumloses Bier getrunken und ein verblüffend schlechtes Steak gegessen. Doch das hat keine Bedeutung mehr. Ich falle in mein Bett wie in einen Schrein voller Watte. Das muss das Glück jenseits der eigenen Grenzen sein, von dem im Bus die Rede war. Irgendwo auf den letzten Metern habe ich sie wohl überschritten. www.zeit.de/audio

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REISEN

DIE ZEIT No 38

Gar nicht abgehoben Lichteffekte gegen den Jetlag und höhere Luftfeuchtigkeit gegen das Austrocknen der Schleimhäute – die neue Boeing 787 verspricht mehr Flugkomfort VON ANDREAS SPAETH

Foto: ANA

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Die Kabine der neuen Boeing 787 für All Nippon Airways

n mehrfacher Hinsicht leiser als vor vier Jahren der Airbus A380 startet demnächst sein Konkurrent, die neue Boeing 787. Die Aufmerksamkeit hielt sich in Grenzen, als der amerikanische Langstreckenflieger im Juni zum ersten Mal auf deutschem Boden zu besichtigen war. Nur ein paar Hundert Zaungäste reckten am Flughafen BerlinTegel ihre Hälse und Handykameras. Das mag daran liegen, dass der so genannte Dreamliner keine Rekorde bricht. Er verkörpert ein weniger auffallendes, aber technisch revolutionäres Konzept. Herkömmliche Passagierflugzeuge bestehen aus Aluminiumplatten, die mit etwa 50 000 Nieten zusammengehalten werden. Die Boeing 787 hingegen ist großteils aus hochfestem, carbonfaserverstärktem Kunststoff gefertigt. Die runden Fertigsegmente für den Rumpf wurden direkt ineinander geschoben. Das macht das Flugzeug 20 Prozent leichter als vergleichbare Modelle und auch 20 Prozent spritsparender. Ein wichtiger Grund für Fluggesellschaften aus aller Welt, die 787 zu bestellen. Aufträge für rund 820 Maschinen sind bei Boeing eingegangen. So etwas gab es noch nie bei einem Flugzeug, das sich noch gar nicht im Liniendienst bewährt hat. Rekordverdächtig ist allerdings auch die Verspätung, mit der es ausgeliefert wird. Immer neue Pannen und Ungereimtheiten bei der auf viele Zulieferer

verteilten Produktion kamen dazwischen. Dreieinhalb Jahre musste sich der erste Kunde, All Nippon Airways (ANA) aus Japan, gedulden. Nun steht das Datum für den Premierenflug fest: der 26. Oktober. Den Passagieren verspricht das neue Modell nicht nur eine bessere Umweltbilanz, sondern auch kürzere Flugzeiten. Nicht, weil die 787 besonders schnell wäre, sondern weil sie eine eigene Marktnische schafft: Interkontinentalflüge ohne Umsteigen auch von kleineren Flughäfen aus. Das gibt es bis jetzt kaum, weil sich auf Langstrecken nur entsprechend große Flugzeuge rechnen. Die wollen aber erst einmal gefüllt sein, was nach großen Drehkreuzen als Start- und Zielpunkt verlangt. Der Dreamliner bewältigt Distanzen von bis zu 15 000 Kilometern, hat aber kaum halb so viele Sitze wie der A380, ANA fliegt interkontinental nur mit 158 Plätzen. Das macht es rentabel, auch weniger wichtige Flughäfen zu bedienen. »Die 787 ist der Berlin-Flieger schlechthin«, sagte im Juni Joachim Hunold, damals noch Chef von Air Berlin, dem einzigen deutschen Kunden. Sein Nachfolger Hartmut Mehdorn kündigt zwar Sparmaßnahmen an, will aber, soweit bis jetzt bekannt, an der Bestellung der 15 Jets festhalten. Von April 2012 an sollen sie der Airline helfen, den neuen Hauptstadt-Flughafen Berlin-Schönefeld zum Drehkreuz auszubauen.

Auch die ANA will die neuen Möglichkeiten nutzen. »Mit der 787 können wir künftig auch Ziele wie Düsseldorf, Brüssel oder Barcelona von Japan aus anfliegen, zu denen es bisher keine Nonstopverbindungen gab,« sagt der Europachef Shuichi Fujimura. Den Anfang macht im Januar 2012 eine Nachtverbindung zwischen Frankfurt und dem Tokyoter Stadtflughafen Haneda. Auch beim Komfort in der Kabine darf man auf einen Fortschritt hoffen. So sind die Fenster in der 787 wesentlich größer als bisher üblich. Die Scheiben weisen keine Sichtblenden mehr auf, sondern lassen sich auf Knopfdruck vom Passagier elektrochromatisch verdunkeln, bis kein Licht mehr einfällt, man aber weiter schemenhaft nach draußen sehen kann. Noch entscheidender für das Wohlbefinden: Der Luftdruck in der Kabine entspricht einer Höhe von nur mehr 1830 Metern über dem Meeresspiegel statt wie sonst 2400 Metern; das macht den Flug weniger ermüdend. Dank des Kunststoffrumpfs, der nicht korrodiert, lässt sich auch die Luftfeuchtigkeit in der Kabine auf 15 statt der üblichen 5 Prozent steigern, was das Austrocknen der Schleimhäute verhindert. Gegen Jetlag soll die Lichtanlage helfen, die mit 128 Farbtönen den Zeitzonenwechsel nachempfindet. Siehe auch Wirtschaft Seite 26

*Seit dem 1. Januar 2011 wird auf alle Flugreisen eine Luftverkehrsabgabe zwischen € 8 und € 45 pro Strecke erhoben und auf den Rechnungen separat ausgewiesen.

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15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Ein Baum von einem Kerl Seit 40 Jahren reist ein Kieler Segler zu einer unbewohnten dänischen Insel – nur um einen Weißdorn zu fotografieren VON ARNE RAUTENBERG

Fotos: privat (l.); Heinrich Rathje/www.deloew.de

W

ir haben Frank Zappa gehört auf dem Weg zur Insel. In Heinrichs Autoradio ist ohnehin nur ein einziger Musiker gespeichert, und das gleich 120 Stunden lang. Die Anreise zur Insel Æbelø ist abenteuerlich. Man muss den Wagen auf einem Parkplatz stehen lassen und dann zu Fuß gehen, durch wadenhohes Wasser. Für uns ist der Weg heute beschwerlich. Exakt zur Ankunftszeit, um 12 Uhr, hat das Wasser seinen höchsten Stand erreicht. Zudem drückt der Wind das Seichtwasser an den eingeschlagenen Orientierungspfählen entlang in die Nehrung. Und zu allem Überfluss regnet es bereits den ganzen Vormittag. Wir suchen einen Baum. Den einen, ganz besonderen Baum, der Heinrich Rathje bereits seit knapp 40 Jahren beschäftigt. Heinrich, Typ Wikinger mit blonden Lockenhaaren, Zauselbart, goldenem Ohrring und großen, sommerbesprossten Händen, war 1972 zum ersten Mal hier. Als 23-Jähriger mit seiner Piratenjolle, einem »Boot für wilde Kerle«, wie Heinrich sagt. Zu Hause, in Eckernförde, hat er damals oft an der Küste gestanden, aufs offene Meer geblickt und sich gefragt, wie es auf wohl der anderen Seite, hinter dem Horizont aussieht. Also packte Heinrich eines Tages seine Freundin in den Piraten, der eigentlich eher für Binnengewässer ausgelegt war, schnappte sich eine Autokarte und segelte in der dänischen Südsee umher. Auch Fünen wurde umrundet. Oben im Norden der Insel entdeckte er dann knapp zehn Kilometer östlich des beschaulichen Fischerdörfchens Bogense die kleine Moräneninsel Æbelø. »Wir legten den Piraten vor Anker und suchten einen Platz für unser Zelt. Man konnte den Baum nicht übersehen, das war ein Solitär.« Nah an der Steilküste stand er also, der Baum: ein Weißdorn, dessen Stamm sich zweiteilte, weiter oben wieder vereinte, sich abermals teilte und schließlich erneut zusammenfand. Die Krone war derart kräftigen Westwinden ausgesetzt, dass sie, einer bizarren Fahne gleich, vollends gen Osten davonwuchs. »Ich hatte damals nur eine schlechte Kamera dabei«, sagt Heinrich. »Da dachte ich: Hier musst du im nächsten Jahr noch mal hinfahren. Mit einer besseren Kamera.« So fuhr Heinrich 1973 erneut nach Æbelø und machte ein Bild vom Baum. Und dann immer wieder. So nahm die Geschichte von Heinrich und seinem Baum ihren Lauf. Jedes Jahr kommt die Zeit, in der Heinrich nach Æbelø fährt, seinen Baum im Sucher scharf stellt und abdrückt. Mal Ende April, während der Baumblüte, mal im September, wenn er Früchte trägt, meistens zur Sommerzeit. Jedes Mal wandert ein neuer Abzug an die holzvertäfelte Arbeitszimmerwand in Kiel-Schilksee. Wie sich die Bilder gleichen, denkt man auf Anhieb, und doch tun sie es nicht. Neben den Licht- und Laubverhältnissen wechselt auch die Fotoästhetik, je nach Dekade und Stand der Kameratechnik. Zudem dünnen die harschen Witterungsverhältnisse das tote Gezweig im Weißdorn mit den Jahren aus, wodurch der Heinrich Rathje nennt sich selbst »dänophil«

Baum zusehends an Charakter und Kontur gewinnt: Immer länger und aberwitziger wird seine Krone. 1997 dann war der Baum plötzlich weg. »Ich dachte: Jetzt sind sie mit der Motorsäge gekommen«, sagt Heinrich und lacht. Tatsächlich hatten die Wurzeln des Weißdorns am Rande der Steilküste einfach ihren Halt verloren. Der Baum stürzte ab. In den ersten Jahren am Boden brachte er noch frische Triebe hervor, dann fügte er sich dem Verfall. Doch Heinrich wäre nicht Heinrich, wenn er sich davon unterkriegen ließe. Längst hängt an diesem Ausflug weit mehr als nur der Baumbesuch. Heinrich ist nämlich »dänophil« – er spricht fließend Dänisch, liebt Land und Leute. Heinrich weiß, wo es die besten Fuchsien zu kaufen gibt, welcher Autohändler die kuriosesten Roadster feilbietet und wo die schönste Bäckereifachverkäuferin arbeitet. Er weiß, in welcher Straßenkurve wilde Kirschen wachsen, und natürlich weiß er auch, wo man seinen Wagen parken muss, um auf die Insel Æbelø zu gelangen. Wir schlüpfen in Badehose und Regenmantel. Dann waten wir eine dreiviertel Stunde lang durch Schlick und hüfthohes Wasser. Ohne dass man es recht bemerkt, ist es anstrengend. Auf dem grasigen Inselteil Æbelø-Holm angekommen, geht es über einen geraden Wanderpfad zur Kiesbankverbindung, über die man schließlich den bewaldeten Hauptteil der Insel erreicht. Schuhe aus, Schuhe an, Schuhe aus, Schuhe an. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts fanden auf Æbelø ein paar wenige Familien mit Fischfang, Viehhaltung und Holzschlag ihr Auskommen. Einige Höfe gab es damals und sogar eine Schule. Heute ist die Insel unbewohnt. Viel Weite und bleiches Licht. Über die Salzwiesen streift der Wind, und die Stranddisteln, Dünengräser und Heckenrosen nicken dazu. Bis auf das Haus des Leuchtturmwärters und ein weiteres sind alle Bauwerke abgerissen worden. Æbelø bleibt sich selbst überlassen. Wo aber ist nun der Baum? Gut durchnässt suchen wir den Steilküstenabschnitt ab. »Normalerweise liegt er hier«, brummt Heinrich. Doch wir finden nichts. Bloß Flintsteine klickern unter unseren Schuhsohlen. »Lass mal noch weitersuchen.« Gerade als wir im Nieselregen frustriert von dannen ziehen wollen, entdecken wir ihn dann doch: ein rundes Stück Holz mit der vertrauten, markanten Windung, 100 Meter gen Süden abgetrieben, zwischen allerlei entwurzeltem Schwemmholz. Für einen feierlichen Augenblick bricht der Himmel auf, und die Sonne strahlt. Heinrich macht das vierzigste Foto von seinem Baum. Als wir uns nach einiger Zeit abwenden und auf den Rückweg machen, drehe ich mich noch einmal um. Genau jetzt, genau hier kommt sie wohl an ihr Ende, die Geschichte von Heinrich, dem Mann mit dem Wikingerherzen, der Jahr für Jahr seinen Baum aufsucht. Wer weiß, wohin das Schwemmholz im nächsten Winter treiben wird. Auf dem Rückweg hören wir Frank Zappa, natürlich. Lebensabend eines Baumes: Heinrich Rathje hat ihn in allen Stadien dokumentiert

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REISEN

DIE ZEIT No 38

LESEZEICHEN

Urlaub vom Strand

Auf dem Familientrip

Wo Sylt noch schweigt

Auf ganz großer Fahrt

Stadtgeschichten

Beim Begriff »Dom-Rep« denken viele an All-inclusive-Urlaub für Sonnenanbeter. Doch hinter den Traumstränden der Dominikanischen Republik, im Ostteil der Insel Hispaniola, wuchert gut zugänglich ein tropischer Paradiesgarten. Papageien, Flamingos und Fregattvögel haben sich dort eingenistet; zahlreiche Gecko-, Leguan- und Schmetterlingsarten eine Heimat gefunden. Was man in dem üppigen Blattwerk alles entdecken kann, verrät der Botaniker Elmar Mai in seinem gründlich recherchierten Naturreiseführer. Texte, ansprechende Fotografien und viele Überblickskarten beschreiben die Flora und Fauna auf der Insel und vor ihren Küsten. Dazu liefert der Band Informationen darüber, wie die Insulaner ihre Naturschätze nutzen. Und zum Orts- gibt es noch ein Artenregister mit deutschen und lateinischen Namen. Bei so einem Reisebegleiter kann der Strand auch mal ein paar Tage warten. MWE

Zwei Monate lang mit dem Vater wandern? Und das Gepäck auch noch selbst schleppen? Der 18-jährige Aaron Moser muss sich von seiner Clique einiges anhören, als er und sein Vater Achill zu Fuß von München nach Florenz aufbrechen. Doch der Vater hat schon 25 Wüstendurchquerungen hinter sich, und auch der Sohn ist zäh. Viele Worte über die Strapazen verlieren die beiden in ihrem Buch daher nicht. Stattdessen wirbt der Vater für ihre Fortbewegungsart: »Nur zu Fuß hält die Seele Schritt.« Und er geht so ausgiebig auf Heinrich Heines Italienreise ein, deren Route sie folgen, dass man manchmal versteht, dass es dem Sohn zu viel wird. Doch am Ziel simst Aaron der Clique: »Nach zehn Wochen on the road fühle ich mich sauwohl. Würde am liebsten morgen weiterziehen.« Ein Vater-Sohn-Abenteuer, das Eltern neidisch machen dürfte, die ihre Kinder nicht einmal zu einer Kurztour bewegen können. ALB

Der Autor nimmt die Argumente gegen einen Sylt-Urlaub lieber gleich selbst vorweg: Ja, das Eiland werde auch »Deutschlands beliebteste Ferieninsel« genannt und »Insel der Reichen und Schönen«. Ja, Sylt gelte als Eldorado der Spaßgesellschaft, sei überladen mit Events und zugeparkt mit Luxusautos. Auch er frage sich, was dort zerstörerischer sei: der Vergnügungstourismus – oder die Sturmfluten und der steigende Meeresspiegel? Und wer heute mit einer Sehnsucht nach Stille anreise, tue sich erst einmal schwer, sie zu finden. Doch es gebe sie. Die Insel hat Hermann Schreiber, den ehemaligen Chefredakteur der Zeitschrift GEO, nicht nur gelehrt, Natur und Naturgewalt wieder wahrzunehmen. Er hat dort auch 13 stille Winkel entdeckt, die er in seinem Buch verrät: von der alten Dorfkirche Sankt Niels bis zur Bank am Rande der Jückersmarsch. Hoffentlich bleibt es dort nun auch weiterhin ruhig. H.K.

Mit dem Motorroller von Norddeutschland nach Mali? Für Wolf-Ulrich Cropp keine abwegige Idee. Seit den siebziger Jahren ist der Hamburger oft an Orte gereist, an die sonst nur wenige wollten – etwa während des Golfkrieg nach Kuwait. Für sein 22. Buch knatterte der knapp 70-Jährige nun eben an den Niger. Er erzählt von dieser Reise ohne blumige Ausschmückungen oder heldenhafte Überzeichnungen: von kleinen Begegnungen unterwegs, den haarsträubenden Zuständen in einem entlegenen Goldgräbercamp oder den chaotischen Renovierungsarbeiten an der berühmten großen Lehmmoschee in Djenné. In Timbuktu schließlich suchte der Weltenbummler mit Wissenschaftlern nach verschollenen Schriften – auf den Spuren des frühen Afrika-Forschers Heinrich Barth. Cropps Buch zeigt, dass die Welt auch im 21. Jahrhundert noch echte Abenteuer zu bieten hat. Man muss nur losfahren. MWE

Was Prag von anderen alten europäischen Hauptstädten unterscheide, sei in erster Linie die Kultur, so Wolfgang Dömling in seinem Reiseführer: Die sei bis zur Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg von Zweisprachigkeit geprägt gewesen. Der Autor porträtiert Geschichte und Stadt daher in acht literarischen Spaziergängen. Diese führen zum Beispiel zu einem Fenster, das den Gymnasiasten Franz Kafka einst zu einer Skizze inspirierte. Oder ins Café Slavia, dessen Atmosphäre der tschechische Literaturnobelpreisträger Jaroslav Seifert eindrucksvoll eingefangen hat. Oder zum Prager Burgberg Hradschin, von dem aus Rainer Maria Rilke in seiner Erzählung König Bohusch den Blick über die Stadt goutiert. Der Reiseführer hält, was der Autor im Vorwort verspricht: den kulturellen Reichtum Prags lebendig werden zu lassen – und gleichzeitig zum Weiterlesen anzuregen. H.K.

Elmar Mai: Dominikanische Republik. Natur und Tier-Verlag Münster 2011; 528 S. und eine großformatige Faltkarte, 26,80 €

Achill und Aaron Moser: Über die Alpen nach Italien. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011; 288 S., 20,– €

Hermann Schreiber: Stille Winkel auf Sylt. Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2011; 120 S., 12,95 €

Wolf-Ulrich Cropp: Magisches Afrika – Mali. Faszinierendes Land am Niger. Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2011; 200 S., 19,80 €

Wolfgang Dömling: Prag. Literarische Spa ziergänge. Insel Verlag, Berlin 2011; 200 S., 12,– €

CHANCEN

S. 95

BERUF

Andere Länder, andere Medienwelten: Junge Journalisten aus Ungarn, der Türkei und dem Kosovo berichten

SCHULE HOCHSCHULE BERUF

LESERBRIEFE S. 114 DIE ZEIT DER LESER ab S. 96 STELLENMARKT S. 113

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»Schreiben statt Schweigen« Wut und Trauer spiegeln Gedichte, Briefe und Berichte jener Schüler, die den Amoklauf von Winnenden im März 2009 überlebt haben. Daraus ist ein Buch geworden, das nun erscheint. Wir drucken Auszüge daraus

Es war ein normaler Mittwoch (...) Der Tag begann wie immer. Aufstehen, frühstücken, Schulranzen packen, Zähne putzen, Haare kämmen, schminken, ein Blick auf die Uhr – Mist, wieder spät dran. (...) Mathearbeit geschafft, erst mal entspannen, noch eine Schulstunde, dann ist endlich große Pause. Dritte Stunde – Deutsch. 9.33 Uhr. Die Türe öffnet sich. Jemand steht in der Tür. Eine Minute später ist meine Welt nicht mehr dieselbe. Schmerzen, Angst und Trauer herrschen. Weg der normale Schülerwahnsinn, weg die normalen Sorgen – Nichts mehr wie es einmal war. Um kurz vor zehn dann endlich Erleichterung. Wir können endlich raus aus unserem Klassenzimmer. Raus aus Blut, Angst, Tränen und Ungewissheit. Doch ist das, was uns dann draußen erwartet, besser? Entsetzen und der wirkliche Schmerz kamen erst dann. Mit dem Verlassen des Schulgebäudes an diesem Tag beginnt ein neues Leben, für uns alle. (...) Es ist schwer, diesen Morgen in Worte zu fassen, weil er so furchtbar ist, dass es keine Worte dafür gibt. Ein schrecklicher Albtraum, aus dem man aufwachen will. Egal, wie fest man sich kneift, wie oft man sich

abends ins Bett legt, und egal, wie oft man sich wünscht, es wäre nie passiert. Man stellt immer wieder das gleiche fest, man wacht nicht auf, die Welt hat den Tag nicht gestrichen, unsere Engel fehlen immer noch. (...) Jeden Tag kämpfen wir alle zusammen, und manchmal auch jeder ein bisschen für sich, für eine neue Normalität, für eine kleine Sicherheit in der Welt, für einen kleinen Hoffnungsschimmer. Manchmal gelingt es uns, doch manchmal bleiben wir noch stehen und gehen nicht weiter. Dieser Tag hat uns alle verändert, ob wir das wollten oder nicht, wir hatten keine Wahl. Der Zusammenhalt und das WIR-Gefühl haben sehr stark zugenommen, man achtet mehr auf seine Worte anderen gegenüber, und auch kleine Gesten wie eine Umarmung haben an Bedeutung und Wertschätzung gewonnen. Zu hoffen bleibt, dass die Menschheit irgendwann begreift, dass Liebe immer stärker ist wie Gewalt. Doch egal, was in Zukunft auch geschehen mag, unsere Engel kommen nicht zurück. Wir vermissen sie schrecklich, und das jeden Tag. In Liebe und Erinnerung an Chantal, Jana, Kristina, Steffi, Selina, Nicole, Ibrahim, Viktorija, Jacqueline, Nina, Michaela, Sabrina, Franz, Peter, Dennis. ELENA ALTMANN, 17 JAHRE

Unendlichkeit

Illustrationen: Uli Knörzer für DIE ZEIT/www.uliknoerzer.com

Der Wind peitscht in ihr Gesicht, die Nacht lässt ihre Gestalt im Schatten verschwinden. Seit Stunden geht sie diesen Weg entlang, immer geradeaus. Längst liegt die Stadt hinter ihr, vor ihr erstrecken sich Reihen von Reben, sie geht ohne Ziel geradeaus. Die Kerzen liegen längst hinter ihr. Den letzten Schimmer ihres Lichtes trägt sie in ihrer Erinnerung. Er schenkt ihr Wärme, doch sie weiß, schon morgen wird der Platz leer sein, die Kerzen werden an einen anderen Ort gebracht. Laute Musik dröhnt in ihren Ohren, schwere, düstere Klänge. Sie lassen sie nicht vergessen, doch sie übertönen sie. Ein Nachtfalter streift ihren Blick. Es bringt sie zum Lächeln, dass ein Wesen, so klein es ist, in der kurzen Dauer seines Lebens alles erlebt, so wie sie alles erlebt, nur ist die Zeitspanne eine andere. Für ihn ist sein Leben lang, für sie ist es kurz, doch ihres erscheint ihm wohl wie die Unendlichkeit. Unendlichkeit, ein so unglaublich kurzes Wort für einen solch langen Zeitraum.

Fortsetzung auf S. 92

(...) Unendlich waren nur ihre Erinnerungen, Erinnerungen an Lachen, ein Licht, an Abende auf dem Pausenhof, an Skaten, an eine Sektflasche und Bilder, unzählige Bilder. Und Wünsche, sie wollten gemeinsam leben, eine WG beziehen, sie wollten die andere zur Hochzeit begleiten, die Kinder der anderen aufwachsen sehen. Das alles würde sie niemals erleben können, und so wollte auch sie es nicht mehr erleben. Es waren gemeinsame Träume. Und einsam blieben sie zurück. Sie hatte sie losgelassen, die Träume, als sie an ihrem Grab stand, zum ersten Mal. (...) Durfte man denn glücklich sein, träumen, wachsen, wenn anderen alle Chancen dafür genommen wurden? Sie weiß es nicht. Durfte man hassen, wenn alles, was man erträumte, durch Hass zerbrochen ist? Durfte man leben, während andere starben? TINA BLOCK, 18 JAHRE

Brief an Jacqueline (...) Wenn ich an Dich denke, kommen immer wieder schöne Erinnerungen hoch. Aber leider auch die schlechten. Zum Beispiel, dass wir uns immer so sehr gestritten haben. Wir haben uns teilweise das Leben ganz schön zur Hölle gemacht. Doch jetzt ist es zu spät, sich zu entschuldigen. Ich hoffe, man sieht sich irgendwann wieder, sodass ich alles sagen kann, wozu ich nicht kam, als Du noch lebtest. (...) Erinnerst Du Dich noch daran, wie ich immer gesagt hab, ich werde Dich nie vermissen? Leider kann ich Dir jetzt nicht mehr sagen, dass dies ein Irrtum war. Ich habe nie gedacht, dass ich Dich jemals so vermissen werde. Erinnerst Du Dich noch daran, wie wir im Dezember 2007 Plätzchen gebacken haben und mir dabei

so warm wurde, dass Du mir mit dem Backblech Wind zugefächert hast? (...) Oder wie uns bei unserer Sauce alles übergekocht ist, weil uns das erste Mal aufgefallen ist, wie man Champignons richtig schreibt? Das sind alles Erinnerungen, die ich an Dich habe. Aber sie werden immer weniger. Ich habe Angst, Dich zu vergessen. Angst, Deine Stimme zu vergessen. Angst, dass die Erinnerung an Dich verloren geht. Wenn ich das Video von Dir ansehe, ist das manchmal nicht meine Schwester, die da singt und tanzt. Und das tut weh. Wahnsinnig weh. Ich fühle mich, als würde ich Dich verraten. (...) Langsam werde ich wie du. Fang an, meine Haare so zu tragen wie Du. Liebe Lila. Und Pink. Lackiere meine

Nägel knallbunt. Aber niemand kann Dich ersetzen. Manchmal fühle ich mich verantwortlich, Deine Träume weiterzuleben. (...) Ich werde nie vergessen, wie Du in dem Sarg lagst. Niemals werde ich vergessen, wie der Bestatter den Deckel auf den Sarg gemacht hat. Als ich nach dem Gerichtstermin mit dem Gerichtsmediziner gesprochen habe, habe ich zufällig Bilder von Dir gesehen. Blut ... Ich werde das nie vergessen. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich hoffe, Du kannst von dort oben sehen, wie wichtig du mir bist. Ich hoffe, Du warst nicht sauer auf mich, als Du gestorben bist. (...) NANNI

92 15. September 2011

DIE ZEIT No 38

SCHULE

Fortsetzung von S. 91

Ich habe einen Traum

Ich erzähle dir

Ich habe einen Traum. Jeder Mensch hat Träume. Auch ich. Ich träume manchmal von einem »normalen« Leben. Von einem Leben, in dem ich nicht hätte miterleben müssen, wie schrecklich es ist, Menschen sterben zu sehen. Die eigenen Klassenkameradinnen sterben zu sehen. Jeder Mensch auf dieser Erde hätte in meiner Situation stecken können. Der Tod, die Bilder, der Schreck, die Verzweiflung, die Angst, die Gewalt, die Sorge, die Sehnsucht, der Hass, aber auch die Liebe, die Verbundenheit, die Gemeinschaft, der Trost, die Freundschaft, die Musik, der Glaube und die Solidarität. Dinge, die mein Leben beeinflusst haben und immer noch beeinflussen. Dinge, die mein Leben zu dem gemacht haben, was es ist. Dinge, die mich zu der gemacht haben, die ich bin.

Ich erzähle dir von einer Schule. Die Schule hat viele Momente. Die Schule hat viele Gefühle. Die Schule hat schöne Augenblicke. Und dann ganz schreckliche. Die Schule hat auch die Trauer kennengelernt. Die Schule bringt auch mal Gefahren mit sich. In ihr hat man Menschen kennengelernt und Menschen auch verloren. Die Schule ist nicht immer so, wie sie sein sollte. Die Schule ist so. JENNIFER SCHREIBER, 17 JAHRE

Und dann frage ich mich: »Wäre mein Leben ohne diese Dinge besser gewesen? Wäre mein Leben ›normal‹ gewesen?« Es wäre nicht MEIN Leben gewesen. Ich lebe meinen Traum. CAROLIN OSMASTON, 16 JAHRE

CHANCEN

Die Ungewissheit war schrecklich Damals, am 11. 3. 2009, war ich noch auf der Hauptschule. Um circa 10.35 Uhr hörten wir die vielen Helikopter. Wir wussten zwar nicht, was los war, aber dass etwas Schlimmes passiert sein muss, ahnten wir. Es war nicht normal, dass so viele Helikopter über das Bildungszentrum II flogen. Einige aus der Klasse fanden das Ganze spannend und aufregend. Nachdem unser Lehrer vom Rektor aufgeklärt worden war, erfuhren wir von ihm, dass in der benachbarten Albertville-Realschule (ARS) ein Amoklauf stattgefunden haben sollte. Alle waren geschockt! Die einen versuchten ihre Eltern oder Geschwister zu erreichen. Die anderen hatten Angst um ihre Freunde und ihre Geschwister. Ich selber habe einen Bruder, der auf die ARS geht, um den ich sehr Angst hatte. Die Gemeinschaft in der Klasse war an diesem Tag ganz anders als sonst. Jeder war für den anderen da. Nachdem wir dann das Klassenzimmer verlassen hatten und in einem sicheren Raum waren, wollten wir natürlich genauer erfahren, was los ist. Also holten wir unsere Handys heraus und hörten Radio. Die Anzahl der Toten stieg immer höher. Keiner wusste, ob Freunde oder Bekannte unter den Toten waren. Diese Ungewissheit war schrecklich. Die Lehrer und Lehrerinnen versuchten, uns zu beruhigen, indem sie einen Film ablaufen ließen. Doch das brachte uns auch nicht wirklich viel. Zwei Stunden später war es endlich so weit, wir durften raus. Doch draußen sah es nicht mehr so aus wie am Morgen. Krankenwagen, Reporter, Polizisten waren am Ort. Wir wurden mit Bussen in eine Halle geliefert, wo viele andere auch waren. Wir durften unsere Eltern anrufen, damit sie uns abholten. (…) Daheim, als ich dann meinen Bruder sah, fiel mir ein Stein vom Herzen. (…) Jetzt sind schon fast zwei Jahre vergangen, und ich habe das Ganze ganz gut verkraftet. Ich glaube, ohne meine Freunde hätte ich das Ganze nicht so gut verkraftet. Das einzig Gute an diesem Amoklauf ist, dass die Gemeinschaft sehr gewachsen ist. TUGCE ASLAN, 15 JAHRE

Ich schreibe es einfach mal Ich weiß nicht, ob das euch hilft, aber ich schreibe es einfach mal. Ich möchte es zum LETZTEN Mal durchgehen, es war so: Wir, meine ehemalige Klasse 5a, lernten gerade Vokabeln, als eine ganze Schulklasse an unserem Fenster vorbeirannte. (...) Plötzlich hörten wir Helikopter und Sirenen. Da kam die Sekretärin herein und sagte, wir sollen alle raus und zum Wunnebad laufen. Das Wunnebad ist ein großes Schwimmbad gleich neben unserer Schule, unsere Notfall-Sammelstelle. Als ich aus dem Klassenzimmer rausrannte, (...) begegnete ich meinem ehemaligen EWG-Lehrer. Ich fragte ihn, was los war, er wusste es nicht. Ich kam als Erster meiner Klasse [im Schwimmbad] an und rannte auf die Brüstung im Innenraum. Es ging die Rede von zwanzig Toten um. Ob es stimmte, wusste ich nicht. Als ein schwarz vermummter SEK-Polizist das Gelände betrat, brach noch mehr Panik aus. (...)

Jede Minute kam mir vor wie Stunden. (...) Als ich zu Hause war, schaute ich ununterbrochen auf die TV-Schleife, die kam. Wie SEK-Polizisten aus dem Van stiegen, wie Scharfschützen auf den Dächern waren, und wie immer dieselben Menschen auf und ab liefen. Und noch mal aussteigen. Scharfschützen. Auf und ab. Alle aus meiner Familie drückten mich ganz fest. (...) Und schon kamen wieder die Bilder, aber diesmal die realen Bilder und nur in meinem Gedächtnis, die rennende Schulklasse, der nichtwissende EWG-Lehrer, die vielen Polizisten, das SEK, die Panik, das überlastete Handynetz, all das, aber auch noch etwas mehr. Heute, heute habe ich schon fast alles vergessen. Ich kann heute offen darüber reden, deshalb sitze ich jetzt hier in der Containerschule und schreibe dies – in Gedanken an die Opfer und alle, die sie kannten. JAN MEISSNER, 12 JAHRE

Wut Da ist einfach die Wut, die Wut auf all die Medien, die die Trauer zerplatzen ließen, die uns dabei gestört haben, in Ruhe darüber nachzudenken und zu trauern. Einfach alle angequatscht und interviewt haben, selbst wenn man deutlich gesehen hat, dass wir alle allein sein wollten. Und das ist das, worüber ich ganz besonders aufgebracht bin. Dass man den Menschen nicht in Ruhe lässt, wenn so eine schlimme Tat passiert und man in Ruhe um die Opfer trauern will, und man von der Presse trotzdem so belagert wird. Es reicht nicht einmal, wenn man Plakate an die Fenster hängt, auf denen steht: »Lasst uns in Ruhe trauern!« (...) Ich frage mich, warum Menschen, die nicht dabei waren, einen immer daran erinnern müssen, indem sie so blöde Fragen stellen wie: »Winnenden? Oh, das muss ja arg schlimm gewesen sein?« Dann entsteht dieser Hass auf sie. Sie

können es keineswegs nachempfinden, wie es war. Andere Menschen hatten Angst um ihre Familie, Freunde, Bekannte, sie wussten nicht einmal, ob sie zurückkehren würden, und sie schwätzen einfach so daher! »Wie war’s? War’s arg schlimm?« Da will man am liebsten auf sie einprügeln, doch man versucht es besser zu machen und versucht seine Aggressionen unter Kontrolle zu bringen. Wir wollen nicht daran erinnert werden, wie es war, wir wollen auch mal in die Zukunft blicken. Es gibt Dinge, die kann man nicht begreifen, nein, man will sie einfach nicht begreifen. (...) Denn man wird jede Nacht von Albträumen geplagt, immer und immer wieder. (...) »Warum?« Diese Frage hämmert einem Tag und Nacht durch den Kopf. Warum hat niemand gemerkt, dass irgendjemand so etwas plant? Keiner wurde darauf aufmerksam, nicht mal die

Familie. Er hatte keinen Grund, diese Menschen zu erschießen, er kannte sie nicht einmal, so viele Menschen mussten für ihn sterben, ohne zu wissen, warum, nur weil er seine Aggressionen nicht unter einen Hut bekommen hat. Aggressionen auf etwas, das wahrscheinlich nicht einmal er selber wusste. (...) Man muss sich befreien von den Gefühlen, dem Hass auf einen bestimmten Menschen, den man nur eines fragen will: »WIESO?« (...) ALESSA, 12 JAHRE

»Für viele war es eine Befreiung« Die Religionslehrer Martin Gerke und Heinz Rupp über Trauerarbeit an der Albertville-Realschule und das Buchprojekt

Illustrationen: Uli Knörzer für DIE ZEIT/www.uliknoerzer.com

DIE ZEIT: Unter dem Motto »Schreiben statt Schweigen« haben Sie die Betroffenen zwei Jahre nach dem Amoklauf zu einer Schreibwerkstatt eingeladen. Warum? Heinz Rupp: Viele Schüler und Schülerinnen haben schon während der ganzen Zeit geschrieben. Wir fanden viele Texte so bewegend, dass wir dachten, wir machen ein Mutmachbuch daraus. ZEIT: In den Texten gibt es auch viel Empörung darüber, dass die Trauer damals durch eine voyeuristische Presse gestört wurde. Ist es richtig, das Erlebte in einem Buch zu veröffentlichen? Martin Gerke: Wir haben uns bewusst entschieden, dass wir die Schüler nicht wieder in die Öffentlichkeit ziehen, indem sie Interviews geben. Die Schüler waren damals sehr sauer. In der Presse wurde viel über sie geschrieben und gesagt, auch viel Falsches, und sie konnten das nie kommentieren. Das hat ihre Betroffenheit noch gesteigert: In der Situation des Amoklaufs konnten sie nicht eingreifen, und anschließend waren sie auch nicht Herr der Lage. Deshalb ist die zweite Intention des Buches: Jetzt sagen wir mal, wie es war! ZEIT: Wer hat mitgeschrieben? Gerke: An zwei Wochenenden waren es insgesamt 70 Schüler. Darunter welche, die direkt betroffen waren – also im Kugelhagel standen. Viele Freunde haben geschrieben, aber auch Geschwister der Opfer. Und es waren Schüler der benachbarten Schulen eingeladen. Die haben ja auch mitgekriegt, wie die Polizei da reingerast kam, und hatten auch Freunde und Geschwister bei uns.

ZEIT: Wenn man das Buch liest, rückt einem der Tag sehr nahe. Das ging den Autoren beim Aufschreiben sicher ähnlich. Rupp: Da sind auch Tränen geflossen. Es war gut, dass wir die Schüler eng betreuen konnten. Professor Christoph Fasel und seine Studenten von der Hochschule Calw haben das Schreibcoaching in kleinen Gruppen gemacht. Manchmal sind wir auch mit einzelnen Schülern rausgegangen. Gerke: Eine betroffene Schwester konnte erst nicht weiterschreiben. Aber dann hat sie allen Mut zusammengenommen und am Schluss so einen tollen Text hingekriegt – sie ging mit einem richtig guten Gefühl da raus, weil auch ihre Schwester das toll gefunden hätte. Das Ganze hatte keinen therapeutischen Anspruch, trotzdem war es für viele eine Befreiung. Rupp: Etwa die Hälfte hat letztlich keinen Beitrag geliefert für das Buch. Die haben gemerkt, dass sie das nicht können oder wollen, und das war dann auch gut so. ZEIT: Wie haben Sie selbst den Amoklauf erlebt? Rupp: Wir beide hatten das Glück, dass wir an diesem Tag nicht an der Albertville-Realschule unterrichtet haben. Gerke: Wir hätten die Trauerarbeit sicherlich nicht leisten können, wenn wir selber so stark betroffen gewesen wären. ZEIT: Sie haben eine ökumenische Schulgemeinde gegründet. Warum? Gerke: Direkt nach dem Amoklauf wurden die Schüler durch eine Trauma-Consulting-Firma und durch Psychologen betreut. Unser Ansatz war ein anderer, auch wenn wir beide therapeutische Zusatz-

ausbildungen haben. Wir haben gemerkt, dass die Schüler nicht nur darüber reden, sondern mit ihrer Trauer aktiv umgehen wollen. Deshalb haben wir ihnen geholfen, Kirche an der Schule zu organisieren. ZEIT: Ist es möglich, den Täter, der auf dieselbe Schule gegangen ist und sich am Ende selbst getötet hat, in das Gedenken mit einzubeziehen? Rupp: Da gab es beim Abschlussgottesdienst des Schuljahres 2009 eine Schlüsselszene für mich: Ich hatte 16 Kerzen mitgebracht, aber die Schüler wollten, dass ich nur 15 Kerzen aufstelle. Doch dann, unmittelbar vor dem Gottesdienst, meinten sie: »Die 16. Kerze können Sie auch aufstellen – aber nicht zu den anderen auf dem Altar, sondern alleine, unter dem Kreuz.« Gerke: Von Tätern wird ja häufig abstrakt gesprochen, sie werden entmenschlicht, als Monster hingestellt. Das war bei uns überhaupt nicht der Fall. Es wurde immer nur vom Tim gesprochen. ZEIT: Haben Sie ihn beide gekannt? Rupp: Ich nicht, weil es mein erstes Schuljahr hier war. Gerke: Ich hatte ihn im Religionsunterricht. Da kommt schon die Frage hoch: Hat man alles rich-

tig gemacht? Wir Erwachsenen haben ja schnell dieses Thema, was der eigene Beitrag war. ZEIT: Wie gehen die Jugendlichen damit um? Gerke: Sehr unterschiedlich. Die Jungs waren eher verschlossen, hatten aber auch sehr starke Gefühle. Die Mädels hatten mehr die Tendenz zu reden. Rupp: Die Hauptbetroffenen standen kurz vor dem Realschulabschluss und mussten ihre beruflichen Weichen stellen. Sie sagen oft: Wir hatten gar nicht die Zeit zum Trauern, wir mussten weiter funktionieren. Deshalb sind die Ehemaligen nach wie vor eingeladen, in unserer Schulgemeinde mitzumachen. ZEIT: Welche Rituale haben ihnen besonders geholfen? Rupp: Zum Beispiel, dass die Schüler das Wachs aus den runtergebrannten Kerzen herausgelöst und daraus neue gegossen haben – eine verschmolzene Erinnerung, die wieder lebendig wird. ZEIT: Im Buch beschreiben viele gerade die Gedenktage als schlimme Tage, die sie an das erinnern, was sie eigentlich vergessen wollen. Rupp: Trotzdem ist das Gedenken für viele immer noch sehr wichtig. Wir haben eine Projektgruppe, die wir Memoriam nennen, die jede Woche die Gedenktafel pflegt. Inzwischen gibt es aber auch Martin Gerke, Heinz Rupp (Hg.): Gruppen, die mit Trauerarbeit gar nichts mehr zu Schreiben statt Schweigen tun haben und zum Beispiel Praktika in AltenDie Schüler der Albertville-Realheimen organisieren. schule schreiben zum Amoklauf von Gerke: Viele haben nach der Schreibwerkstatt geWinnenden. Verlag der Evangelischen sagt: »Jetzt ist auch gut, jetzt will ich nicht mehr Gesellschaft, Stuttgart 2011; 124 S., darüber reden.« Für sie war das Buch der Versuch, 12 €. Der Gewinn geht an die einen Schlussstrich zu ziehen und wieder nach ökumenische Schulgemeinde vorne zu schauen.

ZEIT: Die Albertville-Realschule wurde zwei Jahre umgebaut, der Unterricht fand provisorisch in einer Containerschule statt. Nach den Sommerferien sind sie nun in das alte Gebäude zurückgekehrt. Gerke: Ich hätte die Schule damals am liebsten abreißen lassen. Aber die Schüler wurden befragt, und in der Mehrheit war da diese Trotzreaktion: Der kann uns unsere Schule nicht kaputt machen. Rupp: Das Gebäude hat äußerlich einen veränderten Charakter, aber es ist noch die alte Schule. Die Schüler waren schon vor den Ferien mit ihren Klassenlehrern in den Räumen, wir haben eine von Psychologen begleitete Einweisung gehabt. In den ersten Wochen werden wir ganz behutsam mit den Schülern umgehen. ZEIT: Zu den Umbauten gehört auch ein Sicherheitssystem. Es gibt Alarmknöpfe in den Klassenzimmern und von innen verschließbare Türen, die von den Lehrern mit einem elektronischen Chip zu öffnen sind. Gibt Ihnen das Sicherheit? Gerke: Ja. Für viele Schüler war es auch wichtig, die Klassenräume so zu verändern, dass sie die Tür nicht im Rücken haben. ZEIT: Weil der Täter von hinten kam ... Gerke: Ja. Viele haben auch daheim ihr Zimmer umgeräumt, weil sie mit dem Gesicht zur Tür schlafen wollten. Andere haben ein Problem, wenn Türen laut zugeschlagen werden. Aber von den direkt betroffenen Schülern sind nicht mehr viele da. Die damaligen Fünftklässler sind inzwischen in der Achten. Wir hoffen, dass sich viele auf den Umzug eher freuen. Das Gespräch führte ALEXANDRA WERDES

CHANCEN

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

HOCHSCHULE

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STUDENTEN ERKLÄREN IHRE WELT

»

Was geht Ihnen bei den Älteren gründlich auf die Nerven?

... fragt:

Silvia Bovenschen, 65, Schriftstellerin

Ich schätze, mit dem Alter und dessen Konse»quenzen kann man sich arrangieren. Aber es ist

Fotos: Franz Bischof für DIE ZEIT/laif (l.); Elsner/Picture-Alliance/dpa (o.r.); privat

Maulwurf vom Dienst Als Grabungshelfer buddeln Studenten in ganz Deutschland die Überreste unserer Geschichte aus der Erde VON JULIA NOLTE

»Hier kann ich Geschichte erleben«: Nils Hagenbrock, 26, auf der Ruine Falkenburg

N

och ehe an der Uni die erste Vorlesung beginnt, steht Nils Hagenbrock in Wanderstiefeln, Arbeitshose und Holzfällerhemd am Waldrand bei Detmold-Berlebeck. Eine halbe Stunde lang geht der 26 Jahre alte Student aus Paderborn bergauf und erreicht schließlich um kurz vor 8 Uhr schwer atmend das Basislager: fünf Baucontainer, die unterhalb der Bergkuppe stehen. Hier befinden sich Pausenräume, Büro und Materiallager der neunköpfigen Grabungsmannschaft, die im Auftrag des Landschaftsverbands Westfalen-

Lippe die Ruine der Falkenburg freilegen. Zwischen Mai und Oktober arbeitet Nils Hagenbrock zwei bis drei Tage die Woche als studentischer Grabungshelfer. »Am Studium stört mich, dass man immer nur vor Büchern sitzt«, sagt Hagenbrock, der Geschichte, Englisch und Deutsch auf Lehramt studiert. »Hier kann ich anpacken und Geschichte erleben.« In ganz Deutschland sind Studenten auf Burgen, in Klöstern, ländlichen Siedlungen und historischen Stadtkernen im Dienste der Archäologie unterwegs, und keinesfalls sind sie immer vom Fach. Nur schät-

zungsweise zehn Prozent der Grabungshelfer studieren Archäologie. Auf der Falkenburg haben schon Wirtschaftsinformatiker, Innenarchitekten und Musikwissenschaftler mitgearbeitet, sowohl Frauen als auch Männer. Die Stellen werden über die studentische Jobbörse ausgeschrieben. Während es bei Grabungen in Stadtkernen genug Bewerber gebe, würden Grabungshelfer »im Outback« dringend gesucht, sagt Ausgrabungsleiter Thomas Pogarell. Nils Hagenbrock nimmt sich Werkzeug und einen Eimer für Fundstücke und geht die letzten Meter zur sandsteinfarbenen Ruine hinauf. Als die Ausgrabung 2005 begann, ragten nur noch ein Stumpf des Bergfrieds und eine Mauerecke aus dem Boden, der Burghof war drei Meter hoch von Schutt bedeckt, überall wuchsen Bäume. Inzwischen ist ein Teil von Bergfried und Ringmauer aus Originalsteinen wieder aufgebaut, der Burghof freigeräumt, man sieht Mauerteile von Gebäuden und Toranlagen. Am Ende der Sanierung soll die komplette Burg an ihren Grundmauern erkennbar sein, neu errichtet wird sie aber nicht. Die Bäume wurden gefällt, sodass man nun wieder weit über den Teutoburger Wald blickt, bis hin zum Hermannsdenkmal, wo eine Statue des germanischen Feldherrn Arminius auf ihrem Sockel steht. Doch Nils Hagenbrock hat nur Augen für den Boden, als er an der Ringmauer entlang zu seiner Ausgrabungsstelle geht. »Wenn man hier einmal etwas entdeckt hat, denkt man nur noch: Wo ist der nächste Fund? Es hat mich gepackt!« Seine bisher größte Entdeckung war ein Mühlstein, groß wie eine Sahnetorte. Gestern hat er einen Kamm aus Knochen, eine Haarnadel und – er greift in seinen Fundeimer und hält sie stolz in die Luft – eine 600 Jahre alte Tonscherbe gefunden. Auch Lanzenspitzen, Dolche, Kanonenkugeln, Spielzeugpferde und Geschirr für Puppenstuben, Sporen und ein halbes Hufeisen haben die Archäologen hier schon aus dem Boden geholt. Sie werden damit mindestens acht Vitrinen im Lippischen Landesmuseum in Detmold füllen, wenn dort am 16. Dezember die erste Ausstellung über die Fal-

kenburg eröffnet wird. »Du weißt, was uns noch fehlt«, sagt Thomas Pogarell zu seinem Grabungshelfer: »Ein Schwert oder ein Helm – bitte!« Der Ausgrabungsleiter deutet auf ein rechteckiges Loch, das neben ihm und Nils Hagenbrock im Boden des Burggrabens klafft. Es ist drei Meter breit, vier Meter lang und zwei Meter tief: der »Schnitt 32«, in dem ein Helfer gerade die Mauer eines Gebäudes freilegt. Dies sei die Pulverkammer, sagt Pogarell, und genau dort – er zeigt auf ein von Gras bewachsenes Plateau vor dem Burgwall – habe sich eine Geschützstellung, eine Bastion befunden. Im Schutze des Burgwalls hätten die Krieger zwischen Kanonen und Pulverkammer hin- und herlaufen können, ohne von Angreifern verwundet zu werden. »Die Erbauer haben nichts dem Zufall überlassen«, sagt Pogarell. »Die Falkenburg war eine uneinnehmbare Festung.«

Die wichtigste Voraussetzung? Wetterfest sein Seit etwa 1200 wohnten hier die Edelherren zur Lippe. Als rund 250 Jahre später bei der Zubereitung eines Festmahls in der Küche ein Feuer ausbrach, brannte die Burg nieder. Die Lipper zogen nach Detmold ins Wasserschloss, das noch heute von ihren Nachfahren bewohnt wird. 1802 wurde die Ruine zum Steinbruch erklärt und größtenteils abgerissen. Bis zum Abschluss der Sanierung bleibt die Ruine gesperrt, doch der Verein Die Falkenburg bietet Führungen an. Nils Hagenbrock springt hinunter in den Schnitt 32. Er hilft dabei, einen Stein aus der Grube zu wuchten, mit dem Maurer später die Ringmauer ausbessern werden. Andere studentische Hilfskräfte tragen höchstens mal für ihren Professor Bücher zum Lehrstuhl, Grabungshelfer schleppen Sandsteinquader und Erde, für acht Euro die Stunde. Einmal stand Hagenbrock zwei Tage hintereinander siebeneinhalb Stunden mit der Schaufel im Burghof und schippte eine Grube zu. »Da ging es mir schlecht«, sagt er. Doch wenn er ein Fundstück nach dem anderen aus der Erde löst, in Plastiktüt-

chen verpackt und den Fundort notiert, ist er versöhnt mit seinem Job. Die wichtigste Voraussetzung für einen Grabungshelfer sei es, wetterfest zu sein. Den richtigen Umgang mit Spitzhacke, Schaufel, Kratzer und Handbesen lerne man schnell von den anderen. Das bestätigt der Ausgrabungsleiter Thomas Pogarell. Auch er hat einmal als studentischer Grabungshelfer »mit Schippe und Schubkarre« angefangen – vor 25 Jahren. Die beiden klettern aus dem Burggraben und gehen zum ehemaligen Hauptgebäude. Dort wollen sie einen Schnitt dokumentieren. Heute haben sie Glück: Die Regenwolken verziehen sich. Doch als kürzlich der Burggraben ausgebaggert wurde, sei das die reinste Schlammschlacht gewesen, sagt Pogarell. Der Baggerführer und die Lkw-Fahrer hätten die Fensterscheiben geschlossen und die Heizungen angestellt. »Nur die Archäologen standen wieder mal draußen im Matsch.« Warum tun sie sich das an? »Ich brauche Geld«, sagt Hagenbrock. »Entdeckerdrang«, sagt Pogarell. Archäologiestudenten würden hier unverzichtbare Berufserfahrungen sammeln, und auch Grabungshelfer wie Nils Hagenbrock, die später nicht als Archäologen arbeiten wollten, würden dabei etwas Wichtiges lernen: Geduld. Als sie die Stelle erreichen, wo früher das Hauptgebäude stand, zeigt sich, warum: »Man sieht hier zwar schon Funde, aber wir dürfen sie noch nicht aus der Erde holen«, sagt Pogarell. »Zuerst müssen wir die Schicht dokumentieren: putzen, fotografieren, vermessen, zeichnen, beschreiben.« Während Pogarell seine Kamera aufbaut, beginnt Hagenbrock, den Boden und die Seitenwände des Schnitts mit einem Kratzer zu säubern, damit die Erdschichten auf dem Foto gut zu erkennen sind. Als um 16 Uhr Feierabend ist, mag er gar nicht gehen. Er wird erst vier Tage später wieder hier sein, und »wer weiß, was bis dahin alles ohne mich gefunden wird«. Womöglich ein Schwert? Gar ein Helm? Doch in Paderborn wartet eine Hausarbeit zum Thema mittelalterliche Kartografie auf ihn. Der Grabungshelfer muss ja auch studieren. www.zeit.de/audio

schrecklich, wie schnell manchen Senioren Dinge auf die Nerven gehen. Dass mit den Jahren die Ruhe kommt, scheint nicht wirklich zu stimmen. Häufen sich nicht von Jahr zu Jahr die Probleme, die einem den Nerv rauben? Familie, Arbeit, Freundeskreis: Man bewegt sich ständig in einem Geflecht aus Erwartungen und Verpflichtungen. Dinge mit enormem Nervpotenzial. Vielleicht wird man dadurch reizbarer. Immer nur zu entsprechen und zu erfüllen, darauf habe ich keine Lust. Sich abgeklärt zurückzulehnen, anstatt sich zu ärgern – das wär’s. Alles andere würde mir gründlich auf die Nerven gehen.

... antwortet: Maximilian Ginter, 20, der Kommunikationswissenschaft in München studiert

Eine Welt, zwei Leben Wie aus einem Straßenkind aus Nairobi ein Hamburger Lehrer wurde Plötzlich war Paul verschwunden. Paul, der im täglichen Kampf um die nächste Mahlzeit in den Straßen Kenias wie ein Bruder für ihn geworden war. Als Philip Oprong Spenner ihn das nächste Mal sah, stand er mit vom Drogenrausch glasigen Augen vor ihm, den blauen Trainingsanzug, der einst sein ganzer Stolz gewesen war, zerschlissen und kein Wiedererkennen im Blick. Wenig später war Paul tot. Im Delirium war er vor ein Auto gelaufen. Das Schicksal seines besten Freundes ist der Kontrast in Spenners Buch Move on up, vor dem die ganze Unwahrscheinlichkeit seiner eigener Geschichte greifbar wird: Während das Leben des einen Straßenkindes auf dem Pflaster Nairobis endete, fand das andere den Weg in ein neues Leben. Bis nach Deutschland führte Spenner sein Weg, bis an eine Stadtteilschule im Hamburger Norden, wo er im Alter von 29 Jahren das erste Mal selber als Lehrer vor einer Klasse stand. Spenner erzählt von den Menschen, die ihm unterwegs geholfen haben – von Mary, der jungen irischen Freiwilligen, die nicht ruhte, bis das Waisenkind nicht mehr das Heim fegen musste, sondern zur Schule gehen durfte. Vom Hamburger Kinderarzt Robert, der dem Jungen erst lange Briefe schrieb, ihn dann besuchte und schließlich als Erwachsenen mit nach Deutschland nahm und dort wie ein Vater für ihn wurde. So inspirierend seine Geschichte ist, so niederschmetternd ist das Gemälde der sozialen Verelendung Ostafrikas, das der Autor zeichnet – eine Verelendung, die auch und in besonderem Maße aus den fehlenden Bildungschancen für weite Teile der Bevölkerung herrührt. Es mag seltsam erscheinen, dass ein früheres afrikanisches Straßenkind heute deutschen Schülern hilft, doch für Spenner gibt es keine Welt, unterteilt in »Hier ist alles gut« und »Da ist alles schlecht«. Er will den Blick seiner Leser auf alle Kinder richten. So wird sein abenteuerliches Leben zu einer Verheißung, wozu Kinder in der Lage sind – wenn man ihnen die Chance dazu gibt. JAN-MARTIN WIARDA Philip Oprong Spenner: Move on up. Ich kam aus dem Elend und lernte zu leben, Ullstein, Berlin 2011, 366 S., 18 €

BERUF

CHANCEN

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

»Viele Journalisten haben Angst« Sie bloggen, sie filmen, sie moderieren – nur sind sie dabei nicht immer frei. Beim Jugendmedienworkshop M100 in Berlin erzählen drei junge Leute von ihren Erfahrungen mit den Medien und von ihren Plänen VON KRISTIN HAUG

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DAS ZITAT

Heinrich Heine sagt:

Es gibt nichts Stilleres als eine geladene Kanone.

Volkan Güney Kuru, 20, Türkei: »Die Medien sind nicht frei in der Türkei. Viele Journalisten haben Angst, ihre Meinung zu äußern. Sie wollen es sich nicht mit der Regierung verscherzen. Die Medien und die Gesellschaft müssen offener werden. Doch dafür müsste man auch das Bildungssystem verändern. Zum Beispiel lernen wir in der Schule kaum politische Hintergründe. Vielleicht will die Regierung, dass wir nicht so viel denken, einfach nur arbeiten und nichts kritisieren. Ich weiß noch nicht, ob ich nach dem Studium in der Türkei bleibe. Ich interessiere mich zwar für Medien und habe gerade erst beim türkischen Radio und Fernsehen hospitiert. Aber Journalist will ich nicht werden, sondern lieber einmal im Ausland für eine internationale Organisation wie die Unesco arbeiten. Jetzt ziehe ich erst einmal nach Istanbul, um dort Soziologie und Kommunikationswissenschaft zu studieren.«

Uta Friedrich, 25, Ungarn: »Journalisten haben es schwer bei uns. Sie verdienen im Durchschnitt vielleicht 500 bis 600 Euro im Monat. Normalerweise können sie sich keine eigene Wohnung und kein eigenes Auto leisten. In Szeged arbeite ich neben dem Studium für alternative Medien. Für einen Artikel in einem Magazin, der über zwei bis drei Seiten läuft, bekomme ich etwa zehn Euro. Deswegen wohne ich noch bei meiner Mutter. Ich blogge auch und moderiere beim freien Rádió Mi. Mit der Zensur hatten wir noch keine Probleme, aber wir bemühen uns auch, das Radio frei von politischen Inhalten zu halten und ein Kulturprogramm zu bieten. Meiner Meinung nach versucht die Regierung, alternative Medien einzuschränken. Es werden auch viele soziale Zentren dichtgemacht, weil sich dort freie Denker treffen. Wir haben zwar keine Beweise dafür, aber ich glaube, dass das der Grund ist.«

Fotos (Ausschnitte): Anne Schönharting für DIE ZEIT/Ostkreuz

Labinot Hajdari, 26, Kosovo: »Im Kosovo wird kaum zensiert. Wir sind das jüngste Land in Europa und schauen positiv in die Zukunft. Wir träumen davon, einmal der Europäischen Union beizutreten. Vieles hat sich seit der Staatsgründung für uns verbessert. Journalisten können die Regierung kritisieren, ohne dafür bestraft zu werden. Dennoch muss das Land die Situation für Journalisten absichern. Sie leben zwar nicht gefährlich, aber es gibt keine Gesetze, die uns schützen. Ich hatte noch nie Probleme mit der Regierung, obwohl ich zweimal im Monat Kolumnen veröffentliche und auch mal kritisch über die Innenpolitik schreibe. Journalismus ist aber eher ein Hobby für mich, ich möchte lieber mal als Diplomat arbeiten. Das Leben als Reporter ist mir zu anstrengend, da braucht man sehr viel Energie und hat nie Feierabend. Aber ich möchte im Kosovo bleiben und für mein Land arbeiten.«

Der Coach erklärt:

Das erste Mobbing-Opfer dieser Erde war ein ungeschickter Fuchs. Eigentlich wollte er Gänse angreifen, doch die bildeten einen Mob und jagten den Fuchs davon. Beobachter dieser Szene war der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, und ihm fiel dafür ein Begriff ein: Mobbing. In der heutigen Arbeitswelt läuft es umgekehrt. Die Starken greifen die Schwachen an. Nach einer Studie des Psychologen Prof. Dieter Zapf hat bei sieben von zehn Mobbing-Fällen ein Vorgesetzter seine Finger im Spiel. Mobbing kann harmlos beginnen: Die Kollegen gehen zum Mittagessen, doch einen lassen sie zurück. Dann werden vergiftete Scherze über ihn gerissen. Schließlich behandelt man ihn wie Luft; Heine würde sagen: »Es gibt nichts Stilleres als eine geladene Kanone.« Weil Infos an dem Mitarbeiter vorbeilaufen, macht er Fehler. Weil er Fehler macht, wird er angegriffen. Weil er angegriffen wird, schwindet sein Selbstvertrauen ... Am Ende landet er in einem schäbigen Büro am Flurende. Dort weist man ihm Arbeiten zu, die ihn überfordern (unrealistische Termine), demütigen (Kopien machen) oder zu Tode langweilen (zehn Minuten Arbeit für acht Stunden). Der Mitarbeiter wird krank. Oder löst den Kanonenschuss selbst aus, indem er kündigt. Das spart der Firma die Abfindung. Mobbing ist wie ein Schimmelpilz: Es wächst nur in bestimmtem Klima. Wenn Firmen ältere Mitarbeiter rausekeln, Konkurrenzkampf fördern oder Leiharbeiter ausbeuten, ist das Dünger fürs Mobbing. Mal gibt der direkte Vorgesetzte einen Mitarbeiter selbst zum Abschuss frei, etwa durch überzogene Kritik. Mal schaut er den Angriffen tatenlos zu, was als Zustimmung gewertet wird. Oder er bekommt das Mobbing erst gar nicht mit, was ihn als Führungskraft disqualifiziert. Die Kultur einer Firma, die Haltung eines Vorgesetzten, die Courage der Kollegen: Das sind die besten Waffen gegen Mobbing im Beruf. Wo sich die Mehrheit hinter dem Angegriffenen versammelt, wo Vorgesetzte beherzt einschreiten, wo ein tägliches Miteinander gelebt wird: Dort hat Mobbing so wenig Chancen wie ein Schimmelpilz im Trockenen. Und was kann der Gemobbte selbst tun? Seinen Angreifer früh zur Rede stellen: »Ich habe gehört, du verbreitest folgendes Gerücht über mich ... Warum tust du das?« So zeigt er sich wehrhaft. Manches MobbingFeuer lässt sich austreten, ehe ein Flächenbrand daraus wächst. MARTIN WEHRLE Das aktuelle Buch unseres Autors heißt »Ich arbeite in einem Irrenhaus« (Econ)

Lesen Sie diesen Text in zwei Minuten ... ... und verstehen trotzdem alles. Das ist dann Schnelllesen

D

ie Lesegeschwindigkeit messen Sie mit der Stoppuhr. Nach einer Minute zählen Sie, wie viele Wörter sie gelesen haben, das ist dann die Einheit WpM, Wörter pro Minute. Nicht tricksen, Sie sollten verstehen, was im Text steht. Nur: Wie wird eigentlich gemessen, ob jemand versteht, was er liest? Einige Anbieter setzen zu diesem Zweck Multiple-Choice-Fragen ein. Die aber hält der Hirnforscher Manfred Spitzer nicht wirklich für aufschlussreich. »Multiple-Choice-Fragen messen eher, wie viele Wörter man imstande ist, sich zu merken – das hat mit sinnvollem Erinnern von Sachverhalten nichts zu tun« sagt er. Peter Rösler von der Deutschen Gesellschaft für Schnell-Lesen sagt dagegen: »Bei unseren Testpersonen ist die subjektive Einschätzung immer relativ genau.«

• Bis hierhin braucht ein Durchschnittsleser 30 Sekunden Die meisten Menschen lesen zwischen 200 und 250 Wörter pro Minute. Das, so versprechen Ratgeber und Seminare, lässt sich verbessern. Je nach Anbieter dauert ein Kurs ein paar Tage, Wochen oder Monate. Mit dem Training könne man die Lesegeschwindigkeit auf 400 bis 500 Wörter pro

VON LEONIE ACHTNICH

Minute erhöhen, ohne dass das Textverständnis sinke, sagt Peter Rösler. In seinen Kursen wird zum Beispiel an der Lesetechnik nichts geändert, sondern durch Konzentration und Übung langfristig die Zahl der Wörter pro Minute erhöht. In der Praxis funktioniert das in etwa so: Versuchen Sie, einen Text 20 Prozent schneller zu lesen. Wenn Sie das in ein paar Tagen können, legen Sie noch mal 20 Prozent drauf. Andere Anbieter, andere Strategien: Bei einigen ist ein Trainingspunkt die Optimierung der Augenbewegungen. Denn das Auge gleitet nicht über den Text. Wie Studien gezeigt haben, springt es vielmehr von einer Textstelle zur nächsten und hält dort jeweils kurz an. Je schneller das geht, desto besser. Ein guter Leser macht das automatisch. Beim Sprung zur nächsten Zeile wird das Lesen jeweils unterbrochen. Kurze Zeilen bedeuten viele Unterbrechungen, lange Zeilen machen die Sprünge ungenau. Die optimale Zeilenlänge für möglichst ungetrübten Lesegenuss liegt nach Messungen bei 43 Zeichen. Über die besten Übungsstrategien streiten sich die kommerziellen Ratgeber. Spitzer hält die Angebote allesamt nicht für sinnvoll. »Unser Gehirn ist selbst schlau genug, Lesestrategien zu entwickeln« sagt er.

»Schnell lesen lernen Sie am besten, wenn sie häufig lesen.« Beginnen Kinder zu lesen, dann lernen sie das Buchstabe für Buchstabe. Später funktioniert das Lesen vor allem über das Wiedererkennen einzelner Worte, dafür braucht das Hirn weit weniger Ressourcen. Je mehr jemand liest, desto weniger Ressourcen nimmt der Lesevorgang in Anspruch – umso komplexer können also die Texte sein.

•• Bis hierhin braucht ein normaler Schnellleser 30 Sekunden Richtige Profis schaffen 2000 bis 3000 Wörter in der Minute, zehnmal so viele wie der Durchschnitt. Das ist der Bereich der Weltmeister, der Naturtalente, viele davon sind Menschen mit fotografischem Gedächtnis. »Die Anbieter, die ihren Kunden so etwas versprechen und deren Kurse weniger als einen Monate dauern, halte ich nicht für glaubwürdig«, sagt selbst Rösler von der Schnell-Lese-Gesellschaft. Sehr schnelle Leser haben vor allem eine Komponente ausgeschaltet, die das Lesen bremst: das innere Mitsprechen. Wenn gelesen wird, erklärt Spitzer, dann werden auch akustische Areale im Gehirn aktiviert, man liest also innerlich mit. Bei

Viellesern und Schnelllesern ist diese Aktivität auf ein Minimum reduziert. Viele Seminare versprechen, diese »innere Stimme« durch Übung ausschalten zu können. Dazu trainieren sie zum Beispiel monatelang das Slalomlesen, das das Auge an eine neue Lesebewegung gewöhnen soll. Das sei nicht sinnvoll, so Spitzer.

••• Bis hierhin braucht ein optischer Schnellleser 30 Sekunden Schnelllesen ist keine Wunderwaffe gegen Informationsüberflutung. Aber Schnelllesen kann helfen, wenn Sie im Alltag mit einer großen Menge an Routinetexten zu tun haben, das heißt: Sie kennen den Kontext gut. Eine philosophische Abhandlung oder ein naturwissenschaftlicher Bericht fordern mehr Aufmerksamkeit. Gute Leser können die Lesegeschwindigkeit dem Text anpassen. Die hängt auch vom Wortschatz ab, von der Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, und davon, wie sehr man die Handlung voraussehen kann. Wie schnell ein Text wirklich gelesen werden kann, liegt also am Leser, am Text und wie gut beide zusammenpassen, so der Hirnforscher Manfred Spitzer.

Für chronisch Textüberflutete ist Lesemanagement eine gute Alternative. Dabei lernt man, weniger zu lesen, dafür aber gezielter. Ein Blick in die Inhaltsangabe spart immer noch am meisten Zeit. »Nur etwa ein Drittel der Texte in meinem beruflichen Umfeld kommen für Speed-Reading infrage«, sagt Rösler. Einen Zusammenhang zwischen Erfolg und dem Schnelllesen hat bisher auch niemand gefunden. Im Zweifelsfall investieren Sie also lieber in einen anständigen Anzug. Und zugunsten von Poesie und Prosa sollten Sie abbremsen. »Wenn sie schneller lesen, haben Sie den Roman auch schneller fertig«, sagt Rösler.

»Dann müssen Sie einen neuen kaufen.« Andererseits: Wie lange steht Ulysses schon ungelesen in Ihrem Schrank? Sie haben, sagen wir, sieben Stunden. Los geht es.

ZEIT DER LESER

S. 114

LESERBRIEFE

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

113 Aus No:

36

Schließen?

1.September 2011

Hanno Rauterberg: »Madonna, hilf!« ZEIT NR. 36 Natürlich haben Sie recht, dass das Reisen Kunstwerken nicht guttut und aus restauratorischer Sicht besser unterbleiben sollte. Aber ist Kunst dazu da, konserviert zu werden oder um sie einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, Menschen anzusprechen und zu berühren? Auch in einer ständigen Ausstellung ist jeder Museumsbesucher schädlich für ein Kunstwerk. Sollten wir deshalb alle Museen schließen? Und wenn Sie wegen der Reise der Stuppacher Madonna von Grünewald oder der Madonna di Foligno von Raffael solche Bedenken tragen, wie konnten Sie nur eine Woche zuvor die Berliner Ausstellung Gesichter der Renaissance so positiv rezensieren? Da hätte Sie erst recht das kalte Grauen packen müssen (wie eigentlich in jeder Sonderausstellung)! Martin Steinbrück, Berlin

Ich bin traurig E. Raether: »Die Maräne ist dick und lecker« ZEIT NR. 36 Taucht Sachsen-Anhalt in den Nachrichten auf, ist zumeist von Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Pflegenotstand und Vergreisung, stillgelegten Bahnstrecken oder rechter Gewalt die Rede. Die schönen und oft sogar bedeutenden Dinge bleiben auf der Strecke. Der erste deutsche König kam aus Quedlinburg, der erste Kaiser wählte Magdeburg zu seiner Hauptstadt. Martin Luther lebte in unserem Landstrich. Die Himmelsscheibe von Nebra? Richtig – auch von hier. Neo Rauch ist kein gebürtiger Leipziger, sondern – Sie ahnen es bereits – aus dem anhaltischen Aschersleben. Kein Bundesland hat mehr Unesco-Weltkulturerbe zu bieten – würde dies bitte mal jemand zur Kenntnis nehmen? Und da gibt es auch noch die sogenannte Toskana des Ostens, eine liebliche Weinlandschaft an den Flusstälern von Saale und Unstrut, wo die Pappeln im Abendlicht glatt als Zypressen durchgehen und der Wein aus dem »Rotkäppchen«–Land so manchen verirrten Sommelier schon erstaunte. Auch diesen Ort will man uns nicht gönnen, er passt wohl einfach nicht zu unserem Bitterfeld–Image (heute schon mal Bitterfeld gesehen? – Sie würden Bauklötzer staunen!). Stattdessen wird er nach Sachsen verfrachtet. Nun hat man mit der Zeit gelernt, an solchen Überheblichkeiten vorbeizusehen, doch heute bin ich wirklich traurig. Heute war es die ZEIT. Henning Rode, Salzlandkreis

Männer! G. di Lorenzo, P. Schwarz: »Der Schatten Luthers«, NR. 36 Als ausgebildete Naturwissenschaftlerin und Bürgerin eines modernen Landes, welches sich die Gleichberechtigung der Geschlechter auf die gesetzliche Fahne geschrieben hat, bin ich regelrecht schockiert über den fast vollständigen Ausschluss des weiblichen Elements aus dem Diskurs eines hohen Kirchenmenschen. Weder die (männlichen) Fragensteller noch der Bischof verschwenden auch nur einen Satz auf die krasse Missachtung der Frauenrechte in der katholischen Kirche, sondern tauschen, glücklich und zufrieden in ihrer männlichen Seifenblase, Artigkeiten zu den genuin männlichen Themen aus: Zölibat, Homosexualität und Priesternachwuchs. Die katholische Kirche ist schließlich kein bloßer Männerorden. Sie fühlt sich berufen, die ganze Schöpfung religiös zu vertreten und zu betreuen, deren eine menschliche Hälfte nun mal weiblich ist. Erzbischof Zollitsch, seinem Anspruch, global zu denken zum Trotz, bezieht sich auf eine bizarre Erscheinung und Entscheidungswelt, auf eine der Schöpfung unbekannte Welt, in der die Frauen lediglich glauben (so wie des Erzbischofs Mutter) oder einem Kirchenmann den Haushalt führen dürfen. Dr. Irena Doicescu, Stadtsteinach

Leuchttürme Jens Jessen: »Unterwegs zur Plutokratie« ZEIT NR. 36

Zum Beitrag: »Alle Macht der Glotze«, ZEIT Nr. 36

»Neiddebatte«: So ein Simpelschlagwort Titelthema in der Wirtschaft: »Müssen jetzt die Reichen ran?« Frau Dornier-Tiefenthaler sagt einiges Kluge, dem ich zustimmen kann, aber auch etliches weniger Kluge. Sie äußert sich, wenn es um Vermögen und Steuern geht, sehr emotional und vereinfacht, sie macht das, was sie an anderen kritisiert. »Es werden nie alle den gleichen Wohlstand haben, weil nie alle Gleiches leisten.« Erste Frage: Was haben Erben großer Vermögen bei ihrer Geburt geleistet? Und wer wird heute in Deutschland allein durch Leistung reich? Zweite Frage: Hat jemand verlangt, dass »alle den gleichen Wohlstand haben«? So kann man den Ruf nach einem höheren Vermögens- und Spitzensteuersatz wohl kaum interpretieren, auch nicht, dass dann alle gleich sind. Dafür reichte, mit Verlaub, dieses bisschen mehr Steueraufkommen nun wirklich nicht aus. Und warum soll die Forderung nach höheren Steuersätzen eine »Neiddebatte« (auch so ein Simpelschlagwort) sein? Es wäre eine Steuererhöhung, die als gerechter empfunden würde als die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Da haben die, denen das nun wirklich zu schaffen gemacht hat, nicht herumgejammert! Also ein bisschen mehr beitragen zur Gemeinschaft, weniger jammern, und keiner brauchte sich mehr von »Neidern« angegriffen zu fühlen. Dass der Staat mehr Geld braucht, springt uns Bürgern sowieso ins Auge, jedenfalls, wenn wir den öffentlichen Raum nutzen und zum Beispiel auf unebenen Gehwegen gestolpert sind, uns über deprimierend bröckelnde Bausubstanz oder Dreck geärgert haben. Sicher: nur Kleinigkeiten – aber im Großen ist es nicht anders. Natürlich können ein paar Steuererhöhungen das Problem nicht alleine lösen, aber es wäre ein Beitrag. Besser, als nun umgekehrt zu argumentieren: Weil es ja eh nicht reicht, denn wir haben zu weni-

ZEIT NR. 36

ge Wohlhabende, brauchen wir reiche Leute gar nicht erst stärker belasten. Absurd. Warum haben die Kommunen kein Geld mehr? Und wem nützt es? Heide Itasse, Ettlingen

Herr Uchatius schreibt, dass es sich mehr lohnt, das Kapital arbeiten zu lassen, als selbst Hand anzulegen. Als Beispiel führt er an, dass bei einem Gutverdiener für zusätzlich erarbeitete 10 000 Euro eine Steuer von 4200 Euro anfällt, während bei Zinserträgen von 10 000 Euro nur 2500 Euro Steuern zu bezahlen sind. Er ignoriert völlig, dass jemand, der 10 000 Euro an Zinserträgen einstreicht, erst circa 600 000 Euro erarbeiten, mit 42 Prozent versteuern und ansparen muss, um mit einer einigermaßen sicheren Anlage von circa 3 Prozent einen Zinsertrag von 10 000 Euro zu erzielen. Die Kapitalertragsteuer in Höhe von 25 Prozent ist eine zweite zusätzliche Steuer. Manfred Schoellkopf, Kirchheim

»Die oberen 10 Prozent zahlen schon die Hälfte der Steuern.« Etwas mehr Präzision bitte, Herr Joffe. Mit dieser Aussage entsteht nämlich ein völlig verzerrtes Bild der Finanzierung unseres Staatshaushaltes. Richtig müsste es heißen: Die oberen 10 Prozent zahlen die Hälfte der Einkommensteuern. Diese wiederum machen an den Gesamtsteuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden lediglich 38 Prozent aus (2009). Laut Bundesministerium der Finanzen hat sich die Zahl seit 2000 um 5 Prozentpunkte verringert. Die von allen Verbrauchern finanzierten Steuern aus dem Umsatz und verbrauchsabhängige Steuern von der Branntweinsteuer bis zur Versicherungssteuer haben dagegen einen Anteil von 55 Prozent (ebenfalls 2009). Karin Schmidt, Freiburg

Sie schreiben: »Das unterste Fünftel der Steuerpflichtigen zahlt praktisch keine Steuern – jene, die weniger als 8200 Euro pro Jahr beziehen.« Dies ist nur die halbe Wahrheit. Indirekte Steuern zahlt auch der Transferempfänger. Vor mehr als 40 Jahren merkte ein Steuerlehre-Dozent an, dass »indirekte Steuern das Vermögen in wenigen Händen konzentrieren«. Hilfreich wäre, wenn man den »Einkaufskorb« der Transferempfänger vom Statistischen Bundesamt hätte, man könnte dann die indirekten Steuern herausrechnen – vermutlich wären es mindestens 20 Prozent. Weiter: Wie reich sind denn die »Reichen«, die Top-Ten-Prozent? Nach einer Studie des DIW besitzen die Top Ten mehr als 60 Prozent des Volksvermögens, das reichste eine Prozent sogar ein Fünftel. Oder »negativ« vermerkt, haben die 90 Prozent Habenichtse gerade doppelt so viel wie die Superreichen. Wenn dann noch an die Senkung der Erbschaftsteuer erinnert werden darf, so frage ich, was uns vom Kastenwesen in Indien unterscheidet (reich bleibt reich, arm bleibt arm). Falls über die Steuern eine Umverteilung vorgenommen werden soll, so ist sie hier von unten nach oben erfolgt. Joachim Denningmann, per E-Mail

Martine Dornier-Tiefenthaler behauptet im Interview: »Es werden nie alle den gleichen Wohlstand haben, weil nie alle Gleiches leisten, die Lektion sollten wir jetzt mal gelernt haben.« Das nenne ich ein Beispiel für den Dünkel der oberen Klassen. Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie und kann versichern, dass dort so viel und so lange gearbeitet wird, bis die Gesundheit ruiniert ist. Und nun warte ich darauf, dass MDT mir zeigt, welche Arbeiterfamilie durch Leistung je zu Wohlstand gekommen ist. Wohlstand

entsteht meines Wissens hauptsächlich durch ein fettes Erbe, durch Spekulation mit bereits vorhandenem Geld und dadurch, dass Unternehmer einen nicht unbeträchtlichen Teil des Gewinnes, den andere für sie erarbeiten, in die eigene Tasche stecken. Das alles muss man nicht kritisieren, aber wo sind die Menschen, die durch eigene Leistung allein reich geworden wären? Michael Zdrenka, Dalby, Dänemark

Der Beitrag von Jens Jessen, der das Thema auf den Punkt bringt, findet sich im Feuilleton – also abseits vom wirklichen Geschehen. So etwas als Aufmacher im Politikteil würden vielleicht auch Frau Merkel oder Herr Ackermann lesen! Und es ist doch ein Thema, das nur die Politik regeln könnte. Immerhin: im Wirtschaftsteil findet Wolfgang Uchatius gute Argumente für eine stärkere Belastung höherer Einkommen und Vermögen – und sogar ein paar Betroffene, die bereit sind, mehr zu zahlen. Allerdings: Die deutsche Dax-Elite will nichts dazu sagen außer: höhere Steuern auf mein bescheidenes Einkommen eher nicht. Josef Joffe schwingt sich mit den immergleichen Totschlagargumenten zum Hüter der armen Reichen auf: deutsche Arbeitsplätze in Gefahr, das scheue Kapital, der drohende Ruin des Mittelstands. Was wir indes brauchen, ist staatliches Handeln, das den Finanzsektor zugunsten des produktiven Sektors zurückstutzt und finanzielle Beiträge von denen fordert, die durch Spekulation auf Staaten und Währungen zulasten der Allgemeinheit unmäßige Gewinne erzielen. Einer muss anfangen; warum nicht Deutschland, vielleicht mit dem einen oder anderen europäischen Partner. Dietrich Briese, Bobenheim am Berg

Etwa nicht zeitgemäß?

Ein Spießbürger freut sich

Bernd Ulrich: »Kohls Welt«

Jens Jessen: »Wer Verbote erlaubt«

ZEIT NR. 36

Sie schreiben, dass die politischen Glaubensbekenntnisse der alten Bundesrepublik – von 1949 bis heute – hinfällig sind, dass die Weltlage neue Fragen stellt, die neue Antworten erfordern. So weit, so gut. Bisher waren wir in unseren Werten und unserem Handeln im Westen verankert, bei Rousseau, Tocqueville, Lassalle und viele anderen. Dazu gehört auch das Bewusstsein um die Befreiung unserer Nation vom Nationalsozialismus durch die Westmächte. Und die Gründung eines liberalen Rechtsstaats unter deren Auspizien. Das ist die Staatsräson der Republik: Wir erreichen nichts, wenn nicht im europäischen Konsens. Diese Staatsräson ist Gott sei Dank tief verankert im Unterbewusstsein ihrer Bürger. Sie ist ein nationaler Schatz. In dieser geistigen Verankerung lebe ich, und auf die bin ich stolz. Ich habe Ihren Artikel – auch nach mehrfachem genauem Lesen – so verstanden, dass diese feste Verankerung nicht mehr zeitgemäß sei. Nun frage ich mich, ob ich mittlerweile zu den Gestrigen gehöre. Worauf wollen Sie hinaus? Wo soll die Reise hingehen? Soll Deutschland sich aus den Bündnissen lösen und sich anhand eigener Erkenntnisse von Fall zu Fall orientieren? Oder neue Bündnisse eingehen? Wenn ja, mit wem? Soll es

sich als Mittelmacht im Zentrum Europas mit 80 Millionen Einwohnern seinen eigenen Weg suchen? Mit der außenpolitischen Reife, die wir im letzten Jahr gezeigt haben, fürchte ich mich vor einem solchen Weg. Grundmechanismen in Europa haben sich seit 1870 nicht geändert: Das Bismarcksche Konstrukt ist zu klein für europäische Hegemonie und zu groß, um allein und unbeschwert als kleine »unbeugsame« Nation Politik zu machen. Nur die Einbindung in ein Bündnis mit den Nachbarn sichert unsere Existenz in der Mitte Europas. Aus diesen Überlegungen gibt es für mich nur einen Schluss: In der Außenpolitik darf es keine Experimente und öffentlichen Gedankenspiele geben. Vor allem nicht in der wichtigsten Wochenzeitung des Landes und von so einem angesehenen Autor, wie Sie es sind. Michael Hintze, Grafschaft

Beilagenhinweis Die heutige Ausgabe enthält in Teilauflagen Prospekte folgender Unternehmen: Auping B.V., NL-7145 DK Deventer; BigXtra Touristik GmbH, 80339 München; Landwirtschaftsverlag GmbH, 48165 Münster; Möbel Krieger GmbH & Co.KG, 12529 Schönefeld; Plan International Deutschland e.V., 22305 Hamburg

ZEIT NR. 36

Ein sehr interessanter Leitartikel! Auch wenn Sie vielleicht viel Kritik von Lesern dafür ernten werden, denke ich, dass es richtig ist, solche Verbote zu hinterfragen. Hier in England herrscht ein totales Alkoholverbot in der Öffentlichkeit, aber die Alkoholprobleme unter Jugendlichen sind so schlimm und so sichtbar wie nirgendwo anders. Ich denke, in der Diskussion ist das »Paradox der Liberalität« relevant. Es bedeutet, dass Liberalität, die Ausbreitung individueller Freiheit, zwangsläufig zu Staatsautoritarismus führt. Da man sich im Zeitalter des Liberalismus nicht mehr darüber einigen konnte, was richtig und gut ist, führte man Rechte ein, gründend auf dem utilitaristischen Prinzip, dass jeder das Recht auf Freiheit hat, solange dadurch nicht die Freiheit eines anderen beeinträchtigt wird. Dies führt nun unausweichlich zu den kleinlichen Gesetzen, die Sie beschreiben, da man durch die meisten Handlungen irgendjemandes Freiheit irgendwie einschränkt. Die Gesellschaft, um ihre individuellen Rechte zu sichern, fordert daher immer neue Verbote und Einschränkungen – ein Teufelskreis.

Jessen folgt einem nervigen Erklärungsmuster, nämlich eine möglichst obskure Wahrheit zu entdecken. Der Anblick auf Rauchende solle den Nichtrauchern erspart werden. Was für ein Quatsch! Wenn es beim Anschauen bliebe, kein Problem, aber es geht ums Einatmen! Jens Jessen glaubt, Rauch- und Trinkverbote sollten von den großen Wirtschaftsproblemen ablenken. Klar, und die Gehwegeverordnung ist eine Reaktion auf die Finanzkrise, da ist es nicht mehr weit zu den Verschwörungstheoretikern.

Mario Bisiada, Manchester

Jonas Schönfeldt, Mainz

Sebastian Schnoy, per E-Mail

Ich freue mich als moderner Spießbürger, in Ihrem Autor einen Mitmenschen zu finden, der meine alltäglichen Probleme versteht: die mit den öffentlichen Saufexzessen der Jugend verbundenen »ästhetischen Herausforderungen« im Umgang mit unseren Mitmenschen; das »ErsteHilfe-Dilemma«, wenn sich schon wieder ein Teenie in der U-Bahn hilflos in Flaschenscherben wälzt; und dieses schwerwiegende »Gerechtigkeitsproblem«: Warum darf ich mich nicht statt seiner betrunken im Dreck wälzen? Danke, dass dies endlich mal einer ausspricht.

Wenn Gedachtes je die Handelnden beeinflussen könnte, dann müssten drei ungewöhnlich hervorragende Artikel dieser ZEIT die Welt zum Besseren wenden: Unterwegs zur Plutokratie von Jens Jessen: So ließe sich die Demokratie retten; Das Leben der Vulkane – unterwegs durch Israel von Peter Kümmel und Das Dreher-Gesetz von Ferdinand von Schirach. Mit dem ersten Text würde sich die Demokratie gegen den übermächtigen Lobby-Kapitalismus wehren und zur sozialen Marktwirtschaft zurückfinden. Mit dem zweiten würde klar werden, dass die schwer neurotische Politik Israels nur noch als posttraumatisches Syndrom zu verstehen ist und als solches geheilt werden müsste. Und das Buch von Schirachs zeigt, dass in Deutschland Massenmord 40 Jahre lang keine Justiz fand. Richard Marx, München

Klare Analyse und klare Sprache. Aber »Kapitalismus kaputt?«, wie Ihre Serie heißt? Doch eher nein. Kaputt sind die Institutionen, die den Kapitalismus zähmen müssten. Das fängt an bei Politikern, die sich von Lobbyisten vor sich hertreiben lassen, und endet bei Parteien, die ihre Kandidaten im Hinterzimmer auskungeln. Es brauchte halt insgesamt mehr »Leuchttürme« mit Charakter und Standing. Hans-Peter Baumann, Michelfeld

Respektvoll Ulrich Greiner: »Gratulation, Herr Raddatz!« ZEIT NR. 36 Ulrich Greiner beweist stellvertretend für das ZEIT-Feuilleton Integrität. Respektvoll würdigt er Werk und Verdienst ohne den ironischen Unterton, der doch in der ZEIT zuletzt gern mitschwang, wenn man sich Fritz J. Raddatz näherte. Wer die Tagebücher des FJR gelesen und durchlitten hat, für den war Greiners maßvolle und von persönlichen Zwischentönen getragene Huldigung eine Therapie. Selbst für meine Kreise, die wir als Mittdreißiger zur Zeit des RaddatzFeuilletons noch Kinder waren, bleibt er die geistige und stilistische Ausnahmeerscheinung Deutschlands, als welche er außerhalb der Provinz auch bis heute verstanden wird. Boris Hilbert, Berlin

Hungert weiter ZEITmagazin: Mode-Spezial ZEIT NR. 36

Ihr Magazin steht für durchaus »andersartige« Reportagen und Fotostrecken – dafür liebe ich es! Aber müssen Models bei Ihnen (zum wiederholten Male) so aussehen, als würden sie verhungern, verdursten oder gleich erschossen werden? Was verbindet die Fotografin Hanna Putz mit Mode? Wenn ich die Bilder interpretiere, ist alles düster, traurig – und ehrlich gesagt: Die Mode – wo ist sie denn? Kirsten Wache, per E-Mail

Die Anziehungskraft der Frauen? Der weibliche Blick? Das Modediktat der Männer: vorbei? Eine neue Generation Frauen tritt auf den Plan? Liebe Mode-Frauen (respektive -Fotografinnen), Euer »neuer« Blick ist von den Mode-Männern übernommen. Die ganze Strecke ist für junge Frauen, die essgestört oder auf dem Wege dahin sind, eine einzige Aufforderung: Hungert weiter. Krank sein = schön sein! Wie gedankenlos, das passt so gar nicht in die ZEIT. Heike Kamstedt, München

Ihre Zuschriften erreichen uns am schnellsten unter der Mail-Adresse: [email protected]

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

Leserbriefe siehe Seite 113

Mein Wort-Schatz Wohlwollen ist mein Wort-Schatz. Ich habe das Wort neulich von einer Freundin geschenkt bekommen. Wir unterhielten uns darüber, dass Wohlwollen mehr sein könne als Freundschaft und Liebe. Es ist ohne Erwartungshaltung und besonders wertvoll, weil es bestehen bleiben kann, wenn eine Freundschaft oder Liebe endet. Außerdem ist es frei, da es von jeglicher Sympathie, Zu- oder Abneigung unabhängig ist. Wohlwollen erhebt sich über missgünstige Neigungen, ohne dabei überheblich zu klingen. Wohlwollen spiegelt eine Haltung wider, die von großem Charakter zeugt. Deshalb lohnt es sich sehr, mit diesem Wort zu leben.

1971

Zeitsprung

Liebe ZEIT-Leserinnen und -leser, der »Herbstrat«, den Katharina Böttcher und Juliane Fleddermann einer Freundin erteilen, stammt – zugegeben – vom vergangenen Jahr. Damals begann er mit den Worten »FRAU: es ist Zeit. Der Sommer war sehr heiß. / Stell in den Schuppen deine Sonnenliege, / und spül ihn ab, den letzten Tropfen Schweiß.« Dann kam der »Sommer« 2011. Und die beiden Leserinnen schrieben die erste Strophe um … WL

Vor genau 40 Jahren war ich zum ersten Mal mit meiner Freundin Silke verreist. In Zandvoort, Holland, begaben wir uns auf Erkundungstour, und dort, auf der Strandpromenade, habe ich das SchwarzWeiß-Foto von meiner damals 17-jährigen Freundin gemacht. Das kleine Kind auf ihrem Schoß lief gerade vorbei und wurde für das Bild »ausgeliehen«. Kürzlich war ich wieder in Zandvoort, diesmal mit

2011

meiner 18-jährigen Tochter. Ich wollte ihr gern alles zeigen, was ich 40 Jahre zuvor mit jungen Augen gesehen hatte. Vieles hat sich inzwischen verändert. Aber es gab die Skulptur des alten Mannes noch, und ich fotografierte diesmal meine Tochter – digital und nicht mit der »Agfa Klick« meiner Jugendzeit. Zwei fast gleichaltrige Mädchen, die einen wichtigen Platz in meinem Leben haben, mit langen Haaren neben

EIN GEDICHT!

Was mein

LEBEN

reicher macht Susanne, die eines Sommertages in meine kleine Buchhandlung rauschte und mein Leben in null Komma nichts auf den Kopf stellte. Jetzt ist sie da, und wir wollen nicht mehr ohne einander. Nächste Woche sehen wir uns ein Häuschen an. Das Leben ist wunderbar! dem alten Mann, der seit Jahrzehnten auf das Meer blickt. Meine Freundschaft mit Silke besteht noch immer. Durch sie habe ich auch meinen Mann kennengelernt. Fast jeden Tag finde ich eine Mail von ihr in meiner Mailbox. Es ist wunderbar, gemeinsame Erinnerungen zu haben. Ma grit Thies, Wentorf bei Hamburg

Wiedergefunden: Die Wiegekarte

(Nach Rainer Maria Rilke, »Herbsttag«)

Dagmar Röttsches, Toulouse, Frankreich

FRAU: es ist Zeit. Der Sommer war sehr nass.

Frühmorgens mit dem Fahrrad durch den Wald zum Briefkasten fahren, um die Tageszeitungen zu holen, auf dem Rückweg ein paar Parasolpilze finden, das gemeinsame Frühstück genießen und trödeln, bevor das Tagwerk beginnt.

Mit neuen Kleidern dreh jetzt deine Runden, und in den Abendstunden habe Spaß.

dränge sie in dein warmes Bett und labe

Beim Stöbern in alten Fotos fand ich diese »Wiegekarte«. Ich bin im Juni 1949 geboren, war ein eher zartes Zwillings- und Sorgenkind, und es berührt mich heute sehr, wie meine Eltern damals wohl jede Gewichtszunahme von auch nur 100 Gramm als Erfolg notierten. Dank ihrer Liebe und Pflege habe ich rasch zugenommen – nicht nur an Gewicht – und kämpfe heute mit 62 Jahren auch hin und wieder mit den Pfunden. Ich bin sehr froh, dass ich meinen alten Eltern heute – meine Mutter ist 92 und mein Vater 97 – etwas von ihrer damaligen Sorge und Zuwendung zurückgeben kann. Ursula Möhler, Tübingen

an ihren Küssen dich und nenn sie dein. !

Dorothee Wengenroth, Hilden

Traumverloren! Ein schwebender Zustand. Ich bin wach, aber Gedanken und Gefühle sind aus der Gegenwart geflohen. Ich hänge ihnen nach. Es kommen Bilder und Farben. Ich versinke in ihnen für eine Weile. Auf einer Bank habe ich ein Kind gesehen, etwa sieben Jahre alt. Es guckte, aber nicht nach außen, sondern nach innen. Es nahm die Welt um sich herum nicht wahr. Traumverloren. Renate Martin, Hamburg

Elisabeth Krause, Monheim am Rhein

Wer jetzt allein ist, wird’s nicht lange bleiben, Firmennamen wörtlich genommen ... Gesehen in Weiden in der Oberpfalz

wird lieben, lachen und sich einverleiben das pralle Leben und – das ist nicht schwer –

Hildegard Bergler, Weiden

des Nachts es wild und ungezügelt treiben.

Katharina Böttcher und Juliane Fleddermann, Hamburg

Dass ich – bis Ende zwanzig ein vollkommener musikalischer Analphabet – mich doch noch aufgemacht habe, als Klavierschülerin und Chorsängerin die Welt der Musik zu erkunden. So erlebe ich jede Woche ein Gänsehautgefühl, wenn die Bässe den Boden bereiten, Tenöre und Alte darauf wandern und die Soprane schließlich ein leichtes melodisches Lüftchen über den Chorsatz legen. Karen Göpfert, Görlitz

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Die Kritzelei der Woche

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Ein Gartenbild Wie gefällt Ihnen unser Tomatentheater? Um das hässliche Plastik-Tomatenhaus im Garten zu verschönern, also zu verhüllen, installierten wir, meine Freundin Beate und ich, kurzerhand das Tomatentheater: Sieben Meter roter Stoff, und schon ist die Spielsaison auf der Freilichtbühne Hohebach eröffnet! Programm von Montag bis Freitag: Das scheue Erröten der Tomaten, Samstag und Sonntag: Macseth. Kulinarisches Drama in 3 Akten. Der Eintritt ist frei.

Ich bin mit meinen Kindern allein in der Stadt unterwegs und werde angesprochen: »Sind das alles Ihre? Gewollt? Und von einem Mann?« Und kann von Herzen antworten: »Ja!« Danke, Micha, für unsere vier – mit allem, was dazugehört! Carolin Jesser, Leingarten

Der Tipp eines Freundes: einen Hauch Badeschaum im Inneren der Schwimmbrille verreiben, und alles bleibt klar. Und es stimmt. Jetzt kann ich stets die Uhr sehen und merken, wie langsam ich schwimme.

Dorothea Seth-Blendinger, Dörzbach-Hohebach, Baden-Württemberg

Sibylle Korber, Odenthal

[email protected]

Dass ich kein Fernsehen besitze und viel Zeit zum Nahsehen habe.

oder an Redaktion DIE ZEIT, »Die ZEIT der Leser«, 20079 Hamburg

Die Redaktion behält sich die Auswahl, eine Kürzung und die übliche redaktionelle Bearbeitung der Beiträge vor. Mit der Einsendung eines Beitrags erklären Sie sich damit einverstanden, dass der Beitrag in der ZEIT, im Internet unter www.zeit.de/zeit-der-leser und auch in einem ZEIT-derLeser-Buch (Sammlung von Leserbeiträgen) veröffentlicht werden kann

Meine Mutter. Die mich wie die selbstständige junge Frau behandelt, die ich bin, mich bedingungslos unterstützt, trotzdem auch hier und da mal kritisch nachfragt, die mit mir lacht und so vieles mit mir teilt. Bei der ich aber bei größerem und kleinerem Kummer einfach wieder das kleine Mädchen sein darf, das alles ganz furchtbar ungerecht findet. Die wunderbaren Menschen mit dem Downsyndrom.

Drahtlos

nicht mehr.

SK

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Michael Loidolt, Kitzeck, Österreich

Friederike Sach, Münster

Wer jetzt ’nen Hans hat, braucht den Franz

AG LT

Günther Vogt, Braunschweig

STRASSENBILD

AL

Ist Meerbusen nicht eine wunderbar poetische Beschreibung für eine Meeresbucht? »Finnischer Meerbusen«! Nur ist einigen Menschen die Bedeutung nicht klar, weil sie die Brust meinen, aber schamhaft vom Busen sprechen. Andere Wörter für Meerbusen sind Golf oder Bucht. Die Deutsche Bucht als Deutschen Golf oder den Golf von Mexiko als Mexikanischen Meerbusen zu bezeichnen klingt unvertraut. Lassen wir also die Bezeichnungen ruhig so, wie sie sind. Etwas mehr Meerbusen aber wäre schön.

Zu Besuch bei meiner Mutter. Mit Sam, unserem Bernersennenmischling – schwarzes Fell mit weißem Kragen und weißen Pfoten –, gehen wir im Klosterpark spazieren. Zwei Nonnen im Habit kommen uns entgegen. Die eine deutet auf unseren Hund und meint lächelnd: »Der sieht ja fast aus wie wir!« Ich krame gerade im Wohnzimmer herum, da höre ich aus dem Keller ein Lachen, das nicht aufhören will. Ich gehe die Treppen runter und sehe: Mein Bruder und meine Schwägerin bringen meiner dreijährigen Tochter bei, wie man möglichst schnell wahlweise als Frosch, als Elefant oder als Pferd um den Billardtisch rennt.

Herbstrat

gib ihnen eine honigsüße Gabe,

Lars Baumann, Oberhausen

Andrea Schneider, Melle

Klassische Lyrik, neu verfasst

Befiehl den öden Männern toll zu sein,

114

Maria Fischer, Oldenburg

Als Designer und Illustrator pflege ich bei Besprechungen und Telefonaten schon fast manisch alles vollzukritzeln, was mir unter den Stift kommt. Hier sehen Sie eine ältere A2-Schreibtischunterlage. Inzwischen haben sich mehr als ein Dutzend solcher großen, farbigen Zettel bei mir angesammelt und auch jede Menge kleinerer Schmierzettel. Stefan Lochmann, Wiesbaden

Eine Nachricht auf meiner Facebook-Seite: »Ich konnte heute im Deutsch-Unterricht glänzen, da ich noch aus Ihrem Unterricht in der Mittelstufe wusste, wer der Herr Tischbein war!« Danke, lieber Jonas! Angela Kafitz, Fronhausen

Das tägliche Bad im See – jedes Mal eine andere Stimmung. Kornelia Kenn, Radolfzell am Bodensee

PREIS ÖSTERREICH 4,10 €

DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

Nachwuchs für die SPÖ: Wie junge Genossen die Sozialdemokratie erneuern wollen

DIE ZEIT fürs iPad Jeden Mittwochabend bereit zum Download: Die neue digitale Ausgabe der ZEIT Ab sofort im App-Store

ThekenTräume

ÖSTERREICH SEITE 14/15

Unterwegs mit dem legendären Barmann Charles Schumann Von Moritz von Uslar ZEITmagazin Seite 20

Ist es Liebe?

Die Rechnung, bitte

Israel will die Anerkennung Palästinas verhindern. Es begreift die Chance des Arabischen Frühlings nicht VON ALICE BOTA

Europa muss sich endlich ehrlich machen: Schuldenschnitt für Griechenland, Schuldenbremse für alle VON UWE JEAN HEUSER

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it jedem neuen Versuch wird uns die Rettung Griechenlands vertrauter. Das griechische Volk beschimpft seine Politiker, weil sie zu viel sparen. Die Euro-Kontrolleure reisen an und zornig wieder ab, weil Athen seine Sparversprechen trotzdem nicht erfüllt. Dann geben sich die Griechen den üblichen Ruck – nur um kurze Zeit später achselzuckend festzustellen, sie brauchten leider doch mehr Geld als gedacht. Die Deutschen erklären in aller gebotenen Strenge, es gäbe keinen Rabatt für Athen, und nicken kurz darauf die nächste Tranche ab. Griechenland ist die Wiege des Theaters, und heute führt es ein Stück auf mit der ganzen Welt als Publikum. Allein, die Hoffnung auf ein glückliches Ende ist zerstoben, weil sich die traurige Wahrheit nicht länger verbergen lässt. Griechenland ist pleite. Das südlichste Euro-Mitglied hat nicht etwa ein lösbares Bankenproblem wie Irland, nicht eine Immobilienkrise wie Spanien, es leidet auch nicht bloß an fortgesetztem Regierungsversagen wie Italien. Es hat schlicht mehr Schulden, als es bei seiner schmalen Wirtschaftskraft und seinem verlotterten Finanzwesen je abzahlen kann. Die Behauptung, Griechenland sei zu »retten«, ist also eine (Selbst-)Täuschung. Berlin und Brüssel haben sie aufrechterhalten, weil sie hofften, die Krise würde schnell vorüberziehen. Danach wäre eine Umschuldung kein Drama mehr. Tatsächlich aber sorgen sie auf diese Weise dafür, dass die Krise täglich schlimmer wird.

uch das ist der Arabische Frühling: Es brennt die israelische Botschaft in Kairo, jüdische Mitarbeiter müssen aus Angst vor einem ägyptischen Mob fluchtartig das Land verlassen; im Süden Israels töten Raketen Menschen, in der Türkei wird der israelische Botschafter ausgewiesen. Das ist keine zufällige Verkettung einzelner Konflikte. Aus Israels Sicht sind die Ereignisse in der muslimischen Welt außer Kontrolle geraten und bedrohen den jüdischen Staat. Aber die größte Herausforderung steht Israel kommende Woche noch bevor: Der Versuch des palästinensischen Präsidenten Machmud Abbas, eine Vollmitgliedschaft seines Landes bei den Vereinten Nationen zu erstreiten. Es würde faktisch die Anerkennung Palästinas bedeuten. Israels Regierung hat mit der Weigerung, sich ernsthaft mit einer Zwei-Staaten-Lösung zu befassen, die Palästinenser erst dazu getrieben, einseitige Schritte zu unternehmen. Die Palästinenser wiederum spekulieren darauf, dass am Tag nach dem 20. September die arabische Welt sich wegen des schon angekündigten Neins Amerikas und anderer westlicher Mächte empören und ihre Solidarität mit den Brüdern in Palästina zeigen wird; dabei haben ihre Regierungen selbst jahrzehntelang wenig dafür getan, die Situation der palästinensischen Flüchtlinge in ihren Ländern menschenwürdiger zu gestalten.

Es gibt auch ein anderes Israel, das die ewige Politik der Vergeltung satthat Die Folgen dieser Politik sind gefährlich, nicht nur, weil sie enttäuschte Palästinenser auf die Straßen treiben dürften. Die muslimische Solidarität könnte sich in Zorn entladen, der Israel heftig trifft. Einerseits, weil der jüdische Staat in der Region verhasst ist. Andererseits, weil die israelische Regierung seit dem Beginn des Arabischen Frühlings keine Sprache für die neuen Ereignisse gefunden hat. Eine neue politische Lage entstand – aber Israel antwortete mit der alten Politik. Premierminister Benjamin Netanjahu hat alle Chancen für eine Kursänderung vorbeiziehen lassen. Er will nicht wahrhaben, dass sich etwas Grundlegendes ändert: Die arabischen Völker erheben sich und verlangen nach Demokratie. Araber und Demokratie, das war vermutlich für viele Israelis ein ähnlich widersprüchliches Wortpaar wie Hoffnung und Naher Osten. So führt sich Netanjahu mitten in der Revolution auf wie ein trauriger Besitzstandswahrer – aber im Umsturz lässt sich nicht business as usual betreiben. Man sollte nicht vergessen, dass es auch ein anderes Israel gibt. Dieses Israel ist es leid, dass Politik zu Siedlungsthemen und Vergeltungsmanövern gerinnt. Zu Hunderttausenden demonstrierten die Menschen in Israel in diesem Sommer. Ihnen ging es nicht um Gaza, auch nicht um Ägypten oder Syrien. Aber sie zeigten, wie

das jüdische Land sich von der Aufbruchstimmung in der arabischen Welt anstecken lässt, wie Ausweglosigkeit sich in Hoffnung verwandeln kann. Netanjahu erklärte diese Hoffnung zur Gefahr. Er hält an seiner Politik der Angst fest. Der Angriff auf die israelische Botschaft in Kairo schürt diese Angst. Noch nie, mit Ausnahme der Erstürmung der amerikanischen Botschaft in Teheran 1979, ereignete sich solch ein Vorfall. Dass ein Land Botschaftsangehörige nicht schützen kann oder will, ist unerhört. Vermutlich wäre dies unter dem Diktator Mubarak nicht passiert. Aber wer deshalb meint, nun das wahre Gesicht des Arabischen Frühlings zu erkennen, der irrt. Der Westen muss akzeptieren, dass die Politik freier Völker (oder solcher, die darum kämpfen, sich frei nennen zu dürfen) anders sein wird als die eines Mubaraks, vielleicht auch hässlicher. Israel war bislang die einzige Demokratie im Nahen Osten, und dennoch hat es den Konflikt mit den Palästinensern durch Unterdrückung zu lösen versucht, hat auf Terror mit Ungerechtigkeit geantwortet. Auch die Demokratisierung des arabischen Raums wird nicht zwangsläufig jetzt und sofort zum Frieden führen. Aber Demokratie auf beiden Seiten bedeutet die einzige Chance auf Veränderung, wenn auch langfristig. Es wird antiisraelische Ausfälle geben, das sind Auswüchse der Arabellion, die Israelis, Europäer und Amerikaner ertragen müssen. Nur eines bleibt unverhandelbar: Neue arabische Regierungen müssen dem Frieden mit Israel verpflichtet sein. Allen, die auf dem Wege sind, Demokraten zu werden, muss dieses Bekenntnis abgerungen werden. Europas und Amerikas Solidarität mit Israel steht außer Zweifel. Doch es hat sich etwas verschoben. Solange die arabischen Staaten Diktaturen waren, die außenpolitische Sicherheit boten, schienen so gut wie alle Mittel legitim zu sein, um Stärke zu demonstrieren. Nun, da sich in den arabischen Ländern die politischen Systeme ändern, wird Israels Politik zunehmend als unangemessen und ungerecht empfunden. Deshalb genießen die Palästinenser weltweit große Unterstützung – die Zeit ist auf ihrer Seite. Den Palästinensern ist viel Unrecht widerfahren, sie verdienen, in ihrem friedlichen Kampf um Selbstbestimmung unterstützt zu werden. Wer befürchtet, dass Israels Sicherheit damit auf dem Spiel steht und deshalb eine Anerkennung Palästinas verweigert – der sollte einen Plan B in der Tasche haben, wie es mit der Zwei-StaatenLösung weitergehen soll nach diesem September. Es gibt Gründe, aus Solidarität mit Israel gegen eine Anerkennung Palästinas zu stimmen. Aber den Israelis muss klar werden, wie hoch der Preis ist, einem Volk etwas zu verweigern, was ihm zusteht. Siehe auch Politik Seite 12/13 www.zeit.de/audio

M

Niemand soll in dieser Krise behaupten, er wisse wo es langgehe Jüngstes Opfer ist die Idee einer freien Europäischen Zentralbank. Gedacht war sie als eine Art Tafelrunde der Stabilitätsritter. Unabhängig und unpolitisch. Aber weil die Regierungen angesichts der drohenden Griechenpleite zauderten, sprangen die Ritter ein und kauften gegen ihren heiligsten Schwur notleidende Staatsanleihen auf. Erst griechische, zuletzt auch italienische und spanische. Fast 150 Milliarden Euro hat die Zentralbank dafür ausgegeben. Geht ein Teil des Einkaufswerts verloren, ist sie selbst pleite, und Euroland muss sie auslösen. Unabhängig und unpolitisch war gestern. Zunächst hat dieses Gebaren den führenden deutschen Notenbanker Axel Weber vertrieben, jetzt auch seinen Mitstreiter Jürgen Stark. Mit ihnen geht die urdeutsche Idee, dass Zentralbanker nicht Politiker spielen dürfen, weil sie sonst ihre Mission gefährden. Eigentlich müsste sich Berlin empören, aber nichts da. Vielmehr werden die Währungshüter durch zwei hochrangige Politikhelfer ersetzt, die viel Erfahrung haben – im Retten von Banken und Staaten. Der Zentralbankchef Jean-Claude Trichet darf im kalten Zorn seine hiesigen Kritiker beschimpfen,

ohne dass die Regierung widerspricht. Die gegenseitige Abhängigkeit ist perfekt. Nicht dass der honorige Franzose sich seine historische Entscheidung leicht gemacht hätte. Doch indem er die Rechnung übernimmt, lässt er Deutschland und die anderen Euro-Länder davonkommen mit ihrer Unfähigkeit zu entscheiden, wie es mit Athen und dem Euro dauerhaft weitergehen soll. Sie haben sich von Rettung zu Rettung geschleppt, aber immer nur zum halben Preis. Die wahren Kosten werden verschleiert, wann immer Trichet einkaufen geht. Mit dem Sündenfall der Zentralbank kamen die Halbwahrheiten. Bis heute sagt die Koalition der Retter, Trichet habe keine Wahl gehabt, als er gegen seine Statuten verstieß. Natürlich hatte er eine Wahl. Ohne ihn hätte Euroland gleich entscheiden müssen, ob ein griechischer Schuldenschnitt nicht billiger wäre als der fortwährende Rettungsversuch. Aber wenn Griechenland fällt, so geht das Argument weiter, dann würden sich die Spekulanten auf Spanien und Italien stürzen. Bloß haben sie das längst getan. Als deutsche Bürger skeptisch wurden, hielt man ihnen entgegen, kein Land profitiere mehr vom Euro als das ihre. Im Jahr 2011 ist das auch so, im vergangenen Jahrzehnt aber litt die wachstumsarme Bundesrepublik lange unter den hohen gemeinschaftlichen Zinsen. Der neueste Clou ist die Behauptung, Euroland dürfe die Griechen gar nicht hinauswerfen, weil das in keinem Paragrafen vorgesehen sei. Also bitte, im Laufe der Staatsschuldenkrise hat man fast jedes Prinzip der Währungsunion gebrochen – und jetzt ist etwas ausgeschlossen, bloß weil es gar nicht geregelt ist? Europa hat solche Verteidiger nicht nötig. Niemand soll in dieser Krise sagen, er wisse genau, wo es langgehe. Aber es ist Zeit für Ehrlichkeit. Der Euro ist heute jeden Kampf wert, sofern er eine realistische Erfolgschance hat. Die Rettung der Unrettbaren gehört dazu nicht. Griechenland braucht einen Schuldenschnitt und danach Wirtschaftshilfe. Andernfalls verliert sich Europa im griechischen Dauerdrama. Gleichzeitig müssen alle Euro-Länder den Verzicht auf neue Schulden in ihre Verfassungen schreiben. Das ist kein Allheilmittel gegen schummelnde Staaten, aber die stärkste Fessel, die sich Euroland anlegen kann. Und im Gegenzug zur Einrichtung eines europäischen Währungsfonds müssen Schuldensünder künftig automatisch bestraft werden. Sonst drohen Kungeleien unter den Südländern, und die sind in Euroland nun einmal in der Mehrheit. Als erste Handlung muss der Fonds außerdem der Zentralbank ihre Staatsanleihen abkaufen, damit sie noch eine Chance auf Unabhängigkeit erhält. Erst dann kann Europa glaubwürdig versichern, dass nach dem Sonderfall der Griechen kein Land mehr fällt. www.zeit.de/audio

ZEIT ONLINE Beim Filmfest in Toronto versucht sich Regisseur Roland Emmerich an Shakespeare Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/filmfest-toronto

PROMINENT IGNORIERT

15 Monate? Ach was! Eine zwischen Holland und Frankreich gelegene Landfläche begeht dieser Tage den Weltrekord in Regierungslosigkeit. So muss man es, »Belgien«, richtigerweise umschreiben. Sein eigentliches Problem besteht darin, dass dort zwar Flamen und Wallonen siedeln, aber eben, il n’y a pas de Belges, es keine Belgier gibt, wie ein weitsichtiger Sozialistenführer schon 1912 dem König beschied. Das ist der wahre Rekord: Ein Staat ohne Volk: seit 1831! BIT Kl. Fotos v.o.n.u.: Michael Herdlein für DZ; Jason Bell/Camera Press/Picture Press; Getty Images

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] Abonnement Österreich, Schweiz, restliches Ausland DIE ZEIT Leserservice, 20080 Hamburg, Deutschland Telefon: +49-1805-861 00 09 Fax: +49-1805-25 29 08 E-Mail: [email protected]

AUSGABE:

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Feind wird Mensch

Im »Kultursommer« der ZEIT ein Interview mit Isabelle Huppert und vieles mehr Seite 73–84

4 1 90745 104005

Illustration: Peter M. Hoffmann für DIE ZEIT/www.popculture.de

Sind die Roten noch zu retten?

15. Sept September p emberr 2011 2011 20 11 DIE DIE ZE DI Z ZEIT EIT No 38

14 15. September 2011

ÖSTERREICH

DIE ZEIT No 38 T I T E LG E S C H I C H T E

DONNERSTALK

Nicht von dieser Erde

Foto: Ingo Pertramer

Nur besonders intime Kenner der österreichischen Innenpolitik hatten bisher eine vage Vorstellung davon, worum es sich bei der mysteriösen Formation Bündnis für die Zukunft Österreichs handeln könnte. Nein, kein alpenländisches Brauchtumswerk, auch keine freiwillige Katastrophenaufräumtruppe verbirgt sich hinter diesem Kunstbegriff, sondern eine politische Partei (zumindest nach den Kriterien des Parteiengesetzes), die ihren Ursprung in der südlichen Sonnenregion der Republik hat. Aus diesem tristen Mauerblümchendasein will der honorige Männerbund nun, koste es, was es wolle, ausbrechen. Stoßgebete zu allen 14 Nothelfern brausten zum Himmel. Einer hat sie erhört, wahrscheinlich Sankt Vitus, der bei Geisteskrankheiten (und dazu

Alfred Dorfer kann sich den Respekt vor bibelfesten Politikern nicht versagen

zählt die absolute Gedankenleere) hilft. Er riet der verzweifelten Schar, zu einer »Herbst-Mission« aufzubrechen, auf der sie sich von den Lebensweisheiten seines Chefs inspirieren lassen sollten. Die fänden sich alle im Buch der Bücher, von Alpha wie Armageddon bis Omega wie ... na ja, ist nicht so wichtig. Aber dort steht etwa auch geschrieben: »Denn sie wissen nicht, was sie tun«, ein Satz, der schallt wie die siebente Posaune vor Jericho. Einer der großen Intellektuellen unter der Sonne aller Solarien, ein Spruchgelehrter namens Stefan Petzner, war es, der die Urgewalt der Sentenz sofort erkannte, die gewiss die Mauern der roten, schwarzen, blauen und grünen Hochburgen wird einstürzen lassen. Fiebrig blätterte er weiter in dem wundertätigen Text. Bei »Denn sie säen Wind und werden Sturm ernten« blieben seine Augen hängen. Fluchte da nicht schon vor Tausenden Jahren ein zorniger Himmelvater der europäischen Währungsunion? Gewiss, im Anfang war das Wort, doch das Wort war, bei Gott, nicht alles. Heute weiß man, dass den Worten Taten folgen müssen, soll das Werk gelingen. Doch, was tun? Jetzt stehen sie da, die armen Toren und sind so klug als wie zuvoren. Vielleicht hilft dieser fromme Wunsch: »Gehet hin in Frieden!« Und bleibt bitte dort.

Heute retten wir die Roten! Mitglieder laufen davon, und Ideen sind Mangelware – die SPÖ durchlebt schwere Zeiten. Doch junge Genossen versuchen, die Partei auf Vordermann zu bringen VON FLORIAN GASSER UND JOACHIM RIEDL

O

ft sind sie noch grün hinter den Ohren. Dennoch sind sie unbequem und mischen sich ein. Ungefragt. Und sie verhalten sich gegen den Trend. Während junge Österreicher immer häufiger angewidert von Skandalen und Intrigen der Politik den Rücken kehren und höchstens noch in Nichtregierungsorganisationen gegen Schweinekobel oder Gengemüse kämpfen, setzen sie einen überraschenden Schritt. Sie treten ein in die SPÖ, in die stolze Traditionspartei, die bald 125 Jahre auf dem Buckel hat und als überaltert und strukturkonservativ gilt, der die Ideen ebenso abhandengekommen sind wie ein Leitbild ihrer selbst.

Das sind nicht die smarten jungen Roten, die sich flink auf der Karriereleiter hochhanteln und sich brav der täglichen Befehlsausgabe fügen. Die neuen Genossen sehen sich überwiegend als Störenfriede, die ein wenig Unruhe in die Machterhaltungsmaschine der Zentrale bringen wollen. Einen Vorgeschmack darauf, was sich da im Schoß der Partei zusammenbrauen könnte, erhielten die roten Würdenträger am Parteitag der nach wie vor mächtigen Wiener Landesorganisation. In einem sorgfältig vorbereiteten Handstreich überrumpelte die aufrührerische Truppe der Sektion 8 rund um den 28-jährigen Volkswirt Niki Kowall den gut geölten Abstimmungsautomaten. Mit einem leidenschaftlichen Plädoyer überzeugte er eine

Mehrheit der Delegierten, sich für ein Verbot des kleinen Glücksspiels auszusprechen. Anfänglich glaubten die Spitzenfunktionäre, es handle sich lediglich um einen blöden Betriebsunfall. Natürlich dachten sie keine Sekunde daran, den nach den Statuten bindenden Beschluss in die Tat umzusetzen, schließlich spülen die Abgaben für die einarmigen Banditen jährlich 55 Millionen Euro in die Stadtkasse. Doch der Konflikt ist weit davon entfernt, entschieden zu sein. Die Fußsoldaten verweigern den Gehorsam. Rädelsführer Kowall kryptisch: »Ich habe den Eindruck, die Basis, die Masse derer, die am Parteitag für das Verbot gestimmt hat, wird sich nicht so einfach mit einer Alibilösung abspeisen lassen.«

Das Wiener Beispiel ist keine Eintagsfliege. In vielen Bundesländern fanden in den vergangenen Monaten junge Genossen den Weg zur Glucke Sozialdemokratie. Sie taten dies nicht, wie das früher häufig der Fall war, weil sie sich einen persönlichen Vorteil erhoffen würden – die Posten und Pfründen, über die rote Funktionäre noch die Verfügungsmacht in Händen halten, schwinden zunehmend dahin. Zumeist klingen die Motive ein wenig diffus, die Vorstellungen über konkrete Politik sind oft unbestimmt und bescheiden sich mitunter in einer Schlagwort-Moral. Doch fast alle sind zugleich beseelt von dem Wunsch, sich an der gesellschaftlichen Entwicklung in ihrem Land zu beteiligen. Und sie sind davon über-

Parteinovizen wollen den alten Karren wieder flottmachen

Illustration: Peter M. Hoffmann für DIE ZEIT/www.popculture.de; Fotos: pixelkinder.com (o.l.); privat (o.r.); Florian Gasser (u.l.); Mondavio (u.m.); privat

ÖSTERREICH

»Für das Ideal einer gerechten Welt«

»Um der Jugend Werte zu vermitteln«

Ich habe mich schon in jüngeren Jahren für Politik interessiert, doch irgendwann wurde mir das zu wenig, ich wollte mitgestalten. Seit ich studiere, engagiere ich mich auch in der Österreichischen HochschülerInnenschaft. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der sich in der Bildungspolitik viel tut, ist es mir wichtig, dass ich mitreden kann. Die SPÖ ist die Partei, in der ich meine Ideale und Überzeugungen von einer sozial gerechten Welt, von Gleichberechtigung und Umverteilung am ehesten verwirklichen kann. Viele dieser Werte wurden mir sicher in der Erziehung vermittelt. Doch mit den Grundwerten ist es derzeit ein wenig schwierig, zu hundert Prozent scheint die Partei nicht hinter ihnen zu stehen. Ich finde, in einer Koalition ist es wichtig, die eigenen Ideale zu verteidiAlina Stummer, 21, gen und daran festzuhalstudiert Soziologie ten, Punkte zu haben, bei in Linz und ist seit denen man auf keinen Fall April 2011 SPÖumfallen darf. Der freie Mitglied Hochschulzugang ist so etwas, da verlangen auch die WählerInnen, dass die SPÖ hart bleibt. Eine sanfte Erneuerung der Partei täte ihr sicher nicht schlecht. Projekte wie morgen.rot in Oberösterreich (ZEIT Nr. 19/11) finde ich gut. Aber es ist immer ein langer Prozess, wenn man sich neu orientieren möchte. Ein großes Problem ist, dass die Partei zu wenig junge Leute anspricht. Die SPÖ Oberösterreich muss bis zur nächsten Wahl ein klares Signal setzen und vermehrt junge Menschen in Schlüsselpositionen bringen. Ich würde mir schon wünschen, dass man ein neues Gesicht findet, mit neuen Ideen. Damit frischer Wind in die Partei kommt.

Ich bin der SPÖ beigetreten, weil ich mich in der Jugendarbeit engagieren und Werte vermitteln möchte. Für mich ist es wichtig, dass es eine Partei gibt, die den Menschen nahesteht und nicht der Wirtschaft. Dafür kann die SPÖ stehen. Sozialdemokratie bedeutet nämlich mehr als das, was durch die Personen an der Spitze einer Partei repräsentiert wird. Aber natürlich ist es schwierig geworden. Die Meinungsbilder werden von den Großen gemacht, die man im Fernsehen sieht, von Werner Faymann etwa. Gerade die Bundespartei driftet von dem ab, was diese Partei einmal ausgemacht hat. Nur Kompromisse zu schließen und nicht mehr das zu vertreten, wofür man eigentlich stehen soll, ist traurig. Natürlich hat die SPÖ bei Themen wie der Reichensteuer derzeit die Nase vorSimon Grundner, ne, doch Ergebnisse habe 25, ist Sozialversiich keine gesehen. cherungsangestellter Eine Erneuerung der aus Köflach und seit Sozialdemokratie und ein Jänner 2011 SPÖWiederfinden der wirkliMitglied chen Werte täten der Partei gut. Wir müssen unsere grundsätzlichen Gedanken verbreiten, abseits der Tagespolitik, und nicht an die Öffentlichkeit bringen, was wir in den nächsten zwei Jahren erreichen wollen und dann sowieso nicht halten. Doch immer wenn es uns schlecht geht und von Erneuerung die Rede ist, dann wird Bruno Kreisky hervorgeholt. Die Partei lebt manchmal zu sehr in der Vergangenheit. Trotzdem bin ich Optimist. In meinem Bezirk möchte ich im Kleinen beginnen, ich möchte die Jugend wieder zur Politik hinführen. Wenn jeder im Kleinen anfängt, dann kann Großes passieren. A

zeugt, dass die SPÖ nach wie vor über genügend gestalterische Kraft verfügt, um den alten sozialdemokratischen Idealen zum Durchbruch zu verhelfen. Das mag sich zwar als gehöriger Trugschluss herausstellen – doch einen Versuch ist es den Novizen der Bewegung allemal wert (siehe die Selbsteinschätzungen auf dieser Seite). Für die Parteizentrale kommt der unbotmäßige Neuzugang überraschend. Seit Jahrzehnten verwaltet sie den Niedergang der einstigen Massenpartei. Auf ihrem Zenit, in der Ära von Bruno Kreisky, versammelte sie 1979 noch 721 000 Mitglieder in ihren Reihen, genau vierzig Jahre später (aktuellere Zahlen sind nicht verfügbar) sind von

dieser breiten Basis noch 243 462 Genossen übrig geblieben (zum Vergleich: Die Volkspartei zählt 700 000 Mitglieder zu ihren Gefolgsleuten, eine Zahl, die jedoch nur mit Vorsicht zu genießen ist). Damit ist die SPÖ im europäischen Vergleich zwar nach wie vor eine mächtige Partei, ihre deutsche Schwester SPD verfügt in Relation dazu nicht einmal über ein Fünftel dieser Mitgliederstärke, doch der Erosionsprozess nagt seit Langem ungehindert an der roten Substanz, die gerade noch für einen Kanzlerwahlverein ausreicht. Verantwortlich dafür, das behaupten Wissenschaftler der Universität Göttingen in einer neuen europäischen Studie (Genossen in der Krise), sei vor allem die Partei selbst. Sie reagierte hilflos auf

den strukturellen Wandel in Österreich, wo nicht mehr Sozialpartner und verstaatlichte Industrie den Ton angeben. Früher war das tradierte Konzept einer hierarchisch organisierten Kaderpartei maßgeschneidert. Nach dem »Bruch des sozialpartnerschaftlichen Friedensabkommens« habe es allerdings ausgespielt. Heute benötige die SPÖ »glaubwürdige Botschaften« und »schlüssige Perspektiven« und müsse sich zu einer »offenen Partei« wandeln, die »interessierten Bürgern Gelegenheit zur Mitbestimmung ermöglicht«. Selbst wenn dadurch der Wille der Hierarchen in die Schranken gewiesen wird. Je mehr es unten an der Basis unter ihren Röcken rumort, desto besser ist es um die Zukunft der alten Dame bestellt.

»Weil nur Parteien Politik machen«

»Studiengebühren wären Verrat«

»Zeigen, dass Strache keine Lösung ist«

Ich war schon immer Sozialdemokrat, ebenso wie meine Eltern. Doch mit den Jahren wurde der Leidensdruck immer größer. Seit der Regierungsbildung 2007 ist die SPÖ nur mehr dem Namen nach sozialdemokratisch. Ich habe dann beschlossen, dass ich nicht schmollen, sondern etwas verändern möchte, und habe mich lange umgesehen, wo ich mich in der Partei engagieren könnte. Die Ziele der Sektion 8 haben mich überzeugt. Sie will wieder zu den sozialdemokratischen Werten zurück wie etwa einer höheren Besteuerung von Vermögen, stärkeren Kontrollen von Banken und dem Verzicht auf Studiengebühren. Die derzeitige SPÖ-Führung argumentiert viel zu oft mit Sachzwängen: Natürlich kann man eine europäische Sozialpolitik oder eine gemeinsame Unternehmenssteuer nicht allein in Österreich beschließen. Aber man könnte doch zumindest die Initiative dafür ergreifen, das wäre doch die Grundidee der EU. Stattdessen schreibt Faymann Briefe an die Kronenzeitung Stefan Gerlich, 30, und sagt genau das ist Physiker, lebt in Gegenteil von dem, Wien und ist seit was die EU eigentMai 2011 SPÖlich sein soll. Warum Mitglied er das tut, ist mir ein Rätsel. Auf lokaler Ebene wiederum wird etwa der Wiener Parteitagsbeschluss, der ein Verbot des kleinen Glücksspiels fordert, einfach ignoriert. Es soll nun eine Kompromisslösung in dieser Frage geben. Doch Kompromiss mit wem? Der Koalitionspartner muss hier nicht überzeugt werden. Warum sich die Parteispitze den Interessen der Glücksspielindustrie eher verpflichtet fühlt als der eigenen Basis, ist mir ein Rätsel. Ich will die Partei verändern, und dafür müssen die Parteistrukturen anders werden. In Frankreich oder Italien gibt es auf den Parteitagen der Sozialisten tatsächlich Wahlmöglichkeiten. Das wäre für uns unglaublich. Hier ist das fast wie im Kommunismus: Das Zentralkomitee schlägt etwas vor, und das wird dann abgenickt. Es gibt keine Diskussionskultur. Ich finde es wichtig, Mitglied einer Partei zu sein. Denn dort wird Politik gemacht und nicht in NGOs, in die viele flüchten. Nach 2007 gab es eine große Austrittswelle bei der SPÖ, von Leuten, die frustriert waren. Doch wenn alle austreten, dann bleiben nur die Jasager übrig. Aber das ist unsere Partei, und die lassen wir uns nicht nehmen.

Ich bin in die SPÖ reingerutscht. Ich war im Gymnasium Schulsprecherin und habe dadurch die »Aktion kritischer SchülerInnen« (SPÖ-Vorfeldorganisation für Schüler, Anm. d. Red.) kennengelernt und später die SPÖ. Politisch interessiert war ich schon immer, und ich wollte mich engagieren. Deshalb bin ich der Partei beigetreten. Sozialdemokratie ist die einzige Ideologie, die positive Zukunftsaussichten bietet und für soziale Gerechtigkeit sorgen kann. Die SPÖ ist keine perfekte Partei. Ich kann verstehen, dass viele mit ihr unzufrieden sind. Natürlich muss man in einer Koalition Kompromisse eingehen, aber dabei trotzdem sich selbst immer treu bleiben. Und gerade momentan steht sie nicht immer hinter ihrer Ideologie, und nach außen hin ist nicht klar, was sie eigentlich will. Wenn sich Gabi Burgstaller (SPÖ-Landeshauptfrau von Salzburg, Anm. d. Red.) etwa für Studiengebühren starkmacht, dann ist das ein Problem. Würden diese mit Zustimmung der Anja Wiesflecker, SPÖ wieder einge19, ist angehende Studentin, lebt in Ab- führt werden, wäre das ein Verrat der sam und ist seit Mai Partei an sich selbst. 2011 SPÖ-Mitglied Ich würde nicht austreten, aber stark dafür kämpfen, dass die Studiengebühren wieder abgeschafft werden – und mit mir auch die anderen Jugendorganisationen. Von Werner Faymann war ich lange Zeit nicht sehr überzeugt. Mir hat das Durchsetzungsvermögen in der Regierung gefehlt. Doch inzwischen habe ich eine bessere Meinung von ihm. Vor allem sein Auftritt beim ORF-Sommergespräch hat mich versöhnt. Er hat sich stark präsentiert und klar gesagt, wofür er steht. Das habe ich lange Zeit vermisst. Er kämpft jetzt wirklich für eine Vermögensteuer, betont die soziale Gerechtigkeit und ist, was mir sehr wichtig ist, ein Garant gegen Rot-Blau. Dass der SPÖ Wankelmütigkeit vorgeworfen wird, etwa in der Frage der Wehrpflicht, kann ich nicht nachvollziehen. Man muss mit der Zeit gehen und alte Standpunkte auch aufgeben können. Für die Partei wünsche ich mir, dass Faymann noch eine Amtszeit lang Bundeskanzler bleibt, aber auch, dass sie mehr zur ihrer Ideologie steht, damit die Menschen wieder wissen, wofür die SPÖ tatsächlich eintritt.

Die SPÖ wurde mir in die Wiege gelegt. Mit 20 Jahren wurde mein Vater Mitglied, und natürlich wird man zu Hause politisch sozialisiert. Schon in der Schulzeit war ich sehr an Politik interessiert, und es war klar, dass für mich nur die SPÖ infrage kommt. Werte wie soziale Gerechtigkeit sind mir wichtig. Der ausschlaggebende Grund beizutreten war, dass Leute wie HC Strache mit einfachen Mitteln sehr viele Leute aufwecken können. Aggressiv und plump zieht er Menschen, die vor einigen Jahren noch die SPÖ gewählt haben, auf seine Seite. Dazu kam, dass in meinem Bezirk eine Bürgerliste drei Mandate bei den Gemeinderatswahlen 2010 gewann, die von einem ehemaligen SPÖ-Mitglied geleitet wird. Ähnlich wie Strache hat er mit plumpen Wahlslogans und Schlechtreden der Gemeindearbeit gepunktet. Von ernst gemeinten Verbesserungsvorschlägen keine Spur. Ich möchte mitarbeiten, Leute aufrütteln und zeigen, dass sich vieles in unserem Land ändern muss, wenn Manuel Pirker, 26, wir wollen, dass es ist Abteilungsleiter auch unseren Kinin einem Möbelhaus, lebt in Leoben dern noch gut geht. Ich möchte zeigen, und ist seit Jänner dass Strache keine 2011 SPÖ-Mitglied Lösung ist. Es geht nicht nur ums Ausländerthema. Doch gerade da hat keine Partei ein Rezept. Einzig die FPÖ behauptet zu wissen, wie es funktionieren könnte. Die SPÖ sollte sich ein realistisches Konzept überlegen, denn wir können mehr bieten als freiheitliche Angstmache. Ich bin politisch nicht links, sondern ausgewogen. Mit der derzeitigen SPÖ kann ich mich rundum identifizieren. Deshalb bin ich eingetreten, warum sollte man sonst Mitglied werden? Natürlich gibt es innerparteiliche Kritik, die darf es auch geben, und man sollte versuchen, jene, die uns den Rücken gekehrt haben, wieder ins Boot zu holen. Dabei dürfen wir aber nicht zu weit nach links abdriften. Wenn die Kritik allerdings an die Öffentlichkeit getragen und der Parteiführung über die Medien ausgerichtet wird, was an ihr alles schlecht sei, ist das nicht zielführend. Vielleicht sollten diese Leute überlegen, ob sie sich nicht etwas anderes als die SPÖ suchen sollten. Ich finde, die Sozialdemokratie ist auf einem sehr guten Weg. Eine Reform der Partei halte ich nicht für notwendig. Der Kurs auf Bundesund Kommunalebene sollte so weitergehen.

16 15. September 2011

ÖSTERREICH

DIE ZEIT No 38

AUSSERDEM

Sumpfblüten

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Plötzlich ist die SPÖ wieder im Spiel –bloß, wie lange?

Foto: Simone Marent/APA/picturedesk.com

Es blubbert und schmatzt. Faulig dünstet das Land. Die ganze Republik ist versumpft, wer wollte das leugnen? Hüfttief waten die Menschen durch die eklige Brühe und versinken mit jedem Tag tiefer in dem Gebräu, das verseucht ist von allem Scheusal aus sieben Regierungsjahren. Bald wird es bis zum Hals reichen und immer weiter steigen. Die giftigen Schlieren schimmern in verräterischen Farben. Man kennt ja auch die gefräßigen Echsen, die sich jetzt ganz tief in der Unschuldsvermutung verkriechen, darauf hoffend, diese letzte Zuflucht auf absehbare Zeit nicht zu verlieren. Aber handelt es sich dabei nicht um verkannte Lebewesen, sollten sie nicht besser unter Artenschutz gestellt werden? Es gibt ein paar mutige Sumpfprediger, die diesen kühnen Gedanken vertreten. Männer, die sich Respekt bewahrt haben vor jeglicher Kreatur, so unansehnlich sie auch auf den ersten Blick anmuten mag. Einer dieser wortgewaltigen Moralapostel ist der Klubobmann der Volkspartei. Erst am Dienstag, als alle, wirklich alle Abgeordneten im Parlament gelobten, sie würden nun die Sumpfrepublik trockenlegen, da riss er ihnen die Pharisäermaske vom Gesicht. Er werde es nicht zulassen, sagte er empört, dass nun das Heldenzeitalter seiner Partei besudelt werde. Verdanke nicht vielmehr das Land dieser Epoche und ihrem Propheten, der sich nun leider kürzlich verabschiedet hat, blühende Landschaften? Wer hätte damals ahnen können, dass sich unter dieser paradiesischen Pracht ein Sumpf ausbreiten würde, wie unter dem Pflaster der Strand. In Wahrheit gehe es doch all den Sumpfjägern, ja dieser hinterhältigen Jagdgesellschaft nur darum, zu verhindern, dass sich demnächst diese pflichtbewussten und bedachten Leute wieder zusammenfinden, um neuerlich die Landschaft zum Erblühen zu bringen. Ein wenig ist ja noch vorhanden, das gerodet werden muss, da und dort sind ja noch nicht alle staatlichen Beteiligungen ausgerissen. Das meint der Sumpfprediger von der Volkspartei vermutlich todernst. Bloß was treibt ihn dazu, dieses selbstmörderische Bekenntnis zu einem Zeitpunkt abzulegen zu dem sich jedermann die Nase zuhält, um nicht an dem infernalischen Gestank zu ersticken? Möglicherweise hat ihm der betörende Duft der Sumpfblüten die Sinne verwirrt. Möglicherweise werden er und seine Freunde es sein, die verschlungen werden. Vom Sumpf, umpf, umpf... JR

Einmal wird es wohl noch reichen Die SPÖ rüstet sich für den nächsten Wahlkampf und verzichtet dafür auf eine langfristige Strategie VON ANTON PELINKA

W

as wurde aus dem Wahlneffen von Hans Dichand, jenem Werner Faymann, der den Ruf nicht loswurde, den Zurufen des mächtigen Zeitungszaren willig zu folgen? Was geschah mit dem Kanzler ohne Ecken und Kanten? Es scheint fast, als habe er das Gesetz des Handelns an sich gerissen. Ein rundum veränderter, kämpferisch auftretender Bundeskanzler dominiert seit Wochen die Innenpolitik und verdammt den konservativen Koalitionspartner dazu, auf seine Themensetzung bloß reagieren zu können. Die SPÖ bestimmt die Agenda. Faymann hat sich und seine Mannen in Stellung gebracht. Ein rotes Wunder? Neu sind die roten Themen freilich nicht. Teilweise wurden lediglich alte sozialdemokratische Forderungen aus der Mottenkiste hervorgeholt, wenn etwa in Zeiten wachsender Ungleichheit mit dem Slogan von der »sozialen Gerechtigkeit« die »Reichen« verstärkt zur Kasse gebeten werden sollen. Für andere Themen wiederum hat die SPÖ ihre traditionellen Positionen hinter sich gelassen: Unter Berufung auf einen europäischen Trend, tritt man nun etwa für die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht ein. Der Koalitionspartner wurde damit auf dem falschen Fuß erwischt. Denn ein Berufsheer wäre ein klassisches ÖVP-Thema gewesen. Faymann hat sich nicht nur inhaltlich, sondern auch taktisch geschickt positioniert. Er etabliert sich als Anti-Strache – so wie einst Franz Vranitzky in die Rolle des Anti-Haider geschlüpft war. Auf der Strecke bleibt dabei der Kanzleranspruch der ÖVP. Und die Grünen müssen sich damit abfinden, in diesem Konflikt als Kollateralschaden ihre Chancen schwinden zu sehen. In einem Duell zwischen SPÖ und FPÖ sind sie ebenso wenig gefragt wie später nach geschlagener Wahlschlacht als Reservearmee, welche die Mehrheit beschafft. Solange die FPÖ die am stärksten polarisierende Partei Österreichs bleibt, ist die Sozialdemokratie gut beraten, der verlässliche Gegenpol zu den fremdenfeindlichen und antieuropäischen Positionen der Freiheitlichen zu sein. Faymann hat mit seiner Themensetzung den roten war room für den nächsten Wahlgang bereits aufmunitioniert. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis das Twitter-Gewitter losbricht. Hinter dem taktischen Getöse werden allerdings die strategischen Probleme der Sozialdemokratie immer deutlicher. Zwar hat die Partei gute Chancen, die Rolle der relativen Mehrheitspartei zu verteidigen, um am Wahlabend als logische Kanzlerpartei zu gelten und dem einzigen möglichen Koalitionspartner, einer vermutlich schmerzhaft geschwächten ÖVP, ein Angebot zu machen, das diese nicht wird ablehnen können. Doch was die vielversprechende, kurzfristige Taktik

nicht beantworten kann, ist die Frage nach der langfristigen Strategie der SPÖ. Dazu schweigen sich Faymann und seine Partei aus. Was fehlt, ist der notwendige Bruch mit einer Reihe sozialdemokratischer Tabus: eine schlüssige Bildungspolitik, der zur Situation der österreichischen Universitäten mehr einfällt als der Reflex, Studiengebühren verhindern zu wollen; eine konsequente Europapolitik, die nicht nur Lippenbekenntnisse zu Integrationsschritten wie einer Europäischen Wirtschaftsregierung abgibt, nur um zugleich vor deren neoliberalen Orientierung zu warnen; und eine Migrationspolitik, die von der Realität ausgeht, dass Österreich ein Einwanderungsland ist und es, nicht zuletzt aus Eigeninteresse, auch bleiben soll. In der Schulpolitik verfügt die SPÖ über ein klares Profil, in der Universitätspolitik verweigert sie sich hingegen hartnäckig. In der Europapolitik mimt Faymann zwar den energischen Vertreter österreichischer Interessen, seine Definition von europäischen Interessen bleibt er im Gegenzug gänzlich schuldig. Und eine Migrationspolitik fehlt vollkommen. Die SPÖ lässt sich zwischen dem polemischen Boulevard und einer völlig anderslautenden Realität einfach treiben. Jede strategische Platzierung in diesen Politikfeldern betrifft die Interessen bestimmter Wählergruppen: sozialistische Studenten, die sich als einzige Genossen zur Situation der Universitäten äußern und damit die ganze Partei in Geiselhaft halten. Sozialdemokratische Gewerkschafter und Arbeiterkämmerer, die der Illusion nachlaufen, der »österreichische Weg« könnte in einem sich einigenden Europa bewahrt werden. Die verängstigten Modernisierungsverlierer, die Zuwanderung als Bedrohung und nicht als Chance sehen. Es ist verständlich, wenn sich die SPÖ nicht danach sehnt, mit dieser seltsamen Melange sozialdemokratischer Wählerschichten einen Konflikt einzugehen. Sie steuert lieber einen Wohlfühlkurs. Doch damit droht die Sozialdemokratie mangels eigenem Profil früher oder später überflüssig zu werden. Indem er derzeitig einige Ecken und Kanten erkennen lässt, hat Werner Faymann dieser Bedrohung zwar zunächst einmal entgegengewirkt. Doch seine Forderungen schmerzen kaum jemanden. Bis 2013 könnte das genügen, um den Status quo der Kanzlerpartei abzusichern. Doch darüber hinaus? Wer denkt schon so weit. Die SPÖ ist für die nächsten Jahre gut aufgestellt und wird sich wohl im nächsten Wahlkampf mehr oder weniger erfolgreich schlagen. Ihr grundsätzliches Strategieproblem schiebt sie jedoch weiter vor sich her: Sie will niemanden außer einer Handvoll von Millionären vergrämen. Sie ist und bleibt eine Allerweltspartei.

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DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

15. Sept September p emberr 2011 2011 20 11 DIE DIE ZE DI Z ZEIT EIT No 38

Wer ohne Sünde ist DIE ZEIT fürs iPad Jeden Mittwochabend bereit zum Download: Die neue digitale Ausgabe der ZEIT Ab sofort im App-Store

ThekenTräume

Strafen oder vergeben – wie soll der Papst mit Menschen umgehen, die an der katholischen Moral scheitern? Vor dem Besuch Benedikts XVI. in Deutschland ist darüber ein heftiger Richtungsstreit entbrannt DOSSIER SEITE 17–19, GLAUBEN & ZWEIFELN SEITE 70 –72

Unterwegs mit dem legendären Barmann Charles Schumann Von Moritz von Uslar ZEITmagazin Seite 20

Titelfoto: Papst Benedikt XVI. begrüßt eine Frau in der Basilika Santa Maria degli Angeli bei einem Treffen mit Jugendlichen (Assisi, 17. Juni 2007); © Tony Gentile/Reuters

Israel will die Anerkennung Palästinas verhindern. Es begreift die Chance des Arabischen Frühlings nicht VON ALICE BOTA

Europa muss sich endlich ehrlich machen: Schuldenschnitt für Griechenland, Schuldenbremse für alle VON UWE JEAN HEUSER

A

it jedem neuen Versuch wird uns die Rettung Griechenlands vertrauter. Das griechische Volk beschimpft seine Politiker, weil sie zu viel sparen. Die Euro-Kontrolleure reisen an und zornig wieder ab, weil Athen seine Sparversprechen trotzdem nicht erfüllt. Dann geben sich die Griechen den üblichen Ruck – nur um kurze Zeit später achselzuckend festzustellen, sie brauchten leider doch mehr Geld als gedacht. Die Deutschen erklären in aller gebotenen Strenge, es gäbe keinen Rabatt für Athen, und nicken kurz darauf die nächste Tranche ab. Griechenland ist die Wiege des Theaters, und heute führt es ein Stück auf mit der ganzen Welt als Publikum. Allein, die Hoffnung auf ein glückliches Ende ist zerstoben, weil sich die traurige Wahrheit nicht länger verbergen lässt. Griechenland ist pleite. Das südlichste Euro-Mitglied hat nicht etwa ein lösbares Bankenproblem wie Irland, nicht eine Immobilienkrise wie Spanien, es leidet auch nicht bloß an fortgesetztem Regierungsversagen wie Italien. Es hat schlicht mehr Schulden, als es bei seiner schmalen Wirtschaftskraft und seinem verlotterten Finanzwesen je abzahlen kann. Die Behauptung, Griechenland sei zu »retten«, ist also eine (Selbst-)Täuschung. Berlin und Brüssel haben sie aufrechterhalten, weil sie hofften, die Krise würde schnell vorüberziehen. Danach wäre eine Umschuldung kein Drama mehr. Tatsächlich aber sorgen sie auf diese Weise dafür, dass die Krise täglich schlimmer wird.

uch das ist der Arabische Frühling: Es brennt die israelische Botschaft in Kairo, jüdische Mitarbeiter müssen aus Angst vor einem ägyptischen Mob fluchtartig das Land verlassen; im Süden Israels töten Raketen Menschen, in der Türkei wird der israelische Botschafter ausgewiesen. Das ist keine zufällige Verkettung einzelner Konflikte. Aus Israels Sicht sind die Ereignisse in der muslimischen Welt außer Kontrolle geraten und bedrohen den jüdischen Staat. Aber die größte Herausforderung steht Israel kommende Woche noch bevor: Der Versuch des palästinensischen Präsidenten Machmud Abbas, eine Vollmitgliedschaft seines Landes bei den Vereinten Nationen zu erstreiten. Es würde faktisch die Anerkennung Palästinas bedeuten. Israels Regierung hat mit der Weigerung, sich ernsthaft mit einer Zwei-Staaten-Lösung zu befassen, die Palästinenser erst dazu getrieben, einseitige Schritte zu unternehmen. Die Palästinenser wiederum spekulieren darauf, dass am Tag nach dem 20. September die arabische Welt sich wegen des schon angekündigten Neins Amerikas und anderer westlicher Mächte empören und ihre Solidarität mit den Brüdern in Palästina zeigen wird; dabei haben ihre Regierungen selbst jahrzehntelang wenig dafür getan, die Situation der palästinensischen Flüchtlinge in ihren Ländern menschenwürdiger zu gestalten.

Titelfoto aus dem Buch »Päpste« von Helge Sobik, edia Düsseldorf 2010

Es gibt auch ein anderes Israel, das die ewige Politik der Vergeltung satthat Die Folgen dieser Politik sind gefährlich, nicht nur, weil sie enttäuschte Palästinenser auf die Straßen treiben dürften. Die muslimische Solidarität könnte sich in Zorn entladen, der Israel heftig trifft. Einerseits, weil der jüdische Staat in der Region verhasst ist. Andererseits, weil die israelische Regierung seit dem Beginn des Arabischen Frühlings keine Sprache für die neuen Ereignisse gefunden hat. Eine neue politische Lage entstand – aber Israel antwortete mit der alten Politik. Premierminister Benjamin Netanjahu hat alle Chancen für eine Kursänderung vorbeiziehen lassen. Er will nicht wahrhaben, dass sich etwas Grundlegendes ändert: Die arabischen Völker erheben sich und verlangen nach Demokratie. Araber und Demokratie, das war vermutlich für viele Israelis ein ähnlich widersprüchliches Wortpaar wie Hoffnung und Naher Osten. So führt sich Netanjahu mitten in der Revolution auf wie ein trauriger Besitzstandswahrer – aber im Umsturz lässt sich nicht business as usual betreiben. Man sollte nicht vergessen, dass es auch ein anderes Israel gibt. Dieses Israel ist es leid, dass Politik zu Siedlungsthemen und Vergeltungsmanövern gerinnt. Zu Hunderttausenden demonstrierten die Menschen in Israel in diesem Sommer. Ihnen ging es nicht um Gaza, auch nicht um Ägypten oder Syrien. Aber sie zeigten, wie

das jüdische Land sich von der Aufbruchstimmung in der arabischen Welt anstecken lässt, wie Ausweglosigkeit sich in Hoffnung verwandeln kann. Netanjahu erklärte diese Hoffnung zur Gefahr. Er hält an seiner Politik der Angst fest. Der Angriff auf die israelische Botschaft in Kairo schürt diese Angst. Noch nie, mit Ausnahme der Erstürmung der amerikanischen Botschaft in Teheran 1979, ereignete sich solch ein Vorfall. Dass ein Land Botschaftsangehörige nicht schützen kann oder will, ist unerhört. Vermutlich wäre dies unter dem Diktator Mubarak nicht passiert. Aber wer deshalb meint, nun das wahre Gesicht des Arabischen Frühlings zu erkennen, der irrt. Der Westen muss akzeptieren, dass die Politik freier Völker (oder solcher, die darum kämpfen, sich frei nennen zu dürfen) anders sein wird als die eines Mubaraks, vielleicht auch hässlicher. Israel war bislang die einzige Demokratie im Nahen Osten, und dennoch hat es den Konflikt mit den Palästinensern durch Unterdrückung zu lösen versucht, hat auf Terror mit Ungerechtigkeit geantwortet. Auch die Demokratisierung des arabischen Raums wird nicht zwangsläufig jetzt und sofort zum Frieden führen. Aber Demokratie auf beiden Seiten bedeutet die einzige Chance auf Veränderung, wenn auch langfristig. Es wird antiisraelische Ausfälle geben, das sind Auswüchse der Arabellion, die Israelis, Europäer und Amerikaner ertragen müssen. Nur eines bleibt unverhandelbar: Neue arabische Regierungen müssen dem Frieden mit Israel verpflichtet sein. Allen, die auf dem Wege sind, Demokraten zu werden, muss dieses Bekenntnis abgerungen werden. Europas und Amerikas Solidarität mit Israel steht außer Zweifel. Doch es hat sich etwas verschoben. Solange die arabischen Staaten Diktaturen waren, die außenpolitische Sicherheit boten, schienen so gut wie alle Mittel legitim zu sein, um Stärke zu demonstrieren. Nun, da sich in den arabischen Ländern die politischen Systeme ändern, wird Israels Politik zunehmend als unangemessen und ungerecht empfunden. Deshalb genießen die Palästinenser weltweit große Unterstützung – die Zeit ist auf ihrer Seite. Den Palästinensern ist viel Unrecht widerfahren, sie verdienen, in ihrem friedlichen Kampf um Selbstbestimmung unterstützt zu werden. Wer befürchtet, dass Israels Sicherheit damit auf dem Spiel steht und deshalb eine Anerkennung Palästinas verweigert – der sollte einen Plan B in der Tasche haben, wie es mit der Zwei-StaatenLösung weitergehen soll nach diesem September. Es gibt Gründe, aus Solidarität mit Israel gegen eine Anerkennung Palästinas zu stimmen. Aber den Israelis muss klar werden, wie hoch der Preis ist, einem Volk etwas zu verweigern, was ihm zusteht. Siehe auch Politik Seite 12/13 www.zeit.de/audio

M

Niemand soll in dieser Krise behaupten, er wisse wo es langgehe Jüngstes Opfer ist die Idee einer freien Europäischen Zentralbank. Gedacht war sie als eine Art Tafelrunde der Stabilitätsritter. Unabhängig und unpolitisch. Aber weil die Regierungen angesichts der drohenden Griechenpleite zauderten, sprangen die Ritter ein und kauften gegen ihren heiligsten Schwur notleidende Staatsanleihen auf. Erst griechische, zuletzt auch italienische und spanische. Fast 150 Milliarden Euro hat die Zentralbank dafür ausgegeben. Geht ein Teil des Einkaufswerts verloren, ist sie selbst pleite, und Euroland muss sie auslösen. Unabhängig und unpolitisch war gestern. Zunächst hat dieses Gebaren den führenden deutschen Notenbanker Axel Weber vertrieben, jetzt auch seinen Mitstreiter Jürgen Stark. Mit ihnen geht die urdeutsche Idee, dass Zentralbanker nicht Politiker spielen dürfen, weil sie sonst ihre Mission gefährden. Eigentlich müsste sich Berlin empören, aber nichts da. Vielmehr werden die Währungshüter durch zwei hochrangige Politikhelfer ersetzt, die viel Erfahrung haben – im Retten von Banken und Staaten. Der Zentralbankchef Jean-Claude Trichet darf im kalten Zorn seine hiesigen Kritiker beschimpfen,

ohne dass die Regierung widerspricht. Die gegenseitige Abhängigkeit ist perfekt. Nicht dass der honorige Franzose sich seine historische Entscheidung leicht gemacht hätte. Doch indem er die Rechnung übernimmt, lässt er Deutschland und die anderen Euro-Länder davonkommen mit ihrer Unfähigkeit zu entscheiden, wie es mit Athen und dem Euro dauerhaft weitergehen soll. Sie haben sich von Rettung zu Rettung geschleppt, aber immer nur zum halben Preis. Die wahren Kosten werden verschleiert, wann immer Trichet einkaufen geht. Mit dem Sündenfall der Zentralbank kamen die Halbwahrheiten. Bis heute sagt die Koalition der Retter, Trichet habe keine Wahl gehabt, als er gegen seine Statuten verstieß. Natürlich hatte er eine Wahl. Ohne ihn hätte Euroland gleich entscheiden müssen, ob ein griechischer Schuldenschnitt nicht billiger wäre als der fortwährende Rettungsversuch. Aber wenn Griechenland fällt, so geht das Argument weiter, dann würden sich die Spekulanten auf Spanien und Italien stürzen. Bloß haben sie das längst getan. Als deutsche Bürger skeptisch wurden, hielt man ihnen entgegen, kein Land profitiere mehr vom Euro als das ihre. Im Jahr 2011 ist das auch so, im vergangenen Jahrzehnt aber litt die wachstumsarme Bundesrepublik lange unter den hohen gemeinschaftlichen Zinsen. Der neueste Clou ist die Behauptung, Euroland dürfe die Griechen gar nicht hinauswerfen, weil das in keinem Paragrafen vorgesehen sei. Also bitte, im Laufe der Staatsschuldenkrise hat man fast jedes Prinzip der Währungsunion gebrochen – und jetzt ist etwas ausgeschlossen, bloß weil es gar nicht geregelt ist? Europa hat solche Verteidiger nicht nötig. Niemand soll in dieser Krise sagen, er wisse genau, wo es langgehe. Aber es ist Zeit für Ehrlichkeit. Der Euro ist heute jeden Kampf wert, sofern er eine realistische Erfolgschance hat. Die Rettung der Unrettbaren gehört dazu nicht. Griechenland braucht einen Schuldenschnitt und danach Wirtschaftshilfe. Andernfalls verliert sich Europa im griechischen Dauerdrama. Gleichzeitig müssen alle Euro-Länder den Verzicht auf neue Schulden in ihre Verfassungen schreiben. Das ist kein Allheilmittel gegen schummelnde Staaten, aber die stärkste Fessel, die sich Euroland anlegen kann. Und im Gegenzug zur Einrichtung eines europäischen Währungsfonds müssen Schuldensünder künftig automatisch bestraft werden. Sonst drohen Kungeleien unter den Südländern, und die sind in Euroland nun einmal in der Mehrheit. Als erste Handlung muss der Fonds außerdem der Zentralbank ihre Staatsanleihen abkaufen, damit sie noch eine Chance auf Unabhängigkeit erhält. Erst dann kann Europa glaubwürdig versichern, dass nach dem Sonderfall der Griechen kein Land mehr fällt. www.zeit.de/audio

Der Schriftsteller über den Tod seines Verlegers Daniel Keel, die Nebelmaschine SVP und die Finanzkrise Politik Seite 16

ZEIT ONLINE Beim Filmfest in Toronto versucht sich Regisseur Roland Emmerich an Shakespeare Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/filmfest-toronto

PROMINENT IGNORIERT

15 Monate? Ach was! Eine zwischen Holland und Frankreich gelegene Landfläche begeht dieser Tage den Weltrekord in Regierungslosigkeit. So muss man es, »Belgien«, richtigerweise umschreiben. Sein eigentliches Problem besteht darin, dass dort zwar Flamen und Wallonen siedeln, aber eben, il n’y a pas de Belges, es keine Belgier gibt, wie ein weitsichtiger Sozialistenführer schon 1912 dem König beschied. Das ist der wahre Rekord: Ein Staat ohne Volk: seit 1831! BIT Kl. Fotos v.o.n.u.: Michael Herdlein für DZ; Getty Images

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Feind wird Mensch

Urs Widmer

14 15. September 2011

SCHWEIZ

DIE ZEIT No 38

FRAGEN SIE DR. NOTTER!

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Sehr geehrter Herr Notter, warum brechen die Parteien jedes Mal in Jubel aus, wenn eigene Regierungsmitglieder zurücktreten? Andernorts sind Ministerrücktritte doch Krisenzeichen für die Parteien

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Foto: Dominic Büttner/pixsil

Das ist auf den ersten Blick in der Tat verwunderlich. Regierungsumbildungen und Ministerwechsel können zwar auch in parlamentarischen Demokratien einen Neubeginn bedeuten. Dann sind aber umstrittene und unpopuläre Regierungsmitglieder betroffen. Bei uns freuen sich die Parteien auch dann, wenn durchaus populäre Regierungsmitglieder zurücktreten. Das hat mit den Eigentümlichkeiten der Schweizer Regierung zu tun. Die Regierung besteht aus sieben gleichgestellten Mitgliedern, die ihre Aufgabe im Kollegium auszuüben haben. Sie entscheiden und vertreten ihre Politik gemeinsam. Das zwingt natürlich zu Kompromissen und verhindert, dass ein profiliertes (parteipolitisches) Programm verfolgt werden kann. Die Mitglieder der Regierung sind vom Parlament auf vier Jahre fest gewählt; die Amtszeit kann vom Parlament nicht verkürzt werden. Und bis vor Kurzem konnten sie mit einer Wiederwahl rechnen. Das führt zu eher langen Amtszeiten und zu Nervosität bei allen, die auch gerne einmal in die Regierung aufsteigen möchten. Die Zahl ist aber fest: sieben. Es gilt ein strenger Numerus clausus der Machtteilhabe. Dieses System gilt im Wesentlichen unverändert seit 1848. Und es wird auch seit dieser Zeit als untauglich, antiquiert, undemokratisch und dringend reformbedürftig qualifiziert. Nur ist bis heute noch keine wirkliche Reform gelungen. Verschiedenste Vorschläge werden immer wieder gemacht, oft aus dem Theorie-Setzkasten der Staatsrechtslehre. Solange aber der Bundesrat so bleibt, wie er ist, so lange werden sich die Parteien über Rücktritte ihrer Mitglieder freuen. Weil sie einen Wechsel ermöglichen und Wechsel zur Demokratie gehören. Es wird auch behauptet, Bundesratsrücktritte würden den betroffenen Parteien bei den Wahlen nützen. So etwas belebe den Wahlkampf, gebe Gelegenheit, das Personal zu präsentieren, und so die Wählerschaft zu beeindrucken. Ob das zutrifft? 1995 hat man dem Sozialdemokraten Otto Stich vorgeworfen, er wolle seiner Partei auf diese Weise ein Wahlgeschenk machen. Sein Nachfolger Moritz Leuenberger wurde nur einen Monat vor den Nationalratswahlen gewählt. Den gleichen Vorwurf machte man den CVP-Bundesräten Flavio Cotti und Arnold Koller, die im Wahljahr 1999 zurückgetreten sind. Ihre beiden Nachfolger Ruth Metzler und Joseph Deiss wurden acht Monate vor den Nationalratswahlen gewählt. 1995 war die SP die große Wahlsiegerin. Sie legte über drei Prozent zu und gewann 13 Nationalrats-

Markus Notter war von 1996 bis 2011 Regierungsrat des Kantons Zürich

mandate. 1999 verlor die CVP zwar leicht an Wähleranteil, konnte aber die Sitzzahl im Nationalrat erhöhen. Diese Ergebnisse können jedoch nicht mit Bundesratsrücktritten erklärt werden. Zu vielfältig sind die Gründe und zu unberechenbar ist unser Wahlsystem, das die Sitze nur nach den Ergebnissen in den Kantonen zuteilt. Und der Rücktritt von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey? Er ist streng genommen gar keiner. Sie beendet ihre Amtsperiode und kandidiert nicht mehr. Deshalb findet keine Ersatzwahl vor den Wahlen statt. Gleichwohl darf man über die Auswirkungen auf die Wahlen spekulieren. Und das machen wir doch alle gern. Mit freundlichen Grüßen Ihr Dr. Markus Notter Markus Notter beantwortet wöchentlich die Fragen der Leserinnen und Leser zur Lage der Nation. Richten Sie Ihre Frage per E-Mail an [email protected]

Fotos: Meinrad Schade (aus dem Buch »Rohstoff - Das gefährlichste Geschäft der Schweiz«, o.); Martin Ruetschi/Keystone/dpa (u.)

Philippe Wehrli, Luzern

Quälende Tatsachen Warum der Rohstoffhandel die Welt ungerechter macht. Und weshalb wir das nicht wahrhaben wollen VON LUKAS BÄRFUSS

Er opfert seine Gesundheit für unseren Wohlstand: Arbeiter in der Mopani-Kupfermine in Sambia

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atsachen finden schwer den Weg ins menschliche Bewusstsein. Manchmal, weil sie zu schmerzlich sind. Und manchmal, weil sie unser Bild von der Welt und wie sie zu funktionieren hat zu sehr stören würden. Solche unangenehmen Tatsachen verstecken wir gerne hinter falschen Begriffen. So reden wir vom »Sonnenuntergang«, obwohl wir seit 500 Jahren, seit Kopernikus, wissen, dass es die Erde ist, die sich um die Sonne dreht. Eigentlich müssten wir vom abendlichen »Erduntergang« sprechen. Wir tun es nicht, weil wir immer noch gekränkt sind, nicht im Zentrum des Universums zu stehen. Wenn also »Sonnenuntergang« unsere Eitelkeit versteckt – was verhüllen dann »Rohstoffgewinnung« und »Energieproduktion«? Wer nämlich in der Physikstunde aufgepasst hat, weiß, wie unzutreffend beide Begriffe sind. Aus dem Erhaltungssatz folgt, dass Energie weder produziert noch vernichtet werden kann. Mit der Materie und damit auch den Rohstoffen verhält es sich ebenso. Warum verschleiern wir diese Tatsachen durch falsche Begriffe? Warum wollen wir sie nicht wahrhaben? Der Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler Nicholas Georgescu-Roegen, 1906 in Konstanza, Rumänien, geboren, 1994 in Tennessee, USA, gestorben, wies in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts darauf hin, dass die klassischen ökonomischen Theorien von einer falschen Grundannahme ausgehen. In der Nachfolge von Adam Smith formten die allermeisten Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ihre Modelle nach dem mechanistischen Weltbild. Mit linearen, gleichförmigen und umkehrbaren Prozessen. Die Ökonomen erzählen, dass sich aus einem Rohstoff, zum Beispiel Getreide, ein Produkt herstellen lasse, zum Beispiel Brot, das man verkaufen könne, wodurch man Geld erhalte, mit dem man wiederum Getreide kaufen könne, um Brot herzustellen. Die meisten wirtschaftlichen Konzepte funktionieren wie dieser Kreislauf. Der Konjunk-

turzyklus zum Beispiel oder die volkswirtschaft- das weder Computer noch Mobiltelefone funkliche Gesamtrechnung im Bruttoinlandsprodukt. tionieren. Wenn wir für die Kriegstoten und Doch es gibt keinen Kreislauf. Nicht in der traumatisierten Hinterbliebenen EntschädigunWirklichkeit. Das Perpetuum mobile ist physika- gen zahlen müssten, dann würden unsere Hanlisch unmöglich. Diese unangenehme Tatsache folgt dys etliche tausend Franken kosten. Aber eine solche Vollkostenrechnung gibt es aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und dem daraus abgeleiteten Gesetz der Entropie, nicht. Um Abhilfe zu schaffen, müssten Bergbaukonzerne, aber auch Handelshäuser die externen dem Maß für die Unordnung in einem System. Wir Menschen sind auf geringe Entropie an- Kosten ihrer Tätigkeit internalisieren und für die gewiesen, nur sie können wir nutzen. Die Ozea- sozialen und ökologischen Schäden aufkommen, ne etwa haben ihre immense Wärmeenergie in die sie verursachen. Doch selbst damit hätten wir einer so gigantischen Entropie gespeichert, dass noch lange keine gerechten Preise. Denn was ist mit jenen Kosten, die in der Zuwir selbst mit modernsten technologischen Mitkunft liegen? In seinem teln nicht über sie verfüEssay Energy and Econogen können. Das Promic Myths von 1975 hat blem ist: Geringe EntroGeorgescu-Roegen das pie, zum Beispiel in Problem drastisch forRohstoffen, ist nicht nur ein knappes, vor allem muliert: »Deshalb müssen ist sie ein endliches Gut. wir in der Bioökonomie betonen, dass jeder CaUm niedrige Entropie dillac [...] weniger Pflüge verfügbar zu machen, sind immer größere Anstrenfür zukünftige Generatiogungen nötig. Die leicht nen und indirekt weniger zugänglichen Ölfelder sind menschliches Leben in der ausgebeutet, weshalb man Zukunft bedeutet.« Wie nun in der Tiefsee nach also und wem verrechnen dem schwarzen Gold bohwir die Rohstoffe, die zukünftigen Generationen ren muss. Der beträchtSoll für alle Schäden, die er verursacht, nicht mehr zu Verfügung liche Mehraufwand ist bezahlen: Rohstoffgigant Glencore in Zug natürlich nicht umsonst, stehen, weil wir ihre niedund jemand muss für die rige Entropie bereits in steigenden Kosten aufkommen. In der Regel sind hohe überführt haben? Unser Wirtschaftssystem dies aber nicht die Konsumentinnen und Kon- bietet keine Antworten auf diese eminent politisumenten, nicht wir in den entwickelten Ländern. schen Fragen, und jene, die Georgescu-Roegen Es sind Menschen wie jene in den Kupferminen gegeben hat, müssen uns nachdenklich stimmen. Zuerst forderte er die Einstellung jeder Rüsvon Sambia. Niedrige Entropie ist so begehrt, dass deswe- tungsproduktion. Dann seien die Entwicklungsgen alle Gebote der Menschlichkeit vergessen länder auf ein gutes, aber nicht luxuriöses Niveau werden. Zum Beispiel im Ostkongo. Dort wütet zu bringen. Das Bevölkerungswachstum müsse so seit über einem Jahrzehnt ein Krieg. Bilanz: min- weit beschränkt werden, dass alle Menschen durch destens sechs Millionen Tote, mindestens so viele ökologischen Landbau ernährt werden können. Vertriebene. Der Kriegsgrund: die Rohstoffe, die Und jedes Jahr ein neues Auto zu kaufen oder das dort buchstäblich auf dem Boden liegen. Vor al- Haus aufzumöbeln, so Georgescu-Roegen, sei ein lem das Koltan, ein metallhaltiges Mineral, ohne bioökonomisches Verbrechen.

Es ist offensichtlich, dass solche Maßnahmen in eine Ökodiktatur führen könnten, in einen Staat, der die totale Kontrolle über den Einsatz der natürlichen Ressourcen hätte. Eine ungemütliche Vorstellung – und ein weiterer Beleg dafür, dass wir die Ausgestaltung unserer Zukunft nicht den Ökonominnen und Ökonomen überlassen sollten. Aber ebenso offensichtlich ist, dass viele Menschen im Süden längst in einer solchen Diktatur leben. Um ein paar Dollars zu verdienen, müssen sie ihre Gesundheit opfern. Sie kennen keine Altersvorsorge, keine Krankenversicherung, keine Ferien. Viele von ihnen würden zu Georgescu-Roegens Programm begeistert Ja sagen. Denn sie könnten nur gewinnen. Verlierer wären wir, zum Beispiel in der Schweiz. Unsere Privilegien, Chancengleichheit und Meinungsfreiheit wurden damit erkauft, dass jemand auf diese Privilegien verzichten musste. Das alles ist bekannt. Die unangenehmen Tatsachen liegen auf dem Tisch. Die Frage ist, was wir damit anfangen. Wir wissen, was zu tun wäre, aber wir haben Angst davor. Ohne Not ändern nur die wenigsten ihre Lebensweise. Und deshalb ist es einfacher, die Wirklichkeit zu leugnen und mit falschen Begriffen zu verhüllen. Aber solange wir weiter so tun, als verfügten wir über unendliche Ressourcen, als sei unbeschränktes Wachstum möglich und als dürften Rohstoffkonzerne ganze Länder ausplündern, so lange können wir die Probleme nicht lösen. Georgescu-Roegen war ein Pessimist. Und ein bisschen auch ein Poet. Er glaubte nicht an die Umsetzung seiner Forderungen. Vielleicht, so beschließt er seinen Essay, sei dem Menschengeschlecht eine kurze, hitzige und extravagante statt einer langen, ereignislosen und vegetativen Existenz beschieden. Und dann würden andere Arten ohne spirituelle Ambitionen – Amöben zum Beispiel – unsere Welt erben und im Sonnenlicht baden. Dieser Essay des Schriftstellers Lukas Bärfuss ist ein leicht gekürzter Vorabdruck aus dem Buch »Rohstoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz«, herausgegeben von der entwicklungspolitischen Organisation Erklärung von Bern. Es erscheint nächsten Montag im Zürcher Salis-Verlag

SCHWEIZERSPIEGEL

Mein Vorrat beträgt noch exakt neun Päckli

Foto: Roland Schmid

Die schönste Schweizer Zigarette ist verschwunden. Nachruf eines leidenschaftlichen Konsumenten

Adieu, meine Liebste: Parisiennes carrées

Sie war schön. Sie war intensiv. Sie war Parisienne pur. Sie war une véritable petite Suisse. Sie war, ohne Vorwarnung, von einem Tag auf den anderen, an meinem Kiosk an der Rheingasse in Basel nicht mehr erhältlich. Les cigarettes parisiennes carrées. Das kleine rechteckige Päckli, das einen immer zweifeln ließ, ob wirklich 20 Zigaretten drin seien. »Parisiennes ohni«, de fabrication traditionnelle, sans filtre ni colle, sont faites de véritable Maryland, importé directement (das mit dem »ohne Leim« änderte sich schon vor einigen Jahren, die Zigaretten verloren ihren gestanzten Reißverschluss und wurden geleimt). Die Stange, also zehn Pakete Parisiennes carrées, steckte in einer Art schmucklosem braunem Packpapier, das an die Verpackungen in

der ehemaligen DDR erinnerte. Der Löwe im Wappen, das schönste Päckli weit und breit! Und ich konnte unverfroren behaupten, aus ästhetischen und nicht braunkrümeligen, tabaksüchtigen Beweggründen zu rauchen. Jedenfalls, bevor das Bundesamt für Gesundheit das Design verunstaltete. Ja, es war einmal in einem kleinen Kanton in einem kleinen Dorf, durch das die quirlige Allaine fließt, und dorthin, nach Boncourt, verschlug es 1815 einen Elsässer namens Martin Burrus, er baute Tabak und Wein an, und sein Nachfolger, François-Joseph Burrus, liebte das ferne Paris, sehnsüchtelte mit dem Savoir-vivre der Metropole und taufte seine Zigarette im derbländlichen Boncourt Parisienne. Die Nachkommen führten das Unternehmen im Jura weiter, gaben Arbeit und Lohn,

VON ALOIS BISCHOF

und 1996 verkaufte die sechste Generation Burrus die Parisienne an die holländische Rothmans-Gruppe, die 1999 mit der British American Tobacco fusionierte, einem der vier den Welthandel beherrschenden Tabakriesen. Seit 1930 gibt es die Carrées, und die Männer des Aktivdienstes, die an der Grenze und in den Bergen standen und wachten, rauchten Unmengen von Parisiennes und Rösslistumpen, und, wie gäbig, es passten genau zwei Pakete Carrées oder eine Schachtel Rösslistumpen in eine Patronentasche. Schöne Zigarettenwerbungen gibt es aus dieser Zeit, der behelmte Soldat etwa, der eine Zigarette Caporal Vautier lässig im Mundwinkel trägt. Aber die Tabakeinfuhr stockte, und weil keine Armee ohne Zigaretten funktioniert, steigerte die Schweiz den

Tabakanbau von 780 Hektar im Jahre 1939 auf 1450 Hektar im Jahre 1946. Jetzt stehen wir im September des Jahres 2011, das Ende der Parisienne Carrées ist da, dieses eigenwillige Päckli, das sich immer wieder als Geschichtenmaschine entpuppte. Wildfremde Menschen reagierten darauf, erzählten vom Vater, vom Großvater, der diese Zigarette geraucht habe. Andere, wie Martin, steckten jedes Mal ihre Nase ins geöffnete, aufgerissene Quadrat und rochen am Tabak und verloren sich. Und in Boncourt rattern die millionenschweren Maschinen weiter und spucken Millionen von Parisienne-Zigaretten aus. Nur, die Nachfrage für die Carrées wurde zu klein, die Maschine lief nur zeitweilig, nahm zu viel Platz weg in der Fabrikhalle. Mein Vorrat beträgt noch exakt neun Päckli.

SCHWEIZ

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

B U N D E S R AT S WA H L E N

Flucht nach Konstanz

Keine Revolution!

Illustration: Jochen Schievink für DIE ZEIT/www.jochenworld.de

Was am 14. Dezember im Bundeshaus geschehen wird

Viele Deutsche, die in der Schweiz leben, schicken ihre Kinder in deutsche Schulen jenseits der Grenze. Weil das deren Chancen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt erhöht VON KERSTIN CONZ Nur weg hier! Immer mehr Deutsche und Schweizer ziehen das deutsche Abitur einer Schweizer Matura oder Berufslehre vor

E

s ist ein Grenzverkehr der besonderen Art: Dutzende Kinder und Jugendliche pilgern jeden Morgen von Kreuzlingen nach Konstanz. Zur Schule. Viele kommen mit dem Velo oder werden von ihren Eltern mit dem Auto ins Nachbarland gebracht. Wer weiter weg wohnt, nimmt den Zug, klappt am Kreuzlinger Bahnhof sein Trottinett auf und flitzt über den Zoll. Von den 8000 Konstanzer Schülern wohnen 350 in der Schweiz; 200 kommen allein aus der Grenzstadt Kreuzlingen. Die meisten von ihnen sind Gymnasiasten. Möglich macht diesen Schultourismus der deutsche Pass. Die Kinder von Deutschen, die in der Schweiz leben, dürfen weiterhin eine Schule in Deutschland besuchen. Viele tun dies schon ab der ersten Grundschulklasse. Ihr Ziel aber ist das deutsche Abitur – das europaweit gültige Eintrittsbillet in die universitären Sphären. Dem Kreuzlinger Schulpräsidenten Jürg Schenkel sind diese Schülerpendler ein Rätsel. Sicher, ein Schulwechsel nach einem Umzug in die Schweiz könne unlustig sein. Vor allem wegen der Französischkenntnisse, die den Deutschen fehlten. Für eine Einschulung im Nachbarland fehlt Schenkel jedoch jedes Verständnis. »Für mich ist das nicht nachvollziehbar«, sagt er. Eigentlich habe man in der Schweiz die besseren Schulen mit kleineren Klassen, einer besseren Infrastruktur und mehr Förderunterricht an den Primarschulen. Vielen deutschen Zuwanderern sei die Qualität des Schweizer Schulsystems vermutlich nicht bekannt, sagt Schenkel. »Die Deutschen haben sich zwar gut auf dem Arbeitsmarkt integriert, nicht aber ins Bildungssystem«, sagt die Integrationsbeauftragte von Kreuzlingen, Zeljka Blank. Obschon fast nur Deutsche die Integrationskurse der Stadt besuchen und sich für einen einzigen Platz im Ausländerrat fast 200 Deutsche beworben haben: Angekommen sind die Nachbarn in der 20 000-Einwohner-Stadt nicht. Nur jeder Zehnte fühlt sich, gemäß einer Studie der Universität Konstanz, in Kreuzlingen gut integriert. Wegen des besseren Wohn- und Arbeitsangebotes sind in den vergangenen Jahren viele Familien von Konstanz über die Grenze gezogen. Aber auch deutsche Mitarbeiter von internationalen Konzernen in der Schweiz suchen sich mit Kreuzlingen bewusst einen Wohnort an der Grenze – und pendeln bis nach Zürich, weil sie nicht wissen, wann sie wieder nach Deutschland zurückkehren oder in ein anderes Land versetzt werden. Der Schule käme daher bei der Integration der Kinder und Eltern eine Schlüsselrolle zu, sagt Zeljka Blank. »Wer seine Kinder hier einschult, schließt am leichtesten Kontakte. Schade, dass das die Deutschen so wenig machen.« Eine dieser Globetrotter-Familien sind die Meier-Shergills aus Kreuzlingen. »Wir wissen nicht, wie lange wir in der Schweiz bleiben«, sagt Vater Michael. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Konstanzer Gesamtelternbeirats. Seine Ehefrau Kelly arbeitet in der Schweiz als Managerin und hat Schulen und Studium in England absolviert. Vor ihrem Umzug an den Bodensee lebte das Ehepaar mehrere Jahre lang in Basel. Die Kinder sind zweisprachig, und Sohn Julian bestand in Konstanz gerade die Prüfung für den Hochbegabtenzug. Dass es im Thurgau auch gute Schulen gibt, steht für die Familie außer Frage. Die Matura gelte als viel anspruchsvoller als das deutsche Abitur, weiß der Diplom-Heilpädagoge. Er glaubt jedoch, dass die Zugangsvoraussetzungen an einer Hochschule in anderen EU-Ländern mit Abitur besser sind als mit einem Schweizer Abschluss.

Der Bildungsökonom Stefan Wolter von der Universität Bern kennt solche Überlegungen auch von anderen hoch qualifizierten Einwanderern. »Für sich genommen, ist das Schweizer Bildungswesen zwar leistungsfähig«, sagt der Wissenschaftler. »Wenn aber gut gebildete Migranten für ihre Kinder eine globale Karriere planen, entstehen Probleme.« Vor allem, wenn sie die Prüfung für die Kantonsschule nicht bestehen und keine Aussicht auf eine Matura haben. In Kreuzlingen bestehen zwischen 16 und 17 Prozent eines Jahrgangs diese Prüfung, sagt der Rektor der Kantonsschule Arno Germann. Demgegenüber wechseln 60 Prozent der Konstanzer Jugendlichen aufs Gymnasium. »Die Schweizer sind nicht dümmer. Bei uns ist das Gymnasium nur anspruchsvoller«, sagt Arno Germann. Dass die restlichen Schüler schlechtere Berufsaussichten haben, glaubt er nicht. Eine Lehre gilt in der Deutschschweiz nicht als zweitklassige Ausbildung. Viele Lehrlinge legen zudem eine Berufsmatura ab – womit ihnen der Weg zum Studium an einer Fachhochschule oder, nach einer Zusatzprüfung, auch jener an eine Universität offensteht. Doch viele Deutsche trauen dem dualen Bildungssystem der Schweiz nicht. Ein Abitur soll es für die Sprösslinge sein – sonst nichts! Aber in der Schweiz ist ihnen dieser Weg zu steinig. »Die Schweizer Kanti-Prüfung ist eine sehr heftige Prüfung, bei der auch sehr gute Schüler nicht immer erfolgreich sind«, sagt Peter Beckmann, Rektor des Konstanzer Ellenrieder Gymnasiums. Während bislang vor allem deutsche Familien ihre Kinder rüberschickten, klopfen mittlerweile auch Schweizer Eltern bei ihm an, wenn der Nachwuchs die Prüfung für die Kantonsschule nicht geschafft hat. Bei Andreas hat der Wechsel geklappt. In Kreuzlingen hatte der Sohn eines Schweizer Arztes seinerzeit die Aufnahmeprüfung für die Kantonsschule knapp verpasst. Für die Hochschulreife nahm er den Umweg über ein Konstanzer Gymnasium in Kauf. Jetzt beginnt er ein Jurastudium in Bern. In der Schweiz rechnet er sich nicht nur wegen der geringeren Akademikerquote bessere Chancen aus. Auch im Schweizer Rechtswesen sieht der Student noch eine Nische, die nur schwer mit Akademikern aus dem Ausland besetzt werden kann. Angst, in Deutschland nur einen Schulabschluss zweiter Klasse zu bekommen, haben die Eltern nicht – im Gegenteil. Denn Abiturienten aus Deutschland genießen bei Schweizer Betrieben einen guten Ruf. Beim Pharma-Unternehmen Novartis in Basel kommen mittlerweile bis zu 30 Prozent der Lernenden aus dem Nachbarland. Ein Großteil habe Abitur, sagte ein Sprecher. Für die Firmen sei das attraktiv. Zum einen könnten diese Schüler vom allgemeinen Unterricht befreit werden. Zum anderen könnten in gewissen Berufen zusätzliche Lerninhalte vermittelt werden. Dass die Schüler aus Deutschland damit in Konkurrenz zu Schweizer Schülern mit Sekundarschulabschluss treten, heizt hierzulande die Diskussion über die Maturitätsquote weiter an. Und trotz ihres »minderwertigeren« Abschlusses schaffen es Konstanzer Abiturienten auch an Schweizer Spitzenhochschulen wie die Wirtschaftsuniversität in St. Gallen oder die ETH in Zürich. Ob sich das Abitur im Ausland wirklich lohnt, hänge aber ganz vom Einzelfall ab, glaubt der Bildungsforscher Wolter. Wenn ein Kind bei der Prüfung nur knapp durchgefallen sei, könne ein Wechsel in einen anderen Kanton oder ins benachbarte Ausland durchaus sinnvoll sein. »Vorausgesetzt, das Kind ist nicht dauerhaft überfordert.«

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Nun unken sie wieder. Wer wird mit wem paktieren? Wer hintergeht den anderen? Wer wird fallen, wer überleben? Die staatstragende Institution Bundesrat verkommt zum Big-Brother-Container, mit dem pikanten Unterschied, dass es im Sitzungszimmer noch keine Kameras gibt. Ja, seit dem Verzicht von Micheline Calmy-Rey auf eine weitere Amtszeit hat der politische Boulevard wieder Oberwasser. Und weil man diesen routinierten Lärm um nichts satt hat, sei hier einmal eine Prognose gewagt: Es wird sich wenig ändern, auch wenn sich viel ändern sollte. Aller Voraussicht nach wählt die Bundesversammlung am 14. Dezember einen Sozialdemokraten aus der Westschweiz auf den leeren Stuhl. Wir können nur hoffen, es ist ein fähiger. Fehlentscheide wie die Wahl von Schneider-Ammann statt Keller-Suter wünschen wir uns nicht mehr. Ja, das wäre wenig Veränderung. Zu wenig. Aber angesichts all der parteipolitischen Zwänge und Nöte ist nichts anderes zu erwarten. Es wäre aber vor allem zu wenig, weil das Land wieder zur arithmetischen Konkordanz zurückkehren muss. Der Bundesrat soll den Wählerwillen spiegeln – im Interesse von uns allen. Das tut er heute nicht, aus guten, aber veralteten Gründen. Und das wird er auch nach den nationalen Wahlen am 23. Oktober nicht tun. Wer von einer »Koalition der Vernunft« mit Mitte-linksDrall spricht, vergeht sich gegen das politische System der Schweiz. Die maßgebenden Kräfte sind in die Regierung einzubinden. Wer anderes möchte, plant den Umsturz. Und das kann sich das Land, das mehr denn je den globalen Kräften ausgeliefert ist, beim besten Willen nicht leisten. PEER TEUWSEN CH

DIE ZEIT: Herr Widmer, am Dienstag ist Ihr

Verleger Daniel Keel im Alter von 80 Jahren gestorben. Was verliert die deutschsprachige Kultur an ihm? Urs Widmer: Ich bin erschüttert. Daniel Keel war nicht nur mein Verleger, er ist mir im Laufe der Jahre ein guter Freund geworden. Er fehlt mir jetzt als Freund. Keel war ein Verleger, der ein literarisch bedeutendes wie ökonomisch erfolgreiches Programm machte. Das kann er jetzt nicht mehr. Als Verleger war er allen seinen Autoren außerordentlich treu. Und er hat auch Bücher von uns gemacht, von denen er schon im voraus wusste, dass sie nicht profitabel sein werden. Dafür ist ihm höchste Anerkennung zu zollen. Ach, man musste mit dieser Nachricht rechnen, aber ich habe sie offenbar erfolgreich verdrängt. ZEIT: Sie sind doch ein Verfechter der Verdrängung, oder? Widmer: Ich habe eine geradezu Woody-Allenähnliche Psychoanalyse hinter mir – das ist ja ein Gegengift zur Verdrängung. Mir hat das gut getan, ich bin ein großer Freund der Freudschen Methode. Eine geglückte Verdrängung hat aber auch etwas Wunderbares – wenn man es nicht zu weit treibt. Es kommt auf das richtige Maß an. ZEIT: Haben Sie es mit der Verdrängung schon mal zu weit getrieben? Widmer: Ich arbeite lebenslang daran, genau diese Balance zu finden – zwischen dem Gewinn und der Abwehr von Erkenntnis. Die Kunst bewegt sich in dem kleinen Bereich dazwischen. Werfen Sie sich einem bedrängenden Problem in die Arme, spüren Sie das zwar sehr deutlich, aber Sie schreiben nicht mehr. Das Schreiben geschieht oft aus der Distanz: Man schaut auf das Problem wie durch eine Milchglasscheibe. Manchmal schreibe ich etwas Grauenvolles, bin dabei aber bester Laune. Eben weil ich darüber schreiben kann und die entsprechende Form dafür finde. Das ist ein Triumph! Ich komme dann nach Hause und sage zu meiner Frau: »Heute habe ich den Tod meiner Mutter beschrieben. Saumäßig gut!« ZEIT: Die Schweizer Literaturszene scheint der Situation in Wirtschaft und Politik gegenüber ziemlich gleichgültig zu sein. Warum? Widmer: Den Schuh ziehe ich mir nicht an. Seit 40 bis 50 Jahren verfolge ich sehr genau, was in der Politik und in der Wirtschaft geschieht. Ich habe auch immer wieder darüber geschrieben, etwa in dem Stück Top Dogs. Und gerade ist ein neues, fettes Theaterstück von mir fertig geworden, es heißt Das Ende vom Geld. Im März wird es in Darmstadt uraufgeführt. Eigentlich hatte ich es für das Schauspielhaus Zürich geschrieben, in der Annahme, dass es dieses interessieren würde. Man hat es mir zurückgegeben. Die freundliche Dramaturgin von Frau Frey ließ mir ausrichten: Bis das Ganze auf dem Spielplan stünde, sei die Krise ja sowieso schon längst vergessen. ZEIT: Um was geht es in dem Stück? Widmer: Um das Ende des Geldes. Es ist der letzte Tag des World Economic Forum in Davos. Eine Gruppe von Mächtigen ist dabei, sich zu verabschieden. Aber aus irgendeinem Grund kommen sie nicht aus dem Hotel. Dann entwickelt sich eine Geschichte, in der alle an ihre Grenzen kommen und die in einer Apokalypse endet. Alles geht so schief, wie es nur schiefgehen kann. Am Schluss können sie plötzlich raus. Und dann sind sie wieder ganz die Alten. Aber das ist eine lausige Zusammenfassung eines sehr wuchtigen Stückes. ZEIT: Ist dies eine Fortsetzung von Top Dogs? Darin wird der Manager als arme Sau dargestellt. Widmer: Nein, das ist es nicht. Das Ende vom Geld ist aus der Perspektive von heute geschrieben, 16 Jahre danach. Mein Blick ist härter und hat an Liebe verloren – die Analyse, die ich mache, ist CH

SCHWEIZ

DIE ZEIT No 38

radikaler. Ich bin ja kein Wirtschaftsfachmann. Aber Herrgott! Seit etwa 30 Jahren, seit der Ankunft von Frau Thatcher und Herrn Reagan, sagen ich und meinesgleichen, dass das, was gerade geschieht, nicht gut gehen wird. Und dabei werden wir immer als die Blöden behandelt. ZEIT: Sie leben in einem Land, in dem immer gesagt wurde: Die Politik denkt, die Wirtschaft lenkt. War das je richtig? Widmer: Das war vermutlich nie richtig. Der Übergang zwischen Politik und Wirtschaft ist in der Schweiz fließend. Die Wirtschaft lenkt, das stimmt. Viele Politiker verhalten sich aber wie Angestellte der Ökonomie und denken keinen einzigen autonomen Gedanken. Wir haben keine unabhängige Politik. ZEIT: In der Schweiz ist der Teufel los – aber von Ihren jüngeren Kollegen kommt nicht viel. Nun legt ein 73-Jähriger so ein Stück vor ... Widmer: ... ich reagiere auf die gesellschaftlichen Entwicklungen, aber ich kann nicht auch noch für die anderen reagieren. ZEIT: Pflegen Ihre Kolleginnen und Kollegen den Eskapismus? Widmer: Ich denke, dass es diesem Land ganz gut täte, ein neues 1968 zu erfahren. Ich habe 1968 als eine äußerst optimistische Periode erlebt. Das war keine dunkle Zeit. Diese kam erst später mit der RAF und der Reaktion des Staates darauf. Ich war zu der Zeit in Deutschland, hatte aber das Glück und den Verstand, dass ich nie auf irgendeine Ideologie abfuhr. Vielleicht ein paar Wochen auf Mao, aber davon war ich schnell wieder geheilt. Und den Kommunismus hatte mein Vater schon vor mir für mich erledigt und hinter sich gelassen. Er war in den dreißiger- und vierziger Jahren Kommunist. ZEIT: Und Sie waren nichts? Widmer: Ich war nicht nichts. Wenn man die Klischees bedienen will, war ich links. Und das bin ich wohl immer noch. ZEIT: Was bedeutet links heute für Sie? Widmer: Das bedeutet, dass ich eher in der Nähe der SP und der Grünen bin, wenn ich heute wählen gehe; dass ich gegen die Ungerechtigkeit des Oben und Unten bin; dass ich gegen die ungerechte Verteilung des Geldes bin; dass ich für möglichst direkte, demokratische Entscheidungen bin – und dass ich gegen jegliche Art von Sauereien bin. ZEIT: Sind Sie zufrieden mit dem Erreichten? Widmer: Ja. ZEIT: Das ist doch mal ein Wort. Widmer: Meine Möglichkeiten habe ich noch nicht ganz ausgereizt. Aber ich habe schon relativ viel daraus gemacht. Hätte ich keine Leser gefunden, die das mögen, was ich mache, wäre ich wahrscheinlich eingeschrumpft – vielleicht sogar lebensbedrohlich eingeschrumpft. Aber die große Zustimmung, die immer wieder fühlbar ist, kommt wie warmes Wasser zurück. ZEIT: Wie würden Sie den Zustand der Schweiz heute beschreiben? Widmer: Ambivalent. In meiner Lebenserinnerung sind vor allem die 1950er und 60er Jahre sehr dominant. Und dabei waren diese doch sehr bleiern, schwer und grau. Hausmeister waren böse Menschen, und Eisenbahnschaffner haben einem Angst eingejagt – auch den Erwachsenen. So gesehen, hat sich in der Schweiz ein Wunder ereignet, an Liberalisierungen, an Freiheit und Fröhlichkeit. Auf der anderen Seite hat man tatsächlich – und das ist zum Großteil dieser verflixten SVP zu verdanken – mit einer unangenehmen Polarisierung des Denkens und Fühlens umzugehen. Das hat zu einem Schwarz-Weiß-Denken geführt, das gefährlich ist und einem richtig Angst machen kann. Ich halte Herrn Blocher und seine Partei für eine große Gefahr für dieses Land. ZEIT: Warum?

»Ein Darsteller des brüchigen Glücks« Der Schriftsteller Urs Widmer über seine Kollegen, die zur Lage der Schweiz schweigen, die SVP und sein neues Theaterstück

Foto: Dominique Meienberg/pixsil

16 15. September 2011

Der 73-jährige Urs Widmer lebt in Zürich und wünscht der Schweiz mehr »frei fliegende Vernunft«

Widmer: Weil die SVP gar keine Partei ist, sondern eine Nebelmaschine. Der Nebel besteht hauptsächlich aus Kosovaren, die Schweizer aufschlitzen, und aus anderen fremdenfeindlichen Themen. Hinter dem Nebel machen aber einige, die selber sehr reich sind – Herr Blocher allen voran –, eine Politik der Reichen. Das ist keine Politik des kleinen Mannes. Diese Vernebelung ist eine gefährliche Sauerei. Es geht um Macht. Die einzige Hoffnung ist hier, dass die Leute diesen Politikern nicht auf den Leim kriechen. ZEIT: Sie haben lange in Deutschland gelebt. Wie hat man Sie als Schweizer dort empfangen? Widmer: Ich habe in sehr aufgeklärten Kreisen gelebt, da war das nie ein Thema. Für diese bin ich schnell ein Deutscher geworden. Bis ich zurück in die Schweiz kam, war ich eher ein deutscher als ein Schweizer Dichter. Ich finde auch, die Bezeichnung Schweizer Schriftsteller hat etwas Kleinkariertes. Einer wie ich gehört ganz selbstverständlich zur deutschen Kultur; um nicht »zur europäischen« zu sagen. Als ich nach Deutschland kam, war es umgekehrt: Ich fragte mich, wo soll denn nun verflixt noch mal der Unterschied sein zwischen einem Basler und einem Frankfurter? Also ging ich als ein beinah Gleicher hin – und habe mich auch lange so verhalten. Erst mit der Zeit wurde die Distanz größer, einfach durch die Erkenntnis, dass die Geschichte beider Länder so verschieden ist. Sie trennt uns irreparabel. Ich habe in meinem Leben derart viel Glück und Kontinuität gehabt. Das gibt es und gab es in Deutschland ganz einfach nicht. Das hat auch meine Literatur geprägt: Ich bin keiner, der so tut, als ob er riesige Kriege erlebt hätte. Das Glück ist aber auch in der Schweiz eine flüchtige Masse und entsprechend schwer darstellbar. Ich versuche es trotzdem. Vielleicht könnte man mich als einen Darsteller des brüchigen Glücks bezeichnen. ZEIT: Sie gelten als Humorist in der Tradition eines Jean Paul. Und Humoristen werden in der deutschen Literatur oft für nicht ganz ernst genommen. Hatten Sie diese Sorge auch, nicht ernst genommen zu werden? Widmer: Ja. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, ich werde nur als der lustige Purzel aus den Alpen wahrgenommen. Da ich wusste, wie viel Schwarzes in mir ist, hat mich das gestört. ZEIT: Einen wunderschönen Satz aus Ihrer neuen Textesammlung Stille Post müssen wir zum Schluss noch behandeln: »Wir werden sterben, wenn wir nicht wieder fliegen lernen.« Sind das programmatische Worte für Ihr Schreiben? Widmer: Ja, insofern der Satz aus einer von mir erfundenen Schöpfungsgeschichte stammt. ZEIT: Man könnte diesen Satz auch auf die Schweiz beziehen. Widmer: Sie haben hohe Ideale! Die Schweizer sind Bauern. Diese haben schwere Schuhe und schwach entwickelte Flügel. Aus Zürich ist noch kein Ikarus gestartet. Noch nie! Und wenn, ist er gleich hinter dem Hardturm wieder heruntergefallen. Dabei würde es uns gut tun, wenn wir etwas leichter und luftiger denken würden. Aber zu viel kann man einfach nicht verlangen. Wahrscheinlich bin ich ein Mann der Mitte, weil ich in jeder Sache die Ambivalenz sehe. »Die Fantasie an die Macht«, hieß es 1968. Das war nie mein Satz. Um Gottes willen, nur das nicht. Stellen Sie sich vor, die Fantasie wäre an der Macht! Die Vernunft muss an die Macht. Allerdings eine Vernunft mit Flügeln, da gebe ich Ihnen Recht. Eine frei fliegende Vernunft, das wäre herrlich. Und man kann nicht sagen, dass eine solche Vernunft gerade in der Schweiz herrscht. Das Gespräch führten JULIAN SCHÜTT und PEER TEUWSEN

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15. Sept September p emberr 2011 2011 20 11 DIE DIE ZE DI Z ZEIT EIT No 38

Wer ohne Sünde ist DIE ZEIT fürs iPad Jeden Mittwochabend bereit zum Download: Die neue digitale Ausgabe der ZEIT Ab sofort im App-Store

ThekenTräume

Strafen oder vergeben – wie soll der Papst mit Menschen umgehen, die an der katholischen Moral scheitern? Vor dem Besuch Benedikts XVI. in Deutschland ist darüber ein heftiger Richtungsstreit entbrannt DOSSIER SEITE 17–19, GLAUBEN & ZWEIFELN SEITE 70 –72

Unterwegs mit dem legendären Barmann Charles Schumann Von Moritz von Uslar ZEITmagazin Seite 20

Titelfoto: Papst Benedikt XVI. begrüßt eine Frau in der Basilika Santa Maria degli Angeli bei einem Treffen mit Jugendlichen (Assisi, 17. Juni 2007); © Tony Gentile/Reuters

Israel will die Anerkennung Palästinas verhindern. Es begreift die Chance des Arabischen Frühlings nicht VON ALICE BOTA

Europa muss sich endlich ehrlich machen: Schuldenschnitt für Griechenland, Schuldenbremse für alle VON UWE JEAN HEUSER

A

it jedem neuen Versuch wird uns die Rettung Griechenlands vertrauter. Das griechische Volk beschimpft seine Politiker, weil sie zu viel sparen. Die Euro-Kontrolleure reisen an und zornig wieder ab, weil Athen seine Sparversprechen trotzdem nicht erfüllt. Dann geben sich die Griechen den üblichen Ruck – nur um kurze Zeit später achselzuckend festzustellen, sie brauchten leider doch mehr Geld als gedacht. Die Deutschen erklären in aller gebotenen Strenge, es gäbe keinen Rabatt für Athen, und nicken kurz darauf die nächste Tranche ab. Griechenland ist die Wiege des Theaters, und heute führt es ein Stück auf mit der ganzen Welt als Publikum. Allein, die Hoffnung auf ein glückliches Ende ist zerstoben, weil sich die traurige Wahrheit nicht länger verbergen lässt. Griechenland ist pleite. Das südlichste Euro-Mitglied hat nicht etwa ein lösbares Bankenproblem wie Irland, nicht eine Immobilienkrise wie Spanien, es leidet auch nicht bloß an fortgesetztem Regierungsversagen wie Italien. Es hat schlicht mehr Schulden, als es bei seiner schmalen Wirtschaftskraft und seinem verlotterten Finanzwesen je abzahlen kann. Die Behauptung, Griechenland sei zu »retten«, ist also eine (Selbst-)Täuschung. Berlin und Brüssel haben sie aufrechterhalten, weil sie hofften, die Krise würde schnell vorüberziehen. Danach wäre eine Umschuldung kein Drama mehr. Tatsächlich aber sorgen sie auf diese Weise dafür, dass die Krise täglich schlimmer wird.

uch das ist der Arabische Frühling: Es brennt die israelische Botschaft in Kairo, jüdische Mitarbeiter müssen aus Angst vor einem ägyptischen Mob fluchtartig das Land verlassen; im Süden Israels töten Raketen Menschen, in der Türkei wird der israelische Botschafter ausgewiesen. Das ist keine zufällige Verkettung einzelner Konflikte. Aus Israels Sicht sind die Ereignisse in der muslimischen Welt außer Kontrolle geraten und bedrohen den jüdischen Staat. Aber die größte Herausforderung steht Israel kommende Woche noch bevor: Der Versuch des palästinensischen Präsidenten Machmud Abbas, eine Vollmitgliedschaft seines Landes bei den Vereinten Nationen zu erstreiten. Es würde faktisch die Anerkennung Palästinas bedeuten. Israels Regierung hat mit der Weigerung, sich ernsthaft mit einer Zwei-Staaten-Lösung zu befassen, die Palästinenser erst dazu getrieben, einseitige Schritte zu unternehmen. Die Palästinenser wiederum spekulieren darauf, dass am Tag nach dem 20. September die arabische Welt sich wegen des schon angekündigten Neins Amerikas und anderer westlicher Mächte empören und ihre Solidarität mit den Brüdern in Palästina zeigen wird; dabei haben ihre Regierungen selbst jahrzehntelang wenig dafür getan, die Situation der palästinensischen Flüchtlinge in ihren Ländern menschenwürdiger zu gestalten.

Titelfoto aus dem Buch »Päpste« von Helge Sobik, edia Düsseldorf 2010

Es gibt auch ein anderes Israel, das die ewige Politik der Vergeltung satthat Die Folgen dieser Politik sind gefährlich, nicht nur, weil sie enttäuschte Palästinenser auf die Straßen treiben dürften. Die muslimische Solidarität könnte sich in Zorn entladen, der Israel heftig trifft. Einerseits, weil der jüdische Staat in der Region verhasst ist. Andererseits, weil die israelische Regierung seit dem Beginn des Arabischen Frühlings keine Sprache für die neuen Ereignisse gefunden hat. Eine neue politische Lage entstand – aber Israel antwortete mit der alten Politik. Premierminister Benjamin Netanjahu hat alle Chancen für eine Kursänderung vorbeiziehen lassen. Er will nicht wahrhaben, dass sich etwas Grundlegendes ändert: Die arabischen Völker erheben sich und verlangen nach Demokratie. Araber und Demokratie, das war vermutlich für viele Israelis ein ähnlich widersprüchliches Wortpaar wie Hoffnung und Naher Osten. So führt sich Netanjahu mitten in der Revolution auf wie ein trauriger Besitzstandswahrer – aber im Umsturz lässt sich nicht business as usual betreiben. Man sollte nicht vergessen, dass es auch ein anderes Israel gibt. Dieses Israel ist es leid, dass Politik zu Siedlungsthemen und Vergeltungsmanövern gerinnt. Zu Hunderttausenden demonstrierten die Menschen in Israel in diesem Sommer. Ihnen ging es nicht um Gaza, auch nicht um Ägypten oder Syrien. Aber sie zeigten, wie

das jüdische Land sich von der Aufbruchstimmung in der arabischen Welt anstecken lässt, wie Ausweglosigkeit sich in Hoffnung verwandeln kann. Netanjahu erklärte diese Hoffnung zur Gefahr. Er hält an seiner Politik der Angst fest. Der Angriff auf die israelische Botschaft in Kairo schürt diese Angst. Noch nie, mit Ausnahme der Erstürmung der amerikanischen Botschaft in Teheran 1979, ereignete sich solch ein Vorfall. Dass ein Land Botschaftsangehörige nicht schützen kann oder will, ist unerhört. Vermutlich wäre dies unter dem Diktator Mubarak nicht passiert. Aber wer deshalb meint, nun das wahre Gesicht des Arabischen Frühlings zu erkennen, der irrt. Der Westen muss akzeptieren, dass die Politik freier Völker (oder solcher, die darum kämpfen, sich frei nennen zu dürfen) anders sein wird als die eines Mubaraks, vielleicht auch hässlicher. Israel war bislang die einzige Demokratie im Nahen Osten, und dennoch hat es den Konflikt mit den Palästinensern durch Unterdrückung zu lösen versucht, hat auf Terror mit Ungerechtigkeit geantwortet. Auch die Demokratisierung des arabischen Raums wird nicht zwangsläufig jetzt und sofort zum Frieden führen. Aber Demokratie auf beiden Seiten bedeutet die einzige Chance auf Veränderung, wenn auch langfristig. Es wird antiisraelische Ausfälle geben, das sind Auswüchse der Arabellion, die Israelis, Europäer und Amerikaner ertragen müssen. Nur eines bleibt unverhandelbar: Neue arabische Regierungen müssen dem Frieden mit Israel verpflichtet sein. Allen, die auf dem Wege sind, Demokraten zu werden, muss dieses Bekenntnis abgerungen werden. Europas und Amerikas Solidarität mit Israel steht außer Zweifel. Doch es hat sich etwas verschoben. Solange die arabischen Staaten Diktaturen waren, die außenpolitische Sicherheit boten, schienen so gut wie alle Mittel legitim zu sein, um Stärke zu demonstrieren. Nun, da sich in den arabischen Ländern die politischen Systeme ändern, wird Israels Politik zunehmend als unangemessen und ungerecht empfunden. Deshalb genießen die Palästinenser weltweit große Unterstützung – die Zeit ist auf ihrer Seite. Den Palästinensern ist viel Unrecht widerfahren, sie verdienen, in ihrem friedlichen Kampf um Selbstbestimmung unterstützt zu werden. Wer befürchtet, dass Israels Sicherheit damit auf dem Spiel steht und deshalb eine Anerkennung Palästinas verweigert – der sollte einen Plan B in der Tasche haben, wie es mit der Zwei-StaatenLösung weitergehen soll nach diesem September. Es gibt Gründe, aus Solidarität mit Israel gegen eine Anerkennung Palästinas zu stimmen. Aber den Israelis muss klar werden, wie hoch der Preis ist, einem Volk etwas zu verweigern, was ihm zusteht. Siehe auch Politik Seite 12/13 www.zeit.de/audio

M

Niemand soll in dieser Krise behaupten, er wisse wo es langgehe Jüngstes Opfer ist die Idee einer freien Europäischen Zentralbank. Gedacht war sie als eine Art Tafelrunde der Stabilitätsritter. Unabhängig und unpolitisch. Aber weil die Regierungen angesichts der drohenden Griechenpleite zauderten, sprangen die Ritter ein und kauften gegen ihren heiligsten Schwur notleidende Staatsanleihen auf. Erst griechische, zuletzt auch italienische und spanische. Fast 150 Milliarden Euro hat die Zentralbank dafür ausgegeben. Geht ein Teil des Einkaufswerts verloren, ist sie selbst pleite, und Euroland muss sie auslösen. Unabhängig und unpolitisch war gestern. Zunächst hat dieses Gebaren den führenden deutschen Notenbanker Axel Weber vertrieben, jetzt auch seinen Mitstreiter Jürgen Stark. Mit ihnen geht die urdeutsche Idee, dass Zentralbanker nicht Politiker spielen dürfen, weil sie sonst ihre Mission gefährden. Eigentlich müsste sich Berlin empören, aber nichts da. Vielmehr werden die Währungshüter durch zwei hochrangige Politikhelfer ersetzt, die viel Erfahrung haben – im Retten von Banken und Staaten. Der Zentralbankchef Jean-Claude Trichet darf im kalten Zorn seine hiesigen Kritiker beschimpfen,

ohne dass die Regierung widerspricht. Die gegenseitige Abhängigkeit ist perfekt. Nicht dass der honorige Franzose sich seine historische Entscheidung leicht gemacht hätte. Doch indem er die Rechnung übernimmt, lässt er Deutschland und die anderen Euro-Länder davonkommen mit ihrer Unfähigkeit zu entscheiden, wie es mit Athen und dem Euro dauerhaft weitergehen soll. Sie haben sich von Rettung zu Rettung geschleppt, aber immer nur zum halben Preis. Die wahren Kosten werden verschleiert, wann immer Trichet einkaufen geht. Mit dem Sündenfall der Zentralbank kamen die Halbwahrheiten. Bis heute sagt die Koalition der Retter, Trichet habe keine Wahl gehabt, als er gegen seine Statuten verstieß. Natürlich hatte er eine Wahl. Ohne ihn hätte Euroland gleich entscheiden müssen, ob ein griechischer Schuldenschnitt nicht billiger wäre als der fortwährende Rettungsversuch. Aber wenn Griechenland fällt, so geht das Argument weiter, dann würden sich die Spekulanten auf Spanien und Italien stürzen. Bloß haben sie das längst getan. Als deutsche Bürger skeptisch wurden, hielt man ihnen entgegen, kein Land profitiere mehr vom Euro als das ihre. Im Jahr 2011 ist das auch so, im vergangenen Jahrzehnt aber litt die wachstumsarme Bundesrepublik lange unter den hohen gemeinschaftlichen Zinsen. Der neueste Clou ist die Behauptung, Euroland dürfe die Griechen gar nicht hinauswerfen, weil das in keinem Paragrafen vorgesehen sei. Also bitte, im Laufe der Staatsschuldenkrise hat man fast jedes Prinzip der Währungsunion gebrochen – und jetzt ist etwas ausgeschlossen, bloß weil es gar nicht geregelt ist? Europa hat solche Verteidiger nicht nötig. Niemand soll in dieser Krise sagen, er wisse genau, wo es langgehe. Aber es ist Zeit für Ehrlichkeit. Der Euro ist heute jeden Kampf wert, sofern er eine realistische Erfolgschance hat. Die Rettung der Unrettbaren gehört dazu nicht. Griechenland braucht einen Schuldenschnitt und danach Wirtschaftshilfe. Andernfalls verliert sich Europa im griechischen Dauerdrama. Gleichzeitig müssen alle Euro-Länder den Verzicht auf neue Schulden in ihre Verfassungen schreiben. Das ist kein Allheilmittel gegen schummelnde Staaten, aber die stärkste Fessel, die sich Euroland anlegen kann. Und im Gegenzug zur Einrichtung eines europäischen Währungsfonds müssen Schuldensünder künftig automatisch bestraft werden. Sonst drohen Kungeleien unter den Südländern, und die sind in Euroland nun einmal in der Mehrheit. Als erste Handlung muss der Fonds außerdem der Zentralbank ihre Staatsanleihen abkaufen, damit sie noch eine Chance auf Unabhängigkeit erhält. Erst dann kann Europa glaubwürdig versichern, dass nach dem Sonderfall der Griechen kein Land mehr fällt. www.zeit.de/audio

Rechtsverfahren Die Arbeit der Justiz wirft viele Fragen auf – nicht nur in der Handy-Affäre Politik Seite 15/16

ZEIT ONLINE Beim Filmfest in Toronto versucht sich Regisseur Roland Emmerich an Shakespeare Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/filmfest-toronto

PROMINENT IGNORIERT

15 Monate? Ach was! Eine zwischen Holland und Frankreich gelegene Landfläche begeht dieser Tage den Weltrekord in Regierungslosigkeit. So muss man es, »Belgien«, richtigerweise umschreiben. Sein eigentliches Problem besteht darin, dass dort zwar Flamen und Wallonen siedeln, aber eben, il n’y a pas de Belges, es keine Belgier gibt, wie ein weitsichtiger Sozialistenführer schon 1912 dem König beschied. Das ist der wahre Rekord: Ein Staat ohne Volk: seit 1831! BIT Kl. Fotos v.o.n.u.: Michael Herdlein für DZ; Getty Images

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected]

Abonnentenservice: Tel. 0180 - 52 52 909*, Fax 0180 - 52 52 908*, E-Mail: [email protected] *) 0,14 € /Min. aus dem deutschen Festnetz, max. 0,42 € /Min. aus dem deutschen Mobilfunknetz

PREISE IM AUSLAND: DKR 43,00/NOR 60,00/FIN 6,70/E 5,20/ Kanaren 5,40/F 5,20/NL 4,50/A 4,10/ CHF 7.30/I 5,20/GR 5,70/B 4,50/P 5,20/ L 4,50/HUF 1605,00

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Die Rechnung, bitte

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Feind wird Mensch

SACHSEN

14 15. September 2011

POLITIK

MEINUNG

DIE ZEIT No 38

ZEITGEIST

Der Euro-Kulturkampf Es wächst nicht zusammen, was nicht zusammengehört. Und nun?

JOSEF JOFFE:

Foto: Mathias Bothor/photoselection

Josef Joffe ist Herausgeber der ZEIT

Amerika, wo das Ganze die großen Vorgaben setzt und die reichen Staaten die armen stützen. Oder die Euro-17 fallen zurück in nationale Währungen. So aber läuft die reale Politik nicht. Denn diese will weder die Souveränität der Haushaltsführung noch das historische europäische Projekt opfern. Die Politikunion bleibt ein Traum, der Euro-Zerfall ist der Albtraum. Was bleibt? Zeitgewinn. Aber selbst dieser erfordert eine harte Entscheidung hier und heute. Wegen seiner wachsenden Defizite und Schulden lässt sich Griechenland nicht retten. Wie kann man einem Land noch mehr Austerity aufzwingen, wenn dessen Wirtschaft jetzt schon um fünf Prozent schrumpft? Folglich heißt es: Schuldenschnitt und Gläubigerschutz. Halbierte Schulden lassen sich doppelt so gut bedienen. Und es ist nützlicher, die eigenen Banken mit Steuergeld zu rekapitalisieren, als weitere Milliarden in der Ägäis zu versenken. Das würde den Griechen eine Atempause verschaffen. Inzwischen verdoppeln wir den Schutzschirm EFSF, der den anderen Problemländern einen Unterstand gewährt. Ob so auch ein Kulturwandel eintritt? Schock plus Solidarität ist besser als Durchwursteln und Gottvertrauen.

HEUTE: 11.9.2011

Trauermarsch Hell ist das Septemberlicht und flirrend der Spätsommer, innig die Liebe und tief die Trauer. Da schreitet das amerikanische Präsidentenpaar durch das amerikanische Idyll, ganz in Schwarz, sie den Blick gesenkt, er in Gedanken vertieft. An dieser Stelle in Pennsylvania stürzte vor zehn Jahren die Maschine des Fluges 93 ab, die Terroristen entführt hatten. 44 Menschen starben. Es ist ein Trauermarsch, den das Paar antritt, aber vielleicht nicht ihr schwerster Gang: Was hat ihr Mann, der Präsident, nicht in den vergangenen drei Jahren alles durchzustehen gehabt? Wirtschaftskrisen und Schuldenberge, Naturkatastrophen und Kriege, Anfeindungen und Angriffe – könnte ein Mensch allein das ertragen? So haben sie ihre Hände ineinander verschlungen, als hätten sie just an diesem Morgen wieder dankbar ihre Liebe bemerkt. ABT

Unter Kontrolle

Straßen zu Radwegen

Die Polizei hat die Islamisten im Griff

Fahrradfahrer brauchen mehr Platz

Nein, der islamistische Terror ist nicht besiegt. Nicht in Afghanistan, nicht in Pakistan und auch nicht in Deutschland. Immer wieder planen muslimische Fanatiker Anschläge, auch in der Bundesrepublik, zuletzt offensichtlich in Berlin: Nach monatelangen Ermittlungen im Verborgenen nahmen Polizisten vergangene Woche in der Hauptstadt zwei Männer fest – polizeibekannte Islamisten, wie es heißt. Die Verdächtigen hatten große Mengen Chemikalien bestellt und wollten damit, so die Ermittler, eine Bombe bauen. Es war nicht der erste Einsatz dieser Art, und es wird nicht der letzte sein. Erst Ende April hatten Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesanwaltschaft drei mutmaßliche Al-Qaida-Mitglieder in Düsseldorf festgenommen. Sie gelten als dringend verdächtig, einen Terroranschlag mit einer Splitterbombe geplant zu haben. Im Herbst 2007 griffen das BKA und die GSG 9 in einem Ferienhaus im Sauerland zu, als Islamisten dort einen Sprengsatz basteln wollten. So spektakulär die Bilder solcher Polizeieinsätze immer wieder sind – wir beginnen uns daran zu gewöhnen. Anders gesagt: Der islamistische Terrorismus gehört zum deutschen Alltag. Niemand wird das achselzuckend hinnehmen. Aber die Festnahmen von Berlin ließen auch so etwas wie einen Blick in den Maschinenraum der Anti-Terror-Ermittlungen zu, ließen erkennen, wie Staats- und Verfassungsschützer, Geheimdienstler und Staatsanwälte arbeiten. Und dieser Einblick zeigt, dass sich die erstaunliche Gelassenheit der Bevölkerung angesichts der latenten Terrordrohung durchaus rechtfertigen lässt. Denn es ist unübersehbar, wie effektiv die Sicherheitsbehörden mittlerweile arbeiten. Auch der jüngste

VON CHRISTIAN DENSO

Einsatz in Berlin war ein Erfolg, den eine immer reibungslosere Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwälten und nationalen wie internationalen Geheimdiensten möglich gemacht hat. Wie schon im Fall der Düsseldorfer Zelle kam der entscheidende Tipp von außen, von einem amerikanischen Dienst. Es lässt sich nicht klären, mit welchen Methoden die USA zu derartigen Erkenntnissen gelangen. Aber dass sie mitunter sehr wertvoll sind, ist kaum zu bestreiten. Im Berliner Fall fügten sie sich in ein Puzzle: Verfassungsschutz und Polizei kannten die Verdächtigen bereits aus dem islamistischen Milieu der Hauptstadt. Dazu kamen Hinweise von Firmen, die sich über die ungewöhnlichen Bestellungen der Männer gewundert hatten. Auch das ist keine schlechte Nachricht: Das nötige Bewusstsein für mögliche Gefahren scheint vorhanden, bei Behörden wie in der Wirtschaft. Insofern lässt sich nun, da die erste Aufregung über die Entdeckung der Berliner Zelle nachlässt, zweierlei festhalten: Ja, es gibt in Deutschland seit Jahren ein islamistisch-terroristisches Milieu, es gibt ein paar Hundert sogenannte Gefährder, aus deren Kreis heraus Einzelne immer wieder Attentate planen. Aber es ist den Ermittlern offenkundig gelungen, dieses Milieu so weit zu durchdringen, dass sie bislang ihr Ermittlungspuzzle jeweils zusammensetzen konnten, ehe eine Bombe explodiert. Dafür haben die Ermittler in den vergangenen Jahren immer neue gesetzliche Befugnisse erhalten. Ihr »Werkzeugkasten«, wie sie gern sagen, ist mittlerweile sehr gut gefüllt. Aber es sieht ganz so aus, als seien diese Werkzeuge auch nötig. Jedenfalls werden sie erfolgreich eingesetzt.

Anfang der Woche ist Deutschland unter die Rüpel gefallen. Wo gerade noch friedliche Fußgänger und Autofahrer ihrer Wege gingen oder fuhren, treiben nun wild gewordene Pedaleure »Kampfsport« auf Rädern. Weit über den Straßenverkehr hinaus sind die guten Sitten bedroht. In der jüngsten Ausgabe des Spiegels berichten entsetzte Redakteure, »wie der rasant wachsende Fahrradverkehr das Land in eine Rüpel-Republik verwandelt«. Im Lauf der letzten drei Monate muss sich die Lage dramatisch verschärft haben; so lange ist die letzte Spiegel-Geschichte über Deutschlands Fahrradfahrer her. Damals waren sie eher Opfer als Täter; zu Tausenden, so las man, kamen sie unter die Räder fahrlässiger Autofahrer. Doch pünktlich zur Automesse in Frankfurt schlagen die Opfer angeblich zurück: »Radfahrer immer aggressiver.« Beide Darstellungen beschäftigen sich letztlich mit den Folgen einer bescheidenen Modernisierung. Deutschland mag ein Autoland sein, aber es gibt einige Radfahrer, und es werden mehr. Dänen fahren zweimal so viel Rad wie Deutsche, Niederländer dreimal. Aber immerhin, seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der deutschen Radfahrer um ein Drittel gestiegen. Nutznießer dieses Trends sind vor allem die Autofahrer in den Städten, auf deren ohnehin chronisch verstopften Straßen es noch erheblich gedrängter zuginge, wenn all die neu bekehrten Fahrradfahrer wieder ins Auto steigen würden. Fahrräder benötigen nun einmal sehr viel weniger Platz als Autos. Ganz ohne kommen sie aber leider nicht aus – das ist das Problem. Belohnt werden die Radfahrer allerdings

VON FRANK DRIESCHNER

nicht dafür, dass sie Platz schaffen für andere. In der Verkehrsplanung der Städte spielen sie in aller Regel keine Rolle. Radwege werden angelegt, wenn zufällig etwas Platz und Geld übrig ist. Viele sind ein Hohn auf alle Vorschriften – was die Verkehrsplaner nicht daran hindert, ihre Benutzung vorzuschreiben. Dieses klägliche Radverkehrsnetz gerät nun an seine Grenzen. Seine Nutzer weichen auf Fahrbahnen und Fußwege aus. Unfälle und Konflikte sind die Folge, schlecht verarbeitete Schuldgefühle motorisierter Verkehrsteilnehmer tun ein Übriges – fertig ist der Aufruf zum Kulturkampf. Radfahrer, heißt es nun, fühlten sich »ermächtigt zum konstanten Regelbruch«. In Wirklichkeit ist der gesamte Straßenverkehr eine Sphäre des konstanten Regelbruchs; wer das nicht glaubt, der begebe sich mit Tempo 50 auf eine Hauptverkehrsstraße und beobachte im Rückspiegel das Anwachsen des Staus. Der Straßenverkehr funktioniert nicht deshalb, weil alle sich an Regeln halten; es genügt, dass die meisten es meist tun, Auto- wie Radfahrer. Insgesamt ist der kleine Fahrradboom natürlich eine Erfolgsgeschichte: gut für die Umwelt, gut für Krankenkassen und Gesundheit, gut für Städte und Verkehr. Ausnahmsweise sind die Bürger dem Staat in einer ökologischen Frage einmal voraus. Doch nun muss auch die Verkehrspolitik sich modernisieren. Sie muss für Radfahrer Verkehrspläne entwickeln, wie es sie für Autofahrer seit jeher gibt. Wo der öffentliche Raum knapp ist, muss sie ihn zur Not neu verteilen. Mehr Platz für die Verkehrsteilnehmer, die ihn am sparsamsten nutzen – das heißt: Straßen zu Radwegen!

IN DER ZEIT POLITIK 2

EU Warum wir mehr und nicht

weniger Europa brauchen FPD Populistische Versuchung

3

Hauptstadt Wowereit und die neu-

en Berliner 4

Krise Wer in der Regierung an

Gewicht verliert und wer gewinnt Bücher Pierre Rosanvallon fordert

einen neuen Gesellschaftsvertrag 5

Äthiopien Kampf gegen die Dürre

6

Kabul Abzug der Nato-Soldaten

7

Politik & Lyrik Aufruf an die

Journalisten 8

Frankreich Sozialisten im

SACHSEN 15 Rechtsstaat An Ermittlungen der Dresdner Justiz gibt es immer wieder Kritik VON M. MACHOWECZ Ostkurve

12 Nahost Das einsame Land Israel; Tel Aviv und die Arabische Revolution 14 Zeitgeist

Euro II Krisenmanager fehlen

25 Euro III George Soros rät 26 Missmanagement Boeing 27 Kriminalität Cyber-Großangriff

VON JANA HENSEL

Sachsen-Lexikon Singvögel

16 Leipzig Ein Investor plant die erste bewachte Wohnanlage der Stadt VON SEBASTIAN KRETZ

DOSSIER 17 Papstbesuch Deutschland bereitet sich auf den Heiligen Vater vor 20 WOCHENSCHAU Liebesbrücken; Vorgärten; Honig

Marseiller Koruptionssumpf 10 Türkei Interview mit dem Präsidenten der Türkei

24

GESCHICHTE 21 Preußen Friedrichs Schoßgebet 22 Antisemitismus Der Wiener Kaplan Sebastian Brunner

WIRTSCHAFT

Verkehr Rüpel auf zwei Rädern

23 Euro I Zentralbank rettet Politik

Terror Die Bombenbastler

23 Steuern Der Deal mit der Schweiz

Groupon Kein Börsengang

28 Industrie BDI-Präsident will Taten 30 Auto Zu träge deutsche Hersteller 31 Mobilität Wandel in China

45 Erbgut Was das erste entzifferte Genom eines Deutschen lehrt

47 Waldbrand Lukrative Feuer

36

Kino Tim Fehlbaums »Hell«

67 Kunstmarkt Bassenges Fotobuch Museumsführer Galerie Dessau

48 Grafik Weggeworfenes Essen 49

Gentechnik Stumme Etiketten

55 KINDERZEIT Klarkommen Nick ist blind.

FEUILLETON

33 Verdi Frank Bsirske darf bleiben 35 Indien Krise - welche Krise?

66 Festival Eine Bilanz von Venedig

46 Evolution Der Stammbaum des Menschen wird komplizierter

32 Vermieter Geschäfte mit Hartz IV 34 USA Lohnt sich ein Studium?

65 Kunst Tomás Saraceno

57 Ägypten Über die antiisraelischen Ausschreitungen Miriam Meckel Jauch-Getwitter

Kredite Ratingagenturen

CHANCEN 91 Winnenden Schüler verarbeiten den Amoklauf 92 Projekt Schreiben statt Schweigen 93

Biografie Vom afrikanischen Straßenkind zum Hamburger Lehrer

68 Theater »Der zerbrochene Krug«; »Kommune« 69 Musik Fukushima-Streichquartett 70 GLAUBEN & ZWEIFELN Bischöfe Ringen um die Zukunft

Job Studentische Grabungshilfe

95 Medien Pressefreiheit in Europa 114 ZEIT DER LESER

RUBRIKEN

71 Liturgie Selbstinszenierung

2

72 Papst Bei Kritikern zu Besuch

24 Macher und Märkte

73 Kultur-Saison Höhepunkte

52

Worte der Woche Stimmt’s?, Erforscht & Erfunden

37 Energiewende Peter Ramsauers Gegenstrategie

59

38 Frankreich Schwache Banken

61 Sachbuch »Gespräche über ein Leben mit John F. Kennedy«

85 Sommer – welcher Sommer?

62 Impressum

86 München Oktoberfest, nachhaltig

69

62 Roman »Last Exit Volksdorf«; »Der Mond ist unsere Sonne«

87

113 LESERBRIEFE

63 Sachbuch Alice Schwarzer

88 Boeing 787 Der neue Flieger

39 Klima Grüne Modernisierung VW und Porsche Keine Fusion

40 Was bewegt Peter Krämer?

WISSEN 45

Archäologie Schädelfunde

Maßlosigkeit Kapitalismus

REISEN

60 Berliner Kultur Ein Streitgespräch

64 Stasi Das neue Gesetz 64

Talkshows

Großbritannien Bergtour in England, Schottland und Wales

89 Dänemark Insel des einsamen Baums

58 Was mache ich hier? 61 Gedicht / Wir raten zu Wörterbericht/ Finis

Die so gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« von ZEIT ONLINE unter www.zeit.de/audio

Foto: John Rucosky/The Tribune-Democrat/AP

Was ist das Kernproblem mit dem Euro, jenseits der täglichen Schreckensmeldungen? Eine Wette, die Deutschland verloren hat. Die ursprüngliche, wiewohl unausgesprochene Erwartung war eine Art »D-Mark-Zone« im europäischen Gewande, die – unfein ausgedrückt – am deutschen Wesen genesen sollte. Das hieß: fiskalische Zucht, stabiles Geld, niedrige Staatsschulden und hohe wirtschaftspolitische Anpassungsbereitschaft. Die Idee, »Konvergenz« genannt, war richtig. Wie sonst sollte der »Kampf der Kulturen« in der Euro-Zone geglättet werden? Wo den strengeren protestantischen Sitten im Norden die Kultur des »Club Med« gegenüberstand, dessen Regierungen, gleich welcher Couleur, das sparsame Haushalten nicht so ernst nahmen. Das waren Staaten wie Portugal und Spanien, Italien und Griechenland, aber auch Frankreich, die ganz kommod mit ihren Gesellschaftsverträgen gelebt hatten. Sie gaben grundsätzlich mehr aus, als sie einnahmen, hatten folglich Inflationsraten und Staatsschulden, die den braven Deutschen den Angstschweiß ins Gesicht getrieben hätten. Staatliche Monopole blieben geschützt, Arbeitsmärkte rigide. Aber keine Sorge. Solange Lira, Drachme und Peseta regierten, konnten die Club-Med-Länder stets etwas schneller abwerten, als sie inflationierten – und so im internationalen Wettbewerb bestehen. Diesen Fluchtweg hat das Gemeinschaftsgeld verriegelt, aber es lief trotzdem ganz gut weiter – dank des Euro. Denn nun konnte sich der Club Med viel billiger Geld borgen als zu Zeiten seiner abwertungsgefährdeten Nationalwährungen. Die Schulden stiegen, die Wettbewerbsfähigkeit sank. Da der Markt sich auf Dauer nicht ausmanövrieren lässt, sind diese Staaten jetzt alle mehr oder minder pleite – Griechenland vorweg. Es gibt keine gute Politik ohne gutes Wirtschaften. Und es gibt keine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Haushaltspolitik. Folglich die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder die EuroZone springt nach vorn in einen Bundesstaat wie

ZEIT FÜR SACHSEN

15. September 2011 DIE ZEIT No 38

OSTKURVE

»Man gerät leicht in Verdacht«

Eliten In den Tagen bevor sich der Verwaltungsrat des Mitteldeutschen Rundfunks traf, um einen Kandidaten für die Nachfolge von Intendant Udo Reiter zu küren, konnte man in den Zeitungen lesen, dass wohl Karola Wille, die bisherige Juristische Direktorin, das Rennen machen würde. Ich gebe zu, dass mich, auch wenn ich die Frau und ihre Qualifikationen nicht so genau kenne, ihre Nominierung gefreut hätte. Denn Karola Wille ist eine Frau, aber wichtiger noch: Sie stammt aus Chemnitz. Man traut sich ja kaum mehr, darauf hinzuweisen, aber: Lediglich fünf Prozent der gesamtdeutschen Elite stammen aus dem Osten. Zwischen Rostock und Görlitz machen die geborenen Ostdeutschen etwa 30 Prozent dieser Elite aus – bei einem Bevölkerungsanteil von knapp 95 Prozent. So stammen beispielsweise fünf von sechs Mitgliedern der RBB-Geschäftsführung aus dem Wes-

Die Handy-Affäre und eine Frage: Ist Sachsens Justiz bei der Suche nach linken Gewalttätern jedes Mittel recht? VON MARTIN MACHOWECZ Ulbig (CDU) scholt ihn öffentlich. Der frühere LKA-Chef Paul Scholz schrieb einen Zeitungsbeitrag: Thierses Kritik an Polizei und Justiz grenzt ans Unerträgliche. Die Frage ist: Wie kann einem Rechtsstaat Kritik unerträglich sein? »Die Vehemenz, mit der sich hier staatliche Organe Kritik verbitten, habe ich anderswo noch nie erlebt«, sagt Thierse nun. Und: »Wenn einer etwas Kritisches sagt, gilt das gleich als Einmischung in innere Angelegenheiten. Auf mich wirkt das beinahe so, als gäbe es eine sächsische Breschnew-Doktrin. Man ist Kritik wohl nicht gewohnt.« Er beobachte »Anzeichen einer Verschwisterung zwischen einer Partei und dem Beamtenapparat« – nach 20 Jahren CDU-Herrschaft im Freistaat.

Jana Hensel, 1976 in Leipzig geboren, Autorin des Bestsellers »Zonenkinder«, schreibt hier im Wechsel mit ZEITAutor Christoph Dieckmann

In Dresden wurden weit mehr Mobilfunkdaten erfasst als anderswo

Kritik verbittet sich die Justiz auch im derzeit dramatischsten Fall sächsischen Ermittlungseifers: Richterlich genehmigt, ließ sich die Staatsanwaltschaft nach dem 19. Februar von den Netzbetreibern die Handy-Verkehrsdaten großer Teile Dresdens zur Verfügung stellen. Zeitweise erfassten die Ermittler sämtliche Verbindungsdaten der Innenstadt, in einem Viertel sogar über volle 48 Stunden. Sie sammelten insgesamt weit mehr als eine Million Verkehrsdaten – von Hunderttausenden Anschlüssen. Erfasst wurden die ein- und ausgehenden Anrufe und SMS auch unbeteiligter Bürger, Journalisten, Abgeordneter – zwar nicht inhaltlich. Aber theoretisch wäre nachvollziehbar, wer mit wem telefoniert hat. Wer wem geschrieben hat. Wer wann wo war. Eine Million Daten. Das ist es, was viele gegen die Staatsmacht aufbringt. Von Andreas Schurig, dem Sächsischen Datenschutzbeauftragten, wurden die Fahnder in der vergangenen Woche harsch gerügt – für die wohl größte Funkzellenabfrage der Republik. Ohne jede Verhältnismäßigkeit hätten die Behörden Daten zusammengeklaubt, sagt Schurig; eine Abwägung, in welchem Umfang Interessen Unbeteiligter ver»Man ist Kritik wohl nicht gewohnt«, letzt werden könnten, habe vorab nicht stattgefunden. »Bereits die zeitlichen und örtlichen Ausmaße vermutet Wolfgang Thierse waren nicht angemessen«, resümiert Schurig. AnSachsens Generalstaatsanwalt residiert nah am gemessen wäre eher eine Abfrage über zwei MinuDresdner Sachsenplatz. Sein Büro hat die Größe ten gewesen. Nicht über zwei Tage. einer Dorfkapelle; wie in einer Kirche läuft die Es habe auch kein ausreichendes Konzept geDecke nach oben spitz zu. Klaus Fleischmann ist geben, wie man die Daten ohne Kollateralschäden der Chefermittler des Landes, ein mächtiger rasch auswerten könnte. Bis heute behielten LanMann mit Schnauzbart. Er ist in den Ruf gera- deskriminalamt und Polizei selbst jenes Material, ten, Linke zu jagen. Er sagt, das ärgere ihn. das sie nicht mehr benötigten, in ihren Computern Wer Fleischmann fragt, warum er so energisch gespeichert. »Die Funkzellenabfrage in Dresden ermittle, bekommt einen Stein vors Gesicht. Es ist halte ich weiterhin für verhältnismäßig«, sagt Geein schwerer Quader. Fleischmann legt ihn auf den neralstaatsanwalt Fleischmann. »Und die DatenTisch. »Dieser Stein«, sagt er, »ist in meiner Nähe menge ist so groß, wie sie ist.« Es liege in der Natur gelandet!« Dann erzählt er vom 19. Februar: jenem der Sache, dass eine Funkzellenabfrage in der SächTag, als 2000 Neonazis durch Dresden marschieren sischen Schweiz weniger Daten produziere als etwa wollten. Und als Tausende Menschen versuchten, eine auf dem Dresdner Kirchentag. Im ersten Fall das zu verhindern. Der 19. Februar, sagt Fleisch- seien einfach weniger Menschen unterwegs. mann, sei ein bedrohlicher Tag gewesen. VerAllerdings: Gerade beim Kirchentag käme eine mummte. Gewalttäter. Etwa 100 Funkzellenabfrage wohl nur verletzte Polizisten. »Es ist die dann infrage, wenn allerschwersPflicht eines Ermittlers, dafür zu te Verbrechen aufzuklären wäVerhältnismäßig? sorgen, dass Sachverhalte aufgeren. Zu viele Unbeteiligte landeklärt werden«, sagt der 60-Jähriten sonst in den Datenbanken. Es könnte passieren, ge. »Dafür hat er alle ihm gegeHinter vorgehaltener Hand dass der Oppositionsbenen Mittel einzusetzen.« räumen selbst Ermittler längst führer vor Gericht Genau das aber ist der Vorein: Möglicherweise war die landet – aber die wurf, der Sachsens Justizbehörganze Abfrage ein gewaltiger den in diesen Wochen gemacht Aufwand ohne den geringsten Täter der Dresdner wird: Dass ihnen, bei der Suche Erfolg. Und auch das Argument, Februarkrawalle nie nach linken Gewalttätern, mittdie Funkzellenabfrage sei ja ermittelt werden lerweile jedes Mittel recht sei. In schließlich richterlich genehmigt Sachsen wird die Frage diskutiert, gewesen, erscheint im Rückblick ob es eine besondere Staatsform fragwürdig: Die Staatsanwaltgebe: die »sächsische Demokratie«. In der man, wie schaft Dresden habe dem Amtsgericht ein bereits Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) vorformuliertes Genehmigungsschreiben zur Unsagt, »leicht in Verdacht gerät«. Nämlich schon terschrift vorgelegt, berichtet Datenschützer Schudann, wenn man sich lediglich am Protest gegen rig: »Sie hatte den Briefkopf des Gerichts schon im Rechtsextremismus beteiligt. Die Härte des Systems, Computer.« So erscheint der Richtervorbehalt, der so überschrieb der Spiegel jüngst einen Text über übereifrige Ermittlungen eigentlich verhindern soll, das »seltsame Verhältnis der Dresdner Landesregie- ad absurdum geführt. Dass die Handyabfrage aus rung zum Rechtsstaat«. Politiker aus ganz Deutsch- dem Ruder gelaufen ist, hat die Staatsregierung land empören sich öffentlich über rasenden Ermitt- mittlerweile wohl selbst erkannt: Sie schlug eine lungseifer, über eine Kaskade eigentümlichen Bundesratsinitiative vor, die künftige Ermittlungen Übermutes der sächsischen Justiz. dieser Art strengeren Regeln unterwerfen soll. Bei allen leisen Selbstzweifeln reiht sich die Zu den Kritikern gehört auch eben jener Wolfgang Thierse. Der 67-Jährige ist am 19. Februar Handydatenaffäre ein in eine auffällige Serie von nach Dresden gefahren – als Gast, wie er sagt. Er merkwürdig hartem Vorgehen. Da ist zum Beispiel die Aufregung um das stellte sich zu den Gegendemonstranten und beobachtete die Szenerie: die Nazis, wie sie marschier- »Haus der Begegnung« in Dresden: Am 19. Febten; die Polizei, wie sie ihnen den Aufmarsch zu ruar stürmten rund 100 Polizisten das Gebäude, ermöglichen hatte. Und wie sie gezwungen war, weil man vermutete, von hier aus würden SteinGegendemonstranten fernzuhalten. Einem Kame- würfe koordiniert – ganz nebenbei brach man eine rateam erklärte Thierse auf dem Höhepunkt der Anwaltskanzlei auf mit der Begründung, dort Auseinandersetzungen jenes Tages: »Die Polizei ist könnten sich Flüchtige verstecken. Da ist die Hausdurchsuchung beim eingangs eben vollauf damit beschäftigt, die Neonazis zu beschützen. Das ist sächsische Demokratie.« Er erwähnten Pfarrer König in Jena: Ihm warf man meinte das als Kritik am Trennungskonzept von nicht nur die Bildung einer kriminellen VereiniStadt und Gerichten, das die Polizei in diese Lage gung vor. Bis heute wird gegen ihn auch wegen gebracht hatte. Er wurde, vielleicht sehr bewusst, aufwieglerischen Landfriedensbruchs ermittelt, weil er am 19. Februar mit einem VW-Bus durch falsch verstanden. Der Vizechef einer sächsischen Polizeidirektion zeigte Thierse sogleich an. Innenminister Markus Fortsetzung auf S. 16

Friedlich, aber kriminell? SPD-Chef Martin Dulig (Mitte) am 19. Februar

Fotos (Ausschnitte): A. Burgi/lsn/dpa (o.); M. Rietschel/dapd/ddp (2); D. Butzmann (r.)

A

n einem Sonntag im August treffen sich die Feinde des Freistaates zum zwanglosen Kennenlernen bei Kaffee. Noch bevor das erste Wort fällt, zerlegen sie hektisch ihre Handys. Sie befürchten, die Polizei höre sonst mit. Da sitzt ein bärtiger Pfarrer aus Jena im Stuhlkreis. Da sind einige schmächtige Studenten. Da ist ein großer, dicker Kerl, der den Eindruck macht, allenfalls in Computerspielen gefährlich zu sein. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft bilden die Menschen im Raum eine kriminelle Vereinigung. Eine Art kampferprobte »Antifa-Sportgruppe«, die in Dresden seit anderthalb Jahren gezielt Andersdenkende angreife. Einer ihrer Anführer, hieß es, sei der protestantische Jugendpfarrer Lothar König. König ist ein Berg von einem Gottesmann. Seine riesigen Füße stecken in Birkenstocksandalen, sein Bart wuchert wie wildes Kraut, das lange Haar hängt herab wie graues Lametta. Der Geistliche wiegt sicher 100 Kilo. Sportgruppe? Kampferprobt? Er hält den Kopf schief und lacht. Viele derer, die sich hier treffen, haben eine Hausdurchsuchung hinter sich. Bei manchen ist davon auszugehen, dass Telefongespräche mitgehört wurden. Die Razzia bei Pfarrer König, durchgeführt von sächsischen Polizisten in dessen Jenaer Dienstwohnung, wurde bundesweit bekannt. König beteuert, dass er die zwei Dutzend Leute, die seine »kriminelle Vereinigung« sein sollen, nie zuvor gesehen habe. Er kenne sie erst, seit ihm das Landgericht Dresden eine Liste schickte: die aller Verdächtigen. Man habe sich dann zusammentelefoniert, sagt König: »Und wir verstehen uns gut.« Man muss aufpassen, dass man Gruppen wie jene, die sich hier trifft, nicht verklärt. Es gibt darin Leute, die einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit niemals unterschreiben würden. Zumindest das Verfahren gegen Lothar König jedoch musste die Staatsanwaltschaft inzwischen aufgeben. Jüngst erhielt der Pfarrer einen Brief, in dem man ihm mitteilt: Das »Ermittlungsverfahren gegen Sie wegen Bildung krimineller Vereinigungen« sei eingestellt worden.

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Türöffner: Das Dresdner »Haus der Begegnung« erhielt Polizeibesuch

ten; beide Chefredakteure des MDR ebenso. Und nun, wohl wieder, auch der Intendant. Erinnern Sie sich daran, dass Stanislaw Tillich (CDU), der Ministerpräsident, vor zwei Jahren zur Wahl mit dem Slogan »Der Sachse« antrat? Was damals für das wichtigste Amt im Freistaat galt, ist für eines der nächstwichtigen offenbar nicht mehr relevant. Denn es kam anders als vorausgesagt: Bernd Hilder wird neuer Intendant werden, wenn der Rundfunkrat ihn wirklich wählt. Vom Niedersachsen Hilder heißt es, dass ihm vor allem seine Nähe zur CDU bei der Bewerbung um die Intendanz geholfen habe. Ob er beim skandalgeschüttelten Heimatsender wirklich einen Neuanfang schafft? Man würde es sich wünschen. Andererseits: Die Geschichte des MDR, mit all diesen Veruntreuungen und Geldschiebereien, sie ist ja auch ein gutes Lehrstück über das, was man, sehr vereinfachend, mitunter die Verhältnisse nennt. Wahrscheinlich war die Welt in den Jahren nach dem Mauerfall einfach so: ein bisschen gesetzlos, rau und ungeschlacht. Viele Leute haben aus diesem Chaos einen Vorteil zu ziehen versucht. Es ist in jedem Fall gut, dass diese Skandale nun ans Tageslicht kommen. Denn wir lernen dabei etwas über uns selbst.

SACHSEN-LEXIKON

Singvögel. Untergruppe der Sperlingsvögel. Sorgen für verblüffende Nachrichten: Wie die Zeitung Der Standard berichtet, hat seit 1989 in Ostdeutschland einer Studie zufolge »die Anzahl von Singvögeln mit verhältnismäßig großem Gehirn merklich zugenommen«: Diese hätten »die Chancen, die sich nach dem Ende des Kommunismus ergaben, besser für sich nutzen« können – etwa den Wandel der Landschaft. Da stutzt der Jammerossi: Sind, nach der Wende, nicht vielmehr unzählige Vögel mit kleinen Gehirnen in den Osten gezogen? Ein Klischee lässt Federn. MAC S

16 15. September 2011

ZEIT FÜR SACHSEN

DIE ZEIT No 38

die Menge fuhr und Protest organisierte. Anfang August durchwühlte ein Aufgebot sächsischer Beamter Königs Dienstwohnung in Jena: Ihr Auftritt war martialisch, sie kamen in Kampfmontur. Sie trugen Computer und Dokumente aus dem Haus. Sie beschlagnahmten sogar den VW-Bus – als mögliche »Tatwaffe«. Schnell war die Rede von einer »Sachsenrazzia«, denn viele in Thüringen, vom Jenaer Oberbürgermeister bis zum Erfurter Justizminister, zeigten sich verwundert: Was hat die sächsische Polizei in der Thüringer Pfarrerswohnung verloren? Der Auftritt seiner Beamten in Jena ist heute selbst dem sächsischen Innenminister ein bisschen unangenehm, man sieht das Markus Ulbig an, wenn man ihn danach fragt. Die Beteiligten müssten daraus lernen, sagt er, meint aber damit nicht die Durchsuchung selbst – sondern den Auftritt in Kampfmontur. Schließlich sind da die Ermittlungen gegen André Hahn, den Chef der Linksfraktion im Sächsischen Landtag. Er hatte am 13. Februar 2010 gegen den rechtsextremen Aufmarsch protestiert. Die Staatsanwaltschaft will Hahn als »Organisator und Kopf« einer Blockade ermittelt haben – an der er selbst nachweislich nicht teilnahm. Sie will nun die Abgeordnetenimmunität von Sachsens Oppositionsführer aufheben lassen, um ihn anzuklagen. Gegen 200 Blockierer vom 19. Februar 2011 ging die Staatsanwaltschaft zudem vor, Dutzende von ihnen, darunter Sachsens SPDChef Martin Dulig, zahlten Geldstrafen. 80 könnten sich bald vor Gericht wiederfinden, weil sie die Zahlung verweigerten. Während in Städten wie Berlin oder Jena derartige Verfahren wegen geringer Schuld schnell zu den Akten gelegt werden, fährt man in Dresden einen harten Kurs.

»Dreh- und Angelpunkt ist die Verhältnismäßigkeit« Das energische Vorgehen trifft vor allem ins Herz jener Bürger, die sich für ihren friedlichen Protest ohnehin unter Generalverdacht wähnen. »Man hat das Gefühl, es wird in einer Tour aufs falsche Pedal getreten«, sagt Robert Koall. Der Chefdramaturg des Dresdner Staatsschauspiels hat seit dem 19. Februar immer wieder, als Privatmann und viel beachteter »ratloser Bürger«, appelliert, nicht jeden friedlichen Demonstranten als linken Gewalttäter abzustempeln. Was ist in Dresden durcheinandergeraten? In München trifft man den Mann, der das wissen könnte. Hans-Jürgen Papier war Präsident des Bundesverfassungsgerichtes. Im Mai lud ihn Innenminister Ulbig auf ein Symposium zum 19. Februar nach Dresden, er sollte das Chaos aufdröseln helfen. Papier hat Videos gesehen von den Februarkrawallen. Sie erinnerten ihn an einen Bürgerkrieg. Papier ist kein Mann, der Blockaden gegen Rechtsextreme gutheißt. Er sagt: »Die Verfassung schützt nicht nur wertvolle Meinungen.« Wenn der Rechtsstaat gegen Blockierer vorgehe, dann sei das kein Rechtsstaatsdefizit. Sondern die Durchsetzung des Rechtsstaates. Nur weiß Papier wie kaum jemand sonst: Nicht der Gesetzestext allein ist immer maßgeblich. Auch der Geist eines Gesetzes ist von Bedeutung. Ein Staatsanwalt muss nicht zum letzten Mittel greifen. »Dreh- und Angelpunkt«, sagt Papier, »ist die Verhältnismäßigkeit.« Das gelte bei einer Funkzellenabfrage wie bei Hausdurchsuchungen. Der Einfall der sächsischen Polizei in Thüringen? »Das ist in jedem Fall ein eigenartiger Stil.« Wer rettet die Dresdner? Sie brauchten, vermutet Papier, endlich eine Figur, die alle Seiten eint. Nur fällt ihm niemand ein. Mitarbeit: STEFAN SCHIRMER S

Fotos: Christoph Busse für DIE ZEIT (2); Sebastian Schneider für DIE ZEIT (u.)

Fortsetzung von S. 15

27 Wohnungen mitten in der Stadt verkauft Bauherr Roland Kober als »Gated Area«

Der Zaunkönig Ein Investor plant Leipzigs erste bewachte Wohnanlage – und sieht plötzlich sich selbst ausgegrenzt

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ie verdächtigen Häuser stehen zwischen Ahorn und Kastanien. Zwei Würfel, eierschalenfarben, mit je vier Geschossen, obenauf ein Penthouse, und um das Grundstück verläuft ein hoher, schmiedeeiserner Zaun. Äußerlich fügen sie sich bestens ein ins feine Leipziger Musikviertel mit seinen sanierten Gründerzeitvillen. Aber hinter dem Zaun stehen nicht nur die zwei Häuser, dahinter steckt auch ein Konzept. Es heißt »Central Park Residence – Leipzig First Gated Area«. Das bedeutet: Auf dem Grundstück am Clara-Zetkin-Park entsteht die erste geschlossene und bewachte Wohnanlage der Stadt. Es ist ein Konzept, das aus den USA stammt, wo Millionen Menschen in Vorortsiedlungen hinter hohen Zäunen leben, beschützt von Wachpersonal. Als Roland Kober vor drei Jahren mit der Planung für die »Central Park Residence« begann, fand er, dass auch in Leipzig die Zeit reif sei für eine bewachte Wohnanlage. »In den letzten Jahren haben sich in der Region einige große Firmen angesiedelt. Durch diesen wirtschaftlichen Aufschwung lohnt es sich, so ein aufwendiges Projekt zu machen«, sagt Kober, der Projektleiter der Baufirma. Außerdem habe er mit vielen Leipzigern gesprochen, die über zunehmende Kriminalität klagten. Zwischen 2007 und 2010 hat sich die Zahl der Einbrüche in Leipzig mehr als verdoppelt. »So kamen wir darauf, dass wir auch Wert auf Sicherheit legen müssen«, sagt Kober Die Stadt, die außerhalb des Zauns liegt, hat allerdings noch weitere Facetten. BMW und Porsche haben zwar Fabriken in Leipzig gebaut, aber nur wenige Menschen können sich die Autos leisten, die dort vom Band laufen: Leipzig gilt als Deutschlands Hartz-IV-Hauptstadt, die Arbeitslosenquote liegt bei 13 Prozent. Eine Gated Area, befürchtet Karsten Gerkens vom Amt für Stadterneuerung, wirke sich negativ auf das soziale Klima aus: »Leipzig ist eine offene Stadt. Es ist bedenklich, wenn irgendwo ein Großteil der Bürger ausgeschlossen wird.« Freilich haben sich auch die Leipziger an die Gentrifizierung gewöhnt, jene Verteuerung einfacher Wohnlagen durch zahlungskräftige Zuzügler. Aber Vermögende, die sich in eine Parallelgesellschaft hin-

term Zaun zurückziehen? Die »Abschottung einzelner Areale« sei unerwünscht, sagte ein Sprecher des SPDgeführten Rathauses, als die Pläne bekannt wurden. Und auch die Lokalausgabe von Bild schlug Alarm: Die Reichen schotten sich ab! Kobers Idee und die Stadt Leipzig, finden die Kritiker, passten nicht zusammen. »Mit diesem Gegenwind haben wir nicht gerechnet«, sagt Kober. Er ist in Leipzig aufgewachsen, der 54-Jährige kennt die Stadt. Mit einem Geschäftspartner verwaltet er hier 18 Häuser. Die laute Kritik erklärt er sich mit fachlichem Unverständnis. »Das war das erste Mal, dass so ein Sicherheitsstandard öffentlich thematisiert wurde. Aber niemand hat mit uns darüber gesprochen, was wir gemeint haben.« Offenbar gibt es zwei Definitionen des Begriffs Gated Area: die von Kober und die der anderen. Was in Leipzig als Neuheit gilt, ist in München, Frankfurt am Main oder Berlin längst etabliert. Das wohl bekannteste Beispiel heißt »Arkadien« und liegt in Potsdam auf einer Halbinsel in der Havel: Zaun, Kameras, Pförtner. Auch an »Arkadien« gab es Kritik. Und es dauerte etwa zehn Jahre, bis alle Wohnungen verkauft waren. »Geschlossene Wohnsiedlungen sind in Deutschland unbeliebt, weil sie dem Leitbild der europäischen Stadt widersprechen«, sagt Georg Glasze, Professor für Kulturgeografie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Europäer erwarteten eine gewisse Mischung von ihren Städten, diese sollen Treffpunkt der sozialen Schichten sein. Kober führt über das 6000 Quadratmeter große Grundstück. Er ist groß und weißhaarig und trägt einen dunklen Anzug, seine Schuhe schließen mit feinen Schnallen. Um die Fassaden der beiden Häuser, die »Verdi« und »Vivaldi« heißen, weht ein wenig Klassizismus. Rundbögen zieren die Penthouses. Ein bisschen Toskana, ein bisschen Leipziger Gründerzeit. Kober möchte lieber über Baustile reden als über den Zaun. Die bisher vorhandene Inneneinrichtung zeigt das Materialbewusstsein künftiger Bewohner. Grüner Marmor im Gästebad, Granit für die Küche, Tropenholz auf dem Balkon. Mehr lässt sich nicht erahnen von späterem Glanz; »Verdi« und »Vivaldi« sind noch im Rohbau. Zwischen den Häusern liegen die Kunststoffwaben der Tiefgaragen-Drainage. Kein Springbrunnen plätschert. Bauarbeiter stapfen durch Sand.

VON SEBASTIAN KRETZ

Eigentlich sollte die Central Park Residence im lässt Bewaffnete über die Anlage laufen«, sagt Kober. Herbst 2010 fertig sein. Nun wird es mindestens bis »Das müssen wir in Deutschland in dieser scharfen Ende dieses Monats dauern. Kober sagt, er suche noch Form nicht ausführen.« Man kann es auch so sehen: Käufer für drei der 27 Wohnungen. Die Bauverzöge- Den Reichen ist das Abschotten zu teuer. rungen hätten aber nichts mit mangelnder NachEs gibt einen Zaun um die Residence, er ist mehr frage zu tun. Schuld seien die harten Winter. als mannshoch, aber weder blickdicht noch unüberWer zieht in so ein Haus? Bewachte Wohnanla- windbar. Darin sind Bewegungsmelder eingebaut. gen, weiß die Forschung, entstehen in Deutschland Klettert einer drüber, wird per Standleitung die Ponicht, weil in der Umgebung Einbrüche oder Raub- lizei alarmiert. Und es gibt eine Videoüberwachung züge zunehmen. »Menschen, die in Gated Areas am Grundstückstor, die zeigt, wer Einlass begehrt. Es ziehen, sind nicht unbedingt Opfer von Kriminalität gibt aber keinen steinernen Schutzwall, auch keine geworden«, sagt Geograph Glasze. Es sei vielmehr so, Minikameras in der Spitze des Zauns, von denen dass die erhöhte Sicherheit eben mitgenommen früher die Rede war. Womöglich wird es nicht mal werde, wenn Standort und Sozialstruktur der Nach- einen unbewaffneten Hausmeister geben. Kobers Konzept ist in den drei barschaft ohnehin gefielen. Jahren seit Beginn der Planung imRoland Kober sagt, keiner seiner Käufer wolle mit der Presse sprechen. mer weiter geschrumpft. Heute hört Sie kämen aus Leipzig, aber auch aus Kober seinen eigenen – weiter verwendeten – Werbespruch »Leipzig Bayern oder der Schweiz; sie entFirst Gated Area« nicht mehr so stammten allen sozialen Schichten. Leute, die mindestens 300 000 Euro gern: »Verabschieden Sie sich davon. für die Standardwohnung zu etwa Wir bauen einfach zwei Häuser.« Kurzum: Es wird keine Gated Area 110 Quadratmetern aufbringen müssen. Offenbar aber sitzt das Geld Abgerüstet: Der Zaun geben in Leipzig. Der korrekte Vornicht mehr ganz so locker, wie es sich um die Anlage erhält nun wurf, den Kritiker erheben könnten, die Bauherren erhofft hatten. Der weniger Wachtechnik lautet also nicht: Beihilfe zu AbPreis für eine Wohnung lag ursprüngschottung, sondern eher: Etikettenlich bei 3500 Euro pro Quadratmeschwindel. Er habe einst den Begriff ter; inzwischen sind es 2750 Euro. Die Käufer wollten Gated Area gewählt, »um Aufmerksamkeit zu erreweder per Mobiltelefon das Badewasser einlaufen gen«, räumt Kober ein. »Wenn es sich dadurch verlassen (15 000 Euro) noch einen Kühlschrank er- kauft, kann ich mit dem bisschen Wellenschlag gut werben, der Vorräte selbständig verwaltet. leben.« Was als konkurrenzlose Höchstsicherheit anDer Sparsamkeit könnte nun auch das Sicherheits- gepriesen wird, entpuppt sich als gehobener Standard. personal zum Opfer fallen. In der Central Park ResiUnd es bleibt Luft nach oben. Tritt etwa ein künfdence heißt der Wachmann Concierge, und er ist tiger Bewohner von »Vivaldi« auf die dunklen nebenbei für Tätigkeiten zuständig, die im normalen Planken des Südbalkons, begibt er sich in WasserMietshaus der Hausmeister erledigt. »Wir empfehlen pistolenreichweite der Kinder aus der Nachbarvilla. den Concierge, aber die Eigentümerversammlung Repräsentatives Hinabschreiten kommt im Treppenwird selbst wählen, ob und inwieweit sie das haben haus, der knappen Dimensionen wegen, nicht inmöchte«, sagt Kober. Der Concierge kostet extra. frage. Und nach Nordosten hin welkt der Beweis, dass In Berlin haben die Bewohner der Prenzlauer sich hier vor Jahrzehnten schon einmal eine Elite abGärten, einer flach umzäunten Siedlung aus soge- schottete. Dort steht eine fensterlose Plattenbauruine, nannten Townhouses, beschlossen, die Tore lieber das ehemalige Gästehaus des Ministerrates der DDR. geöffnet zu lassen, statt Wachpersonal zu finanzieren. Wenn ein dichter Zaun aus Sicht der Residence»In Gated Areas in Amerika übertreibt man das und Bewohner sinnvoll wäre, dann auf jeden Fall hier.

Gerettet!

Nr. 38 15. 9. 2011

Kochen mit Andy Warhol, Seite 46

Diesem Mädchen wurde unvorstellbares Leid angetan. Es musste aus seinem Dorf in Kenia fliehen, um zu leben. Denn die Bewohner hielten zum Täter

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Alles, was in diesem Heft passiert

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Ein Regenbogen kommt nach München

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Eine Frau über ihren manischen Mann Ein Mann, eine Bar: Charles Schumann wird 70

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Martenstein liest einen Bestseller und kommt auf den Hund Heiter stimmt uns diese Woche eine Frau mit Bart, die ihren Rock schwingt Die Deutschlandkarte zeigt, wo Nachbarn streiten Gesellschaftskritik: Warum will Carla Bruni uns ihr Kind nicht zeigen? Warum ein missbrauchtes Mädchen in Kenia wieder Hoffnung schöpfte Paolo Pellegrin fotografiert zugleich Slums und den Flughafen von Mumbai Der Musiker Kid Creole hält sein Leben für einen Traum Stil: Bunte Seidenhosen machen vergessen, dass der Sommer zu Ende ist Christoph Drösser beruhigt es, SUV zu fahren – im VW Tiguan sitzt er ganz oben Wochenmarkt: Ein Rezept für Renekloden, die schon Andy Warhol schmeckten Unser Paartherapeut weiß, warum sie ihre Affäre einfach nicht vergessen kann Die Schauspielerin Eva Mattes wachte während einer Operation auf und wurde gerettet

Und so sieht unser Zeichner Ahoi Polloi die Welt Titelfotos Sebastian Bolesch Fotos Inhalt Courtesy Galerie Eva Presenhuber, Zürich; Michael Herdlein; Andrea Ventura

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HARALD MARTENSTEIN

Über ein derzeit heiß diskutiertes Buch: »Ich habe es von Mensch auf Hund umgeschrieben« Mein Leben hat sich verändert. Neuerdings habe ich einen Hund, aus dem Tierheim. Alle, die meinen Hund sehen, sagen: »Wahnsinn. Der Hund sieht ja genauso aus wie du.« Es stimmt, es ist wahr. Die Frisur, der Gang, die Nase, alles. Als ich den Hund kaufte, war mir nicht klar, dass ich offenbar nach einer idealisierten Version meiner selbst suchte. Der Hund ist, abgesehen von der unbestreitbaren Ähnlichkeit, zweifellos süßer als ich, geduldiger, sportlicher, er ernährt sich regelmäßiger ... man muss auch über den Stuhlgang sprechen. Ähnlich wie im Leben frischer Eltern spielt im Leben des Hundebesitzers der Stuhlgang des Schützlings eine Rolle, die Außenstehende schwer begreifen. Ekel muss einem fremd sein. Man muss es aufsammeln. Wenn Grüne, Ökologen, NGOs über »Natur« sprechen, lache ich nur. Was wisst ihr über Natur, wenn ihr keinen Hund habt? Natur ist Scheiße. Wenn es stinkt, dann ist es Natur, ihr ahnungslosen Romantiker. Wenn der Plastikbeutel in der Jackentasche aufgeht und Stuhlgang sich in der Jackentasche ausbreitet, dann hat Natur gegen Chemie gesiegt. Das Folgende sind Auszüge aus einem aktuell viel diskutierten Buch über das Natürliche (Seite 13 bis 16). Ich habe es von Mensch auf Hund umgeschrieben. »Ich streichle also gerade meinen Hund. Es kann vorkommen, dass er minutenlang daliegt und alles geschehen lässt. Meistens liegt er auf dem Rücken, weil diese Rasse oft Rückenschmerzen hat. Ich kann mich in meinen Hund so gut reinfühlen, dass ich davon auch Rückenschmerzen kriege. Dass er einfach so daliegt, ist, glaube ich, für ihn neu. Ich wiederhole alles, was ich kann, mal in schnellerem und dann in langsamem Rhythmus. Alles geht wie von allein, wie auf Droge. Wenn wir mitten dabei sind, vergesse ich Zeit und Raum. Das ist der

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einzige Moment am Tag, wo ich abschalten kann. Ich glaube, dass es eher am Atmen als am Hund an sich liegt. Im Gegensatz zu dem, was meine Mutter wollte, habe ich in der Therapie über die Jahre gelernt, dass ich auch ein Hundefreund bin. Wenn ich das Gefühl habe, dass es jetzt aber auch mal reicht mit der Bedienung, höre ich langsam auf. Das versteht er immer richtig und kümmert sich dann sehr dankbar um mich. Der Hund untersucht mich Millimeter für Millimeter, wie ein Frauenarzt. Besser, man hat wenigstens am gleichen Tag geduscht. Der Hund nimmt meine Hand. Ich weiß genau, was das bedeutet. Er möchte, dass ich mit ihm Gassi gehe. Gassi gehen, das mache ich für mich alleine nie. Meine Mutter hat mich sehr feministisch erzogen. Ich glaube, da ist irgendwas schiefgelaufen in der Erziehung. Wenn wir den ganzen Tag nicht Gassi waren und ich manchmal dieses heimliche Kratzen an der Tür gehört habe, tut mir das richtig weh, ich will es aber nicht wahrhaben und denke lieber, ich habe einen Pilz oder eine Blasenentzündung. Dann gebe ich Vollgas. Der Hund guckt ganz genau zu, wie ich alles abrufe, was ich je übers Gassigehen im Internet gesehen habe. Ich mache kreisende Bewegungen mit der Hundeleine, ich klappe die Wohnungstür auseinander, reibe mich dazwischen, wenn ich sehe, wie sehr den Hund das erregt, erregt es mich zurück. Ich mache die Wohnungstür so weit auseinander, wie es geht. Der Hund rutscht nach vorne und peitscht ein paarmal mit seinem harten Schwanz gegen die Hundeleine.« Dies war ein Auszug aus Schoßgebete von Charlotte Roche, einem Buch über Natur, erstmals in einer jugendfreien, für den Schulgebrauch und für schamhafte Menschen geeigneten Fassung. Über den Stuhlgang des Hundes ein andermal mehr.

Zu hören unter www.zeit.de/audio Illustration Fengel

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Die ZEITmagazin-Entdeckungen der Woche

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Handgestrickte FINGERPUPPEN aus Peru, das klingt nach Dritte-WeltLaden. Diese hier aber sind zu kaufen bei Shuka, einem schicken Shop mitten in Amsterdam

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Auch ein SOFAKISSEN kann glamourös sein, nämlich wenn es in England von Hand hergestellt wurde, mit Waschbären bedruckt ist. Aus dem House of Hackney

Alles Gute! Zum 70. Geburtstag des Fotografen Tim Rautert erscheint sein BILDBAND über die Hutterer (»Nicht fotografieren«, Steidl). Einige der Bilder sind in den Achtzigern im ZEITmagazin erschienen

»Ich Schwein. Ich Narr. Ich Narrenschwein.« AXEL HACKE in seinem Kolumnenband »Das Beste aus meinem Liebesleben«, soeben erschienen im Kunstmann Verlag

Alsteryoga ist, wenn Fisch und Hund sich Guten Morgen sagen: am Außenalstersteg in Hamburg an der Alten Rabenstraße. Bei fast jedem Wetter (www.alsteryoga.de)

Eine ESPRESSOMASCHINE muss übrigens kein Statussymbol sein, sondern nur nett aussehen und leckeren Kaffee machen, wie die »Pixie« von Nespresso

Frauen dürfen zwar keinen Bart tragen, aber bunte, schön schwingende RÖCKE wie diesen hier von dem kleinen Leipziger Label howitzweissbach Fotos Kathrin Bruch; HOH; Thomas Dachs; Klaus Frahm; Nestlé Nespresso AG; Steidl Verlag

Deutschlandkarte

NACHBARSCHAFTSKLAGEN Schleswig-Holstein 11,44 Mecklenburg-Vorpommern 15,63

Hamburg 1,47

Bremen 9,82 Berlin 5,78

Brandenburg 19,07

Niedersachsen 11,41

Sachsen-Anhalt 11,04 Nordrhein-Westfalen 11,59 Hessen 8,21

Thüringen 15,82

Sachsen 9,98

Rheinland-Pfalz 19,24

Saarland 16,42

Bayern 11,20 Baden-Württemberg 8,53

Erledigte Zivilprozesse in Nachbarschaftssachen je 100 000 Einwohner (2009)

Nachbarn sind wirklich schrecklich. Weil sie uns vor Augen führen, dass wir gar nicht so tolerant sind, wie wir es gerne wären. Im Büro, unter unseresgleichen, ist das Tolerantsein einfach, aber abends zu Hause kriegen wir einen Koller, wenn »der von nebenan« mal wieder auf dem Balkon raucht/Klavier spielt/Kohl kocht. Nachbarn sind, seien wir

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ehrlich, nur dann erfreuliche Wesen, wenn sie Pakete annehmen (wobei wir uns die nicht allzu privaten Pakete lieber ins Büro schicken lassen, um den Nachbarn nicht allzu dankbar sein zu müssen). Dass die Freude, den Nachbarn zu verklagen, vor allem in der Provinz groß zu sein scheint, obwohl ein jeder seine Nachbarn wahrscheinlich gleichermaßen

hasst, liegt daran, dass in Großstädten oftmals der Anlass zur juristischen Klage fehlt: Dort gibt es leider keine Hecken, die rüberwachsen, keine Zäune, die falsch verlaufen. Wahrscheinlich erschießt man in der Großstadt seinen Nachbarn eher im Treppenhaus, wenn es keiner sieht. Die Datenlage hierzu ist allerdings unsicher. Matthias Stolz

Illustration Jörg Block Quelle Statistisches Bundesamt

Gesellschaftskritik

Carla Brunis Bauch dürfen wir noch gern angucken, ihr Baby dann aber nicht

Über Diskretion Nun wirkt es natürlich sehr kokett, dass ausgerechnet die schwangere Carla Bruni in einem Interview behauptete, sie werde ihr Kind der Öffentlichkeit vorenthalten, um es zu schützen. Es werde keine Fotos geben. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass Paparazzi-Fotos von ihrem Kind zumindest im Netz ohnehin bald kursieren dürften, hatte die Meisterin der Inszenierungskunst ihr Familienleben in der Vergangenheit ja keineswegs unter Verschluss gehalten. Gibt es da nicht diese Urlaubsfotos aus Jordanien, die ihren kleinen Sohn Aurélien, Spross des Philosophen Raphaël Enthoven, an der Seite von Nicolas Sarkozy zeigen? Und hat dieser nicht wiederum versucht, wenn auch vergeblich, seinen Sohn Jean als schillernden Geschäftsmann in Paris zu installieren? Es liegt also nahe, den behaupteten Öffentlichkeitsentzug als besonders raffinierte Strategie aufzufassen. Was unter Verschluss gehalten wird, ist stets wertvoller als der Klunker, der am Hals hängt. Jahrhundertealte Erbstücke, heikle Liebesbriefe, Goldbarren werden den Blicken anderer entzogen, wobei man natürlich dafür sorgen muss, dass die anderen sehr wohl ahnen, dass es diese Erbstücke, Liebesbriefe, Goldbarren gibt. Es schmückt einen das Raunen um ein Geheimnis, nie das Geheimnis selbst. Ein der Öffentlichkeit entzogenes

Foto Franz Chavaroche / dpa

Kind gäbe der Mutter einen unprätentiösen Anstrich, der in Wahrheit der Gipfel des Prätentiösen wäre. Nun haben wir uns womöglich zu sehr daran gewöhnt, eine hässliche Strategie und Inszenierungslust in jeder Äußerung eines Prominenten zu wittern. Wer sich etwa die Fotos aus Jordanien anschaut, sieht, wie Carla Bruni in anrührender Panik versucht, mit ihren Händen das Gesicht Auréliens zu verhüllen. Gründe für die Verhüllung auch des zweiten Kindes gäbe es allemal. Es ist schlechterdings ein Unglück, berühmte Eltern zu haben. An ihnen wird man als Kind gemessen, nicht an dem, was man selbst im Leben leistet. Auch deshalb ist die Liste gescheiterter Nachkommen von Stars lang und traurig. Cameron Douglas, der Sohn des Schauspielers Michael Douglas, blickt auf eine ähnliche Drogenkarriere zurück wie die Kinder des Sängers Ozzy Osbourne. Kaum anders erging es Lisa Marie Presley, der Tochter von Elvis und Priscilla, und Guillaume Depardieu, dem Sohn von Gérard. Bereits über August von Goethe, den Sohn von Johann Wolfgang, hieß es, er sei »alkohol- und vaterkrank« gewesen. Je weniger die Kinder von Prominenten als solche erkannt werden, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Eltern später Schande machen. Adam Soboczynski

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Der lange Weg zur Gerechtigkeit

Von CAROLIN EMCKE

Fotos SEBASTIAN BOLESCH

In Kenia wird ein kleines Mädchen vom Nachbarn schwer missbraucht. Die Tante erstattet Anzeige, eine Hilfsorganisation nimmt das Kind auf. Wo soll es nun hin? In sein Dorf kann es nicht zurück

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E S G I B T G E S C H I C H T E N , die haben keinen Anfang, weil niemand weiß, wieso sie geschehen. Sie lassen sich erzählen, aber sie lassen sich nicht begreifen. Sie werfen nur Fragen auf und bieten keine Antworten. Die Geschichte von Grace ist so eine Geschichte. Grace singt. »If you’re happy and you know it, clap your hands«, sie klatscht in die Hände, klapp, klapp, Grace singt und klatscht vergnügt wie alle anderen Kinder, »If you’re happy and you know it, clap your hands«, klapp, klapp, es ist acht Uhr morgens, die erste Stunde des christlichen Kindergartens in Meru, Kenia, hat begonnen, erst mit einem Bibelvers, »Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde«, und nun mit diesem Lied der Freude, die man sehen und hören muss, »If you’re happy and you know it, then you really got to show it, clap your hands«, klapp, klapp, Grace trägt wie die anderen achtzehn Kinder ihre Schuluniform, einen blauen Jeansrock und ein rotes Polohemd unter einem blauen Wollpullover. »If you’re happy and you know it, tap your toe«, Grace stapft mit ihrem Fuß auf den Boden, erst mit dem einen, dann mit dem anderen, tap, tap, morgens hatte noch ihr großer Zeh aus einem Loch im Socken geschaut, und Grace hatte lachen müssen über das nackte Ding, das dann eilig in ihren etwas zu großen Schuhen versteckt wurde. »God is love«, steht in einem rosafarbenen, gemalten Herz auf der Wand ihres Schulzimmers, und Grace singt und klatscht und stampft, wie alle anderen Kinder, und wenn sie nicht an manchen Tagen unkontrolliert erbrechen und urinieren würde, könnte man denken, Grace sei ein glückliches Kind. Man könnte sogar denken, dass Grace nicht dieselbe Grace sein kann wie die, deren kurzes Leben bereits eine lange Akte mit der Nummer RI/R/113/10 füllt. Das Mädchen in der Akte trägt in Wirklichkeit einen anderen Namen, wie auch ihre Verwandten. Warum, das wird schnell klar, wenn man weiß, was in der Akte steht. Darin beginnt Grace’ Leben nicht mit ihrem Geburtstag, der ist nicht verzeichnet, sondern mit jenem 3. März 2010, dem Tag, an dem sie, halb bewusstlos, von ihrer Tante Joyce auf dem Arm ins Krankenhaus getragen wurde. »Blut und Flüssigkeit auf der Unterhose«, steht mit blauem Kugelschreiber auf dem schmucklosen Zettel, der in der Akte abgeheftet ist und auf dem ein Arzt im Methodist Hospital von Maua die Ungeheuerlichkeit notiert hat: 13 Kilo Gewicht, Körpertemperatur 37 Grad, eine eingehende Vaginaluntersuchung sei nicht möglich gewesen, weil die Patientin große Schmerzen gehabt habe, der Arzt schließt mit der Diagnose »Vergewaltigtes Kind mit genitalen Verletzungen«. Aufnehmen wollte sie trotzdem niemand im Methodist Hospital. Das hätte Geld gekostet. Geld, das Grace’ Tante nicht aufbringen konnte. Das steht nicht in der Akte. Das erzählt Esther Mburu, die Frau, die gerufen wird bei Fällen wie dem von Grace. Ohne

Esther Mburu und Ripples International, die kenianische Hilfsorganisation, für die Esther arbeitet, wäre Grace nie behandelt worden, ohne Esther und Ripples hätte Joyce das wimmernde Kind wieder mitnehmen müssen, von Maua den ganzen Weg zurück, mit einem der überfüllten Taxis über die Landstraße, und dann zu Fuß, vorbei an den Feldern, die rotbraunen Lehmwege entlang, vorbei an den ärmlichen Hütten, bis zurück nach Kabuitu, in das Dorf, in dem Grace vergewaltigt wurde. Ohne Esther hätte niemand die Kosten für die Ärzte übernehmen können. Ohne Esther gäbe es nicht einmal diese Akte, denn niemand sonst würde das Verbrechen an diesem Kind so ernst nehmen, niemand würde ein solches Kind so ernst nehmen, dass eine Akte angelegt würde, in der alle medizinischen Untersuchungen sauber und ordentlich abgeheftet sind. »Vergewaltigung durch eine Person, die der Mutter bekannt ist«, notiert am 25. März 2010 ein Gynäkologe an der Frauenklinik von Meru, zu dem Grace gebracht worden ist, der sie untersucht und festgestellt hat, dass der erwachsene Vergewaltiger den Unterleib des vierjährigen Kindes so verletzt hat, dass Vagina und Anus »miteinander kommunizie-

ren«. In den Wochen nach der Vergewaltigung, so vermerken es die Krankenakten, kann Grace weder Stuhl noch Urin halten. Im April bringt Esther Mburu Grace zum ersten Mal in die Hauptstadt Nairobi, ins Kenyatta Hospital, wo sie einen künstlichen Darmausgang gelegt bekommt. Im September führt ein Chirurg vom Nairobi’s Women’s Hospital eine rekonstruktive Operation durch, bei der ihr Damm nachgebildet wird. Im November 2010 schließlich wird Grace der künstliche Darmausgang wieder entfernt. Der Kindergarten ist aus. Grace rennt im Garten des Tumaini Girls’ Rescue Centre herum, des Heims für sexuell missbrauchte und misshandelte Mädchen, das von Ripples International betrieben wird und das ihr Zuhause geworden ist. Sie umkurvt die hoch aufgeschossene Frau in Uniform, die das schwarze Stahltor bewacht, das Fremden die Zufahrt verwehrt, Grace rennt an den Pinienbäumen vorbei, um die Rosenbüsche vor den vergitterten Fenstern herum, sie quietscht und lacht, immer ihrer besten Freundin hinterher. »Anfangs konnte Grace nicht sprechen«, sagt Esther Mburu, 31, Grace hatte keine Worte für das, was geschehen war. Es-

Das Mädchen, das wir Grace nennen, ist neugierig auf den Notizblock unserer Reporterin (linke Seite). In der Provinzstadt Meru (oben) lebt es in einem Heim. Gerettet hat Grace ihre Tante Joyce (links), hier in dem Dorf, wo das Verbrechen geschah 15

ther schaut hinüber zu Grace, die inzwischen mit einem der älteren Mädchen zusammen seilspringt, wie soll ein Kind das auch verstehen. »Sie hat immer nur geweint.« Esther Mburu liebt Kinder, und sie liebt Grace. Esther ist die Team-Leiterin des Girls’ Rescue Centre, und sie betreut Grace und all die anderen Mädchen, die dort, wo einmal ihr Zuhause war, nicht mehr sein können, weil sie dort misshandelt oder missbraucht wurden, vergewaltigt oder verstümmelt, von ihrem Vater oder vom Nachbarn, weil sie, die noch Kinder sind, geschwängert worden sind und nun selber Kinder haben, Kinder, deren Väter gleichzeitig ihre Urgroßväter sind, Kinder, die mit einer Machete verwundet oder mit Wasser verbrüht wurden, weil sie HIV-positiv sind und deswegen ausgesetzt oder weggeworfen wurden, Kinder, die ausgeschlossen oder eingeschlossen wurden, versehrt oder verletzt wie Grace. »Was ist dein liebstes Tier, Grace?« – »Ein Elefant.« – »Kannst du einen Elefanten malen?« Grace schaut auf die leere Seite in dem Notizbuch, kuschelt sich an, schaut fragend, ob sie das wohl darf, erwägt, ob sie es selbst auch wirklich will, dann drückt sie sich noch ein bisschen näher ran und malt drauf-

Jeden Morgen verlässt Grace das bewachte Heim, um in den Kindergarten zu gehen (rechte Seite). Esther Mburu von einer Hilfsorganisation hat für Grace gekämpft (rechts, im Gerichtsflur). Oben: Hauptstraße in Meru 16

los: zwei gerade Linien, die am oberen Ende durch einen Kringel miteinander verbunden sind, und an denen unten zwei Schlaufen hängen, die, wohlwollend betrachtet, zwei riesige Elefantenohren sein könnten. Wer die Geschichte von Grace verstehen will, muss ihre Mutter kennenlernen. Wann Grace geboren ist? Das weiß sie nicht so genau. Grace’ Mutter, Agnes, balanciert den elf Monate alten Halbbruder von Grace auf dem Schoß, viereinhalb sei Grace. Ungefähr. Wie alt sie selbst war, als Grace geboren wurde? Das weiß sie auch nicht so genau. Sie hebt ihr T-Shirt und schiebt den zappelnden Kleinen an ihre winzige Brust, damit er sich beruhigt. Sie selbst ist jetzt 21, das weiß Agnes. Aber sie kann das Alter ihrer Tochter nicht abziehen von ihrem eigenen, um zu errechnen, wie alt sie war, als Grace geboren wurde. Agnes ist nie zur Schule gegangen. Lesen und Schreiben hat sie nie gelernt. Tage und Wochen unterscheiden sich kaum für sie. Vielleicht ist das der Grund, warum Geburtstage für sie keine Rolle spielen. Was aus dem Mann geworden ist, der Grace’ Vater ist? Das weiß sie nicht. Ob sie lange ein Paar waren? Nein. Ob er weiß, was Grace angetan wurde? Nein. Ob

sie jetzt mit dem Vater von Anthony, dem Kleinen auf ihrem Schoß, zusammenlebt? Nein. Männer als Väter scheinen in Agnes’ Leben keine Rolle zu spielen. Männer als Geliebte, als Menschen, mit denen man sein Leben teilen möchte, auch nicht. Vielleicht weiß sie nicht einmal, dass es das gibt. Das Glück, einen Menschen zu lieben, einen Mann oder ein Kind. Agnes musste ein paar Dokumente unterschreiben, deswegen ist sie zum Girls’ Rescue Centre gekommen, dem Heim, in dem ihre Tochter lebt. Ohne Anlass kommt Agnes selten hierher. »Ich habe nicht gedacht, dass irgendetwas mit Grace passieren könnte«, so beginnt Agnes die Geschichte der Vergewaltigung von Grace, »ich wollte nur für ein paar Tage wegfahren.« Warum sie ihre Tochter nicht mitnimmt, erklärt Agnes nicht, warum sie Grace nicht bei ihrer Schwester Joyce abgibt, die in der Nähe wohnt, auch nicht, warum sie das Kind stattdessen bei ihrem Nachbarn zurücklässt, aus dessen verschlossener Hütte die Polizei das vollkommen verstörte Kind erst 24 Stunden nach der Vergewaltigung befreien wird, dafür hat sie keine Erklärung. Grace wurde von ihrer Tante Joyce gerettet, nicht von ihrer Mutter, es war Joyce, bei der ein Nachbarsjunge anrief und der er sagte, er könne Grace weinen hören, der Nachbar und seine Frau hätten sie eingesperrt, es war Joyce, die eilig die Polizei benachrichtigte, und es war Joyce, die das blutige Bettlaken mitnahm als Beweismittel, sollte es jemals zum Prozess gegen den Vergewaltiger ihrer Nichte kommen, weil sie der Polizei nicht traute. Es war Joyce, die der Polizei Geld geben musste, damit die den Verdächtigen verhaftete, es war Joyce, die einem anderen Polizisten die Uniform waschen musste, damit er den Verhafteten zum Untersuchungsgefängnis nach Maua überführt. An Agnes rauschten diese Ereignisse vorüber, als sei es nicht ihr Kind, dem ein Erwachsener den Schoß zerfetzt hat. Schmal sieht Agnes aus, fast jungenhaft. Eine richtige Arbeit hat sie nicht. Manchmal wäscht sie Wäsche bei anderen Leuten. Manchmal geht sie auf die MiraaFelder in der Umgebung von Kabuitu, wenn man Helfer bei der Ernte braucht. »Es ist gut, dass Grace hier bei Ripples sein kann«, sagt Agnes tonlos, »ich vermisse sie manchmal, aber wenn ich sie dann einmal sehe, und wie sie strahlt, dann ist es auch gut.« Eine eigene Wohnung kann sich Agnes nicht leisten. Sie wohnt mit ihren zwei Söhnen bei ihrer Großmutter. Einen Mann gibt es nicht. Es gibt ein Bett, auf dem die alte Frau schläft, Agnes und ihre beiden Kinder schlafen auf dem Boden. »Das ist meins«, sagt Grace. Sie steht vor einem kleinen Bett, das quer zu den Doppelbetten der anderen Mädchen in ihrem Zimmer steht, direkt unter dem Fenster. Heute ist Waschtag. Grace hat schon wie die anderen draußen im Garten Wäsche in Plastikbotti-

chen geschrubbt und dann auf den Pflanzen zum Trocknen ausgelegt. »In mein Bett pass ich auch rein. Schau!« Sie schlüpft aus ihren blauen Plastikschlappen, hüpft auf die Decke und strahlt. Seit einem Jahr schon wohnt Grace hier im Tumaini Girls’ Rescue Centre. Richtig groß ist es in dem Heim nicht, die Decken und Wände sind schon ein bisschen modrig, zum Umzug in ein geplantes größeres Haus fehlt noch etwas Geld. Außer dem Garten und ein paar Springseilen besitzt das Heim auch nicht richtig viel. Aber es ist mehr, als Grace jemals hatte. Sie zeigt einen halbhohen Schrank, mit zwei Schubladen, und die Sachen darin, die gehören ihr, Grace führt sie vor: ein paar T-Shirts, eine rosafarbene Jacke mit einer passenden Mütze dazu, aber die zieht sie nur an, wenn sie am Sonntag zum Kindergottesdienst in die Kirche geht. Dann gibt es noch eine Dose Vaseline, einen Becher mit ihrer Zahnbürste und ihre Schuluniform. Grace führt das auch deshalb besonders gerne und langsam vor, weil sie eigentlich in der Küche eine Tasse mit Porridge essen sollte, die sie nicht will. Manchmal bekommt ihr Essen nicht, manchmal spuckt sie es aus. Allein Esther weiß, dass es nicht am Essen liegt.

»Wir müssen die Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung nehmen«, erläutert Esther und rührt dabei in ihrem gezuckerten Tee mit Milch. »Die Opfer werden zu Schuldigen gemacht, sie können in ihren Familien nicht mehr sein, weil sie da nicht sicher sind, und sie können in der Schule nicht mehr sein, weil sie da stigmatisiert werden.« Weil Kinder selten nur einmal missbraucht werden, sondern wieder und wieder, weil es keinen Schutz gibt, solange das Opfer noch zu Hause wohnt und die Täter nicht verurteilt sind, weil es in Kenia zwar alle Gesetze gibt, die es braucht, um Verbrechen wie Vergewaltigung zu ahnden, diese Gesetze aber selten angewandt werden, kommen die Kinder zu Esther. Wer die Geschichte von Grace verstehen will, muss die Behördenmitarbeiter erleben, die zuständig sind für Kinder wie sie. Jane Kinuthia sitzt in einem winzigen, lichtlosen Büro, dem District Children’s Office von Meru, mit speckigen Wänden und einer einsamen Glühbirne, die von der Decke herunterbaumelt. Jane Kinuthia ist verantwortlich für vernachlässigte und misshandelte Kinder in der Kommune von Meru, zu der 230 000 Menschen zählen. Die

Hauptstadt Nairobi ist 225 Kilometer entfernt. Tagsüber dominieren in Meru die Handelsreisenden, Lastwagen mit ihren Fuhren aus Kaffee und Akazien-Holz stehen hupend und ratternd im Verkehrschaos, tagsüber ziehen Frauen zum großen offenen Markt am Rand von Meru, wo die Bäuerinnen auf dem Boden ihre Waren ausbreiten, bräunliche Yam-Wurzeln und Bananen aus der Umgebung, tagsüber fahren ab und an Touristenbusse durch die wuseligen Straßen, auf dem Weg zur Safari in einem der zahlreichen Wildparks in der Umgebung, abends dann verschwinden die Frauen aus der Öffentlichkeit, ab Einbruch der Dunkelheit ist kaum ein Mädchen oder eine Frau mehr allein zu sehen, es bleiben klebstoffschnüffelnde Straßenkinder und Trauben von Männern vor kleinen Bars mit Namen wie Warrior Bar beim warmen Tusker-Bier oder Härterem. »Sie vernachlässigen Kinder, weil es an Geld fehlt«, sagt Jane Kinuthia, die stellvertretende Leiterin des District Children’s Office von Meru, »sie misshandeln Kinder, weil es an Liebe fehlt oder an Interesse.« Jane Kinuthia präsentiert alle Daten und Fakten, sie hat sie alle zur Hand, und beschreibt doch

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nur die Realität aus Armut, Verwahrlosung und Gewalt. 756 Dollar beträgt das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Kenianers, laut jüngstem Bericht der Weltbank, 46,6 Prozent der Bevölkerung von Kenia gelten als arm, hier in der nordöstlichen Provinz, sind es sogar über 50 Prozent. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt, nach einem Bericht von Unicef, bei 55 Jahren. 1,2 Millionen Aids-Waisen leben in Kenia allein, schätzungsweise 1,5 Millionen erwachsene Kenianer leben mit dem Virus, wissentlich oder unwissentlich, jedes Jahr werden es 100 000 mehr, die sich mit HIV infizieren. Selbst die Gleichgültigkeit gegenüber Gewalt an Frauen und Mädchen lässt sich in Zahlen ausdrücken. 57 Prozent aller Mädchen und 54 Prozent aller Jungen zwischen 15 und 19 Jahren halten es, laut einer Umfrage von 2009, für berechtigt, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Die Ursachen erklärt das nicht. Von draußen dringen durch die Fliegengitter der offenen Fenster die Stimmen der wartenden Menschen herein, Männer und Frauen, Mütter und Kinder, Alte und Junge sitzen und stehen auf hölzernen Bänken und Stufen vor Jane Kinuthias winzi-

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gem Gebäude, in einem staubigen Hinterhof von Meru. Seit dem frühen Morgen schon versucht sie all die Anfragen unter Kontrolle zu bringen, Sorgerechtsstreitigkeiten sind darunter, Unterhaltsklagen, Scheidungen, und sie gibt selber zu, dass es ihr nicht gelingt. Über 400 bis 500 Fälle von Vernachlässigung oder Misshandlung von Kindern landen pro Monat bei Jane Kinuthia. Fälle sexueller Gewalt muss sie mindestens einmal pro Woche bearbeiten. »Ich habe dauernd Kinder, die Schutz brauchen, die eine Unterkunft brauchen, aber für die ich nichts habe«, sie zuckt die Schultern. »Dann rufe ich Esther an.« Seit dem Jahr 2006 hat Ripples International 186 Mädchen bei sich aufgenommen, größtenteils wegen sexueller Gewalt, 52 Mitarbeiter hat die Organisation insgesamt, sie kümmern sich um Mädchen wie Grace, aber auch um jüngere Opfer von Misshandlung und Missbrauch. Finanziert wird diese Arbeit von der Kindernothilfe. Neben dem Girls’ Rescue Centre, in dem zurzeit 13 Mädchen leben, gibt es noch ein New Start Babies’ Rescue Centre, in dem Babys und Kleinkinder im Alter von bis zu zwei Jahren versorgt wer-

den, die Helfer versorgen außerdem noch Tausende Mitglieder der Gemeinde mit Lebensmitteln, und sie bauen an einem Kinderkrankenhaus. Eigentlich sollten die Kinder nur vorübergehend aufgenommen werden, eigentlich sollte Grace nur ein paar Wochen bei Esther im Girls’ Rescue Centre leben, so lange, bis die Polizei den Täter in Gewahrsam genommen hat, eigentlich sollten Kinder wie Grace dann zurück zu ihrer Familie, dorthin, wo sie aufgehoben und beschützt sind. Aber dazu müssten Polizei und Gerichte ihre Arbeit machen. Wer die Geschichte von Grace verstehen will, muss die Polizisten kennenlernen, die Fälle wie die von Grace bearbeiten sollen. »HIV ist real, Officer. Deine Waffe kann dich nicht beschützen!«, steht auf dem Plakat, direkt neben dem staubigen Tisch in der Schreibstube der Polizeiwache von Meru, »Sei enthaltsam! Sei treu! Benutz ein Kondom!« Warum ein Polizist daran erinnert werden muss, auf der Wache, dass seine Waffe ihn nicht vor Aids schützt, steht nicht auf dem Plakat. In dem Büro gibt es keine Schreibmaschine und kein Telefon. Ein Beamter in Zivil hockt hinter dem Schreibtisch und tut

nichts, was sich auf den ersten Blick erschließen würde. Im Innenhof der Polizeistation sitzen Familien, Alte und Junge, zwei Kleinkinder krabbeln im Dreck, niemand kümmert sich um sie. Ihre Mütter wurden eingesperrt, vor 24 Stunden schon, seitdem haben die Kleinen nichts zu essen bekommen, das eine fiebert schon etwas. Das kümmert niemanden. Die Älteren im Hof warten, dass sie einem der Beamten Geld zustecken können, dass sie einen ihrer Angehörigen freikaufen können oder sich selbst. Scheine wechseln ganz unverhohlen den Besitzer. Dann wird der Junge in den Wachraum hereingeführt, dessentwegen Esther gerufen wurde. Die Polizei hatte ihn auf der Straße aufgelesen und sich nicht mit ihm beschäftigen wollen. »Wie heißt du?«, Esther holt den Jungen zu sich auf die Bank und streicht ihm über den Arm, »David«, David zittert, als habe er Schüttelfrost. »Wo wohnst du, David?« – »Hier.« Vielleicht ist er zurückgeblieben, vielleicht unter Schock, er ist ein Kind, schätzungsweise fünf oder sechs, das hat die Polizisten nicht daran gehindert, ihn einzusperren, in eine winzige Zelle, einen Verschlag, ohne Wasser, ohne Toilette, ohne Stuhl oder Bett. Da saß David dann, den ganzen Tag und die ganze Nacht, bis jemand auf die Idee kam, Esther anzurufen. »Wo hast du das denn her, David?«, Esther zeigt auf das T-Shirt eines Festivals, das David trägt, es ist der einzige Anhaltspunkt für sie, um herauszufinden, woher dieser Junge kommt. Vier Fragen und einen Anruf später hat Esther das Heim ermittelt, dem der verwirrte Junge abhandengekommen ist. Er soll abgeholt werden, später, bis dahin wird David wieder eingesperrt. Wer die Geschichte von Grace verstehen will, muss erleben, wie Esther und all die anderen Mitarbeiter von Ripples, die Sozialarbeiter, die Psychologen, die Hausmütter, die Lehrerinnen und vor allem die Leiterin von Ripples, Mercy Chidie, mit ihrer Kraft und ihrem Zorn ein System bekämpfen, in dem zwischen Tätern und Opfern zwar theoretisch unterschieden wird, in dem praktisch aber Opfer allzu oft nicht geschützt und Täter nicht verurteilt werden.

Gewalt gegen Frauen lässt viele Kenianer gleichgültig, deshalb fordern Wandbilder an einer Straße in Meru dazu auf, Gewalttäter anzuzeigen. Kleines Bild: Grace mit einer Freundin im Gottesdienst

»Es gibt Tage, an denen ich verzweifeln könnte«, sagt Esther, »die Krankenhäuser sind oft zu weit entfernt, als dass die Kinder eine gute Versorgung bekämen, die Untersuchungen sind schlecht, die Polizisten haben oft nicht einmal ein Auto, um zu einem Tatort zu fahren, sie müssen ein Taxi nehmen, das Geld kostet, das ihnen niemand erstattet, warum sollten sie das tun? Wir müssen oft eher gegen die Polizei ermitteln als mit ihr.« Wer die Geschichte von Grace verstehen will, muss Kabuitu aufsuchen, zwei Autostunden von Meru entfernt, den Ort, aus dem Grace stammt, den Ort, in dem sie vergewaltigt wurde. Die Hütte ist keine Hütte, sondern ein Verschlag. Ein Fenster gibt es nicht, nur ein ausgeschnittenes Rechteck, das von innen mit einem Holzbrett verbarrikadiert ist. Die Tür ist schmal und ohne Griff. Die Hütten stehen direkt nebeneinander, ohne Abstand, eine neben der anderen, unterschiedslos ärmlich, es gibt keine Kanalisation in dieser lehmigen Straße, kein fließendes Wasser und keine Intimität. Ausgeschlossen, dass irgendjemand nicht gesehen haben kann, wie der Nachbar am 3. März 2010 das Kind mit Süßigkeiten zu sich hereinlockte. Ausgeschlossen, dass irgendjemand nicht gehört haben kann, wie Grace hier in diesem düsteren Verschlag geschrien und geweint hat. »Hier war es«, Grace’ Tante Joyce ist mitgefahren, um den Tatort zu zeigen. Das war mutig. In Windeseile hat sich die Nachricht verbreitet, dass die Frau, die den Nachbarn vor Gericht der Vergewaltigung bezichtigt hat, zurückgekehrt ist. Immer mehr

Männer und Frauen zieht es in die Straße, die Fluchtwege werden enger, Joyce wird beäugt, stumm, der Nachbar ist für hiesige Verhältnisse ein mächtiger Mann, ihm gehören einige der Verschläge hier in der Straße. Joyce ist mehrfach bedroht worden, die Mutter des Täters hat Geld ausgesetzt, erzählt Joyce auf dem Rückweg zum Wagen, raus aus der zunehmend unruhigen Gruppe, 60 000 Schilling, das sind 466 Euro für ihren Tod. Joyce hat sich nicht einschüchtern lassen. Sie ist nie zur Schule gegangen. Wie ihre Schwester kann sie nicht lesen oder schreiben. Joyce handelt mit Miraa, sie kauft und verkauft die Droge, die in der Gegend flächendeckend angebaut wird. Damit macht sie keinen großen Profit. Aber sie kann davon leben. Sie hat ausgesagt im Prozess. Den Drohungen zum Trotz. Als der Wagen mit Joyce zum Ortsausgang kommt, steht ein hoch aufgeschossener Mann am Rand einer Bananenplantage und winkt. Er ist einer der Polizisten der Gegend. Einer, der sich nicht hat bezahlen lassen dafür, dass er das Kind aus dem Verschlag befreite. Auch nach der Verurteilung des Täters ist er sich sicher: »Grace kann nicht wieder zurück«, sagt er, »wenn sie Grace fänden, würden die sie töten.« So bleibt Grace weiter bei Esther. So geplant hatten sie das nicht. Das Heim ist eigentlich auch nicht darauf ausgerichtet, dass Kinder auf Dauer hier bleiben. Aber wohin sollte dieses Kind? Zu wem? Die Geschichte von Grace ist eine Geschichte ohne Anfang. Und eine Geschichte ohne Ende. Sie bietet keine Antworten, sie zeitmagazin wirft nur Fragen auf. nr . 

Der alte Mann

und die Bar am Meer 20

Charles Schumann, Deutschlands bekanntester Barmann, wird in dieser Woche 70. In Südfrankreich suchte unser Reporter mit ihm nach der Erfüllung eines Traums

Von MORITZ VON USLAR Fotos MICHAEL HERDLEIN

Er steht da an der Espressobar im Flughafen München und zieht gleich voll die Show ab: gleich bisschen peinlich, gleich voll cool. Die Leute sehen ihn an, und er weiß, dass die Leute ihn gerade ansehen: blaugrauer Anzug, sein berühmtes silberweißes Haar, die aufrechte Gestalt, die tänzelnden Schritte: hin zur Bar, von der Bar weg. Zu seinen Füßen liegen zwei schwarze Stoffbeutel, das soll wohl sein Gepäck sein. Wie alt ist er noch mal – 69 Jahre, schon weit über 70, noch keine 60 Jahre alt? Er hat kein Alter, der Mann, der in dieser Woche 70 Jahre alt wird. »Un caffè macchiato, per favore.« Dieser Charles Schumann – Deutschlands bekanntester Barmann, eine Barlegende, Typ aus der Baldessarini-Werbung, der im Gegensatz zu den jungen und jugendlichen Männern auf der Welt wie ein echter, wie ein erwachsener Mann aussieht – er ist der Mann, der gerade eine Riesenfreude daran hat, hier am Flughafen München auf Italienisch einen Espresso zu bestellen. Er ist der Mann, der jetzt erst mal volle Pulle angeben muss. Angeben, das versteht der Mensch im Anblick des Charles Schumann – das ist eine Kunst, die aus der Lust am Spielen kommt: ein helles, leichtes, harmloses Vergnügen. Diese Angeber, die wollen ja alle nichts Böses. Gute Angeber, das denkt der Reporter im Anblick des Charles Schumann, nehmen sich selber nicht ganz ernst (sonst wird es eng, sonst wird es ganz furchtbar). Charles Schumann sagt, den Espresso in der Hand, den Reporter von oben bis unten abschätzend, mit dem er fünf Tage auf Reise gehen wird: »Wurscht.« Dann sagt er: »Schaun mer mal, sagt der Beckenbauer.« Dann, das berühmte Charles-Lächeln lächelnd, das gleichzeitig eine Freundlichkeit und eine Unverschämtheit, eine Herausforderung ist, irgendwo dazwischen: »Verstehst, ich hab’s nicht gerne, wenn zu viel Milch auf dem Espresso ist.« Sieben oder acht Jahre ist es her, dass Charles Schumann in der berühmten Bar Schumann’s am Odeonsplatz am Münchner Hofgarten, im Vorbeigehen, das Tablett mit dem Bier und dem Espresso durchs Lokal tragend, über eine Schulter seiner Kellnerschürze zum Gast gesagt hatte: »Wir fahren mal ein paar Tage zusammen nach Marseille, das machen wir.« Das hatte dann als Ansage, als Erklärung für die anstehende Reise vollkommen genügen müssen: Wir fahren mal nach Marseille. In Ordnung, dann machen wir das. Vor bald 40 Jahren, in den Jahren 1971, 72, 73, das hatte der Reporter unter den vielen Gerüchten gehört, die über Charles Schumann erzählt werden, da hatte der Barmann in Diskotheken

und Nachtlokalen in Südfrankreich gearbeitet, in Montpellier, Toulon, Perpignan. Ein gutes, weil verboten klingendes Gerücht lautete, dass der Charles Schumann an der spanischen Grenze mal ein Erotiklokal betrieben habe – das war natürlich alles ganze Urzeiten her: 40 Jahre. Aus Frankreich hatte der Charles Schumann, der als Bauernbub Karl Georg Schuhmann in der Oberpfalz geboren worden ist, den Charles, den fremd klingenden Vornamen mitgebracht: Der Charles wurde merkwürdigerweise immer englisch, also wie der Prince of Wales, nie französisch ausgesprochen. Und dieser Charles hatte natürlich immer ein Gefühl dafür gehabt, welchem Gerücht er besser nicht widersprach. Kaum jemand hatte mit dem Charles Schumann je länger als zehn Minuten geredet – das waren die Minuten, in denen er sich, wenn er die Kellnerschürze trug, ein wenig zu seinen Gästen setzte und irgendeinen schönen, flüchtigen, gekonnt gleichgültigen Kram erzählte. Es schien, zwischendrin, unwahrscheinlich, dass der Mann, der kein Leben außerhalb seiner Bar zu haben schien, den kaum je ein Mensch an einem öffentlichen Ort, in einem Restaurant, einem Kino, bei einer Party, Galerieeröffnung, Preisverleihung gesehen hatte, die Wände seiner Bar verlassen und eine Reise an die Orte seiner Vergangenheit antreten würde. Charles Schumann: Muss man den eigentlich kennen? Er ist die klassische Halbberühmtheit (das heißt, man muss ihn nicht kennen, gleichzeitig kennt ihn ja praktisch jeder). 1982 eröffnete er auf der Münchner Maximilianstraße das Schumann’s, die American Bar, in der es die klassischen amerikanischen Drinks gibt und in der die Kellner gut aussehen und weiße Kittel tragen, in die mit roter Schreibschrift die Vornamen eingenäht sind. Er wurde damals »der Charles« – jeder, wirklich jeder, der sein Lokal betrat, durfte ihn duzen (eine andere Frage war, ob er, der Boss, eine Antwort gab). Innerhalb weniger Jahre hatte es der Charles zu nationaler Berühmtheit und seine Bar zu einer Institution gebracht, was auch daran lag, das es die goldenen achtziger Jahre in München waren: Die Drinks waren echt gut, die Kellner sahen echt gut aus, und die Menge der Tische im alten Schumann’s, die nur an Stammgäste gingen, war begrenzt. Zu den guten Drinks gab es einige wenige gute Gerichte zu bestellen, das Schinkenbrot, Käsebrot, das Roastbeef mit Bratkartoffeln. Vor acht Jahren war das Lokal an seinen heutigen Standort am Münchner Hofgarten gezogen (mehr Tische, Kellner, Gerichte), etwa zur selben Zeit hatte es Charles als Model zu Bekanntheit gebracht: Sein Gesicht mit dem

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Fassade einer ehemaligen Bar in Marseille: Ist er das, der neue Laden von Charles Schumann? »Müsste man einiges dran machen«, sagt der Barmann

Werbespruch What separates the men from the boys hing auf der ganzen Welt, in Los Angeles, in Tokyo und Moskau. Charles Schumann erklärt nun, während das Flugzeug nach Südfrankreich fliegt, dass er keinen Bock hat, sich bei unserem Ausflug nach Südfrankreich wie ein verdammter Tourist zu benehmen, er sagt »keinen Bock«, weil er offensichtlich wirklich keinen Bock hat. Natürlich: Wir wollen wenig, kein Hotel und kein Sternerestaurant testen, keine Kirche besichtigen, keine hochinteressante Sozialforschung in Problemvierteln betreiben. Charles sagt den erfrischenden Satz: »Von mir aus können wir fünf Tage lang nicht einmal gut essen gehen, kein Problem.« Um was geht’s dann auf dieser Reise? Wir wollen, Entschuldigung, einen gescheiten Scheiß erzählen. Wir wollen angeben, Zeit verplempern, an einer Hausecke stehen, an der nichts ist, und wenn da weiter nichts passiert: super. Schon 1985, also wenige Jahre nach Eröffnung des ersten Schumann’s, hatte Charles

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einem Reporter erklärt, dass er mit seiner American Bar etwas aufgemacht habe, das es so eigentlich gar nicht mehr gebe. So etwas wie Barkultur gebe es nicht mehr – die Idee, dass ein Mann Abend für Abend ein Lokal betrete, wo er seinen Drink hingestellt bekomme und von der lauten Welt da draußen für ein paar Stunden seine Ruhe habe: Das sei alles hoffnungslos von gestern. Deshalb, so erfuhr der verdutzte Reporter, wolle er seine Bar auch bald dichtmachen und lieber etwas aufmachen, wo er als Barmann seine Ruhe habe: irgendein kleines Lokal, einen Sandwichladen in Südfrankreich zum Beispiel. Den Sandwichladen gibt es in Gesprächen mit Charles bis heute, mal heißt er »Sandwichladen am Meer«, mal »Sandwichladen in Deauville«, mal ist es ein Hotel in Bordeaux. Wenn wir nun also in Südfrankreich unterwegs sind, dann wird es nebenbei auch immer die Suche nach dem ewigen Sandwichladen sein. Typisch Charles Schumann. Was ist typisch Charles Schumann? Der Schumann-

sche Knallhuster – er hat das Talent, mit einer Mischung aus Räuspern und Husten ein pistolenschussartig lautes Geräusch in seinem Körper zu zünden, wobei er sich selbstverständlich nicht die Hand vor den Mund hält. Der schroffe Tonfall. Die Standardfragen: »Brauchst noch was? Hast du Hunger?« Die Frage lautet doch auch: Wie konnte ein Barmann zu einer von vielen bewunderten Gestalt, zu einem Helden des deutschen Alltags werden? Schwer zu beantworten. Versuch einer Antwort: Im Tamtam des Alltags, beim Geld-Verdienen, Frauen-Aufreißen, Bier-Bestellen – geht vielen Menschen so etwas Hochinteressantes und Hochkompliziertes wie die Würde verloren. Dieser Charles Schumann scheint zu wissen, wie man seine Würde – als Barmann, Mann, als Mensch – behält. Während noch nie so viel über Stil und Coolness nachgedacht, debattiert und unsäglicher Blödsinn zusammengeredet worden ist wie heute, scheint dieser Mann sie zu besitzen: Stil, Grandezza, das Gefühl für die

schönen, wahren, ursprünglichen Dinge (vielleicht hat man im Anblick des Charles Schumann auch nur den Eindruck, dass hier einer versucht, mit Anstand durchs Leben zu gehen, mehr nicht). So gesehen wäre dann aller Bla spannend, den einer wie er erzählt. Er ist – natürlich – auch einfach ein Mann der guten Sprüche. A 7. L’autoroute du Soleil. Das Baumlose: eine Erholung für die Augen. Die vielen Brauntöne in der Landschaft. Die Salzfelder. Es ist gleich angenehm eintönig. Der Zauber der Provence ist von so vielen Leuten gepriesen und auf Gemälden, die heute 100 Millionen Dollar kosten, gemalt worden – da brauchen wir uns nicht mehr großartig aus dem Fenster zu lehnen. Wir erlauben uns das schöne altmodische Kartenlesen, das macht außer ihm wahrscheinlich kein Mensch mehr in Europa. Arles, so erzählt Charles auf dem Beifahrersitz, ist die Stadt, die er im Kopf hat, als er 1971 von München nach Südfrankreich aufbricht. Er ist damals 30, also »auch nicht mehr ganz taufrisch«: geboren 1941 in der Oberpfalz, der Vater Landwirt, die Mutter sehr katholisch, bischöfliches Gymnasium in Regensburg, das Priesterseminar (»Das war eine böse, dunkle Zeit«), mit 17 abgebrochen, um Geld zu verdienen, sechs Jahre beim Bundesgrenzschutz (»viel zu lang«), Ausbildung als Konsulatssekretär im Auswärtigen Amt in Bonn. Er arbeitet dann einen Sommer lang am Lido degli Estensi bei Ravenna an der Adria in einer Hühnerbraterei. Charles kommt nach München, jobbt nachts in einer Diskothek, tagsüber als Koch. Er muss damals kaum eine Ahnung gehabt haben, welche Richtung er diesem taumelnden Leben geben sollte: »Ich war immer verträumt. Die Selbstsicherheit kam später.« Ist das Erinnern an ganz früher für ihn eigentlich eine einfache Übung? Das ist doch alles schon 40 Jahre her. Es grinst der Barmann nun sein spöttisches Grinsen: »Deshalb erfinde ich im Nachhinein ja auch immer alles, weil ich mich so sowieso an nichts erinnern kann.« 1971 fährt er in einem roten Mini gen Süden, hinter Nizza liefert er sich mit einem Alfa Romeo ein Rennen, das er verliert. In den Mini passen alle seine Habseligkeiten hinein: ein paar Bücher, paar Hemden. Die Diskothek Tiffany’s in München plant, eine Zweigstelle in Montpellier zu eröffnen, und sie fragen den Charles, ob er den Geschäftsführer geben möchte. In der Stadt Arles liegen alle Sehnsüchte, die einer, der noch nicht viel

von der Welt gesehen hat, mit Frankreich verbindet: Sonne, Leichtigkeit, schöne Frauen, Kultur, die große Literatur, Montaigne, Rousseau, Voltaire, Balzac, natürlich Camus und Sartre, die einer wie Charles – wie damals viele seiner Generation – vielleicht nicht gelesen hat, aber immerhin schick findet. Sehnsuchtsland Frankreich: »Ich wusste genau, wie es da aussieht, obwohl ich nie da war.« Durch Arles rennen wir wie die letzten Touristen-Dödel: auf der Suche nach einem Mittagessen. Zweimal sitzen wir in einem Straßencafé, er studiert die in Plastik eingefasste Speisekarte, dann springt er auf, legt die Karte weg, steckt die Lesebrille ein und schlendert wieder los: »Nein, komm. Das hat keinen Zweck.« Charles Schumann hebt nun an diesem Mittag in Arles zu einem Zwischenvortrag über die ins Katastrophale gesunkene Qualität des französischen Baguettebrots an: »Es gibt ja immer weniger Brot, das nicht halbgefroren angeliefert und aufgebacken wird. Der Beruf des Bäckers stirbt aus.« Er sieht nun plötzlich, ganz im Widerspruch zu dieser Aussage, das Mittagessen vor sich, das er hier in Arles einnehmen möchte: »Weißt was, wir kaufen uns ein Brot und einen Schinken selber, und dann belegen wir unsere eigenen Sandwiches.« Stopp vor einer Boulangerie und einer Charcuterie. Wir sitzen in einem Café, die Espace Van Gogh nebenan, eine Flasche Wasser und zwei Noisettes, Espresso mit Milch vor uns auf dem Cafétisch, und der Barmann Charles Schumann belegt Brote. Er schneidet das Brot nicht, er reißt es mit den Händen auf, woraus sich gleich eine eherne Regel des Sandwichbelegens ableiten lässt: »Ein gerissenes Brot schmeckt viel besser als ein mit dem Messer geschnittenes. Man zerstört beim Schneiden die Struktur.« Er hält einem das offene Baguette hin, das noch heil ist, weil er es nicht geschnitten, sondern mit den Händen aufgerissen hat: sofort einleuchtend. Sitzen, kauen, Zufriedenheit hier in der zweitausend Jahre alten Kulturstadt Arles. Charles Schumann: »Bevor man irgendeinen Scheiß isst – gutes Brot, guter Schinken, aus.« Nebenbei, so nimmt der Barmann mit einem Lächeln zur Kenntnis, hat er, gleich in dem ersten Café, in dem wir sitzen geblieben sind, den ersten eigenen, wenn auch noch kleinen Sandwichladen gegründet, von dem er seit 25 Jahren spricht. Abend in Montpellier. Bei der Einfahrt in die Stadt hatten wir beiläufig nach

»Ich habe keine Lust, mich wie ein verdammter Touristen-Dodel zu benehmen.« Charles Schumann posiert. Und dann geht’s los, ins Durcheinander der Straßen von Marseille

der Tiffany’s-Diskothek geguckt, die damals auf einer Wiese vor der Stadt stand. Da stehen heute Wohnparks in Rosa und Gelb, eine Mischung aus Disneyland und Forum Romanum. Im historischen Zentrum: exakt dasselbe Karussell wie in Arles, und da fährt auch schon wieder die Touristen-Bimmelbahn. Die ganze Altstadt ist ein einziges Straßencafé, was dem Spaziergänger Charles mächtig auf die Nerven geht: »Kein Müll auf den Straßen, aber die ganze Stadt zugepflastert mit Cafémöbeln. Das ist ja auch eine Art von Müll.« In einem Café, das immerhin den Charme eines Geldwäscher-Ladens hat, versuchen wir es im weichen Licht der Abendsonne dann noch mal mit dem Erinnern: »Montpellier war ja ganz harmlos. Eine hübsche, kleine Studentenstadt.« Jede Nacht steht Charles im Tiffany’s Club: Er ist der Personalchef, hat 50 Angestellte, spricht kaum Französisch. Nach vier Wochen kennt ihn das ganze Städtchen: Mit dem schulterlangen schwarzen Haar und den hellblauen Augen sieht Charles fremdländischer aus als viele Südfranzosen. Er trägt eine verwegene Garderobe, die schwarzen Samthosen lässt er sich bei einem Schneider herstellen. Vom Personal der Kneipen und Diskotheken in Montpellier wird Charles zum schönsten Mann von Montpellier gewählt (»Das darfst aber bitte nicht schreiben, das ist mir peinlich«). Gab es ein wildes Nachtleben, damals in Montpellier? »Es gab viele Immigranten, die keine Arbeit hatten, da waren auch unangenehme

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Leute darunter, aggressiv, mit Minderwertigkeitskomplexen, ohne Erziehung.« Einen Teil seiner Ausbildung zum versierten Barmann, den erhält Charles als Diskotheken-Chef in einer südfranzösischen Kleinstadt. »Es gab auch Frauen, die sich um Männer geschlagen haben, nicht ungefährlich.« Von seinem Chef bekommt Charles das Angebot, einen Stripteaseclub bei Perpignan an der spanischen Grenze zu führen. »Das war doch kein Sexladen, wie ihr ihn euch vorstellt.« Lustig, jetzt ärgert sich der Mann, der sich erinnern soll. »Das war ein Unterhaltungsclub: roter Plüsch, ein Ableger vom Crazy Horse in Paris. Die Spanier kamen übers Wochenende mit ihren Mätressen, haben gespielt, gut gegessen, Frauen angeguckt.« Charles bleibt zwei Sommer in Frankreich, länger bleibt er nicht: Im Sommer 73 geht er zurück nach München. Es läuft nun die Suche nach einem machbaren Hotel. Etwa zehn Dreisternehotels führen ihre Zimmer vor. Charles spricht, mit seiner Lesebrille auf den Straßen von Montpellier herumwinkend, mit wunderbar leichter Laune: »Reisen kann so einfach sein, wenn du ohne Frauen unterwegs bist.« Moment, war das jetzt frauenfeindlich? Widerspruch: So kann natürlich nur jemand daherreden, der viel mit Frauen unterwegs ist, sein Leben also mit den Frauen teilt. Er bleibt stehen, um sich des Schauders dieses Gedankens ganz zu entledigen: »Wie dir eine Frau jetzt die Hölle heiß machen würde – neun Uhr abends, Gepäck im Auto und noch kein Hotel!«

Wir landen dann in einem wirklich schauderhaften Kasten, auf eine Art entspannend, weil es ein restlos von allem Charme gesäuberter Ort ist: das Golfhotel Montpellier Massane mit Spa, außerhalb gelegen. Den ersten vollen Ferientag liegen wir an einem Strand in der Camargue: weißes Licht, weißer Strand. Menschenleere. Dumme Frage, aber kann man diesen Charles Schumann fragen, ob er einem den Rücken mit Sonnencreme eincremt? Eher: nicht. Er trägt eine knielange Surferbadehose mit Schlingpflanzenmuster. Der Mann mit der Badehose aalt sich da im Sand herum. Er sieht für sein numerisches Alter von 70 Jahren so unsäglich schlank und stark und frisch aus. Worin liegt der Sinn dieses jung gebliebenen Körpers? Möchte dieser Mann 120 Jahre alt werden? Die weiche Haut, so Charles, hat er vom Salzwasser: Vier oder fünf Mal im Jahr, also immer wenn ein paar Tage Zeit sind, reist er in ein Hotel nach Biarritz zum Surfen. Die jungen Leute am Atlantikstrand halten ihn für einen Surfer-Dude, einen Super-SurferDaddy, der seit Jahrzehnten die große Welle gesucht hat – dabei hat Charles mit dem Surfen erst vor ein paar Jahren angefangen. Am Strand kann man nichts besprechen – oder nur die ganz großen Dinge. Charles sagt: »Hier könnte man sterben, wäre vielleicht ganz schön.« Charles bezieht nun zu der gewichtigen Frage Stellung, ob man einem guten Freund Geld leihen darf: »Dem Freund, der 10 000 Euro haben will, dem

gebe ich 500 Euro. Und die will ich nicht zurückhaben, die vergesse ich dann. Ich habe den Kumpel noch nicht gesehen, der die 500 nicht nimmt.« Das schöne Wort »dösen« fällt: Mittagsschlaf in der Sonne der Camargue. Seine Haut verbrennt nicht, sie ist seit seinen ersten Tagen in Südfrankreich vor 40 Jahren gleichmäßig dunkelbraun. Charles soll nun etwas über das immer grandios spannende Thema »Stammgäste« erzählen. Charles: »Ich sage ja normalerweise nichts über meine Gäste.« Wie definiert er Stammgast? »Das ist – meistens – ein unangenehmer Mensch. Weil er alles will. Und wenig gibt. Ein Laden wie das Schumann’s ist darauf angewiesen, dass die Gäste hier wirklich zu Hause sind.« Über den großen Stammgast Bernd Eichinger sagt Charles: »Wie der sich bei uns aufgeführt hat ... Gott habe ihn selig.« Unter den FC-Bayern-Spieler, die immer gerne ins Schumann’s kamen, ist ihm der Bastian Schweinsteiger einer der liebsten: »Super Typ.« Und der Barmann sagt einen anderen Charles-SchumannKlassiker, den es seit 1985 immer wieder zu hören gibt: »Die besten Stammgäste sind tot, oder sie kommen nicht mehr.« Plauderplauder. Faselfasel. Was hat Charles nach 30 Jahren als Barmann noch zum Thema Alkohol zu sagen? »Alkohol ist ein Genussmittel. Wer davon profitieren möchte, der muss es in Maßen genießen.« Was ist mit den schweren Trinkern? »Die

kannst du ja nicht stoppen.« Charles sagt: »Ich habe vor keinem Säufer Respekt, vor gar keinem. Ich finde es entsetzlich.« Der glamouröse Säufer, den es früher angeblich gab, der sei natürlich ein Mythos: »Die wenigsten stehen das durch. Die Leber stirbt, die Liebe geht kaputt. Der Trinkertod ist ein grausamer Tod.« Lustig, im Bistro à Côté, das neben dem Zweisternerestaurant L’Atelier von Jean-Luc Rabanel liegt und von derselben Küche betrieben wird, hat es Charles dann auch nicht besonders geschmeckt. Er rührt lustlos, aber natürlich wieder grandios anzusehen, mit dem Griff seiner Gabel in den Eisstücken seines Campari Soda herum: »Der ist zu stark, weil er nicht geschüttelt ist.« Er muss dann beim Kellner reklamieren: »Im Sommer muss ein Rotwein kühl, zumindest temperiert serviert werden. Das predige ich auch ständig meinen Leuten.« Charles sagt auch: »Ein Teller ist bei mir weiß und rund, niemals schwarz und eckig.« Übernachtung im Hotel Jules César. Eine herrschaftliche Halle. Blümchentapeten, 100 Jahre alte Heizkörper, Emailleklinken. So mag es der Charles. Wir stürzen mit dem Auto durch das Braun der Berge in die vorletzte Station unserer Reise hinab: Marseille, die Großstadt. Charles liest die Sportzeitung L’Équipe. Er trägt eine hellblaue Leinenhose, die spektakuläre Flecken hat, dazu eins der weißen Polohemden, die zu seiner Münchner Kellneruniform gehören (sind von H&M und kosten 9,90 Euro). Charles fragt: »Was tankt das Auto? Egal, hau einfach das Falsche rein.« Schwer zu beschreiben: Aber exakt so eine Flapsigkeit, eine an unerheblicher Stelle hingeworfene Nachlässigkeit, das ist der Charles-SchumannHumor. Man hat komischerweise immer das Gefühl, dass die Welt danach ein Stück größer, freier, leichter geworden ist. Er hat nun – auf die denkbar vergnügteste und leichteste Art – plötzlich wieder spektakulär schlechte Laune. Er schnauzt schon wieder so toll rum. Wenn er keinen Bock zu reden hat, dann ist dies natürlich auch ein Fazit aus 30 Jahren Berufserfahrung: In einer Bar wird ja unendlich viel Mist erzählt, da muss sich der Mensch, dem das gesprochene Wort nicht gleich ist, vor schützen. Gleichzeitig ist die Schroffheit, Schlechtlaunigkeit, Härte des Charles Schumann ja immer auch ein Angebot an die Menschen, eine verborgene Aufforderung zum Gespräch. Mit schlechter Laune kann man die Menschen abho-

Den Moment gilt es zu erwischen, an dem es möglich ist, einmal nichts zu sagen: Der Barmann (links) und der Reporter in der Bar des Hotel Bellevue, Marseille

len, schlecht gelaunt sind wir doch alle irgendwie: Also, wir zwei können reden. Wir wohnen im Hotel Bellevue am alten Hafen: einfacher, runtergehängter Laden. Im ersten Stock gibt es eine Bar, die selbst die Barlegende Schumann glücklich macht: Bullaugen, Segelschiffe, Fischernetze, Flaschen, blinde Spiegel an den braunen Wänden, kaum Licht, obwohl draußen die Sonne brennt. Wir müssen gleich losrennen. Wenn Charles nach New York kommt, so erzählt er, dann muss er auch immer erst mal fünf Stunden durch die Stadt rennen, um sich zu beruhigen, so ist das auch in Marseille. Ansage Charles: »Ich gehe mir jetzt bei Starbuck’s einen Kaffee kaufen – nach vier Tagen Frankreich ist es so weit: Ich brauch einen anständigen Espresso.« Die Stadt ist gleich auf den ersten Metern so, wie es in den Reiseführern steht: tolles Durcheinander, tolle Gegensätze. Die zwei Kontinente Afrika und Europa schlagen hier aufeinander. Im Marktviertel Noailles liegt der Müll auf der

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Straße, dazwischen der Mist, der verkauft werden soll: Turnschuhe, Fernbedienungen, Elektrokabel, Mekkabilder, Taschenkorane. Überall stehen die Spezialisten herum, die Dealer, Hehler, kleinen Gangster, und checken die Lage. Ein Junge zielt mit einem Plastikrevolver auf Charles. Und da kommen auch schon die Gestalten angetaumelt, die im Gitter der Wohlstandsgrenze hängen geblieben sind. Eine Frau mit Einkaufswagen trägt eine Papptafel um den Hals: »J’ai faim«. Ein Fertiger mit Schrammen und Blutergüssen im Gesicht. Unter den Brücken liegen die Penner mit ihren Hunden auf Matratzen. Ein Schwarzer mit Jackett, Schal, Wollmütze und Hornbrille – man könnte ihn für einen Chef-Styler wie Charles halten, sähe man nicht, dass es dem Alten überhaupt nicht gut geht. Nach Tagen des Abhängens und Gutgehen-Lassens (Strand, Kleinstädte) geht durch den eh immer gespannten Körper des Charles Schumann ein Schub: Er rennt, er

fliegt durch die Straßen. Er fängt jede Minute ein neues Gespräch an. Er muss jetzt eine Tüte mit Chilischoten kaufen. Und hier, in den Straßen von Marseille, möchte Charles auch endlich wieder rauchen (Cohiba-Zigarillos). Da spielen fünf Jungen mit nackten Oberkörpern Straßenfußball, und Charles muss zugucken: »Jetzt denken die natürlich, wir sind die Talentscouts von Olympique Marseille.« Wo ist der Cours Julien? Wo die Bar La Dame Noir? Wo ist das Panier, das ehemalige Viertel der schweren Jungs vom Hafen und ihrer leichten Mädchen? Im Urteil von Charles ist das In-Viertel von Marseille heute in etwa so aufregend wie der Prenzlauer Berg in Berlin: »Nur Seifenläden, Keramikläden, billige Galerien. Die größte Gefahr ist hier, dass du in Hundescheiße trittst.« An einem geschützten, dreieckigen Platz, der von einer Platane beherrscht wird, vor Rollläden, über denen in verwitterten Buchstaben »Bar du Platane« steht, werden beide, Charles und der Reporter, von einem Gefühl angeweht: Ist

er das, der neue Laden, den Charles seit Jahrzehnten im Süden Frankreichs sucht? Wir hängen am Touristenstrip in der auf Anhieb komplett richtigen Bar de la Marine (Holz, Kupfertheke, Zeichnungen aus den zwanziger Jahren). Was erzählt man sich, nachdem man sich fünf Tage am Stück praktisch ununterbrochen gesehen hat? Mit ihm ist das einfach. Charles sagt: »Ich liebe Reggae.« Charles sagt: »Das beste Wasser auf Erden ist Badoit, wunderbar weich.« Charles sagt: »Eine gute Salami gehört nicht in den Kühlschrank. Die muss schwitzen. Bei mir zu Hause liegt die Salami zwischen den Tellerstapeln.« Charles erklärt: »Ich bin immer auf der Suche nach der perfekten Rosinenschnecke.« Über die Frauen sagt Charles: »Vielleicht war es nicht die schlechteste Zeit – Anfang des letzten Jahrhunderts, als Frauen noch nicht in Bars durften.« Charles-Lächeln, ein grimmiges: »Schreib das. Dann machen sie mich fertig.« (Da ist er wieder, der alte Frauenliebhaber.) Über seine Zukunft als nun 70-jährige Barlegende sagt er: »Ich kann nach dem Schumann’s ja eigentlich nirgendwo mehr arbeiten. Obwohl? Als Grüß-Gott-Sager in einem Grandhotel, am besten am Atlantik, das ging schon noch.« Irgendwas sagt er immer. Dann sagt Charles, es ist die Stunde vor dem Abendessen, etwa zehn Minuten lang nichts. Das ist die Kunst des Abhängens: Den Moment gilt es zu erwischen, an dem es möglich ist, einmal nichts zu sagen. In der Bar de la Marine in Marseille – es war gegen sieben Uhr abends, die Abendsonne pumpte, und der Wind vom Wasser roch leicht nach Müll – war so ein Moment. War gut. Und noch mal, was ist typisch Charles? Er will seine Ruhe haben. Er kann so schön murmeln. Beim Erzählen kommt er vom Hundertsten ins Tausendste. Er sagt: »Jetzt horch zu.« Charles’ Lieblingswort für »Trottel« ist »Dodel«. Charles brüllt ins Telefon, er denkt, dass die am anderen Ende der Leitung ihn sonst nicht hören. Charles kaut mit offenem Mund. Eine der typischen Charles-Gesten ist das geräuschvolle Stuhl-vom-Tisch-Wegziehen: demonstrativ nachlässig. Wenn Charles sich an einem Kaffeehaustisch setzt, dann kehrt er mit der Karte die Krümel vom Tisch, und wenn Charles sich die Hände wäscht, dann wischt er mit dem Handtuch das Waschbecken trocken: Er kann nicht anders, der ewige Barmann. Der Reporter fragt den Barmann, was jetzt, gegen zwölf am Sonntagmittag, im

Schumann’s gerade passiert. »Die putzen«, sagt Charles, »die Espressomaschine läuft.« Und aus einer Laune heraus hebt Charles zu einem Vortrag auf einen seiner Kellner an, Ibrahim, genannt Ibi, den Mann an der Spülmaschine, den Chefspüler, Nachtchef, Mann von den Komoren, Grandseigneur der Bar. Wenn Charles einen Kellnerkittel trägt, dann selten den mit seinem Namen, lieber den mit dem Vornamen Ibrahim: »Er kommt gegen acht Uhr abends, genehmigt sich erst mal ein Bier. Dann schaut er, ob alles in Ordnung ist. Dann übernimmt er für ein paar Stunden seinen Job. Er gibt keine Maschine ab. Ein Gräuel sind ihm die neuen Maschinen. Zwischen zehn und elf Uhr abends trinkt er ein paar Kaffee, so stark, da kriegst du einen Herzinfarkt. Dann schaut er ein bisschen, ob er irgendwo was findet, das er nach Afrika schicken kann. Dann checkt er die Küche, guckt: Ist was? Lässt sich ein Essen machen. Setzt sich in die Küche, isst. Am Donnerstag und Freitag, das sind die vollen Abende, da hat er jemanden, der für ihn die Maschinen übernimmt, da wird’s ihm zu viel. Wenn er ganz gut drauf ist, macht er um ein Uhr ein paar Brote. Vor 20, 25 Jahren kam der Ibi zu uns ins Schumann’s – zwischendrin haben sie ihn auch mal eingesperrt, es gab Probleme mit falschen Papieren, wir haben ihn mit zwei Anwälten wieder rausgeholt. Im Schumann’s-System ist Ibi der Chef. Keiner traut sich, zum Ibi etwas zu sagen, keiner. Den Ibi brauchst’ mal angreifen, das geht gar nicht. Alle wissen, der Ibi ist mein Freund. Ich habe mal gesagt: Der Einzige, der was erbt, ist der Ibi, damit ihr’s wisst. Das steht in meinem Testament. Warum Ibi? Weil er mein Freund ist. Weil er nicht klarkommt. Was wird aus dem, wenn ich mal nicht mehr bin? Einer wie der Ibi, der ist entfremdet von der Welt.« Am Abflugtag an der Promenade von Bandol. Unter den 20 Restaurants an der Uferstraße, von denen Menschen auf der ganzen Welt träumen – da ist kein Lokal dabei, in dem Charles zu Mittag essen würde. »Alles ein Schmarrn.« Wir ziehen wieder die Baguette-Schinken-Nummer durch: auf der Hafenmauer kauernd, ums uns herum die Boote. Seinen 70. will Charles mit seinem Sohn und seiner Freundin in einem Hotel feiern, bloß nichts Besonderes, vielleicht auf den Kanarischen Inseln. Noch einen Espresso? Nein, nein. Genug Espresso. Der Espresso in Frankreich, der hat dem Charles noch zeitmagazin nie geschmeckt. nr . 

PAOLO PELLEGRINS EXPEDITIONEN

Der Chhatrapati-Shivaji-Flughafen von Mumbai (bis 1995 hieß die Stadt Bombay) liegt etwa 15 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Es handelt sich um den größten Flughafen Indiens und das wichtigste Drehkreuz im ganzen südlichen Asien. Eine dringend nötige

Erweiterung wird erschwert durch die riesigen Slums, die den Flughafen umgeben und in denen etwa 100 000 Familien leben. Die Regierung und eine Vertretung der Slumbewohner kämpfen seit Jahren um eine Lösung. Es geht dabei um Sicherheitsprobleme des

Der Flughafen von Mumbai

Flughafens und um die gesundheitliche Gefährdung der Slumbewohner. Doch so viele Menschen umzusiedeln, deren Lebensunterhalt eng mit dem Flughafen zusammenhängt, hat sich bisher zeitmagazin als unmöglich erwiesen. nr . 

Paolo Pellegrin, 47, in Rom geboren, ist ein vielfach ausgezeichneter Magnum-Fotograf. Er erzählt jede Woche von dem Bild, das er sich von Mensch und Natur macht. Die Fotos sind in Deutschland zum ersten Mal zu sehen

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»Ein Kunstwerk muss man fühlen«

In der Schweiz geboren, in den en USA zu Hause: Ugo Rondinone e

Ron Rondinones »Hell, yes!« 2007 am New Museum in New York

Er ist bekannt fü für seine i Wö Wörter iin R Regenbogenfarben, b f b die von Fassaden leuchten – von nächster Woche an auch in München. Ein Gespräch mit dem Künstler Ugo Rondinone Foto CHRISTIAN GRUND

Von ELISABETH RAETHER 31

»Dreams and Dramas« ließ Rondinone 2001 in der israelischen Küstenstadt Herzliya aufflammen

D E R K Ü N S T L E R Ugo Rondinone lebt seit Langem in New York, er verbringt nur noch zwei bis drei Monate des Jahres in seiner Heimat, der Schweiz. In Zürich, sagt er, finde alles Organisatorische statt. Dort hat er seine Galerie, die Galerie Eva Presenhuber. New York ist für ihn die Stadt, in der er seine Kunst macht, in Zürich liegen die Aktenordner. Zürich galt schon immer als etwas zu sauber und zu aufgeräumt, um inspirierend zu sein, auch wenn jetzt im Maag-Areal in der Nähe des Hauptbahnhofs ein neues Viertel erschlossen wird, in dem das höchste Gebäude der Schweiz, der Prime Tower, und Industriegebäude vom Anfang des 20. Jahrhunderts koexistieren. Von der Dachterrasse der Galerie Eva Presenhuber, die hier seit Frühjahr untergebracht ist, sieht Zürich aus wie eine richtige Stadt. Hier steht Rondinone zwischen seinen Bronzeskulpturen, riesigen grinsenden Eierköpfen, die er vor zwei Jahren in den Pariser Tuilerien-Gärten ausstellte und bei deren Anblick Kinder vor Schreck weinten. Für Erwachsene sehen sie ganz freundlich aus. Rondinones Kunst ist, wie ein Grimmsches Märchen, naiv, einfach, berührend und zugleich beklemmend. Seit den achtziger Jahren arbeitet er, geboren 1964 in Brunnen, Abschluss an der Wiener Hochschule für angewandte Kunst, 32

an einem Werk, das zahlreiche Formen kennt – Plastik, Video, Fotografie, Malerei. Rondinone stellte bei der Biennale in Venedig aus, im Pariser Centre Pompidou, in der Kunsthalle Wien. Zu seinen bekanntesten Arbeiten gehören seine Regenbögen, wie die Arbeit an der Fassade des New Museum in New York, eine Neonschrift, die verkündet: »Hell, yes!« Von nächster Woche an wird an der Baufassade des Münchner Palais an der Oper in großen regenbogenfarbenen Leuchtbuchstaben zu lesen sein: »We are poems«. Dahinter entsteht ein Louis-Vuitton-Laden, was der Passant aber nicht unbedingt weiß. Er sieht nur den netten Regenbogen, der nachts leuchtet, und liest die freundliche Botschaft, wir alle seien Gedichte. Erst allmählich bemerkt er, dass der Satz auf einer abweisenden Mauer prangt (beziehungsweise dem groß aufgezogenen Foto einer Mauer), die keine Blicke durchlässt auf das, was dahinter passiert. Der Laden in München wird Ende 2012 eröffnet. Es wird einer der drei Orte weltweit sein, an denen Louis Vuitton einen »Espace Culturel« einrichtet, einen Raum für Ausstellungen. So zeigten in Paris auf den Champs-Élysées und in Tokyo schon die Künstlerinnen Sylvie Fleury, Barbara Kruger und Jenny Holzer ihre Arbei-

Foto vorherige Seite Dean Kaufman

»Cry me a river«, sang Julie London 1955 traurig-schön. Rondinone benutzte die Zeile 1999 in Siena

ten. Seit der legendären Zusammenarbeit mit Stephen Sprouse 2001, als Chefdesigner Marc Jacobs den Graffiti-Künstler die traditionsreichen Monogramm-Taschen besprühen ließ, ist die Luxusmarke konsequent beim Kunstsponsoring geblieben. Damals waren manche Kundinnen noch schockiert, dass teure französische Taschen, auf die man ein Leben lang spart, von einem Neurotiker mit komischen Haaren übermalt wurden. Doch schon bald wich der Schock einer freundlichen Neugierde, als etwa die New Yorker Performance-Künstlerin Vanessa Beecroft im Pariser Shop nackte Frauen zwischen den Taschen in den Regalen drapierte und Olafur Eliasson den Fahrstuhl mit schwarzer Wolle auskleidete. Herr Rondinone, der Schriftzug »We are poems« wird groß in den Regenbogenfarben an der Baufassade des Palais an der Oper leuchten, sehr viele Leute werden Ihre Installation sehen. Die Maximilianstraße ist eine der meistbesuchten Einkaufsstraßen Deutschlands. Erträgt es ein Kunstwerk, sich so massiv der Öffentlichkeit auszusetzen? Die Regenbogenskulpturen entstehen seit 1997 mit der Absicht, im öffentlichen Raum mit einem Symbol zu arbeiten, das

weltweit verstanden wird. Sobald Kunst außerhalb der Exklusivität einer Institution oder Galerie präsentiert wird, ist es mir wichtig, dass sie möglichst ein breites Publikum erreicht. Im öffentlichen Raum hat die Kunst die Möglichkeit zu provozieren oder Freude zu bereiten. Beides ist in der jeweiligen Situation wichtig und richtig, solange es ein breites Publikum erreicht. Und diesmal, in München, ist Ihr Werk Freude, nicht Provokation? Jein. Im Münchner Projekt kommen zwei Projekte zusammen, die diametral zueinander stehen. Das positiv besetzte Symbol des Regenbogens und das einschüchternde Symbol der Mauer. Der Regenbogen ist eigentlich auch ein bisschen kitschig. Die Metapher der Mauer wie auch des Regenbogens haben ihren Ursprung in der deutschen Romantik. Eine Bewegung, die für mich nach wie vor ihre Gültigkeit hat, weil sie die Aufwertung und Anerkennung des persönlichen Empfindens einleitete. Einmal behauptete einer Ihrer Regenbogen »Dog Days are Over«, woraus die britische Sängerin Florence Welch von Florence and the Machine einen Song machte, der weltweit millionenfach gespielt wurde – unter anderem als Soundtrack für den Film »Eat Pray Love«.

So wie auf dieser Computeranimation wird die Fassade aussehen, die am 22. September in München enthüllt wird

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Wusste Florence Welch eigentlich, dass es ein Kunstwerk war? Ja, das wusste sie, sie hat ja Kunst studiert. Und glaubt man der Anekdote, so fuhr sie jeden Tag mit dem Fahrrad über die Waterloo Bridge in London und sah den Regenbogen auf dem Dach der Hayward Gallery. Mit »We are poems« behaupten Sie, dass wir alle Gedichte sind. Dabei sind Gedichte heute aus der Öffentlichkeit so gut wie verschwunden. Die Aussage ist in erster Linie eine persönliche Beobachtung über uns Menschen. Wenn ich damit gleichzeitig die Leute für die poetische Sprache oder das Gedicht gewinnen

kann, umso besser. Die Poesie ist eine Sprache, die eine Irrationalität vermittelt und nicht der berechenbaren Logik der Rede folgt. Die Poesie ähnelt damit der Logik des Traumes, bei der die Absicht oder der Sinn nie klar erkennbar oder erschließbar sind. Ein Gedicht wie auch ein Kunstwerk muss man nicht verstehen, man muss es fühlen. Das ist etwas, was ich von der Kunst erwarte – dass sie mich verlangsamt. Sie selbst reisen viel, wohnen in Zürich und in New York. Ist es schwer, ein entschleunigtes Leben zu führen? Ein langsames Leben zu führen ist nicht dasselbe, wie eine Kunst zu machen, die in einem eine Langsamkeit bewirkt. Ein langsames Leben ist ein Leben frei von Verantwortung, von Zielen und Verpflichtungen. Eine langsame Kunst wiederum ist eine Kunst, die mich verändert. Es ist dieser kurze Augenblick, wenn ich als Betrachter das Kunstwerk sehe, und alles steht still. Ein Moment, in dem man alles vergisst, der alles verändert und nach dem in einem nichts mehr so ist, wie es einmal war. Nein, ich führe kein langsames Leben, aber ich arbeite daran. Wie wichtig ist heute für Künstler die Zusammenarbeit mit Modelabels? Als Louis Vuitton 2004 erstmals auf mich zukam mit einem Angebot, für die Firma ein Winterschaufenster zu gestalten, das in allen ihren damals 325 Filialen gleichzeitig zu sehen sein würde, habe ich sofort zugesagt. Ein sich wiederholender Moment, verteilt auf die ganze Welt, an 325 Orten, wo gibt es so was sonst? Und jetzt wieder – eine übergroße Fläche in einer belebten Straße mitten in der Münchner Altstadt. Die Kunstverantwortlichen bei Louis Vuitton wissen, dass sie mit einem derart außergewöhnlichen Angebot jeden Künstler kriegen können, und das nicht nur, weil sie es sich leisten können, sondern weil ihr Umgang mit Kunst, mit Künstlern und Kunstvermittlung ein sensibler ist. Obwohl Ihre Botschaften ja fast verträumt erscheinen, obwohl Ihr Regenbogen so nett aussieht – die Regenbogenflagge ist weltweit ein politisches Zeichen gegen Hass und Intoleranz vor allem gegenüber Homosexuellen. Jetzt, wo ich als Schwuler seit letztem Mai in New York heiraten kann, wird der Regenbogen in München zu einem persönlichen Freudenzeichen. Ich heirate diesen Dezember meinen Freund. Ein Gesetz zu »eingetragenen Partnerschaften«, wie es die Schweiz oder Deutschland kennen, hätte ich nie unterschrieben. Dieses Gesetz ist zynisch und ein Hohn für alle Transgender, Lesben und Schwulen, weil es deutlich macht, dass die sexuelle Orientierung ausschlaggebend ist für die Wertung und Wertschätzung eines Menschen. Von Gleichstellung keine Spur. Transgender, Lesben und Schwule bleiben mit einem Partnerschaftsgesetz Menschen zweiter Klasse. Und das im 21. Jahrhundert. zeitmagazin Unglaublich. nr . 

Alle Fotos Courtesy of Galerie Eva Presenhuber, Zürich

Ich habe einen Traum

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Mein Vater war ein fanatischer Kinogänger. Er war Maurer und hatte ein hartes Leben. Kino war seine Religion. Als mein Bruder und ich etwa zehn Jahre alt waren, begann er uns mitzunehmen, jeden Samstag und Sonntag. Damals, zu Beginn der sechziger Jahre, gab es drei Filme pro Vorstellung. Man verschwand für einen halben Tag aus der Wirklichkeit. Mein Vater hatte eine Vorliebe für französische Filme, weil er auf Brigitte Bardot stand. Und ich wurde mit Ingrid Bergman bekannt gemacht, weil er Casablanca so sehr mochte. Als ich sie auf der Leinwand sah, verliebte ich mich sofort in sie. So sah für mich als Teenager der amerikanische Traum aus: Ich will Ingrid Bergman. Eine schwedische Schauspielerin. Als Teenager denkst du nicht daran, wie lächerlich das ist. Ich mochte auch Humphrey Bogart. Ich begann, ähnliche Anzüge wie er zu tragen. Und Fedora-Hüte. Ich liebte es, diesen tough guy auf der Leinwand zu sehen und zu denken: So möchte ich auch sein. Aber noch wichtiger: Ich will seine Frau. Ich nenne das meinen amerikanischen Traum. Amerikaner suchen immer nach etwas außerhalb ihrer Komfortzone. Der amerikanische Traum ist, etwas zu finden, das jenseits des Erwart-

61, geboren in New York, heißt bürgerlich Thomas August Darnell Browder und ist Sänger, Gitarrist und Bassist. 1980 gründete er seine Band Kid Creole & The Coconuts, deren Soul und Funk mit karibischen Einflüssen bis heute die Tanzflächen füllt. Soeben erschien »I Wake Up Screaming«, ihr erstes Studioalbum seit 14 Jahren

Kid Creole,

einen regulären Job, nie diese Arbeit, die eben gemacht werden muss. Ich kam zur Musik, weil mein Bruder, mit dem ich unsere erste Band gründete, jemanden brauchte, der Songs schrieb und Bass spielte. Sonst wäre ich heute vielleicht Englischlehrer. Das habe ich jedenfalls studiert. Du kannst alles Talent der Welt haben, du kannst der am härtesten arbeitende Mensch im Showgeschäft sein. Wenn du kein Glück hast, wird trotzdem nichts daraus. Ich kenne eine Menge großartiger Sänger in der Bronx, die weitaus bessere Stimmen haben als ich und die niemals die Bronx verlassen haben. Ich kann behaupten, dass mein Leben unter einem Glücksstern steht.

Aufgezeichnet von Ralph Geisenhanslüke Foto Rick Burger Zu hören unter www.zeit.de/audio

baren liegt. Wir denken immer, das Gras auf der anderen Seite sei grüner. New Yorker wollen eine Schönheit kennenlernen und mit ihr weit weg in einem kleinen ruhigen Dorf leben. Mit zunehmendem Alter erkennt man, dass es andere Dinge im Leben gibt, zum Beispiel die Notwendigkeit, seine Rechnungen zu bezahlen. Ich bin der Mensch, der ich bin, weil ich aus New York stamme. Ich wurde in der Bronx geboren. Ich habe die glorreiche Zeit des Studio 54 erlebt. Wir hatten damals unseren ersten Hit. Wenn wir kamen, hob sich die rote Kordel und wir spazierten rein wie Superstars. Ich bin mit meiner Band, den Coconuts, ein paar Mal um die Welt getourt. Früher dachte ich: Wenn man New York verlässt, geht man ins Nirgendwo. Heute lebe ich in Schweden, weil ich eine Schwedin kennenlernte, die aussieht wie ein Filmstar. Als Teenager hätte ich nie davon geträumt, Europa auch nur zu sehen. Meine Freundin hat die unglaublichsten Träume. Sie wacht auf und erzählt mir beinahe jeden Morgen ihre Technicolor-Geschichten. Ich dagegen kann mich meist an nichts erinnern. Sie vermutet, es liege daran, dass mein wirkliches Leben ein Traum ist. Ich hatte nie

Kid Creole »Amerikaner denken immer, das Gras auf der anderen Seite sei grüner«

Verrückter, geliebter Mann Er ist Theaterregisseur, plötzlich dreht er durch. Die Diagnose: manisch-depressiv. Letztes Jahr haben wir Briefe veröffentlicht, die er an seinen kleinen Sohn schrieb. Dies ist die Geschichte seiner Frau 38

Der Vater spielt mit dem Kind, die Mutter passt auf beide auf: Es war nicht leicht, wieder eine Familie zu werden

Von TA N J A S T E L Z E R Illustration ANDREA VENTURA

An einem ihrer ersten Abende saßen sie an der Alster in Hamburg, und Ann-Kathrin Guballa, genannt Aki, sagte zu Sebastian Schlösser: Also, eigentlich bist du viel zu jung und viel zu verrückt für mich. Sie war 34, Maskenbildnerin mit langer Theatererfahrung und einer Zukunft bei großen Filmproduktionen, eine Frau mit einem Motorrad und einem Landhaus an der Elbe, aber ohne Familienpläne, ein Mann musste jetzt nicht unbedingt sein, schon gar keiner, der acht Jahre jünger war als sie. Auf den Einwand ihrer inneren Stimme hat sie dann doch nicht gehört. Hätte ich mal, sagt sie heute, mit 42, aber sie lacht dabei leise. Das Lachen über all das, was passiert ist – das ist vielleicht das Schönste an dieser schönen, traurigen Geschichte, die zeigt, wie schnell die Liebe in Gefahr geraten, aber auch, welche unglaubliche Kraft sie entwickeln kann. Du bist verrückt – wie viel Wahrheit in diesem Satz lag, konnte sie damals nicht ahnen. Sie hatte sich verliebt in einen Mann, den sie klug fand und lustig. Sie hatte ihre letzte Vorstellung beim Hamburger Schauspielhaus, er seine erste Produktion als Regieassistent, und wie er da auf die Probebühne kam, groß und laut und auch ein bisschen großkotzig, aber mit einer Begeisterungsfähigkeit, der man sich nicht entziehen konnte, da glaubten alle zu spüren, von dem wird man noch viel hören in der Theaterwelt. Er selbst glaubte es auch, vielleicht war das schon der Wahn. Er schenkte ihr dann ein Päckchen Zigaretten, Marke Fortuna, und sagte: Das kann ja nicht sein, dass du jetzt gehst, und wir haben uns noch gar nicht richtig kennengelernt. Als der kluge und lustige Mann schon Vater ihres Kindes war und gerade eine Premiere an einem Berliner Off-Theater vorbereitete, fand er sich so klug und lustig, dass er sich in einem Fünfsternehotel in die Präsidentensuite einmietete, das Personal beschimpfte und sich im Bademantel mit dem Taxi zum Roten Rathaus fahren ließ, weil er dem Regierenden Bürgermeister erklären wollte, wie man das Theater der Hauptstadt revolutioniert. Der Bürgermeister war dann nicht da, das Hotel schickte die Polizei hinterher, weil der Herr aus der Präsidentensuite nicht bezahlt hatte. Aki Guballa saß zu Hause in Hamburg mit dem Kind, das anderthalb war, und wenn in diesen Wochen im Juli 2005 das Telefon klingelte, waren es beunruhigende Nachrichten aus Berlin, übermittelt von Freunden. Sebastian kauft die halbe Stadt auf. Kostüme, Kosmetik, Requisiten. Sebastian ist von der Polizei in die Charité gebracht worden, in die Psychiatrie. Das mit der Charité glaubte man ihr schonend beibringen zu müssen (inklusive der Aussage der Ärztin, die den Kranken nach Hause schickte – er solle sich einmal richtig ausschlafen, dann werde es schon wieder), aber sie wusste längst, was los war. Er war durchgedreht, so einfach war das, und dafür braucht man auch keine von diesen umständlichen medizinisch und politisch korrekten Formulierungen, die Aki Guballa sowieso nur mit einem Schmunzeln ausspricht. Bipolar Erkrankte. Erfahrene, sagen sie im Therapiejargon. Was soll das? Sie kennt sich aus mit Masken, sie sieht, was drunter ist. Wenn er sich in den Wochen zuvor bei ihr gemeldet hatte, war Sebastian fahrig gewesen. Er hatte Monologe gehalten, denen sie kaum hatte folgen können, er war zu schnell für sie. Einmal hatte er angerufen, um zu verkünden, er habe jetzt eine andere. Sie solle auch nicht zur Premiere nach Berlin kommen, da sei ja jetzt die neue Freundin, da wolle er sie, die Verlassene,

Manische Phase: Er logiert im Luxushotel und will sich im Bademantel zum Bürgermeister fahren lassen

nicht ins Messer laufen lassen. Sie ist, als er diese Unverschämtheit ins Telefon sagte, nicht empört in den nächsten Zug gestiegen, sie hat ihn nicht zur Rede gestellt. Wäre ja normal gewesen: eine verletzte Frau, die sitzen gelassen wurde. Stattdessen war dieser kurze Trennungsanruf exakt der Moment, in dem sie begriff: Er ist krank, er braucht Hilfe. Und das Wissen: Ich kann die Hilfe nicht sein. Sie kannte das von einem Freund und einer Freundin, zweimal schon hatte sie in ihrem Leben mit manisch-depressiven Menschen zu tun gehabt, einer von ihnen war ein Schauspieler auf Höhenflug, der an einem Samstag glaubte, dass er den Auftrag habe, bis zum Sonntagmorgen, zum Beginn der Messe, die Welt zu retten. Ihn hatte sie in der Psychiatrie besucht, er hat ihr erzählt, wie das ist, wenn der Wahn eine Woche lang hinter einem steht und man ihn spürt, bis er einen endlich packt. Wie normal einem alles scheint, was man tut, auch wenn es noch so absurd ist, ein in sich geschlossenes logisches System. Daran musste sie nun denken, und ihr war klar: Wenn ich jetzt zu Sebastian fahre, mache ich ihn aggressiv. Er fährt sein Programm, wenn ich ihm dazwischengerate, kann das gefährlich sein, für mich, für ihn, für das Kind. Sie hat dann Freunde angerufen, die ein Auge auf den klugen und lustigen Mann hatten, der jetzt auch irgendwie irre war. Wochen später dann, wieder in Hamburg, nach zwei, drei Monaten, in denen er nur eine Stunde pro Nacht schlief, der totale Zusammenbruch, die Diagnose: manisch-depressiv. Psychiatrie, Lithium, ein Medikament, das einen umbringen kann, wenn man zu viel davon nimmt, das traurig machen kann oder fett. Fett wurde er nicht, traurig schon, antriebslos, ein Formel-1-Wagen ohne Motor, wie er sagt. Doch endlos wirkende sechs Monate nach der Entlassung aus der Psychiatrie ist er aus dem tiefen, schwarzen Loch aufgetaucht und hat ein neues Leben begonnen, seine Familie wiedergefunden, ein neues Studium angefangen, Jura, ein bewusst gewähltes bodenständiges Milieu, in dem exzentrisches Verhalten weniger toleriert wird. Und er hat alles aufgeschrieben. In berührenden Briefen an seinen kleinen Sohn hat er erklärt, was damals, vor sechs Jahren, mit ihm los war, warum er weg war, für Kind und Frau unerreichbar, für den Rest der Welt eine Nervensäge, ein Außerirdischer, dann ein Verzweifelter, der alles zerstört hatte, was ihm im Leben wichtig war. Frau und Kind betrogen und verletzt, allein gelassen, unfähig, weiter am Theater zu arbeiten, irgendeine Idee auf die Bühne zu bringen, das Konto weniger als leer. Er hat beschrieben, was diese Krankheit, die 2,5 Millionen, vielleicht 5 Millionen Menschen in Deutschland haben, mit ihm gemacht hat: dieser Wechsel aus Raserei, Größenwahn, Geldverprassen, LeuteZuquatschen und totaler Niedergeschlagenheit, diese Krankheit, über die zahllose Songs geschrieben wurden und die eine eigenartige Faszination ausübt, weil sie gerade sehr kreative Menschen befällt, Hemingway, Mozart, Amy Winehouse – eine Krankheit für Genies, aber die Ehre, sich in diese Liste einzureihen, würde man sich selbst und seinen Nächsten gern ersparen. Das ZEITmagazin hat im vergangenen Jahr Sebastian Schlössers Briefe an seinen Sohn gedruckt (Nr. 37/10), jetzt ist daraus ein Buch entstanden: Lieber Matz, Dein Papa hat ’ne Meise. Ein Sommerabend, einer der wenigen, an denen man draußen sitzen kann in diesem Jahr. Aki Guballa hat gesagt, sie brauche, um ihre Seite der Geschichte zu erzählen, einen ordentlichen Wein und je ein Päckchen Zigaretten und Taschentücher. Sie bleibt dann doch sehr

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gefasst, den ganzen langen Abend über. Das alles noch mal zu lesen, sein Buch, in dem sie Ada heißt, die Briefe an den Sohn, der jetzt sieben ist, war ein ganz merkwürdiges Gefühl, sagt sie, »als wäre eine Wand zwischen dem Buch und mir«. Sie hat ja einen Großteil der manischen Phasen nur indirekt miterlebt, durch die Berichte der Freunde, und dann, als er in der Psychiatrie war, in seinem Wolkenkuckucksheim, wie er es für den Sohn nennt, da war sie erst recht draußen vor der Tür. Als sie am Schluss des Buches angekommen war, hatte sich die Wand aufgelöst, und sie musste weinen: an der Stelle, als Sebastian, vom Wahn verlassen, aber auch von seiner Lebensfreude, darum bittet, wieder bei ihr aufgenommen zu werden, nach einigen Monaten des Abstands, der getrennten Wohnungen. An der Stelle, als sie ihm Bleiberecht gewährt und ihn irgendwann das Glück überkommt, Gefallen am ganz normalen Leben zu finden, in dem er seine kleine Familie bekocht. »Mein Körper hat sich angefühlt wie damals«, erzählt Aki Guballa, sie habe Krankheitssymptome entwickelt, die sie auch in der HochZeit der Manie hatte. Sie brauchte ja irgendwann selbst eine Therapie, der kranke Mann, die Arbeit auf dem Filmset, der Sohn, um den sich dann häufig die Oma kümmerte und der nicht belastet werden sollte durch die Situation, es war eben sehr viel. Und während sie erzählt, wie sie als Paar darüber gesprochen haben, wie diese ungute Zeit wieder Besitz ergreifen wollte von ihr, da denkt man: Wahrscheinlich war genau diese Fähigkeit, ihre Gefühle in Worte zu fassen, die Rettung für sie und für ihn und für sie beide. »Wir konnten«, sagt sie, »außerhalb der ganz heißen Phase, immer gut über unsere Ängste reden.« Wenn einer eine manische Depression hat, macht er auch die Menschen krank, die ihm am nächsten sind. Keine Manie, keine Depression ohne leidende Angehörige. Die meisten Kranken suchen sich in ihrer manischen Zeit ein neues Umfeld, sie verschleißen eine unglaubliche Menge von Leuten. Sie sind gewinnend, faszinierend für diejenigen, die ihnen zum ersten Mal begegnen. Sie sind anstrengend und beängstigend für diejenigen, die sie kennen. Und sie heulen sich, wenn sie depressiv sind, schier endlos aus bei ihrem Partner. Eigentlich weiß man nicht, was mehr Kraft kostet: ihre Exaltiertheit oder ihre Zurückgezogenheit. In beiden Fällen ist man machtlos. Der Angehörige eines Manisch-Depressiven zu sein bedeutet erst einmal: zuschauen, wie der Mensch, den man liebt, ein Fremder wird, der abwechselnd abhebt und sich in seinem Unglück vergräbt, in der einen Phase so unerreichbar wie in der anderen. Und nach dem Zuschauen kommt, bevor es mit Glück irgendwann wieder aufwärts geht, oft erst einmal der eigene Zusammenbruch. Als er Sebastian Schlössers Briefe las, war Horst Giesler sprachlos. Er ist 61, selbst Vater einer manisch-depressiven Tochter und sitzt im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für bipolare Störungen. Giesler veranstaltet Seminare für Angehörige von Manisch-Depressiven, er hat in seinen Seminaren viele Erwachsene weinen sehen. Er kennt die Schockstarre der Angehörigen, die gerade den ersten Schub miterlebt haben. Er kennt die in einer Endlosschleife gesprochenen Sätze wie »Lass dich nicht so hängen«. Sätze, die, wie das »Bitte haben Sie einen Moment Geduld« einer Service-Hotline, exakt das Gegenteil bewirken. Er kennt das verzweifelte Einreden auf den Manischen, die Vorwürfe, die absolut wirkungslos bleiben. Viele müssen erst einmal lernen, all das, was eine natürliche Reaktion wäre, sein zu lassen. Aki Guballa hat diese Phase einfach

übersprungen. Ein absoluter Glücksfall für den Kranken, für das Paar, sagt Giesler, der von solchen Wundern leider selten hört, dieses Verhalten einer Partnerin sei nicht die Regel, was schon mal damit zu tun hat, dass die meisten Diagnosen erst acht bis zehn Jahre nach dem ersten Schub gestellt werden. Es ist eine Krankheit, die sich langsam anschleicht, um dann mit größter Brutalität Beute zu machen. Die wenigsten Angehörigen gehen offensiv mit der Krankheit um. Tun sie es doch, steigern sie nach Gieslers Erfahrung die Wahrscheinlichkeit massiv, dass der Patient mit seiner Krankheit leben lernt. Weshalb die Gesellschaft für bipolare Störungen für einen engen Austausch zwischen Ärzten, Kranken und Angehörigen wirbt – Giesler weiß, dass das im Grunde ein schöner Traum ist in einer Welt, in der Ärzte die Gespräche mit Angehörigen nicht abrechnen können und es eine katastrophale Unterversorgung mit Psychiatern gibt. Er habe übrigens, sagt er, noch keinen einzigen Fall erlebt, in dem ein Kranker langfristig ohne Medikamente ausgekommen sei. Manche versuchen es, aber »wer mit dieser Krankheit spielt, der spielt mit seiner Gesundheit«. Die Suizidrate unter Manisch-Depressiven liegt bei 15 bis 30 Prozent. Aki Guballa ist eine Frau, die nicht zur Hysterie neigt. Als ihr Freund, während sie mit Wehen im Krankenhaus liegt, in letzter Minute von einer Theaterinszenierung in Heidelberg zur Geburt in Hamburg angereist kommt, nach einer durchzechten Nacht, die Manie noch irgendwo in sich begraben, aber das Leben schon alarmierend exzessiv, bleibt sie cool. Sie erklärt diese Besonnenheit durch den frühen Tod ihres Vaters. Er war 46, sie 18, und aus dieser frühen Verlusterfahrung hat sie mitgenommen, dass man sich nicht lange aufhalten sollte mit Dingen, die man eh nicht ändern kann. Dafür ist die Lebenszeit zu kostbar, findet sie. Und was die Manie ihres Freundes betrifft, da hatte sie schnell die Entscheidung getroffen: Ich lass mir von so einer doofen Krankheit nicht meinen Sebastian nehmen. Diesen Mann, mit dem sie lachen konnte über die gleichen Filme, streiten übers Theater und über alles Mögliche, so richtig streiten, wie sie es nie gelernt hatte. Also das Profi-Programm, das sie abspulte ohne Rücksicht auf ihre eigenen Interessen und Gefühle. Sie las Bücher über die Krankheit, eines nach dem anderen. Keinen psychologischen Notruf, den sie nicht angerufen hätte. Sie sprach mit Freunden. Und sie erfuhr immer mehr über diese Krankheit, die nie weggeht, mit der man nur zu leben lernen kann, die man dressieren kann wie einen eingesperrten Tiger, der aber doch immer Tiger bleibt, immer Raubtier, immer gefährlich. Aki Guballa liest, was ihr Part ist, wie sie helfen kann, den Tiger zu besänftigen. Vermeiden Sie, dass zu häufig Besucher kommen. Vermindern Sie Lärm und Aktivität im Haus. Hören Sie Musik nicht zu laut. Vermeiden Sie Partys. Versuchen Sie, Diskussionen zu vermeiden. Sprechen Sie nicht über Gefühle. Lassen Sie sich nicht von der Euphorie und den unrealistischen Ideen des Manikers anstecken. Versuchen Sie nicht, den Betroffenen davon zu überzeugen, dass seine Pläne unrealistisch sind. Was in den Büchern steht, klingt wie ein Lebensverhinderungsprogramm. Es ist Ihre Aufgabe, Verantwortung zu tragen, sinnlose Käufe rückgängig zu machen oder ein gutes Wort für den Kranken bei Verwandten und Berufskollegen einzulegen. Das kann anstrengend und stressig sein. Seien Sie nachsichtig,

Liebe sticht Krankheit – doch auch Positives wie eine Hochzeit kann einen Krankheitsschub auslösen

wenn Sie der Kranke bloßstellt oder in peinliche Situationen bringt. Das Schlimmste ist, wenn Ihr Familienmitglied oder Partner keine Krankheitseinsicht zeigt. Aki Guballa weiß, dass er genervt ist von den besorgten Blicken derjenigen, die ihm Gutes tun wollen, deshalb spinnt sie das Helfer-Netzwerk so diskret wie möglich. Sebastian wird nie allein gelassen, ständig schaut wie zufällig irgendein Freund oder Verwandter vorbei (um dann bei ihr Bericht zu erstatten, zum Beispiel: Sebastian fährt mit einem Kofferraum voller neuer CDs, Kameras und Bücher durch die Gegend und bietet allen, die er kennt, an, sich zu bedienen). Für ihn aber ist er selbst der einzige Normale in einer Welt der Durchgeknallten, Ängstlichen, Begriffsstutzigen, am ehesten hält er es noch mit einem Freund aus, der Theaterregisseur ist und sich fragt, wer denn nun krank ist, sein Freund oder eine Gesellschaft, die Menschen wie seinen Freund als krank bezeichnet. Aber sie alle sind auf dem Laufenden: Sie wissen, es ist jederzeit drin, dass ein Maniker aufs Dach klettert und denkt, er könne runterfliegen. Aki Guballa liest. Sie haben das Recht, den Betroffenen auch gegen seinen Willen in ein Krankenhaus zu bringen. Sie können sogar, selbst wenn es Ihnen beim ersten Mal schwerfallen wird, polizeiliche Hilfe in Anspruch nehmen. Patienten mit einer Manie können dazu gezwungen werden, ein Krankenhaus aufzusuchen – und zwar dann, wenn die Gefahr besteht, dass sie sich selbst oder andere verletzen oder wenn sie nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Sie überlegt, wie sie ihren Freund provozieren kann, damit die Polizei kommt und ihn in die Klinik einweist. Sie verwirft die Idee. Zu gefährlich. Für sie, für ihren Sohn. Sich von dem Vater ihres Kindes zu trennen, ein vielleicht schwieriges Leben als Alleinerziehende zu führen, ohne Mann, aber auch ohne Wahnsinn, überlegt sie nicht. Wie sie es zur Not schaffen könnte, ihre Familie alleine durchzubringen, falls er nicht wieder arbeiten kann – darüber macht sie Pläne. Es ist, wie oft, wenn es um die Liebe geht, eine Frage des Wollens. Wenn ein beliebter Ratschlag ist: »Sie können einen Mann nicht verändern, nehmen Sie ihn, wie er ist«, dann entscheidet sie sich für die Steigerung dessen: Sie nimmt ihn auch so, wie er eigentlich nicht ist. Sie hofft und hört nicht auf zu hoffen, dass der Mann, den sie liebt, irgendwann wiederkommt, als wäre er zurück von einer langen Reise. Ende August 2005, als Sebastian Schlösser erkannt hat, dass er Hilfe braucht, begleitet Aki Guballa ihn in die Universitätsklinik. Endlich will er sich helfen lassen, aber in der offenen Abteilung ist gerade kein Platz frei. Er quartiert sich ersatzweise zauberbergmäßig in einem Sanatorium ein, wo andere einfach nur ein paar Kilo verlieren wollen. Als Aki Guballa ihn dort besucht, weiß niemand, wo er ist. Sie macht sich auf alles gefasst: dass er auf dem Golfplatz ein paar Bälle schlägt oder tot in seinem Zimmer liegt oder dass er abgehauen ist. Sie findet ihn am Ende in Hamburg, bei einer Freundin von früher. Es dauert noch quälende Wochen, bis er in der Klinik Hilfe bekommt. Dort muss er auf die Medikamente eingestellt werden, er zweifelt daran, ob das normale Leben, in das er zurückgeholt wird, lebenswert ist, »da habe ich noch mal Angst gekriegt«, sagt Aki Guballa. Die ersten Monate nach seiner Rückkehr aus der Psychiatrie im Oktober sind schwierig. Sie sei viel zu wund gewesen, um wieder eine normale Beziehung zu führen, sagt sie, auf einmal war alles da, was sie zuvor weggeschoben hatte. War die Liebe wirklich so groß, dass sie all

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das ignorieren konnte, was passiert war? Sie wohnten erst einmal getrennt. Aber dann: »Unser Kind hat uns beide wieder zusammengebracht.« Immer wieder hatte sie Treffen auf dem Spielplatz organisiert, Vater und Sohn im Sandkasten, die Mutter im Hintergrund. Anfangs wollte sie den Kranken nicht mit dem Jungen alleine lassen, einmal war er mit seinem roten Strich-8er-Mercedes mit 180 über die Autobahn gerauscht in Richtung Nordsee, das Schiebedach offen, das Kind, Kirschkerne spuckend, neben ihm, die Musik aufgedreht. Das Kind. Jetzt, im Sommer 2011, hat es gerade lesen gelernt, es weiß, worum es in dem Buch geht, dass der Vater krank war und immer aufgeregt, dass er Ärzte brauchte. Lesen will der Junge das Buch aber nicht. In Wirklichkeit sind die Briefe auch keine Kinderlektüre, sie sind für später geschrieben, als Erklärung, warum es war, wie es war. Und sie gehören zu einem Frühwarnsystem: damit der Sohn die Symptome einordnen könnte, falls er die Krankheit geerbt hätte. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei 15 Prozent – aber wenn diese 15 Prozent keinen heftigen emotionalen Schwankungen ausgeliefert sind und ein relativ strukturiertes Leben führen, muss die Krankheit nicht ausbrechen. Die Chancen, dass es gut ausgeht, wenn sie doch ausbricht, sind umso größer, je früher man handelt. Dem Kind geht es gut, dem Vater auch. Allerdings weiß Aki Guballa: Trotz der Medikamente, die er ein Leben lang nehmen wird, kann es immer wieder zu einem Ausbruch kommen, und das Erste, was der Wahn sagt, ist: Lass die Medikamente weg, die brauchst du nicht. Als sie gerade wieder zusammenwohnten, erschrak sie, wenn sie nach einem Nachtdreh nach Hause kam und von draußen Licht in der Wohnung sah, sie glaubte, drinnen tanzt er jetzt auf den Tischen. Dabei hatte er nur das Licht für sie angelassen, damit sie nicht im Dunkeln herumtapsen musste. Ein Auslöser für einen Schub kann Aufregung sein, auch positive. Deshalb war die Geburt des zweiten Kindes ein freudiges, aber auch gefährliches Ereignis. Es war der Beweis, dass sie es geschafft hatten, Liebe sticht Krankheit, und gleichzeitig ein neues Risiko. Und die Hochzeit vor einem halben Jahr, in kleinstem Kreis gefeiert mit anschließender Hochzeitsreise nach New York und dem Jetlag, der einen Manisch-Depressiven aus dem Tritt bringen kann: ein Wagnis. Das Buch, Nächte mit wenig Schlaf, als er mit den Verlagen verhandelte: für ihn war das alles mehr als einfach nur Stress, sondern immer auch eine Tür für die Krankheit, für den Tiger, der rauswill. Sie findet es richtig, dass er dieses Buch geschrieben hat, sagt Aki Guballa: Man kann ja nicht davor weglaufen. Und wenn einem etwas helfen kann, damit umzugehen, die Krankheit als Laie zu erkennen, dann das Wissen darum, was der Tiger anrichten kann. Und was Lithium kann, wenn es rechtzeitig gegeben wird. »Sebastian ist immer noch laut und lustig, wichtig, aufbrausend, klug, emotional. Das funktioniert alles noch«, sagt sie, und man ahnt: So machtlos sie am Anfang war – ohne sie, die wie ein Marionettenspieler die Helfer an Fäden führte, die nie gegangen ist, die ihre Gefühle ausgeblendet hat, als es nötig war, und darüber nicht gefühlzeitmagazin los geworden ist – ohne sie hätte er es nie geschafft. nr . 

Sebastian Schlössers Buch »Lieber Matz, Dein Papa hat ’ne Meise. Ein Vater schreibt Briefe über seine Zeit in der Psychiatrie« erscheint in diesen Tagen bei Ullstein

Der Stil

Bunt ist die Welt: Seidenhose von Etro, 215 Euro 44

Foto Peter Langer

Die schöne Seide dieses Sommers Tillmann Prüfer über leichte Hosen Wenn sich nun die Wolken vor die Sonne schieben und man endgültig wieder zu frösteln beginnt, werden sie wohl von der Straße verschwinden: all die bunten Seidenhosen. Sie waren im Grunde die einzigen Farben, die uns der Sommer gegönnt hat. In knalligem Rot von Haider Ackemann, in Flaschengrün von Gucci, Purpur von Louis Vuitton, Petrol, ins Schwarz changierend, von Lanvin. Bunte Etno-Drucke von Etro, kubistische Collagen von Gaultier. Selten ging man so gemustert auf die Straße. Prints galten bislang eher als profane Spielerei in der Mode – ein neues Muster ist schneller gefunden als ein neuer Schnitt. Und es sah so aus, als flattere bunte Seide überall, auch dort, wo sie eigentlich besser vermieden worden wäre. Denn gegen eine bunt bedruckte Hose muss man sich durchzusetzen wissen. Wenn ein solches Feuerwerk um die Beine herum gezündet wird, kann es sein, dass die Trägerin der Hose ganz blass aussieht. Andererseits bringen die bunten Hosen einen Hauch von Blumenkinder-Charme in die Mode – mit edelsten Materialien. Seide ist immer noch eines der aufwendigsten Naturprodukte, und um sie mit gutem Ergebnis bedrucken zu können, ist beste Qualität erforderlich. Wer dagegen ist, Pelze zu tragen, weil dafür Tiere sterben müssen, sollte allerdings auch auf Seidenhosen verzichten. Denn hinter solch einem Stück Stoff steckt gewissermaßen ein Massaker: Für 250 Gramm Seidenfaden müssen etwa 3000 Seidenraupen getötet werden. Es ist lange her, dass man besondere Vorzüge von Seide nutzte. Einer der Gründe für den militärischen Erfolg der Mongolen war das Tragen von dicht gewebter Seidenkleidung. Diese konnte im Zusammenspiel mit Leder und Eisenelementen von Pfeilen nur schwer durchdrungen werden und bildete somit eine leichte und funktionelle Rüstung. Heute sieht man eher die empfindliche Seite der Seide – und wer diese nicht beachtet, hat nur kurz Freude an den schönen bunten Hosen. Sie dürfen nur von Hand gewaschen und nicht ausgewrungen werden, denn sonst verformen sie sich. Und: Seide vergilbt leicht. Daher sollte man sie vor Sonneneinstrahlung schützen. Das war in diesem Sommer nicht allzu schwer.

Immer auf Linie Christoph Drösser fährt den VW Tiguan Sport & Style 2.0 TSI Ich gebe es zu, ich fahre gerne SUVs. Ich mag die hohe Sitzposition, sie gibt mir das Gefühl, Herr der Verkehrslage zu sein, und wirkt sich beruhigend auf meine Fahrweise aus. Gelassen gewähre ich Rasern den Vortritt, surre unter Einhaltung aller Tempolimits durch die Stadt und übers Land. Ich nehme an, dieser beruhigende Komfort ist der Grund, warum die hochbeinigen Offroader auch bei den jungen Müttern in den Besserverdienervierteln der Großstädte so beliebt sind. Die Hersteller tragen dem Rechnung, indem sie kompakte SUV-Modelle anbieten, die auf Kuhfänger, außen montierte Ersatzräder und anderes SafariGepränge verzichten, selbst der Allradantrieb ist optional. »Schön zu wissen, man könnte«, wirbt VW für den neuen Tiguan – aber man will ja eigentlich gar nicht. Doch SUVs gelten als Spritfresser. Und weil mein alter Schweden-Kombi aufgrund seines Verbrauchs nun wirklich sein linksalternatives Image nicht mehr verdient, soll der nächste Wagen deutlich weniger schlucken. Kommt der Tiguan infrage, den VW gerade einem eher kosmetischen Facelift unterzogen hat? Das Testmodell hat einen Zweiliter-Benzinmotor, der laut der stets unrealistischen Norm achteinhalb Liter auf 100 Kilometer verbrauchen soll. Der Wagen ist mit allerlei technischen Extras ausgestattet, die den Preis deutlich über die

40 000-Euro-Marke klettern lassen. Aber ich mag solche elektronischen Helferlein und lese brav die Betriebsanleitung, um mir erklären zu lassen, dass das »Lane Assist«-System die weißen Markierungen auf der Straße erkennt und in die Lenkung eingreift, sobald man die Spur zu verlassen droht. Tatsächlich klebt der Wagen in langgezogenen Autobahnkurven auch bei Nacht und Regen magisch an der Seitenlinie – bis der Fahrer mit einem Warnton aufgefordert wird, doch bitte die Lenkung wieder selbst zu übernehmen. Wenn man allerdings das Gepäck fürs Ostsee-Wochenende einlädt, stellt man fest, dass es sich bei diesem Wagen eben doch nur um einen höhergelegten Golf handelt und der Kofferraum mit dem zusammengeklappten Kinderwagen schon fast voll ist. Und die Ernüchterung kommt beim Tanken: Die Gesetze der Aerodynamik gelten auch für den Tiguan, die hohe Karosse verlangt bei zügiger Fahrt nach über 11 Litern Sprit auf 100 Kilometer. Schade, noch gibt es kein richtiges SUV-Leben im falschen.

Christoph Drösser ist Redakteur im ZEIT-Ressort Wissen Technische Daten Motorbauart: 4-Zylinder-Benzinmotor Leistung: 132 kW (180 PS) Beschleunigung (0–100 km/h): 8,3 s Höchstgeschwindigkeit: 204 km/h CO2-Emission: 199 g/km Durchschnittsverbrauch: 8,5 Liter Basispreis: 30 475 Euro

Foto Volkswagen AG / Gestaltung Thorsten Klapsch

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Wochenmarkt

Jetzt RENEKLODEN à la Andy Warhol!

»Greengages« (Renekloden), wie Warhol sie sah: Eine Seite aus seinem Fantasiekochbuch von 1959

Von ELISABETH RAETHER Als junger Mann litt Andy Warhol bekanntlich darunter, weder berühmt zu sein noch als Künstler ernst genommen zu werden. Dafür verdiente er mit seinen Illustrationen für Werbung und Frauenzeitschriften viel Geld, sodass er seiner Mutter ein Haus in Manhattan kaufen konnte, wo sie fortan gemeinsam mit 25 Katzen (die fast alle Sam hießen) lebten. Außerdem erfand Warhol mit jener Kunst, die man nicht ernst nahm, die Pop-Art, aber das wusste damals noch niemand. Fortschritt wird als solcher eben nicht immer gleich erkannt, und oft sieht man ihn dort, wo er auf keinen Fall ist. Die fünfziger Jahre etwa erblickten ihn in der Sprühsahne. Als Andy Warhol 1959 sein Fantasiekochbuch Wild Raspberries mit Rezepten seiner Freundin Suzie Frankfurt illustrierte, galt die Sprühsahne als Symbol einer besseren Zukunft.

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Vielleicht wollte man auch die amerikanische Hausfrau, sexuell frustriert und immer leicht alkoholisiert, wie sie damals war, nicht noch damit behelligen, Sahne selbst zu schlagen. Andy Warhol wurde zu einem der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Die Sprühsahne aber verschwand und ist heute nur noch selten zu finden; wenn, dann meist in einem unteren Discounterregalfach neben dem Kaffeeweißer. Für Warhols Renekloden-Nachtisch werden gleich vier Sprühdosen verwendet.

Renekloden à la Warhol Renekloden, Himbeeren , etwa 1 Liter Sprühsahne, Haselnussnougat Man sollte also nur mit etwas Fantasie den Kochanweisungen folgen, die Warhols Mut-

ter in ihrer Schönschrift, aber mit vielen Rechtschreibfehlern, unter der Zeichung ihres Sohnes notierte. »Geben Sie schöne, leicht gekühlte Renekloden in eine Schüssel«, schreibt Julia Warhola, aus den Karpaten in die USA eingewanderte Bauerntochter, die ihrem Sohn einst das Zeichnen beibrachte. »Bedecken Sie sie mit einem Püree aus Himbeeren und einem Quart Lucky Whip. Mit zerbröseltem Haselnussnougat garnieren.« Julia Warhola erklärt weiter, die besten Renekloden, auf Englisch greengages, gebe es in den letzten drei Junitagen in Wisconsin. Aber diesen Hinweis könnte man auch als liebevolle Warholsche Persiflage auf die Warenästhetik der Konsumgesellschaft verstehen. Unsere Renekloden jedenfalls kommen jetzt, Mitte September, aus Rheinland-Pfalz, wie viele deutsche Renekloden. Sie sind gelblich-grün, sehr süß und saftig und passen ganz vorzüglich zum zarten Lachgasaroma der Sprühsahne.

Copyright The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts / ARS, New York Kleines Foto Dorothea Fiedler

Die großen Fragen der Liebe Nr. 158 Wieso kann sie ihn einfach nicht vergessen? Während eines mehrmonatigen Projekts im Ausland hat sich Katharina in Carlos verliebt und eine leidenschaftliche Affäre mit ihm erlebt – am Ende auch durchlitten, denn sie ahnte schon, was auf sie zukommen würde. Carlos hatte ihr reinen Wein eingeschenkt. Er sei verheiratet, für ihn müsse an dem Tag Schluss sein, an dem sie beide ins Flugzeug nach Hause stiegen, sie seien doch Profis und erwachsene Menschen. Es müsste längst vorbei sein, aber es ist nicht vorbei. Wie kann ich es schaffen, nicht mehr an ihn zu denken?, fragt sich Katharina. Ich muss ihn aus meinem Kopf kriegen. Irgendetwas hat mich so stark berührt, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Was soll ich nur tun, um ihn endlich loslassen zu können?

Wolfgang Schmidbauer antwortet: Goethe mahnt: Ich besaß es doch einmal, was so köstlich ist, dass man doch zu seiner Qual nimmer es vergisst. Unser Gedächtnis bemüht sich, unangenehme Erinnerungen zu löschen, nicht jedoch angenehme. Anscheinend muss Katharina ein idealisiertes Bild des unvergleichlichen Carlos festhalten, um ihr Selbstgefühl zu stützen. Sie stellt an neue Männer eine unmögliche Forderung: Diese müssen bei der ersten Begegnung so viel Glück garantieren, wie sie es mit Carlos in einigen Monaten durchlebt hat. Katharina sollte also nicht warten, bis die Ikone aus ihrem Kopf verschwindet, sondern zusehen, dass aus Schnappschüssen, die, für sich gesehen, noch kein ordentliches Bild geben, eine neue Ikone entsteht.

Wolfgang Schmidbauer ist einer der bekanntesten deutschen Paartherapeuten. Sein aktuelles Buch »Das kalte Herz. Von der Macht des Geldes und dem Verlust der Gefühle« ist im Murmann Verlag erschienen

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Spiele Logelei Flusi: Wusus, Hufus, Gutus und Murus haben ein Modellbauflugzeug, ein Modellmotorboot, ein Modell-Ufo und ein Modellmotorrad gebaut. Jedes der vier Fahrzeuge hat eine andere Farbe, nämlich Rot, Gelb, Weiß und Grün. Ich habe sie dazu befragt und folgende merkwürdige Antworten bekommen: Hufus: Das Motorboot ist weiß. Murus: Ich habe ein rotes Modell gebaut. Gutus: Ich habe ein weißes Modell gebaut. Gutus: Das Motorboot ist gelb. Murus: Ich habe ein Ufo gebaut. Gutus: Das Motorrad ist gelb. Hufus: Das Motorrad ist weiß. Wusus: Ich habe ein weißes Modell gebaut. Wusus: Ich habe ein Flugzeug gebaut. Murus: Ich habe ein gelbes Modell gebaut. Wusus: Ich habe ein Motorboot gebaut. Hufus: Das Flugzeug ist weiß. Knusi: Du weißt doch, dass es in Ususien Usus ist zu lügen! Flusi: Ach, dann ist ja alles klar.

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Füllen Sie die leeren Felder des Quadrates so aus, dass in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem mit stärkeren Linien gekennzeichneten 3 × 3-Kasten alle Zahlen von 1 bis 9 stehen.

Logelei und Sudoku Zweistein

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Um die Ecke gedacht Nr. 2085

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WAAGERECHT: 5 Je steiler der, desto stärker Bullenhitze – und desto wahrscheinlicher baldiges Bärenerwachen 11 Offerte aus dem Lastenausgleichsfonds für Bauchladenbesitzer 15 Da der Ort für Anhalters Frust, dort die Gelegenheiten zu Ehrengasts Hochgefühl 17 Staunen ist der erste Schritt zu einer ... (Pasteur) 19 Einer von denen, die ein geistliches Kapitel für sich sind 20 Man nehme Landhäuschen, gebe Tomateneigenschaft hinein, und fertig ist Salat-Zutat 21 Glück und Unglück hängen genauso vom ... wie vom Zufall ab (La Rochefoucauld) 22 Veranlasst Bildleser, allen Sachen das Wort zu reden 24 Zerdroschen, wo man die Spreu vom Hafer trennt 25 Poltern gehört zu ihrer Umgangssprache 28 Weit von Verona fand der eine Heimat zwischen Quebec und Sierra 30 Je öfter ihm potenzielle Treffbuben in die Quere kommen, desto mehr muss er Paradebeispiele liefern 32 Wird wohl werden, wo der Maister persönlich am 37 waagerecht steht 34 Durch Weisheit wird ein Haus gebaut und durch ... erhalten, sprach Salomo 36 Wo viele streiten, suche man nach dem ..., der sich aufs ... versteht 37 Die ganze marschiert mit, wenn Colonel Hathi auf Patrouille geht 38 Wo die ... den Samen nicht treibt, hat die Kunst umsonst gepflügt (Bauernweisheit) 39 Gute ... ist gute Erziehung (Sprichwort) 42 Ein Problem bei Preisetiketten bisweilen, bei Marsmissionen jedenfalls 43 Am Ende der Gymnastikstunde: Einige von den ... blieben gern auf den ... liegen SENKRECHT: 1 Vermutlich angepeiltes Ziel, wenn Strolchis Herrchen trällert: »Pack die Badehose ein« 2 Ein besonderer Sonnen-

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moment, doch auch Weh à la Ninive 3 Wo einst fünf wilde Schwäne zogen, wuchs eine mit vier Schwestern grün und frisch an Baches Rand 4 Nachtschwärmers? Ist morgens um 7 noch in Ordnung 5 Man nehme Futterkrippe, gebe chef-de-cuisine-article hinein und fertig ist der Ohrenschmaus 6 Immer Dresdner Operngänger, doch auch Wiener Theaterbesucher sind von ihm erbaut 7 Erste Kulisse drakonischer Strafen 8 Darum geht’s, wird von der Bühne aus der Signorina aus Napoli Gutes gewünscht 9 Stete … höhlt das Holz 10 Gut möglich, dass die schon manches Mal Ponys Laufwillen stei- 11 Ein Klang zwischen Türgeräusch und Magenmeldung? Dickes Ding in Holzhackers Tagespensum 12 Alles was so ist: der Redebeschränkung wert 13 Wandelt die seine sich zur Platt-Form, ist Fahrkomfortverlust enorm 14 Schickliche Handlung im Rahmen von Leserbriefverfassung 16 Bodenreformers Grundsatz: Wer die Rotte nicht ehrt, ist seiner nicht wert 18 Regional geht’s nicht ohne rund um Jung-Rhein und -Rhone 23 Geschickte Leute 26 Auch dazu haben Elektriker einen Draht 27 Kaum mehr als Linse, falls nicht aus Fleisch und Blut 29 Verdrehtes Briten-Deutsch: Je vielversprechender die, desto gemachter die Geschäfte 31 Zu Zeiten, wo Geld keine Rolle spielt, gibt’s eine um die andere 33 Eine klebrige unter den 26 senkrecht 35 Mäßig massiv: Moai-Mineral-Material 37 Mutmaßlicher Spatzenunterschlupf beim Grüßenicht 40 Der passende Reim auf hochgegangenen 37 senkrecht 41 Liegeplatzqualität laut Goethe-Rat an Immer-weiter-Schweifer

Lösung aus Nr. 2083 WAAGERECHT: 7 MARMOLADA, Dolomiten 10 KOPPEL, Weide und Leibgurt 14 HERGABE 16 SALON 18 SPLEEN 20 FRIEDENSSTIFTER 21 STAN Laurel in Tristan 22 LAND-zunge 23 AERA in Primäranalyse 24 ESSZIMMEREINRICHTUNG mit Richterin 28 PHASEN 30 AAR = Adler 31 EBENE 33 ALE in »alea iacta est« 34 TOTEM 36 »Das muss der NEID ihm/r lassen« 37 PLATO in Raffaels Fresko 39 »Schatz-Grab« und SCHATZGRAEBER 44 manche und MANCHE = Ärmelkanal (franz.) 45 »Üb immer TREU und Redlichkeit« 46 EUTER 47 Haus-EINFAHRTEN beim Wild-Parken 48 SEGELN – SENKRECHT: 1 WARFT in den Marschen 2 GOBELIN 3 RASENMAEHER 4 Geiz-HALS 5 PONT d'Avignon 6 SELTEN (»Mein Papagei«) 7 Messe + Halle = MESSEHALLE 8 Johannes Gutenberg-Universität MAINZ 9 LEDA und Helena 10 KOS in Ökosystem 11 PSI in Epsilon, Ypsilon 12 LEER am Emszufluss Leda 13 Welt und sich VERAENDERN 15 GRASSE 17 ANDERMATT 19 Schmetterlinge Tag, Nacht-PFAUENAUGE 25 SALAMI 26 MATCH 27 Emanuel GEIBEL 29 ETON in Jeton 32 BEETE 35 OSCAR in O’Scarlett 38 TAND (»Die Brück’ am Tay«) 40 »Gallia est omnis divisa in partes TRES«, »De bello galico« 41 ZEN in Herzen 42 GUSS 43 REE in Revolte

Kreuzworträtsel Eckstein

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Spiele Schach

Lebensgeschichte

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Der Deutsche Schachbund hat einen neuen Präsidenten. Vier Jahre lang bestimmte Prof. Dr. Robert von Weizsäcker, der von seinem Vater Richard von Weizsäcker die Liebe zum Schachspiel »geerbt« hat und selbst Fernschachgroßmeister ist, die Geschicke des deutschen Schachs – unter langem Beifall wurde er zum Ehrenpräsidenten ernannt. Nun folgt ihm der 58-jährige Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik Herbert Bastian. Dieser ist nicht nur ein starker Schachspieler, Internationaler Meister und 20-facher (!) Saarländischer Meister, er hat sich auch seit über 40 (!) Jahren der Lehre und Förderung des Schachs in den Schulen verschrieben. Wie für manchen Sportverband ist es auch für den Deutschen Schachbund in Zeiten allgemeiner Vereinsmüdigkeit, beim Schach noch akzentuiert durch die Möglichkeit des Internetschachs (wo man bei www. schach.de zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Gegnern aus Neuseeland ebenso wie aus Burkina Faso spielen kann), nicht einfach. Dem vor Ideen sprühenden Herbert Bastian darf man indes einiges zutrauen. Den größten Sieg seiner Laufbahn errang er 1981 in Baden-Baden gegen sein »Idol« Viktor Kortschnoi, den mehrfachen Vizeweltmeister, der damals im Zenith seines Könnens stand. In dieser Stellung überschritt Kortschnoi in verlorener Stellung die Zeit. Herbert Bastian konnte nun den Bauern g7 mit dem Turm oder dem Springer schlagen: Das eine gewinnt, das andere remisiert nur. Doch was tut was?

Das Publikum bewundert sie, die Kritik schreibt Elogen. Wie sie es schaffe, künstlerisch konstant seit Jahrzehnten auf höchstem Niveau zu arbeiten, sei magisch und »rätselhaft«, heißt es oft. Was liegt also näher, als sie in der Lebensgeschichte zu verrätseln? Obwohl sie es gar nicht mag, wenn man zu viel über sie schreibt. Über die Arbeit schon – aber bitte keine Zeile übers Private! So viel immerhin weiß man: dass sie behütet in einer Kleinstadt im Süden aufwuchs und dass die Familie – Vater, Mutter, drei Töchter – in die entfernte Großstadt umzog, als sie zehn Jahre alt war. Bald darauf hatte sie einen Auftritt im Kinderfernsehen; mag sein, dass es die Initialzündung für ihren Weg zur Schauspielschule war. Schließlich folgte die erste Titelrolle in einer Art modernem Heimatfilm. »Man darf nicht schön sein wollen, sonst wird man maskig«, hat sie mal gesagt. Kein Satz passt besser zu der Figur, die sie sich buchstäblich – und preiswürdig – einverleibte. Seither ist die »Heiß- und Kaltblüterin des Films«, wie einer sie nannte, nicht mehr wegzudenken von der großen Leinwand und auch nicht vom kleinen Schirm. Ihre Wandlungsfähigkeit kommentiert sie hintersinnig: »Das Chamäleon ist doch auch ein schönes Tier.« Dabei legt sie Wert darauf, dass ihrem Können nichts Mystisches anhafte, im Gegenteil: »Das Handwerkliche ist meine Arbeit ... Das andere entsteht in Momenten, wenn ich aufmache ... der Funke, der das Ganze zur Kunst macht, ist oft nur eine kleine Pause an der richtigen Stelle, ein Augenaufschlag, eine Nuance.« Zum Glück weiß die Meisterin der Nuancen sehr genau, welche Rollen ihr liegen. Sie kann komisch sein und tragisch und alles zugleich. Sie gab starke Frauen, die sich fast verlieren. Vermeintlich schwache, die zu sich selber finden. Und jede ihrer Figuren – und sie macht das spürbar – erfüllte diese große Sehnsucht nach Leben. »Ich glaube, dass sich jede Rolle zwischen diesen beiden Polen bewegt: zwischen dem Gehaltenen und dem Durchbrechen. Ob der Durchbruch nun zu Beginn oder am Ende oder gar nicht passiert, ist dabei nicht so wichtig. Wichtig ist, dass man um beides weiß.« Als Vorbilder nennt sie Jeanne Moreau und Sophia Loren: »Die waren tough, die waren cool, die hatten Kinder oder auch keine. So was gefällt mir.« Angst, dass es keine Rollen mehr geben könnte, weil sie älter wird? Nicht ihr Problem: »So wie wir zum Frisör gehen, gehen sie in L. A. zu ihrem Botox-Auffüller ... wenn man sich da hineinbegibt, steht man nicht mehr in der Realität.« Einen Ausflug war Amerika ihr gleichwohl wert, und natürlich drehte sie mit Mr. Hollywood persönlich. Ihr Zuhause aber ist der alte Kontinent. Schon deshalb, weil ihr individuelle Entwicklung und Freiheit so wichtig sind: »Ich glaube, es gibt so einen inneren Klang, den jeder Mensch hat, der völlig unverwechselbar ist. Den versuche ich beim Spielen zu erwischen.« Wer ist’s?

Lösung aus Nr. 37 Lösung aus Nr. 37

Nach welch unscheinbarem schwarzem Zug gab Weiß auf, weil er unweigerlich seinen gefesselten Springer verlöre? Nach 1...b3! ist gegen 2...Ta4 mit Eroberung des Springers kein Kraut gewachsen

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Die Geschichte wäre ohne Winston Churchill (1874 bis 1965) sicher anders verlaufen. Er war Enkel des 7. Herzogs von Marlborough, seine Mutter Amerikanerin, sein Vater Tory-Politiker. Als Kavallerieoffizier in Indien stationiert, reiste er auf eigene Faust an Kriegsschauplätze in Kuba, Südafrika, Sudan und veröffentlichte seine Erlebnisse. Bei den Konservativen Hinterbänkler, wechselte er zu den Liberalen, wurde Marineminister, verlor aber nach Gallipoli 1915 Posten und Einfluss. In der Nachkriegszeit wieder Tory, wetterte er u. a. gegen Gandhi. Als die Appeasement-Politik mit Hitler scheiterte, wurde er erneut Marineminister, dann Premierminister, unter dem sich England Hitlerdeutschland entgegenstellte. Zudem schrieb er zahlreiche Geschichtswerke

Schach Helmut Pfleger Lebensgeschichte Frauke Döhring

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Scrabble

Impressum Chefredakteur Christoph Amend Stellvertr. Chefredakteurin Tanja Stelzer Art Director Katja Kollmann Creative Director Mirko Borsche Berater Matthias Kalle, Andreas Wellnitz (Bild) Textchefin Christine Meffert Redaktion Jörg Burger, Wolfgang Büscher, Heike Faller, Ilka Piepgras, Tillmann Prüfer (Style Director), Jürgen von Rutenberg, Matthias Stolz Fotoredaktion Michael Biedowicz (verantwortlich) Gestaltung Nina Bengtson, Jasmin Müller-Stoy Mitarbeit Markus Ebner (Paris), Mirko Merkel (Gestaltung), Elisabeth Raether, Annabel Wahba, Philipp Wurm Autoren Marian Blasberg, Carolin Emcke, Herlinde Koelbl, Louis Lewitan, Harald Martenstein, Paolo Pellegrin, Wolfram Siebeck, Jana Simon, Juergen Teller, Moritz von Uslar, Günter Wallraff, Roger Willemsen Produktionsassistenz Margit Stoffels Korrektorat Mechthild Warmbier (verantwortlich) Dokumentation Mirjam Zimmer (verantwortlich) Herstellung Wolfgang Wagener (verantwortlich), Oliver Nagel, Frank Siemienski Druck Prinovis Ahrensburg GmbH Repro Twentyfour Seven Creative Media Services GmbH Anzeigen DIE ZEIT, Matthias Weidling (Gesamtanzeigenleitung), Nathalie Senden Empfehlungsanzeigen iq media marketing, Axel Kuhlmann, Michael Zehentmeier Anzeigenpreise ZEITmagazin, Preisliste Nr. 5 vom 1. 1. 2011 Anschrift Verlag Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg; Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail: [email protected] Anschrift Redaktion ZEITmagazin, Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin; Tel.: 030/59 00 48-7, Fax: 030/59 00 00 39; www.zeitmagazin.de, www.facebook.com/ZEITmagazin, E-Mail: [email protected]

Der Scrabble-Sommer 2011 ist Geschichte, nun geht es hier im ZEITmagazin wieder weiter mit den allwöchentlichen WortspielKnobeleien. Auf einige der etlichen Mails, die mich in den vergangenen Wochen erreichten, möchte ich jedoch heute und in den nächsten Kolumnen noch eingehen. So schlug ein Leser vor, das Reglement zu ändern. Statt Band 1 des Dudens, Die deutsche Rechtschreibung, als Referenzwerk zugrunde zu legen, sollte doch zulässig sein, was auf der Duden-Homepage verzeichnet ist. Das wäre zeitgemäßer. Dem ist entgegenzuhalten: Wir fahren mit der »Rechtschreibung« ganz gut. Sie allein erlaubt weit über 600 000 Formen beim Scrabble. Außerdem würde die Ausweitung auf alle DudenWerke die Nachvollziehbarkeit für jene erschweren (und das Spiel verteuern), die nicht an jedem Ort zu jeder Zeit einen Onlineanschluss parat haben. Fortsetzung folgt. Zwei üppig dotierte Züge mit benachbarten Punktzahlen sind hier möglich. Wie?

Dreifacher Wortwert Doppelter Wortwert Dreifacher Buchstabenwert Im nächsten Heft Doppelter Buchstabenwert Was muss ein guter Vater können? Experten und ZEITmagazin-Autoren geben Antworten auf die Frage, die viele Väter beschäftigtw

Lösung aus Nr. 37 Der DAVIDSSTERN auf 6B-6L brachte insgesamt 64 Punkte Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die deutsche Rechtschreibung«, 25. Auflage, verzeichnet sind, sowie deren Beugungsformen. Die Scrabble-Regeln finden Sie im Internet unter www.scrabble.de

Scrabble Sebastian Herzog Illustration Frank Stockton

Der Schauspieler Matthias Brandt erzählt, was ihn gerettet hat, als seine Mutter an Demenz erkrankte Auf www.zeitmagazin.de Die Deutschlandkarte zum Hören: Matthias Stolz beantwortet jeden Montag wichtige Fragen über das Land http://blog.zeit.de/zeitmagazin 53

Frau Mattes, Sie haben schon als 12-Jährige Ihren Beruf gefunden und standen oft in Beziehung zu älteren Männern. Was macht das mit einem, wenn man sich kaum in der eigenen Alterskohorte bewegt? Ich bin erst durch andere darauf aufmerksam geworden, die mir sagten: Du bist ja nur mit Älteren zusammen, hast du überhaupt deine Jugend gelebt? Natürlich, sagte ich dann, ich war jede Nacht in der Disco. Aber ich war mit den um einiges älteren Männern, mit denen ich Liebesbeziehungen einging, nie auf einer Ebene. Das ist ja ohnehin schwierig. Man ist schon nicht auf der gleichen Ebene, wenn der andere sehr viel mehr verdient. Finden Sie das problematisch? Ja. Es gibt sehr viel Reibung durch Verschiedenheit. Reibung ist produktiv. Aber auch anstrengend, wenn man ununterbrochen arbeitet. Ich bin zwischendurch schon mal k. o. Nichtsdestotrotz liebe ich die Produktivität, doch es gibt auch eine große Sehnsucht nach Ruhe, Geborgenheit, Anlehnen. Das ist etwas, was ich in meinem Leben noch nicht wirklich ausgekostet habe. Sie haben nie Geborgenheit gefunden? Nicht auf Dauer. Warum nicht? Vielleicht eine gewisse Unstetigkeit im Leben? (Draußen im Himmel über Berlin blitzt es. Eva Mattes fährt zusammen und verhüllt ihr Gesicht mit den Armen.) Sie müssen entschuldigen, ich habe Angst vor Gewitter. Vielleicht fängt es schon ganz früh an, dass es den Vater nicht gab, der die Tochter in den Arm nimmt, wenn ein Gewitter aufzieht, denn meine Eltern haben sich früh getrennt. Ich habe bald meine kleine Familie miternährt und später meine Tochter allein aufgezogen. Da läuft man irgendwann nur noch als starke Frau durch die Gegend. Dass man schwach ist, dass man Schutz braucht, sieht das Gegenüber nicht. Schwäche ist ja nicht das Erste, was man zugibt. Dass wir uns jetzt hier bei einem Gewitter treffen, wo Sie mich in absoluter Schwäche erleben, das kommt ja nicht so oft vor. Würden Sie Ihre Angst gerne überwinden? Ich habe Therapien gemacht. Sogar eine Rückführung. Was ist eine Rückführung? Bei einer Rückführung begibt man sich in einen Trancezustand, um herauszufinden, was man in einem anderen Leben erlebt hat. (lacht)

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Das war meine Rettung

»Ich drückte die Hand ganz langsam« Die Schauspielerin Eva Mattes über eine Operation, aus der sie zu früh erwachte, und ihre Angst vor Gewitter

Eva Mattes, 56, geboren in Tegernsee, wuchs in München auf. Sie arbeitete mit großen Film- und Theaterregisseuren wie Rainer Werner Fassbinder und Peter Zadek. Außerdem ist sie die »Tatort«-Kommissarin Klara Blum. Mattes hat zwei Kinder und lebt in Berlin. Ihre Autobiografie »Wir können nicht alle wie Berta sein« erscheint diese Woche Ijoma Mangold gehört neben der Fotografin Herlinde Koelbl und dem Psychologen Louis Lewitan zu den Interviewern unserer Gesprächsreihe. Mangold ist Redakteur im ZEIT-Feuilleton

Und was haben Sie da entdeckt? Zum Beispiel, dass ich bei den Hunnen war, diesem wilden Reitervolk. Ich saß auf dem Pferd, ritt durch die Dörfer und schmiss mit Begeisterung Feuerkeulen auf die Strohdächer. Aber ich bin leider nicht bis zu meiner Gewitterphobie gelangt. Eigentlich scheut eine Hunnenkriegerin doch weder Blitz noch Teufel. Ja, aber wenn man so viel Böses getan hat, hat man vielleicht ein Schuldgefühl. Haben Sie als Hunnenkriegerin Böses getan oder als Eva Mattes? Als Hunnenkriegerin. Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, man verliebe sich immer in den künstlerischen Partner, mit dem man zusammenarbeitet. Manchmal habe ich gedacht, dieser Beruf ist eine einzige Kuppelei. Spiele ich Desdemona, verliebe ich mich in Othello. Noch dazu wenn der Regisseur, Peter Zadek, auf meine Frage, wie ich spielen soll, antwortet: Schau den Ulrich Wildgruber an! Dann gucke ich den Uli an, bis ich verliebt bin, und meine Rolle spielt sich fast von allein. Ich verliebe mich einfach gerne, und ich kann das sehr schnell. Der Zustand des Verliebtseins ist der schönste. Aber eigentlich gehört zur Liebe doch auch der Liebesschmerz. Ich habe vom Verliebtsein gesprochen, nicht von der Liebe. Die Liebe ist etwas anderes. Dazu gehört der Schmerz. Weil wir immer zu viel erwarten vom anderen. Weil wir wollen, dass er so ist, wie wir wollen, dass er ist. Gab es einen Moment in Ihrem Leben, wo Sie Hilfe brauchten? Das war während der Geburt meines Sohnes, die in einem Kaiserschnitt endete. Während der Operation bin ich aufgewacht. Ich befand mich in der Hölle, es war ein umfassender Schmerz, und ich konnte mich nicht wehren. Weder reden, noch mich bewegen. Aber ich spürte, dass der Vater meines Sohnes meine Hand hielt. Ich habe die Hand zehnmal ganz langsam gedrückt, in einem klaren Rhythmus. Das war mein Hilfeschrei. Und er hat es weitergegeben an den Anästhesisten, der zuerst noch gesagt hat, das seien Zuckungen. Nein, so zuckt man nicht, sagte der Vater meines Sohnes, das ist ganz regelmäßig, die ist wach. Dann hat der Anästhesist Stoff gegeben, und ich war erlöst. Dass ich diese Hand drücken konnte, war meine Rettung.

Das Gespräch führte Ijoma Mangold Foto Ruth Kappus

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